Volume 8, No. 1, Art. 18 – Januar 2007
Rezension:
Viera Pirker
Angela Kaupp (2005). Junge Frauen erzählen ihre Glaubensgeschichte. Eine qualitativ-empirische Studie zur Rekonstruktion der narrativen religiösen Identität katholischer junger Frauen (Reihe: Zeitzeichen, Bd. 18). Ostfildern: Schwabenverlag, 432 Seiten, ISBN: 3-7966-1187-7, 35 EUR
Zusammenfassung: Angela KAUPP geht in ihrer religionspädagogischen Dissertation der Frage nach, wie sich Religiosität in der Lebensgeschichte katholisch sozialisierter junger Frauen entfaltet. Die Kategorien Geschlecht und Religiosität wurden in der Jugendforschung bislang wenig berücksichtigt. Die lesenswerte Studie schließt eine Lücke zwischen der pädagogischen, sozialwissenschaftlichen und religionspädagogischen Forschung. Geschlecht und Religiosität werden von den befragten Frauen weitgehend als unabhängig voneinander und von ihrer Lebensgeschichte eingestuft. Von hoher Bedeutung ist die Eröffnung von religiösen Kommunikations- und Beziehungsangeboten sowie authentischer atmosphärischer Räume, z.B. in der Liturgie der Gemeinde. KAUPP zeigt, dass Biographieforschung sich mit einigen Modifikationen als geeignete Methode erweist, die Identitätsentwicklung junger Erwachsener auch im Kontext von Religiosität und Geschlecht zu erforschen.
Keywords: Biographieforschung, Frauenforschung, Gender, Identität, Jugend, narratives Interview, Religionspädagogik, Religiosität, Theologie
Inhaltsverzeichnis
Einordnung der Arbeit
2. Aufbau
3. Der Forschungsgegenstand
3.1 Religion und Religiosität
3.2 Geschlecht
3.3 Ziel der Untersuchung
Biographieforschung als geeignete Methode für die theologische Forschung
5. Die empirische Untersuchung
6. Zentrale Ergebnisse
7. Fazit
Die religionspädagogische Dissertation von Angela KAUPP fügt sich ein in zwei Wellen praktisch-theologischer Forschung. Die ältere Welle geht einher mit der wachsenden Bedeutung empirischer Forschung in der Theologie. Vereinzelte empirische Befragungen finden als Erkenntnisquelle seit Beginn des 20. Jahrhunderts Eingang in die praktischen Fächer der Theologie. Die "empirische Wende der Religionspädagogik" wurde 1968 eingeläutet (WEGENAST 1968). Seitdem wird verstärkt eigenständig empirisch geforscht, wobei verschiedene Forschungsmethoden zur Anwendung kommen (vgl. zum Überblick ZIEBERTZ 1994; BUCHER 2000). War dies zunächst vor allem quantitative Forschung, wurden seit den 1970 Jahren in hermeneutisch-lebensgeschichtlichem Interesse verstärkt qualitative Methoden angewendet. Die Biographieforschung als Methode in der Theologie verwenden zum Beispiel MAASSEN (1993) und KLEIN (1994). Die gesellschaftliche Veränderung macht vor den "Toren des Glaubens" nicht halt, und die Theologie bedarf der Möglichkeiten empirischer Forschung, um in die sie im Mark treffenden Veränderungen Einblick zu bekommen und auf einer neuen Basis Handlungsoptionen zu entwickeln. Empirische Forschung verspricht Einblicke in eine sich wandelnde Welt, die für die Theologie von großer Bedeutung sind. Sie ermöglicht es, Religiosität und Glauben auch in der entfalteten Moderne zu buchstabieren. Gleichzeitig erkennen Theologinnen und Theologen eine Lücke in soziologischer, pädagogischer und psychologischer Erkenntnis in Bezug auf Themen wie Religion, Glauben oder religiöse Entwicklung. Die Fragestellungen der genannten Disziplinen, wenn sie sich denn für diese Bereiche interessieren, unterscheiden sich grundlegend von einer theologischen Fragestellung. Nach wie vor steht indes ein Konsens innerhalb der theologischen Disziplinen aus, welche Grundannahmen empirische Forschung begleiten und welche Bedeutung ihre Ergebnisse für den theologischen Fächerkanon erlangen sollen. [1]
