Volume 16, No. 3, Art. 16 – September 2015



Rezension:

Oliver Berli

Eva Barlösius (2014). Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt. Frankfurt am Main/New York: Campus; 203 Seiten; 978-3-593-50083-6; 24,90 Euro

Zusammenfassung: In der Studie "Dicksein" untersucht Eva BARLÖSIUS (2014) das Wechselverhältnis von Körper und Gesellschaft. Im Zentrum ihrer Analyse stehen dabei die Perspektiven und Positionierungen "dicker" Jugendlicher, die in Gruppendiskussionen erhoben wurden. Zusätzlich wurden auch die Perspektiven von Eltern sowie PräventionsexpertInnen erhoben. Diese vielfältigen Daten werden mithilfe ungleichheits- wie auch legitimationsanalytischer Theorien interpretiert. Ein zentrales Ergebnis ist, dass die Jugendlichen ihre soziale Position und ihre Zukunftsaussichten primär durch ihren Körper bestimmt sehen, während andere Differenzkategorien als nachrangig gedeutet werden. Vor diesem Befund formuliert BARLÖSIUS ihre zeitdiagnostische These der zunehmenden Relevanz des Körpers für Prozesse der sozialstrukturellen Positionierung.

Keywords: Körper; soziale Ungleichheit; soziale Ordnung; Zeitdiagnose; Gruppendiskussionen; World Café

Inhaltsverzeichnis

1. Ausgangspunkte

2. Perspektiven auf das Phänomen Dicksein

2.1 Die Perspektiven der Jugendlichen

2.2 Die Perspektiven der Eltern

2.3 Die Perspektiven der ExpertInnen

3. Kritische Würdigung

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Ausgangspunkte

Die Untersuchung von Eva BARLÖSIUS verbindet unterschiedliche analytische Perspektiven auf das Wechselverhältnis von Körper und Gesellschaft. "Dicksein" (2014) fokussiert Benennungs- bzw. Repräsentationsmacht im Sinne Pierre BOURDIEUs (1985), aber auch Aspekte der Legitimation sozialer Ordnung und der Moralisierung von Ernährung werden untersucht. Die Autorin verfolgt dabei eine Reihe von Forschungsfragen, die das Wechselspiel von Körper und Gesellschaft berühren: "Wie erfahren sich Menschen in gesellschaftlichen Interaktionen als zu dick? Wie positionieren sie sich zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Legitimationen [...]? Wie deuten die als zu dick typisierten und klassifizierten Menschen diese gesellschaftlichen Erfahrungen?" (S.14). Um diesen Fragen nachzugehen, wurden in der Studie Gruppendiskussionen und ein ExpertInnenworkshop nach dem World-Café-Modell durchgeführt. An den Gruppendiskussionen haben einerseits "dicke" Jugendliche und andererseits deren Eltern teilgenommen. Die Teilnehmenden am World Café (BROWN & ISAACS 2005) sind der Gruppe der PräventionsexpertInnen zuzurechnen. [1]

BARLÖSIUS vertritt die These, dass die befragten Jugendlichen ihre soziale Position wie auch den Umgang mit ihnen dergestalt erleben, als ob sie einer spezifischen sozialen Klasse zugehören würden (S.13). In zeitdiagnostischer Perspektive möchte die Autorin einen Beitrag zur Frage liefern, warum dem Körper in Gegenwartsgesellschaften diese Prägekraft zukommt (S.14). Damit ist eine theoretische Herausforderung verbunden: Wie können Prozesse der sozialstrukturellen Differenzierung und Prozesse der Legitimation sozialer Ordnung zusammengedacht werden (a.a.O.)? BARLÖSIUS greift dabei im Wesentlichen auf zwei theoretische Perspektiven zurück, um ihren Fragen nachzugehen. Zum einen schließt sie an die Arbeiten von Pierre BOURDIEU (bspw. 1985, 2005) an, um die Verbindungen von sozialer Ungleichheit und Klassifizierungen sowie Typisierungen aufzuschließen. Zum anderen nimmt sie die Legitimationstheorie von Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN (1969) auf, um den Zusammenhang zwischen Rechtfertigungen und sozialer Ordnung zu analysieren. Für BARLÖSIUS sind beide soziologischen Ansätze hinreichend verwandt, um eine Kombination zu rechtfertigen: "Für die Alltagswirklichkeit von Berger/Luckmann wie auch für die soziale Praxis bei Bourdieu ist kennzeichnend, dass über sie Gewissheit besteht, in ihnen ohne Theorie oder vortheoretisch agiert wird und sie weitgehend als gegeben hingenommen werden" (BARLÖSIUS, S.48). Eine weitere Gemeinsamkeit besteht laut BARLÖSIUS hinsichtlich der Relevanz der Typisierungen bzw. Schematisierungen (S.48f.). [2]

