Volume 8, No. 2, Art. 20 – Mai 2007
An den Rändern der Diskurse. Jenseits der Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken
Daniel Wrana & Antje Langer
Zusammenfassung: Wenn von und für Diskursanalytiker(innen) eine Preisfrage ausgesetzt werden würde, dann wäre wohl eine der ersten zu beantwortenden Fragen, was denn eine "nicht-diskursive Praktik" sei. Die Frage markiert gewissermaßen die Grenze des Diskurses, denn schon die Benennung lässt vermuten, dass "nicht-diskursive Praktiken" eben nicht mehr Diskurs sind. Dieses Problem des Nicht-Diskursiven und die verschiedenen Möglichkeiten, diesen Rand, diese Grenze zu denken, auf ihrem Grat zu gehen oder sie zu unterlaufen, möchten wir im Folgenden zunächst anhand der theoretisch-methodologischen Debatte und dann anhand einiger konkreter Interpretationen von Texten und Beobachtungen aus verschiedenen empirischen Forschungsprojekten diskutieren. Dabei orientieren wir uns an den denkbaren Grenzen des Diskurses – der Macht, der Alltagspraxis, dem Körper, dem Subjekt – und entfalten die These, dass die Unterscheidung von diskursiv und nicht-diskursiv gerade nicht geeignet ist, Klarheit in die Debatte zu bringen.
Keywords: diskursive und nicht-diskursive Praktiken, Diskursanalyse, FOUCAULT, Ethnographie
Inhaltsverzeichnis
1. Diskurs und Wirklichkeit
2. Diskurse als Bündel von Beziehungen
3. Die Unterscheidung unterlaufen
4. Die Kraft der Machtbeziehungen
5. Die Eigenwilligkeit der Alltagspraxis
6. Die Stummheit des Körpers
7. An den Rändern des Diskurses
In einem Grundsatzartikel über die Weiterentwicklung der Diskursanalyse kritisiert Siegfried JÄGER den "stark im Verbalen verfangenen Diskursbegriff" (JÄGER 2001, S.95) Michel FOUCAULTs und konstatiert, dass dieser von einem Dualismus zwischen Diskurs und Wirklichkeit ausgehe: "Foucault sah nicht, dass die Diskurse und die Welt der Gegenständlichkeiten bzw. Wirklichkeiten substanziell miteinander vermittelt sind und nicht unabhängig voneinander existieren." (ebd., S.90) Anhand von JÄGERs Kritik an FOUCAULTs Diskurstheorie möchten wir in die Problematik der Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken einführen. [1]
Die Stärke der Diskurstheorie FOUCAULTs besteht nach JÄGER darin, dass sie das Diskursive nicht als bloßen Spiegel der materiellen Wirklichkeit oder als bloßes Gerede begreift, sondern dass sie das Diskursive vielmehr als eigenständige Ebene der materiellen Wirklichkeit entwirft. "Er [der Diskurs, Anm. DW/AL] stellt eine eigene Wirklichkeit dar, die gegenüber der 'wirklichen Wirklichkeit' keineswegs nur Schall und Rauch, Verzerrung und Lüge ist, sondern eigene Materialität hat und sich aus vergangenen und anderen Diskursen 'speist'." (JÄGER 2001, S.85) Ungenügend aber scheint JÄGER die Vermittlung dieser eigenständigen Ebene der diskursiven Wirklichkeit mit "der Wirklichkeit" in FOUCAULTs Argumentationen. Die zentrale These von Arbeiten wie der "Ordnung der Dinge" (FOUCAULT 1974) oder der "Archäologie des Wissens" (FOUCAULT 1981) sei, dass die Dinge und ihre Ordnung als Effekte der diskursiven Praxis ihrer Hervorbringung, Umgestaltung, Sicherung usw. zu analysieren seien (ebd., S.93). Auch wenn JÄGER diese These FOUCAULTs im Grunde teilt, führt sie seines Erachtens doch nicht weiter, weil "die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, Gesellschaft und Diskurs nicht als/über Arbeit/Tätigkeit bzw. nichtdiskursive Praxen vollzogen" (ebd.) begriffen werde. Die diskursive Praxis bleibe für FOUCAULT doch "verbal, streng von der nicht-diskursiven Praxis getrennt" (ebd.). Das ändere sich auch mit FOUCAULTs Erweiterung der Diskurstheorie zu einer Machttheorie nicht, da FOUCAULT die Dispositive – sein neu eingeführter Begriff für Macht-Wissen-Komplexe – als Ensemble diskursiver und nicht-diskursiver Praxen verstehe, sie allerdings im Dispositivbegriff