Eine jüngere Welle lässt sich aktuell ausmachen mit einer wachsenden Bedeutung praktisch-theologischer Genderforschung, die den Zusammenhang von Geschlecht, Identität und Religion beleuchtet. Diese Arbeit wird vornehmlich von Forscherinnen geleistet, die gegenüber der herrschenden christlichen Androzentrik den wissenschaftlichen Diskurs in Richtung einer neuen weiblichen Identitätsarbeit bewegen (vgl. MAASSEN 1993; SOMMER 1998; HOYER 1999; REESE 2006). Hier schließt die Dissertation KAUPPs eine Lücke: Junge katholische Frauen im Alter von 17 bis 20 wurden bislang nicht zu ihrer religiösen und geschlechtlichen Identität befragt. Erschienen ist die Arbeit in der Reihe "Zeitzeichen", die ein aktuelles Forum religionspädagogischer und praktisch-theologischer Forschung darstellt. Für die Veröffentlichung wurde die Darstellung des empirischen Teils teilweise verändert und gestrafft. [2]
Die Dissertation besteht aus drei Hauptteilen. Teil A stellt ausführlich "theoretische und methodologische Grundlagen" vor (S.22-98), in Teil B (dem umfassendsten) folgt die empirische Untersuchung (S.100-339), und Teil C bietet "Konturen der Religiosität junger Frauen – Zusammenfassung und Ausblick" (S.340-398). Alles in allem ist der gesamte Text erfreulich gut strukturiert, die Autorin führt über gliedernde Hinweise durch die einzelnen Kapitel und begründet ihre einzelnen Arbeitsschritte. Zusammenfassungen bei den meisten Unterkapiteln erleichtern das Verstehen des großen Zusammenhangs. [3]
In meinen Augen fehlt der Arbeit an einleitender Stelle ein Überblick über die Ergebnisse bereits vorliegender empirischer Forschung zu religiöser Entwicklung und religiöser Identität Jugendlicher. Die Autorin skizziert zwar stichwortartig in der Einleitung, was die vorliegende Sozialisations- und Religiositätsforschung bis dato nicht leistet (Geschlecht als Perspektive auf – religiöse – Identitätsentwicklung, Studien zur Religiosität Jugendlicher/junger Frauen), doch einen positiven Anschluss des erkenntnisleitenden Interesses an existierende Studien versucht sie kaum. Bei der Auswertung der eigenen Befragung im dritten Teil arbeitet KAUPP dagegen sehr gelungen mit den Ergebnissen des Forschungsumfelds und nimmt dort eine Vielzahl gewinnbringender Ausblicke vor (siehe dazu Abschnitt 6 dieser Besprechung). [4]
Das Verhältnis von Theologie und Sozial- bzw. Humanwissenschaften und den dort entwickelten Forschungsmethoden (Kap. 2.1) bedarf wissenschaftstheoretisch nach wie vor eingehender Klärung und Positionierung. KAUPP entscheidet sich in ihrer Untersuchung für eine Klärung auf begrifflicher und methodologischer Ebene. Sie durchleuchtet die theoretischen Bezugspunkte ihrer Studie durch Annäherungen an die Leitbegriffe "Religion und Religiosität", "Geschlecht" und "Identitätsbildung und Sozialisation". Diese werden aus theologischer sowie sozial- und humanwissenschaftlicher Perspektive eingeführt, die theoretische Klärung des grundlegenden Verhältnisses dieser Perspektiven steht indes weiterhin aus. [5]