Die Studie "Dicksein" ist in sieben Kapitel untergliedert. Den Auftakt bildet eine Einführung in die Thematik der Studie, die vorliegende Literatur zum Phänomen und ihre Desiderate sowie Hinweise zur methodischen Anlage. Die mittlerweile umfangreiche Literatur zum Phänomenbereich "Dicksein" wird mit Blick auf fünf Aspekte komprimiert vorgestellt (S.17-29). Zu den Schwerpunkten der Darstellung gehört u.a. die Diskussion von Studien zur sozialstrukturellen Positionierung und Benachteiligung, zu Stigmatisierung oder auch zu Diskursen über Dicksein. Als wichtige Lücke in der vorliegenden Literatur identifiziert BARLÖSIUS, dass die Perspektiven und Erfahrungen der als dick wahrgenommenen Menschen nur selten in den Blick genommen werden (S.27). Zudem würden häufig, so das Urteil, die Erfahrungen von dicken Menschen auf die Erfahrung von Benachteiligung, Stigmatisierung und Exklusion verengt. Das habe zur Folge,

"dass erstens die Allgegenwärtigkeit von Dicksein aus der Perspektive dicker Menschen zu wenig beachtet wird. Zweitens tragen die verwendeten soziologischen Konzepte dazu bei, die gesellschaftliche Sichtweise und Bewertung des Phänomens zu reproduzieren und nach gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen darüber, was daran bedeutsam ist und was nicht, zu gewichten" (S.28). [3]