lediglich summiere, ohne ihr Verhältnis angemessen zu bestimmen (ebd., S.90). Es sind also zwei Probleme, die JÄGER ausmacht: Zunächst evoziere ein allzu verbal gedachter "Diskurs" eine "Wirklichkeit" als sein Anderes, die dann aber weder an sich noch in ihrer Beziehung zum Diskurs angemessen bestimmt werde. Man könnte JÄGERs Kritik nun zuspitzen und formulieren: Um so mehr man das Diskursive und das Nicht-Diskursive als zwei getrennte Wirklichkeiten begreift, um so problematischer wird die sich daraus ergebende Vermittlungsfrage. Dass FOUCAULT in einer Diskussion auf die Aufforderung, den Begriff der nicht-diskursiven Praktiken zu konkretisieren, mit der überraschenden Antwort reagiert, dass er nicht glaube, dass die Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken von großer Bedeutung wäre, betrachtet JÄGER als "Verlegenheit" (ebd., S.89); man habe FOUCAULT "in die Enge getrieben" (ebd.) und er habe sich in seiner eigenen Theorie verfangen. [2]
Mit der Auffassung, dass der Diskursbegriff FOUCAULTs zu einseitig konstruiert sei, steht JÄGER nicht allein. Hubert DREYFUS und Paul RABINOW vertreten in einer vielbeachteten Arbeit über die Machttheorie FOUCAULTs die Position, dass die Diskurstheorie gescheitert sei, dass FOUCAULT sie deshalb nicht weitergeführt und stattdessen die Machttheorie entwickelt habe. Der Machtanalytik FOUCAULTs jedoch attestieren sie, sie sei gewissermaßen
"die einzig noch bleibende Position, die weder auf eine unhaltbare Tradition regrediert noch mit modischen Analysen des 'freien Spiels der Signifikanten' oder der Begehren spielt. Das bedeutet freilich nicht, dass man Foucaults spezifischer Diagnose unserer gegenwärtigen Situation zustimmen muß. Aber es impliziert, dass eine gewisse Form interpretativer Analytik gegenwärtig die leistungsfähigste, einsichtigste und aufrichtigste verfügbare Position ist." (DREYFUS & RABINOW 1989, S.154) [3]
Mit der Lösung von DREYFUS und RABINOW, die Diskurstheorie zu verabschieden und sie durch die Machtanalyse zu ersetzen, kann sich die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, die sich in den letzten Jahren etabliert hat, aber kaum zufrieden geben. Da sie die Diskurse bzw. das Diskursive zum Gegenstand hat, gilt es, so der weitgehende Konsens, deren Verhältnis zu den Machtverhältnissen und den Machtpraktiken genauer zu bestimmen. Thema und Ziel der bisherigen Diskussion ist daher vor allem eine Erweiterung der Diskursanalyse zur Dispositivanalyse, die – ausgehend von vom Diskursiven – eine Analyse der Machtverhältnisse und der nicht-diskursiven Praktiken mit einschließt. Die Vorschläge zu dieser Erweiterung sind allerdings recht verschieden. JÄGER vermittelt die Diskurstheorie mit der materialistisch-psychologischen Tätigkeitstheorie LEONTJEWs, von der ausgehend drei Ebenen untersucht werden können: Diskurse, nicht-diskursive Praktiken und verobjektivierte Gegenständlichkeiten (JÄGER 2001, S.108). Rainer DIAZ-BONE konzipiert die Relationierung der Diskurse mit dem sozialen Raum im Anschluss an BOURDIEUs Theorem der Homologie von Räumen (DIAZ-BONE 2002, S.127ff.). Andrea BÜHRMANN entwirft eine Methodologie der Machtanalyse, die sich an ähnlichen Kategorien orientiert, wie sie FOUCAULT in der "Archäologie des Wissens" entworfen hat, und versteht Dispositivanalyse als Kombination von Diskurs- und Machtanalyse (BÜHRMANN 2004). Werner SCHNEIDER und Andreas HIRSELAND fassen den Dispositivbegriff, indem sie die Machttheorie ausgehend von BERGER und LUCKMANNs "Gesellschaftliche(r) Konstruktion der Wirklichkeit" wissenssoziologisch reformulieren (SCHNEIDER & HIRSELAND 2005, S.259f.). Wir teilen das Problembewusstsein dieser Entwürfe, werden im Folgenden jedoch eine andere Problematisierungsebene wählen, indem wir keine Theorie der Dispositivanalyse entwerfen, sondern uns ansehen, wie sich die Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken realisiert, wenn sie an Untersuchungsgegenständen konkretisiert wird. Wir möchten die Weise der Vermittlung von Diskursivem und Nicht-Diskursivem herausarbeiten und zeigen, dass diese bereits in den Gegenständen so eng ist, dass eine vorgängige analytische Unterscheidung zweier Ebenen problematisch erscheint. Die exemplarischen Untersuchungen gliedern wir anhand von drei Dimensionen: der Macht, der Alltagspraxis und des Körpers. Eine vierte Dimension ist das Subjekt, dessen Thematisierung sich durch alle drei Abschnitte ziehen wird. Diese Dimensionen unterstellen wir als mögliche Orte des Nicht-Diskursiven bzw. des "Anderen des Diskurses", um dann die Haltbarkeit dieser "Andersheit" zu prüfen. Zuvor möchten wir aber anhand einer Relektüre der Diskurstheorie FOUCAULTs zeigen, dass schon diese sich nicht durch einen autonom sprachlichen Diskursbegriff auszeichnet, wie JÄGER unterstellt, sondern dass FOUCAULT den Diskurs als Grenze zwischen dem Sprachlichen und dem Nicht-Sprachlichen zu konzeptionieren versucht. [4]
2. Diskurse als Bündel von Beziehungen
In FOUCAULTs "Archäologie des Wissens" (1981), die als methodologische Reflexion auf seine bis dahin vorgelegten Arbeiten und zugleich als Entwurf einer Diskurstheorie gilt, taucht das Problem nicht-diskursiver Praktiken im Kontext der Frage auf, wie Diskurse erkannt oder genauer: wie sie als diskursive Formationen isoliert und benannt werden können. Dabei bestimmt FOUCAULT die diskursiven Formationen keineswegs als eine Menge von Texten, Textfragmenten oder Äußerungen, er bezeichnet sie vielmehr als "Bündel von Beziehungen". Der Diskurs ist nicht als eine isolierbare Einheit zu begreifen, sondern als die Funktion der "Herstellung von Beziehungen, die die diskursive Praxis selbst charakterisiert" (FOUCAULT 1981, S.70, 126). Unter den homogenen diskursiven Formationen versteht FOUCAULT also weder sprachliche Produkte (Texte) noch sprachliche Elemente (Wörter, Seme, Bedeutungspartikel, rhetorische Figuren oder Ähnliches), sondern die Ähnlichkeit einer diskursiven Praxis der Herstellung von Wahrheit und Bedeutung. Im Zentrum der Diskurstheorie stehen also nicht die Sprache und sprachliche Objekte, sondern sprachliches Handeln. Die Herstellung von Beziehungen zwischen 1. einem Feld von Gegenständen, 2. einem Ensemble von Bedeutungen, 3. einer Positionierung des Subjekts und 4. einer Materialität (z.B. einem Textfragment) ist die Funktion des Äußerungsaktes. Da der Äußerungsakt nicht singulär ist, sondern den Bedingungen der Iterabilität/Wiederholbarkeit unterliegt, kann die diskursive Praxis als rhizomatisch strukturierter Komplex von Äußerungsakten begriffen werden (FOUCAULT 1981, S.126, 151, vgl. ausführlich WRANA 2006, S.122ff.). Die Diskurstheorie FOUCAULTs führt demnach eine doppelte Verschiebung ein: der "linguistic turn", den sie wie zahlreiche andere Theorien vollzieht, ist zugleich ein "pragmatic turn". Die Wahrheit einer Aussage – so eine ihrer Grundannahmen – zieht ihre Geltung nicht aus der angemessenen Abbildung einer objektiven Welt, sondern aus dem (Wahr-) Sprechen, einem sprechenden Tun, das die Wahrheit des Gesagten konstituiert und verbürgt. Die Diskursanalyse befasst sich nicht mit der Sprache verstanden als "Sprachsystem" (SAUSSURE 1967), als immanente Struktur, sondern mit dem Sprechen als sozialem Tun, als konkreter gesellschaftlicher Tätigkeit. [5]