Der Begriff "Religion" ist wissenschaftlich in keiner seiner Bezugswissenschaften (Theologie, Philosophie, Pädagogik, Soziologie, Psychologie) eindeutig beschrieben (vgl. S.24). KAUPP wählt aufgrund dieser Unklarheit einen "operationalen Religionsbegriff" in Anlehnung an FEIFEL (1973), der nicht eine begriffliche Definition versucht, sondern einen allgemeinen Bezugsrahmen im Sinne eines heuristischen Leitkonzepts darstellt: Religion ist hiernach eine
"Sammelbezeichnung für alle angesprochenen, in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Auswirkung beschreibbaren Fragehaltungen und Erfahrungsweisen. Mit dem Bemühen, jeweils erst den Bezugsrahmen operational abzustecken, in dem der Begriff Religion gebraucht wird, bleibt Religionspädagogik offen für ideologiefreie und ideologiekritische Lernansätze zur Bewältigung der unbegriffenen Religion in Theorie und Praxis" (FEIFEL 1973, S.46, zitiert nach KAUPP 2005, S.27). [6]
KAUPP möchte in ihrer Studie ein Verständnis von Religion und Religiosität in ihrer Bedeutung für die Lebensgeschichte der Befragten sowie in ihrer inhaltlichen Ausprägung gewinnen (vgl. S.39). [7]
Den Forschungsgegenstand "Geschlecht" (gender) führt KAUPP begründet als ein in der Theologie bislang weitgehend vernachlässigtes Konzept (vgl. S.27) ein, das erst seit kurzem und vor allem in der Forschung von Frauen Aufmerksamkeit findet. Für die Untersuchung KAUPPs ist gender nicht die Hauptperspektive, aber es sollen "Wechselwirkungen zwischen religiöser und geschlechtlicher Identitätsentwicklung" (S.44) beleuchtet werden, da die Autorin davon ausgeht, dass "die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität und -rolle eine zentrale Entwicklungsaufgabe ist" (S.43). [8]
Der Begriff "Identität" wird eingeführt unter den Perspektive der Identitätsentwicklung, wobei Referenzen v.a. die Entwicklungspsychologie nach ERIKSON (1973) mit der Weiterentwicklung durch MARCIA sind – in der Studie präsentiert durch HAUSSER (1995) –, sowie die unter der Perspektive der Interaktion und Sozialisation entwickelten Verständnisse einer balancierten (vgl. KRAPPMANN 2000), paradoxen (vgl. COPRAY 1987) und Patchwork-Identität (KEUPP et al. 1999). KAUPP setzt Identitätsentwicklung schließlich in Beziehung mit den Begriffen Religion und Geschlecht und kann damit das Ziel ihrer Untersuchung begründen:
"In der empirischen Untersuchung sollen die Perspektiven von Religion bzw. Religiosität, Geschlecht und Identitätsbildung, wie sie sich in der Postadoleszenz darstellen, auf ihren Zusammenhang überprüft werden. Ziel ist die Erforschung von Religiosität als 'gelebte Religiosität' bzw. 'religiöse Performanz', wie sie sich in den erzählten Lebensgeschichten darstellt (…) Durch die Verbindung der Identitätstheorien mit den Dimensionen der Religiosität und des doing gender werden Konturen der religiösen Identität in der Postadoleszenz bei jungen Frauen erkennbar" (S.53). [9]
4. Biographieforschung als geeignete Methode für die theologische Forschung
Ausführlich führt KAUPP im 3. Kapitel mit der Methodologie der Grounded Theory (vgl. STRAUSS 1991) in die Grundlagen und Prinzipien qualitativer Forschungspraxis ein, und sie nennt als Gütekriterien für die eigene Forschung den Katalog von STEINKE (2000, S.59-60), entlang derer sie im Verlauf der Arbeit Rechenschaft ablegt. Die Grounded Theory bildet dabei den methodologischen Hintergrund; die forschungspraktischen Verfahren sind (wie ich noch nachzeichnen werde) anders gewählt. [10]