Um die Rolle des Körpers angemessen in die Analyse miteinbeziehen zu können, unterscheidet BARLÖSIUS begrifflich zwischen "Verkörperlichung" und "Verkörperung" (S.30f.). Erstgenannter Begriff verweist auf die Einverleibung der sozialen Welt, während der zweite Begriff auf soziale Wahrnehmungen und Bewertungen von Körpern hinweist. Mit Blick auf körpersoziologische Befunde (bspw. DÉTREZ 2002; FEATHERSTONE 1991) hält BARLÖSIUS fest, "dass große gesellschaftliche Wandlungsprozesse mit einem veränderten gesellschaftlichen Gebrauch des Körpers einhergehen und sich entsprechend in den Praktiken der Verkörperlichung und in den Wahrnehmungen der Verkörperungen niederschlagen" (S.34). Dieser Logik folgend würden Gegenwartsgesellschaften und ihre dominierenden Arbeitsformen die Fähigkeit zur Selbstdisziplin erwarten, welche am Körper abgelesen wird. Das Phänomen des Dickseins "ist immer in Bezug zu den gestiegenen gesellschaftlichen Aufforderungen, den Körper bewusst und absichtsvoll zu gestalten, zu setzen, und diese implizieren, nach einem dünnen Körper zu streben" (S.36). Die Ausführungen zur methodischen Anlage der Studie behandeln primär die Datengenerierung. Die durchgeführten Gruppendiskussionen mit den Jugendlichen und den Eltern orientieren sich an den Vorschlägen von Ralf BOHNSACK (1997) und anderen (BARLÖSIUS, S.40f.). Inwieweit die Auswertung der Daten sich ebenfalls an den Verfahrensweisen der Dokumentarischen Methode orientiert, wird in diesem Teilkapitel nicht gesondert diskutiert. Das zweite Kapitel thematisiert die Typisierungen von Dicksein, wie sie von den Jugendlichen in den Gruppendiskussionen geäußert wurden und plausibilisiert die hohe alltägliche Relevanz dieser Typisierungen für die Erfahrungen der Jugendlichen. Das dritte Kapitel rückt die Bedeutung des Körpers für soziale Ungleichheit in den Fokus. Der Körper scheint in dieser Perspektivierung sowohl als Erzeugnis wie auch als Erzeuger sozialer Benachteiligung auf. Während das dritte Kapitel Dicksein primär ungleichheitsanalytisch thematisiert, nimmt das anschließende vierte Kapitel in Anlehnung an BERGER und LUCKMANN (1969) eine legitimationsanalytische Perspektive ein. Im Fokus stehen zunächst die Stellungnahmen und Positionierungen der Jugendlichen gegenüber objektiv geltenden Legitimationen wie dem meritokratischen Leistungsprinzip. Im fünften Kapitel fokussiert BARLÖSIUS Phänomene moralischer Kommunikation in Anlehnung an Niklas LUHMANN (2008). Dabei kommen einerseits das Ernährungswissen und die ihm impliziten Wertungen aufseiten der Jugendlichen wie auch andererseits die PräventionsexpertInnen als moralische UnternehmerInnen in den Blick. Das vorletzte Kapitel rekonstruiert die Zukunftsentwürfe der Jugendlichen und unterstreicht dabei wieder das Gewicht der Körper für die Imagination erfolgreicher Lebenspläne. Das schließende siebte Kapitel nimmt die Erkenntnisse und Fragen der vorangehenden Ausführungen auf und stellt sie in Zusammenhang mit mehrfachen Verschiebungen sowohl der gesellschaftlichen Praxis sozialstruktureller Positionierung wie der soziologischen Analyse ebendieser. [4]

2. Perspektiven auf das Phänomen Dicksein

Auch wenn für BARLÖSIUS die Betroffenen, d.h. in diesem Fall die Jugendlichen im Zentrum des analytischen Interesses stehen, verfolgt sie in ihrer Untersuchung konsequent eine komparative Strategie und bringt in die einzelnen empirischen Kapitel immer auch die Perspektiven der Eltern und/oder der ExpertInnen ein. Im Rahmen einer Besprechung kann dieser Kompositionslogik allerdings nur bedingt gefolgt werden. Die folgenden Ausführungen werden sich kursorisch mit den Perspektiven der befragten Gruppen befassen und somit von der Gliederungslogik der besprochenen Studie abweichen. [5]

2.1 Die Perspektiven der Jugendlichen

Insgesamt wurden im Rahmen der Untersuchung acht Gruppendiskussionen mit 60 Jugendlichen aus sozial benachteiligten Stadtteilen einer nicht benannten Stadt durchgeführt (BARLÖSIUS, S.41ff.). Um der Frage nachzugehen, mit welchen Typisierungen sich die Jugendlichen im Alltag konfrontiert sehen, wurde zu Beginn der Gruppendiskussionen ein Comic präsentiert, der dickere und dünnere Jugendliche vor einem Imbiss zeigt (S.51). Aus den Reaktionen der Jugendlichen extrahiert BARLÖSIUS drei Gruppen von Typisierungen mit aufsteigendem Abstraktionsgrad. Die erste Gruppe charakterisiert die Autorin als deskriptiv und relational. Die abgebildeten Körper würden von Jugendlichen überwiegend vergleichend beschrieben (S.52). Die zweite Gruppe von Typisierungen enthält "Haltungen und Umgangsweisen, die an die gesellschaftliche Wahrnehmung der Körper anschließen" (a.a.O.). Hier überwiegen Bezüge auf die negative Wahrnehmung von "Dickeren". Die dritte Gruppe verweist auf ExpertInnenwissen und nutzt Fachbegriffe, wenn beispielsweise von "Mobbing" gegenüber Dickeren die Rede ist (S.53). Diese abstrakte, therapeutische Sprache dient aus der Sicht von BARLÖSIUS der Vermeidung, über eigene Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen und ermöglicht dergestalt eine Distanzierung. Das kann insofern als problematisch angesehen werden, als das "Vokabular des Expertendiskurses und die damit einhergehende hierarchisierende Bewertung der Probleme und Lösungen [...] eine gesellschaftlich legitimierte Sichtweise auf Dickere und Dicksein" vorgibt (S.55). [6]