Liest man die "Archäologie des Wissens" so, ist FOUCAULTS Diskursbegriff weit davon entfernt, die Welt "als Text" und den Diskurs als sprachliche Immanenzebene zu verstehen. Zunächst zeigt FOUCAULT, dass sich eine diskursive Formation dadurch auszeichnet, dass die Gegenstände, die der Diskurs bildet (z.B. "der Wahnsinn"), auf eine bestimmte Weise gebildet werden. Beschreiben lässt sich diese Weise, indem man die Beziehungen zwischen den Oberflächen des Auftauchens (z.B. Sexualität, Strafvollzug), den Instanzen der Abgrenzung (z.B. die ärztliche Instanz, die gerichtliche Instanz), den Kategorisierungs- und Charakterisierungsebenen und Rastern (z.B. Stufen der Zurechnungsfähigkeit) und den Praktiken der Wissensproduktion (Verhörweisen, Fragebögen, biografische Berichte) herausarbeitet (FOUCAULT 1981, S.62ff.). Diese Beziehungen bezeichnet FOUCAULT in der Summe als "diskursive Beziehungen". Die Aufzählung zeigt, dass die diskursiven Beziehungen bei FOUCAULT keineswegs einfach "sprachlich" sind – sie sind vielmehr das, was das Sprachliche mit dem Nicht-Sprachlichen, die Institutionen und Subjekte mit dem Gesprochenen in Beziehung setzt. Jenseits dieser diskursiven Beziehungen, also jenseits dessen, was das Sprachliche mit dem Nicht-Sprachlichen verbindet, postuliert FOUCAULT die "primären Beziehungen", die "unabhängig von jedem Diskurs oder jedem Diskursgegenstand zwischen Institutionen, Techniken, Gesellschaftsformen usw. beschrieben werden können" (ebd., S.69). Aber auch wenn diese primären Beziehungen nicht mehr Diskurs sind, so sind sie doch Gegenstand der Diskursanalyse, denn in dieser soll es um ein System der verschiedenen Beziehungen gehen (ebd.). Die diskursiven Beziehungen werden in diesem Zusammenhang als die "eigentlichen diskursiven Beziehungen bezeichnet" (ebd.); sie sind nach FOUCAULT dem Diskurs weder innerlich – semantische Beziehungen zwischen bedeutungstragenden Elementen – noch äußerlich – Produktionsverhältnisse, die den Diskurs determinieren. Sie sind vielmehr genau auf der Grenze angesiedelt, an seinem Rand:
"Sie befinden sich irgendwie an der Grenze des Diskurses: sie bieten ihm die Gegenstände, über die er reden kann, oder vielmehr (denn dieses Bild des Angebots setzt voraus, daß die Gegenstände auf der einen Seite gebildet werden und der Diskurs auf der anderen) sie bestimmen das Bündel von Beziehungen, die der Diskurs bewirken muß, um von diesen und jenen Gegenständen reden, sie behandeln, sie benennen, sie analysieren, sie klassifizieren, sie erklären zu können." (ebd., S.70) [6]
Die Diskursanalyse untersucht also gerade nicht die Diskurse als Sprache oder sprachliche Artefakte bzw, Texte, sondern die diskursiven Beziehungen als Beziehungen des Sprachlichen zum Nicht-Sprachlichen. Verwirrend ist, dass die Differenz sprachlich vs. nicht-sprachlich mit der Differenz diskursiv vs. nicht-diskursiv bisweilen synonym zu sein scheint, und diese Gleichbedeutung entspricht einem weniger theoretischen Verständnis des Diskursiven durchaus und klingt daher evident. Dennoch handelt es sich um einen zu kurz greifenden Zusammenschluss zweier Differenzen, die bei FOUCAULT Verschiedenes benennen. Da das Diskursive als Übergang vom Sprachlichen zum Nicht-Sprachlichen die Grenze des Sprachlichen markiert, wäre eine nicht-diskursive Praktik keine nicht-sprachliche Praktik, sondern eine, die nicht mit Diskursen in unmittelbaren Beziehungen steht. Da aber das Gesamt der Beziehungen ein System bildet, müsste man nun argumentieren, dass die "eigentlich" nicht-diskursiven Praktiken zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar mit Diskursen verbunden sind, und daher nicht einfach "nicht-diskursiv" sind, sondern "uneigentlich diskursiv". Das mag spitzfindig klingen, soll aber zunächst nur deutlich machen, wie komplex die Lage auf der Theorieebene wird, wenn man versucht, die Beziehungen und Praktiken anhand der Differenz diskursiv vs. nicht-diskursiv konsequent zu unterscheiden. [7]