Die Entscheidung, die Studie innerhalb der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung (Kap. 3.2) anzusiedeln und mit deren Instrumentarien zu arbeiten, ist gut begründet. Biographieforschung wird anhand der Stichworte Erfahrung, Lebenswelt, Alltagswelt, Biographie und narrative Identität gelungen dargestellt (S.63-67) und erscheint als viel versprechende Methode auch für Interviews mit 16-20-Jährigen. Auch für das Verhältnis von Theologie und empirischer Sozialforschung erweist sich der biographische Ansatz als fruchtbar. Seine Bedeutung für die Theologie liegt
"sowohl in der wissenschaftstheoretischen Affinität zwischen Biographieforschung und Praktischer Theologie als auch in der Notwendigkeit einer praktisch-theologischen Biographieforschung begründet. Der zweite Aspekt wird umso wichtiger, als sowohl in der pädagogischen als auch in der soziologischen und psychologischen Biographieforschung eine gezielte Beschäftigung mit religiösen Themen weitgehend fehlt. Es ist daher eine unverzichtbare Aufgabe der Praktischen Theologie bzw. der Religionspädagogik, eigene Untersuchungen durchzuführen oder in Kooperation mit anderen Wissenschaften die Perspektive von 'Religion/Religiosität' einzubringen" (S.71). [11]
Während die Autorin in Kapitel 3.3 den biographischen Ansatz in seiner Anwendung in den Feldern der Praktischen Theologie, Erziehungswissenschaft, Jugendforschung und gender studies begründet, schiene mir just an dieser Stelle eine konkretere und deutlichere Explikation der Biographieforschung hinsichtlich des Leitthemas, und eben nicht hinsichtlich einzelner Hintergrundbereiche der Untersuchung, wünschenswert. Diese Zusammenhänge müssen Lesende im Fortschreiten weitgehend selbst erschließen, sie werden von der Autorin erst später und überblicksartig dargestellt: Biographieforschung eröffnet der Autorin vier Wege – einen "zur Erforschung der Identität im Jugendalter", einen zweiten "zur Erforschung jugendlicher Religiosität", einen dritten "zur Erforschung religiöser Entwicklungsprozesse" und den vierten "zur Erforschung von gender" (S.74). [12]
5. Die empirische Untersuchung
KAUPP bereitet die empirische Untersuchung vor, indem sie ausführlich das "narrative Interview als forschungspraktisches Verfahren" darstellt. Vier Ansätze wählt sie, aus denen sie Erträge für Forschungsdesign und Auswertungspraxis gewinnt: 1. Der von SCHÜTZE entwickelte erzählanalytische Ansatz bietet das grundlegende Instrumentarium für die Interviews, die KAUPP in eine Haupterzählung und einen Nachfrageteil untergliedert, und deren Auswertung anhand von Textsorten, Erzählschema und Prozessstrukturen erfolgt. 2. Die auf OEVERMANN zurückgehende objektive Hermeneutik verwendet KAUPP – orientiert an WERNET (2000) – als Ergänzung zum erzählanalytischen Ansatz und verspricht sich von der sequenzorientierten Vorgehensweise eine Relativierung ihres Vorverständnisses bei der Auswertung der Texte (vgl. S.82). 3. Aus der Narrationsanalyse nach ROSENTHAL und FISCHER-ROSENTHAL (2000), die von einer Verflechtung individueller und kollektiver Identität ausgeht (vgl. S.83), entnimmt KAUPP die Möglichkeit, Rückschlüsse von der individuellen religiösen Lebensgeschichte auf die Situation der Religion in der Gegenwart ziehen zu können (vgl. S.84). Zuletzt gewinnt KAUPP 4. durch Anregungen aus der narrativen Psychologie ein Verständnis von autobiographischem Erzählen als "Herstellung und Darstellung narrativer Identität im Interview" (LUCIUS-HOENE & DEPPERMANN 2002, S.9) und erhält damit die Sicherheit, dass die Interviews Zugänge zur religiösen Identitätsentwicklung junger Frauen ermöglichen (S.87). Ein zusammenfassendes Schaubild (S.89) rundet die Darstellung der Theorie der Forschungspraxis übersichtlich ab. [13]