Die begriffliche Unterscheidung dieser Typisierungen sagt aber noch nichts über deren Alltagsrelevanz aus. Wiederum auf Basis der Gruppendiskussionen vertritt BARLÖSIUS eine These der Allgegenwärtigkeit des Dickseins für die Jugendlichen:

"Ihre Praktiken, Verhaltens- und Handlungsweisen und selbst viele Dinge wie Kleidung, Nahrungsmittel etc. werden ihrer Erfahrung nach zunächst danach geordnet, ob sie selbst als dünner und normal oder als dicker und abweichend typisiert werden. Alle anderen Typisierungen, beispielsweise jung oder alt, arm oder reich, weiblich oder männlich, sind aus ihrer Perspektive nachrangig bei der Herstellung und Begründung von Unterschieden, also bei den Prozessen der Typisierung und Klassifizierung" (S.57). [7]

Diese These lässt sich mit der Relevanz von Geschlecht als Differenzkategorie in BOURDIEUs Studie "Die männliche Herrschaft" (2005) vergleichen. Entsprechend spricht BARLÖSIUS von einer "Verkörperung der Welt in ʹdickʹ und ʹdünnʹ" (S.58). Die Omnipräsenz des Körpers für die gesellschaftliche Wahrnehmung exemplifiziert die Autorin an den Themenkomplexen Essen, Kleidung, Sexualität und Liebe, Freundschaft sowie Sport (S.58ff.). Mit ihrer These der Allgegenwärtigkeit beansprucht BARLÖSIUS über die Forschung zu Stigmatisierung von Dicksein hinauszugehen, da diese typischerweise die Benachteiligung der Betroffenen aus Perspektive der "Normalen" rekonstruiere (S.63f.). Abwertende Typisierungen sind aus Perspektive der befragten Jugendlichen also allgegenwärtig und werden in unterschiedlichen Kontexten wahrgenommen (S.63). Diesen Typisierungen ist inhärent, dass sie die Körperlichkeit der befragten Jugendlichen als Abweichung einer gesellschaftlich konstruierten "normalen" Körperlichkeit markieren (S.65). [8]

Mit dieser sozialen Wertung des Dickseins geht für BARLÖSIUS eine soziale Benachteiligung einher, die dadurch verschärft wird, dass Dicksein weniger als soziales, sondern vielmehr als individuelles Phänomen gedeutet und behandelt wird:

"Obwohl die Jugendlichen in sozial benachteiligten Verhältnissen leben und die Hälfte von ihnen einen Migrationshintergrund hat, erwähnen sie beides mit keiner Silbe. Ebenso wenig weisen sie auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten hin. Für sie ist ihr Körper ursächlich für ihre verminderten sozialen Chancen, die sie sehr deutlich erleben, unter denen sie leiden und durch die sie ihre Zukunft bestimmt sehen" (S.105). [9]

Für eine individuelle Lebensführung, die sie als erfolgreich verstehen, sehen die Jugendlichen einen nicht-dicken Körper als notwendige Voraussetzung an (S.105, 116). Die mehrdimensionale soziale Benachteiligung wird von ihnen monokausal auf ihren Körper zurückgeführt. Dies ist insofern problematisch, als andere Erklärungen für soziale Benachteiligung nicht als selbstverschuldet zugerechnet werden, während gerade der Körper in das Feld der eigenen Verantwortung rückt (S.106). So haben die Jugendlichen bspw. das meritokratische Leistungsprinzip verinnerlicht und gehen davon aus, dass sie einen "guten" Schulabschluss benötigen, um Chancen auf einen "guten" Beruf zu haben. Gleichermaßen haben sie erfahren, dass ihnen aufgrund ihres Körpers geringeres Leistungsvermögen und entsprechend auch geringe Leistungsbereitschaft zugesprochen wird (S.114). Legitimationsanalytisch zeigt BARLÖSIUS auf, dass die Jugendlichen das meritokratische Leistungsprinzip verinnerlicht haben und es auch verteidigen (S.131). Zugleich greifen sie auf geltende Prinzipien zurück, um die Erfahrung der sozialen Benachteiligung zu kritisieren (S.135). Sie fordern Gleichbehandlung unabhängig von Körper bzw. Aussehen ein (S.135ff.). [10]

2.2 Die Perspektiven der Eltern

Die Perspektiven und Positionierungen der Eltern wurden in drei Gruppendiskussionen mit insgesamt 24 Müttern und Vätern erhoben (S.43f.). Eltern werden häufig als zentrale AkteurInnen angerufen, wenn es um die Beeinflussung des Körpergewichts der Kinder bzw. Jugendlichen geht. Laut BARLÖSIUS sind diese Appelle an die Eltern "fest mit sozialen Klassifikationen und Klassifizierungen und damit mit Prozessen der sozialstrukturellen Positionierung verwoben" (S.87). Die befragten Eltern greifen auf andere Legitimationen als die Jugendlichen zurück, um auf diese Appelle zu reagieren: "Um zu begründen, weshalb es ihnen nicht möglich sei, der an sie gerichteten Erwartung nachzukommen, ihre Kinder beim Abnehmen zu unterstützen, argumentieren sie mit verschiedensten Ausprägungen von Knappheit, die aus ihrer sozialen Lage resultieren" (S.88). Dazu sind zu zählen 1. beschränkte finanzielle Ressourcen, 2. Zeitknappheit und 3. andere Alltagsprobleme, die als dringend markiert werden (bspw. Scheidungen, Todesfälle etc.) (S.87-94). Darin zeigt sich das Wissen der Eltern über die Legitimität bestimmter Erklärungen sozialer Ungleichheit und deren Effekte: "Die Eltern greifen in ihren Stellungnahmen und Standpunkten jene gesellschaftlichen Sichtweisen über soziale Ungleichheiten und die daraus resultierenden Beschränkungen und Grenzen auf, die durch vergangene soziale Auseinandersetzungen zu anerkannten und legitimen Begründungen geworden sind" (S.103). [11]

Weiter zeigt BARLÖSIUS auf, dass von den Jugendlichen wie auch ihren Eltern Eingriffe von außen in den Ernährungsstil zugleich als Eingriffe in die Eltern-Kind-Beziehung gedeutet werden können (S.93). Aus Perspektive der Eltern sind solche Eingriffe problematisch, da es der gewohnte Essstil ermögliche, den Kindern und Jugendlichen trotz begrenzter Mittel die elterliche Zuneigung zu signalisieren. Die Eltern haben zudem eigene Erklärungen für das Dicksein ihrer Kinder. BARLÖSIUS führt an, dass von ihnen als wichtigste Ursache mangelnde Selbstkontrolle in Verbindung mit Frust, Langeweile oder Wut angeführt würde (S.96f.). Die Verantwortung für die Änderung der Ernährungsweise werde dabei von den Eltern zu einem hohen Grad an die Kinder bzw. Jugendlichen delegiert (S.97). [12]