Die Autorin hat 24 junge Frauen zwischen 16 und 24 Jahren für ihre Studie interviewt. Sie beschreibt ausführlich Schwierigkeiten im Feldzugang (S.101), die Kontaktaufnahme und – durch eine anschauliche Tabelle (S.102-103) – das Sample der Studie. Dazu einige Anmerkungen: Die jungen Frauen sind zum größten Teil einer gemeinsamen Bildungsschicht zuzuordnen (acht Gymnasiastinnen, elf Studentinnen), was sich vor allem aus der Kontaktaufnahme erklärt. Die meisten – und alle fünf, deren Interviews extensiver ausgewertet werden – leben in so genannten "Normalfamilien" mit beiden leiblichen Elternteilen. 18 der 24 jungen Frauen stammen aus Baden-Württemberg, alle aus westdeutschen Bundesländern. Welche weiteren kulturellen Hintergründe die jungen Frauen prägen, wurde nicht erhoben. Mustergültig ist die ausführliche Beschreibung der Durchführung der Interviews, die Erläuterung der Gesprächsaufforderung und der Nachfrageteil. Neu wird in Kapitel 5.2.2.3 ein Fragebogen eingeführt, von dem während der methodologischen Vorbereitung der Untersuchung nicht die Rede war; er entstammt der Forschungsarbeit von BEILE (1998) und soll der fallinternen sowie fallübergreifenden Vergleichbarkeit von Aussagen sowie der Validierung dienen. In Kapitel 6.8 wird der Fragebogen abgedruckt und mit einem Interview in Verbindung gebracht; wie groß der Nutzen für die Validierung und Auswertung tatsächlich ist, erschließt sich allerdings nur in wenigen Zusammenhängen (z.B. bei der Rolle der Eltern für religiöse Entwicklung). Die darauf folgende Beschreibung der Auswertungsschritte macht die Einbeziehung unterschiedlicher empirischer Schwerpunkte noch einmal deutlich und begründet sie anhand des Materials (vgl. S.106-108). [14]
Von den 24 geführten Interviews wurden 20 gemäß des gesprächsanalytischen Transkriptionssystems GAT (mit wenigen geringfügigen Veränderungen, vgl. S.432) vollständig transkribiert. In die Auswertung gehen schließlich fünf Gespräche ein, die den folgenden Auswahlkriterien standhalten: 1. eigenständige Haupterzählung, 2. katholische Konfession und kirchlich-katholische Sozialisation, 3. Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Das letzte Kriterium geht auf eine deutlich unterschiedliche Art der Darstellung der Entwicklungsprozesse zurück, die durch den Eintritt ins Studium begründet scheint (vgl. S.106). [15]
Diese fünf Interviews mit drei Abiturientinnen, einer Studentin und einer Realschülerin hat die Autorin ausführlich analysiert. Nur eine Analyse ist im vorliegenden Band komplett abgedruckt, die anderen vier Gespräche sind in der Druckfassung etwas gekürzt dargestellt. Sämtliche Einzelfallanalysen (auf mehr als 300 Seiten) sind auf dem Freiburger Dokumentenserver unter dem Titel "Narrative religiöse Identität junger katholischer Frauen. Dokumentation der Einzelfallanalysen" vollständig zugänglich. [16]
Die ausführliche Darstellung der geführten Gespräche in den Kapiteln 6 bis 10 zeigt, wie unterschiedlich sich die Biographie, die religiöse Identität und die Geschlechtsidentität in dieser an sich homogenen Gruppe darstellt. Die jeweils im Blick auf die Forschungsfragen zusammengefassten Fallstrukturen zeigen die Eigenständigkeit und Individualität der Identitätsentwicklung deutlich. [17]