2.3 Die Perspektiven der ExpertInnen

Die 18 TeilnehmerInnen an dem World Café sind AkteurInnen aus der Gesundheitsförderung, die sich vorwiegend mit sozial benachteiligten Jugendlichen und Familien befassen (S.44f.). In ihrer Berufspraxis sind sie entweder mit der Konzeption von Präventionsmaßnahmen betraut oder setzen diese praktisch um. Das World Café diente primär der Untersuchung der Sichtweisen, der Erfahrungen und des Sonderwissens dieser ExpertInnen. Als AkteurInnen der Gesundheitsförderung sei deren Aufgabe legitimationsanalytisch gesprochen die "Therapie" von wirklicher oder potenzieller Abweichung von der "offiziellen Wirklichkeitsbestimmung" (BERGER & LUCKMANN 1969, S.121). In zeitgenössischen Gesellschaften komme dieser AkteurInnengruppe besondere Bedeutung zu: "In komplexen Gesellschaften wie den Gegenwartsgesellschaften, in denen das moralische Interesse ausdifferenziert, Prävention professionalisiert und zu einem sozialen Feld entwickelt wurde, ist Moralisierung zu einer professionellen Leistung geworden" (BARLÖSIUS, S.162). [13]

Das Wissen der Ernährungsprävention sei dabei eng mit Wertungen verknüpft. Laut BARLÖSIUS erklärt dies den appellativen Charakter der Aussagen der PräventionsexpertInnen (S.142). Wie oben bereits angedeutet, nimmt BARLÖSIUS die befragten ExpertInnen vor allem als "moralische Unternehmer" (vgl. BECKER 1963) in den Blick. Als solche verbinden die ExpertInnen ihr Wissen und ihre Äußerungen mit mehr oder weniger impliziten Wertungen. Erwähnenswert erscheint hier erstens, dass ein Zusammenhang zwischen Praxisnähe und Offenheit der Wertungen zu bestehen scheint. Denn je "weniger fachspezifisch Wissen und Konzepte erörtert wurden, je mehr ein Austausch über praktische Erfahrungen in der Prävention stattfand, umso klarer und eindeutiger traten die Wertungen hervor" (BARLÖSIUS, S.159). Zweitens verstünden die ExpertInnen die Eltern als die zentralen AkteurInnen, wenn es um das Körpergewicht der Kinder und Jugendlichen geht: "Unter den Teilnehmern am World Café bestand Einigkeit darüber, dass hauptsächlich die Eltern für das Gewicht der Kinder verantwortlich sind und die Pflicht haben, sie beim Abnehmen zu unterstützen" (a.a.O.). Entsprechend richten sich die Appelle der ExpertInnen immer auch an die Eltern. Drittens lässt sich unterstreichen, dass dem Selbstverständnis nach die Praxis der PräventionsexpertInnen für alle Gesellschaftsmitglieder relevant ist, nicht nur die Betroffenen (S.160f.). Moralisierung als professionelle Leistung bzw. als Therapie im Sinne BERGER und LUCKMANNS (1969) richte sich nicht nur an wirklichen, sondern auch an potenziellen Abweichungen aus. [14]

3. Kritische Würdigung

In Anlehnung an Howard S. BECKER (1967) lässt sich jede soziologische Studie fragen: "Whose side are we on?" Die vorliegende Untersuchung stellt sich auf die Seite der Jugendlichen, auch wenn sie die Perspektiven von Eltern und GesundheitsexpertInnen mit aufnimmt. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Studie "Dicksein" zeichnet sich durch ihre vorzügliche Lesbarkeit aus, so dass sie neben FachwissenschaftlerInnen auch ein soziologisch interessiertes Publikum ansprechen sollte. [15]

Ein zentrales Moment der hier besprochenen Studie ist ihr dezidiert zeitdiagnostisches Interesse. Dieses tritt nicht nur in den Rahmenkapiteln, sondern auch in den empirischen Kapiteln wiederholt zu Tage. Ausgemacht erscheint für BARLÖSIUS,

"dass die gesellschaftlichen Erfahrungen sowie der gesellschaftliche Umgang mit Menschen, die als zu dick erachtet werden, auf den Körper Bezug nehmen, weshalb die Prozesse der Verkörperlichung und Verkörperung zu analysieren sind und zu fragen ist, in welcher Weise der Körper für soziale Strukturierungen und Legitimationen herangezogen wird" (S.177f.). [16]

Die Differenz zwischen Dünn- und Dicksein setzt auf Typisierungen und Klassifikationen auf, die im Falle der befragten Jugendlichen andere ungleichheitsanalytisch relevanten Kategorien nachrangig erscheinen lassen – zumindest aus der Perspektive der Jugendlichen. Wie BARLÖSIUS aufzeigt, stellt sich dies aus Perspektive der Eltern anders dar. Die Frage nach dem Grund für diese unterschiedlichen Deutungen bleibt jedoch unbeantwortet, da andere Fragen für die Autorin im Vordergrund stehen. Zeitdiagnostisch motiviert formuliert BARLÖSIUS die Frage, wieso "immer mehr Prozesse der sozialen Differenzierung am Körper an[setzen], und zwar sowohl um soziale Ungleichheiten als auch Abweichungen von der gesellschaftlichen Ordnung zu markieren" (S.182). Dabei müssen sich nicht unbedingt die sozialstrukturellen Verhältnisse grundlegend gewandelt haben, sondern vor allem deren Wahrnehmungen und Bewertungen. Wenn es wirklich so sein sollte, dass der Körper zentraler für die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse geworden ist, stellt sich die Frage, inwiefern diese Entwicklung methodisch wie theoretisch eingefangen werden könnte. [17]

Die jugendliche Betonung der Allgegenwärtigkeit des Körpers für die eigene Positionierung könnte natürlich auch Effekt der Rekrutierung der TeilnehmerInnen für die Gruppendiskussionen sein. Der Flyer, mit dem die Jugendlichen angesprochen wurden, war mit "Dicke Freunde?" übertitelt (S.42). Sprachlich adressiert wurden "dicke" bzw. "übergewichtige" Jugendliche. Eine kritische Anfrage könnte also lauten, ob die Rahmung der Datengenerierung für die beobachtete Allgegenwärtigkeit des Körpers mit verantwortlich ist. Aber könnte eine solche Kritik nicht auch generell gegenüber einer Vielzahl aktueller qualitativer Studien, die mit Einzel- oder Gruppeninterviewmethoden arbeiten, in Stellung gebracht werden? Richtig erscheint es, dass bei der Auswahl der Jugendlichen keine medizinischen Kriterien angelegt wurden, sondern deren Selbstwahrnehmung entscheidend war. Dies entspricht, so BARLÖSIUS, der Grundthese der Untersuchung, die Dicksein als gesellschaftliche Erfahrung versteht (a.a.O.). Grundsätzlich stellt sich BARLÖSIUS zudem die Frage, welche Begrifflichkeit sich sinnvoll von soziologischer Seite zur analytischen Erschließung des Phänomens anbietet. Der Rückgriff auf etablierte medizinische Begriffe verbietet sich ihrer Ansicht nach. Denn "[w]ürde die Soziologie die medizinisch legitimierten Begriffe übernehmen, dann würde sie sich dieser Macht bedienen, während ihre originäre Aufgabe doch darin besteht, den gesellschaftlichen Gebrauch von Begriffen, Bezeichnungen und Benennungen zu analysieren" (S.8). Das ist nur konsequent vor dem Hintergrund der von der Autorin beschriebenen Forschungslage, in welcher die Perspektive der potenziell Stigmatisierten häufig ausgeblendet werde. [18]