Sehr gelungen ist der falltranszendierende Vergleich im 11. Kapitel, der eine Fülle von Informationen und Ergebnissen kompakt präsentiert. An dieser Stelle erfolgt zudem die Diskussion mit vorliegenden Ergebnissen aus soziologischer und pädagogischer sowie theologischer und psychologischer Jugendforschung. [18]
Entsprechend der Annahme SCHÜTZEs, dass "die zentralen lebensgeschichtlichen Ereignisse in Interviews in Form von Stegreiferzählungen präsentiert werden" (S.341), wählen die jungen Frauen die Form der Erzählung zur Schilderung zentraler Ereignisse. Jedoch kann KAUPP aus den wenigen Stegreiferzählungen weder Aussagen zur religiösen Identität noch zum Thema Geschlecht rekonstruieren; diese Informationen entstammen vor allem den Argumentations- und Beschreibungssequenzen. Religiöses Erleben ist häufig an bestimmte Räume und Atmosphären geknüpft (S.342) und wird vornehmlich in der Erzählform der Beschreibung präsentiert. Die Autorin bietet mögliche Erklärungen, warum die Hauptthemen der Untersuchung nicht in Stegreiferzählungen präsentiert werden (konnten): die vergleichsweise kurze erinnerbare Lebenszeit, Fehlen von erzählwürdigen Erfahrungen bezüglich der Forschungsthemen Religion und Geschlecht oder deren fehlende Alltagsrelevanz (S.341; 378). Aussagen zum Thema gender machen die jungen Frauen in keinem Fall in der Haupterzählung, sondern ausschließlich in den Nachfrageteilen; sie setzen diese Dimension nicht in Verbindung mit Fragen der religiösen Identität. Mir ist fraglich, ob das Fehlen der entscheidenden Aspekte in den Haupterzählungen auch auf die Formulierung der Erzählaufforderung selbst zurückgeht, die lautet:
"Ich interessiere mich für die gesamte Lebensgeschichte von Mädchen und jungen Frauen, also von der Kindheit bis heute. Dabei möchte ich auch erfahren, wie Jugendliche in ihrem Leben Religion erlebt haben und wie sich ihr Glaube im Laufe der Zeit entwickelt und verändert hat. Mich interessiert, welche Erinnerungen du in deinem Leben mit Religion verbindest und welche Personen für dich dabei wichtig sind. Aber eben nicht nur das, sondern wie sich dein Leben bis heute entwickelt hat. Es wäre schön, wenn du in Geschichten erzählst, was du auf deinem Weg von früher Kindheit bis heute alles erlebt hast, wie es dann weiterging. Zwischendurch werde ich dich nicht unterbrechen. Ich mache mir nur einige Notizen, wenn mir etwas unklar ist und frage später nach. Ich überlasse jetzt dir die Regie. Erzähle einfach soviel wie dir einfällt und du erzählen möchtest" (S.104). [19]
Die Autorin beschreibt eine unternommene Re-Formulierung der Erzählaufforderung nicht detailliert und reflektiert das Ausbleiben des Forschungsgegenstandes gender in den Haupterzählungen auf abstrakterer Ebene (S.378-379): Die Aktivierung eines geschlechtsbezogenen Selbstkonzepts scheine für die interviewten jungen Frauen nicht nötig in einem Gespräch mit einem weiblichen Gegenüber, zumal nicht explizit nach Vergleich mit männlichen Lebensgeschichten gefragt wurde. Genau dies hätte in eine Re-Formulierung der Erzählaufforderung eingehen können. Geschlechtsbedingte Benachteiligungen werden den jungen Frauen erst mit einigem Nachdenken, und damit nicht in der Haupterzählung, bewusst.