Eva BARLÖSIUS zieht unterschiedliche Deutungsrahmen aus dem soziologischen Theorieangebot für die fundierte Einbettung und Diskussion ihrer empirischen Befunde heran. Neben den oben genannten Perspektiven von BERGER und LUCKMANN sowie BOURDIEU wäre als dritte wichtige Perspektivierung die Theorie moralischer Kommunikation von LUHMANN zu nennen, die zur Anwendung gebracht wird. Im Vordergrund steht dabei immer eine Vertiefung des Verständnisses des empirischen Phänomens. Damit gehen in den einzelnen empirischen Kapiteln auch immer Rückverweise auf die genutzten Perspektiven einher. So wird beispielsweise in Bezug auf BERGER und LUCKMANNs Legitimationstheorie ein Revisionsbedarf im Hinblick auf deren Anwendung für die Analyse von Gegenwartsgesellschaften angezeigt (BARLÖSIUS, S.121f.). Auch wenn man im Einzelfall nicht jede der vorgebrachten Kritiken teilen muss, so regt dieses Wechselspiel zwischen empirischer und theoretischer Analyse doch zum Weiterdenken an. Besonders deutlich wird dies m.E. an einem Punkt: Eine der von BARLÖSIUS formulierten theoretischen Herausforderungen ist die Verzahnung von ungleichheits- und legitimationsanalytischen Perspektiven. Ihr Ansatz, die BOURDIEUsche Ungleichheitsanalyse konstruktiv mit BERGER und LUCKMANN zu verbinden und damit zugleich ungleichheits- wie legitimationsanalytisch vorgehen zu können, erscheint hier besonders instruktiv. Leider wird dieser Pfad zu selten beschritten. Arbeiten, welche die Komplementarität der genannten Ansätze bzw. einzelner Aspekte dieser Ansätze ausdeuten (bspw. KNOBLAUCH 2003), sind selten. So bleibt zu hoffen, dass die besprochene Studie nicht nur im Hinblick auf ihre empirischen Ergebnisse hin wahrgenommen, sondern auch die Verzahnung theoretischer Perspektiven als Anregung aufgenommen wird. [19]

Literatur

Becker, Howard S. (1963). Outsiders. Studies in the sociology of deviance. New York: Free Press.

Becker, Howard S. (1967). Whose side are we on?. Social Problems, 14(3), 239-247.

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer.

Bohnsack, Ralf (1997). Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung. In Barbara Friebertshäuser & Annedore Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S.492-502). Weinheim: Juventa

Bourdieu, Pierre (1985). Sozialer Raum und "Klassen". Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (2005). Die männliche Herrschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Brown, Juanita & Isaacs, David (2005). The world café. Shaping our futures through conversations that matter. San Francisco, CA: Berrett-Koehler Publishers.

Détrez, Christine (2002). La construction sociale du corps [Die soziale Konstruktion des Körpers]. Paris: Seuil.

Featherstone, Mike (1991). The body in consumer culture. In Mike Featherstone & Bryan S. Turner (Hrsg.), The body (S.170-195). London: Sage.

Knoblauch, Hubert (2003). Habitus und Habitualisierung. Zur Komplementarität Bourdieus mit dem Sozialkonstruktivismus. In Boike Rehbein & Gernot Saalmann (Hrsg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen (S.187-201), Konstanz: UVK.

Luhmann, Niklas (2008). Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Zum Autor

Oliver BERLI ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Erziehungs- und Kultursoziologie an der Universität zu Köln. Gegenwärtig untersucht er in einem BMBF-geförderten Projekt die Karrieren von NachwuchswissenschaftlerInnen in Deutschland mit besonderem Fokus auf die Disziplinen BWL, Geschichte und Physik. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten in Forschung und Lehre gehören: Methoden der qualitativen Sozialforschung, Kultursoziologie sowie Wissens- und Wissenschaftssoziologie.

Kontakt:

Dr. Oliver Berli

Erziehungs- und Kultursoziologie
Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften
Universität zu Köln
Gronewaldstr. 2
50931 Köln

Tel.: +49 (0)221-470-7349

E-Mail: oberli@uni-koeln.de
URL: http://www.hf.uni-koeln.de/35520

Zitation

Berli, Oliver (2015). Rezension: Eva Barlösius (2014). Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 16(2), Art. 21,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1503161.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License