"Denkbar ist, dass die Interviewten diese Fragen noch kaum reflektiert haben und ein geschlechtsspezifischer Bewusstwerdungsprozess noch aussteht. Außerdem scheinen den jungen Frauen kaum Instrumentarien der Interpretation zur Verfügung zu stehen. Ansätze feministischer Gesellschaftstheorie oder Theologie sind entweder unbekannt oder werden nicht rezipiert" (S.386). [20]
Im Sozialisationsraum Kirche haben die Jugendlichen geschlechterdifferente Erfahrungen gemacht, wenn diese auch weitgehend unbewusst geschehen sind. Die Hypothese KAUPPs, dass sich gender in der dargestellten Religiosität der jungen Frauen ausprägt, kann auf dieser Grundlage weder eindeutig bestätigt noch eindeutig verworfen werden. [21]
Die wichtigsten Themen der Haupterzählungen vergleicht KAUPP mit typischen Jugendthemen (Liebe, Partnerschaft, Mode, Aussehen, Konflikte mit Eltern u.a.), die in den Shell-Jugendstudien und anderen aktuellen Jugenduntersuchungen erhoben wurden. Dieser Vergleich legt den Schluss nahe, "dass die Darstellung der religiösen Lebensgeschichte als ein Thema empfunden wird, das mit dem Lebensalltag als Jugendliche wenig zu tun hat" (S.350). [22]
Die narrative religiöse Identität der Jugendlichen ist durchgängig der von FOWLER (1991) präzisierten Glaubensebene "faith" (i.e. Glaubenshaltung; neben der Glaubensebene des Glaubensinhalts "belief") zuzuordnen: eine innere Beheimatung im Glauben kennen alle Befragten. Deutlich ist die besondere Bedeutung einer kommunikativen Beziehung zu Gott, die KAUPP als "Analogie zur 'besten Freundin' " bezeichnet (S.354). Auf der Ebene des "belief" bestehen deutlichere Unterschiede bei den Befragten: Glaubensinhalte der christlichen Dogmatik (trinitarisches Gottesbild, Christologie, Bibel) und damit auch die kirchliche Deutungshoheit sind für die jungen Frauen von geringerer Relevanz. [23]
Im Erleben positiver wie negativer Kommunikationssituationen spielen die Personen, denen die jungen Frauen in religiösen Belangen begegnen, eine zentrale Rolle. Die Beziehungsqualität stellt ein entscheidendes Kriterium zur Entwicklung einer religiösen Sprachfähigkeit dar. Für das Gelingen religiöser Kommunikation ist für die jungen Frauen von besonderer Bedeutung, ob die religiösen Kommunikationsräume in Schule, Gemeinde, Jugendarbeit etc. durch Mitgestaltungsmöglichkeiten, Diskussionsangebote und ansprechende Atmosphäre entwicklungsgemäß gestaltet sind. [24]
Die Autorin fasst die Ergebnisse ihrer Untersuchung, die aus dem falltranszendierenden Vergleich und aus der Anlage der gesamten Studie stammen, in einem religionspädagogischen Ausblick (S.393-398) in zwölf Thesen treffend zusammen. Neben den hier bereits genannten Ergebnissen (wenig Verbindung zwischen Lebensgeschichte und religiösem Erleben; wenig Verbindung zwischen geschlechtlicher und religiöser Identitätsentwicklung; Religiosität junger Frauen unabhängig von Kirche; Bedeutung von Personen und Beziehungsqualität sowie entwicklungsgemäßer Kommunikationsräume) sind weitere zentrale Resultate: ein verminderter Einfluss der Kirche auf religiöse und geschlechtliche Identitätsentwicklung, die hohe Bedeutung der Atmosphäre religiöser Räume für die ästhetische Wahrnehmung der Jugendlichen und die Notwendigkeit gezielter kommunikativer Angebote für religiöse Identitätsentwicklung im Jugendalter. [25]
Für die religionspädagogische Forschung von Bedeutung sind folgende Ergebnisse: Die biographische Forschung ist ein geeigneter Weg, die narrative religiöse Identität junger Erwachsener zu erforschen. Dabei müssen neben den Stegreiferzählungen unbedingt auch Argumentationen und Beschreibungen untersucht werden. Als offene Forschungsfragen bleiben zum einen, wie Familienstrukturen und Religiosität zusammenhängen, zum anderen die differenzierte Untersuchung der Kategorie gender in ihrer Bedeutung für religiöse Entwicklungsprozesse. [26]
Die lesenswerte Arbeit von Angela KAUPP leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis religiöser und geschlechtlicher Identitätsentwicklung katholischer junger Frauen. Die Einblicke in die Lebenssituationen junger Frauen sind authentisch erhoben, gelungen dargestellt und sorgfältig ausgewertet. KAUPP beginnt mit ihrer Arbeit die Schließung einer Forschungslücke; sich im Anschluss ergebende Forschungsdesiderate sind benannt. [27]
Die im Gesamtzusammenhang der Arbeit sehr ausführliche Darstellung der forschungspraktischen Verfahren lässt sich im Blick auf den zu erwartenden Leser- und Leserinnenkreis erklären. Theologinnen und Theologen können sich durch den methodologischen Teil einen guten Einblick in Biographieforschung verschaffen und erhalten ein differenziertes Beispiel, wie diese innerhalb religionspädagogischer Forschung verortet werden kann. Für diejenigen allerdings, die erst wenig Kenntnisse von qualitativer Sozialforschung haben, kann das Nebeneinander und Ineinander verschiedener grundlegender interpretativer Methoden verwirrend wirken und erschließt sich erst deutlicher durch den falltranszendierenden Vergleich. Die Ausführlichkeit, mit der manche methodische Details behandelt werden, kann beim Lesen hemmend wirken, trotz der guten und klaren Gliederung. Erst von den Ergebnissen her erschließt sich der Zusammenhang der gesamten Arbeit. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sich für religiöse Fragestellungen in der Postadoleszenz interessieren, erhalten aus der differenziert ausgewerteten empirischen Studie eine Vielfalt anregender Informationen und einen guten Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft. Lesende aus diesem Kreis, die die Studie dazu nutzen möchten, interdisziplinäre Einblicke in eine theologische Perspektive auf wissenschaftliche Sozialforschung zu gewinnen, werden ihre Fragen durch diese Arbeit nur eingeschränkt beantwortet bekommen. Dies erwächst aus dem wissenschaftstheoretischen Desiderat, das Verhältnis von Theologie zu Sozial- und Humanwissenschaften zu klären (siehe Abschnitt 3). Empirische Forschung kann in der Theologie verankert und praktiziert werden und bereichert theologische Forschungsfelder. Dieser Brückenschlag ist mit der Arbeit von Angela KAUPP ein weiteres Mal gelungen. Eine wissenschaftstheoretische und methodische Grundlegung empirischer Forschung als theologischer Forschung steht indes weiterhin aus. [28]
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Viera PIRKER, Dipl.-Theol., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt/M., und promoviert in Pastoralpsychologie. Arbeitsschwerpunkte: Didaktik des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen, empirische Theologie, Identität und Beruf in der Kirche.
Kontakt:
Viera Pirker
Phil.-Theol. Hochschule Sankt Georgen
Seminar für Religionspädagogik, Katechetik und Didaktik
Offenbacher Landstr. 224
D-60599 Frankfurt /M.
Tel.: 069-6061-259
Fax: 069-6061-274
E-Mail: pirker@sankt-georgen.de
URL: http://www.sankt-georgen.de/rp-pps/
Pirker, Viera (2006). Angela Kaupp (2005). Rezension: Junge Frauen erzählen ihre Glaubensgeschichte. Eine qualitativ-empirische Studie zur Rekonstruktion der narrativen religiösen Identität katholischer junger Frauen [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(1), Art. 18, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0701183.