Den Begriff der "nicht-diskursiven Praktiken" bringt FOUCAULT nun tatsächlich einige Passagen weiter. Im Kontext der "Formation der Strategien" betont er, dass ein Aspekt jeder diskursiven Praxis das Strategische sei. Die "theoretische Wahl" führe eine Selektion im Sagbaren aus. Ein Diskurs erfülle nämlich eine Funktion innerhalb eines Feldes nicht-diskursiver Praktiken (ebd., S.99) und bilde ein System der Aneignung und des Besitzes: legitimes Recht des Sprechens, Kompetenz des Verstehens etc. Die Beziehung des Diskursiven mit dem Nicht-Diskursiven beschreibt FOUCAULT demnach wesentlich als strategisch. Der ökonomische Diskurs beispielsweise, wie er in der "Ordnung der Dinge" (FOUCAULT 1974) vom 16. bis zum 19. Jahrhundert untersucht wird, definiere sich in der klassischen Epoche (ca. 1650-1800) durch "eine bestimmte, konstante Weise, wie einem Diskurs innerliche Möglichkeiten der Systematisierung mit anderen Diskursen, die ihm äußerlich sind, und ein ganzes nicht-diskursives Feld von Praktiken, von Aneignungen, Interessen und Bedürfnissen in Beziehung gesetzt werden können" (FOUCAULT 1981, S.101). Die Strategien verweisen gewissermaßen auf die "Bruchstelle" zum Nicht-Diskursiven innerhalb des Diskurses. Für die Diskursanalyse gelte es nun, diese Bruchstellen zu suchen, an denen inkompatible Elemente auftreten, um dann nach der "Ökonomie der diskursiven Konstellation" (ebd., S.97) zu fahnden, von der her sich diese Bruchstellen erklären lassen. [8]
FOUCAULT führt also eine Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken in die Diskurstheorie ein, nur um sie sogleich wieder aufzuheben. Die damit verbundene Theoriestrategie ist bemerkenswert: Ein Wirklichkeitsbereich wird qua Theorie isoliert – der Diskurs. Eine solche Isolation eines Wirklichkeitsbereiches ist immer mit Unterscheidungen und Grenzziehungen verbunden, in diesem Fall die Unterscheidung von Diskurs und Nicht-Diskurs. Aber dann begnügt sich FOUCAULT keineswegs damit, das Abgegrenzte zu begreifen, gewissermaßen "festzustellen" und zu "benennen". Die Grenze von Diskurs und Nicht-Diskurs wird als Zone grenzüberschreitender Bezüge begriffen, die nun zum eigentlichen Gegenstand der Diskursanalyse werden. In einer Diskursanalyse solle es nach FOUCAULT gerade nicht um das Diskursive als solches gehen, sondern darum, den Diskurs als Praxis zu analysieren,
"der sich an ein bestimmtes Feld von Gegenständen wendet, der sich in den Händen einer gewissen Zahl von statuarisch bezeichneten Individuen befindet, der schließlich bestimmte Funktionen in der Gesellschaft zu erfüllen hat, sich über Praktiken artikuliert, die ihm äußerlich und selbst nicht-diskursiver Natur sind" (FOUCAULT 1981, S.234). [9]
Auch wenn FOUCAULT diese Unterscheidung trifft und des Öfteren benutzt, scheint sie ihm nicht immer hilfreich zu sein. Trifft man sie, ohne die Strategie ihrer Auflösung als Grenze mitzudenken, so handelt man sich ein Verschieben der Gegenstände ein: das Diskursive implodiert mit dem Sprachlichen, und der Fokus der Analyse verschiebt sich. Ein Gespräch FOUCAULTs mit Angehörigen des Département de Psychoanalyse in Paris zeigt dies anekdotisch. Ein Diskussionsteilnehmer sagt dort: "Aber um auf das 'Nicht-Diskursive' jenseits der Aussagen zurückzukommen: kommt an Nicht-Diskursivem in einem Dispositiv noch anderes vor als die 'Institution'?" Darauf FOUCAULT: "Was man im allgemeinen 'Institution' nennt, meint jedes mehr oder weniger aufgezwungene, eingeübte Verhalten. Alles was in einer Gesellschaft ist, kurz also: alles nicht-diskursive Soziale ist Institution." Auf den Einspruch: "Die Institution ist doch offensichtlich diskursiver Natur" jedoch antwortet FOUCAULT: "Von mir aus. Aber für das, was ich mit dem Dispositiv sagen will, ist es kaum von Bedeutung, zu sagen: das ist diskursiv und das nicht …" (FOUCAULT 1978, S.124f.). [10]
3. Die Unterscheidung unterlaufen
Die Figur, die FOUCAULT vorschlägt, bleibt paradox. Mit dem Vorschlag, das Diskursive als Grenze des Diskursiven zum Nicht-Diskursiven zu verstehen, ist nur die Unentscheidbarkeit festgehalten. Wie viele andere kommt Bernhard WALDENFELS zu dem Schluss, dass FOUCAULTs eigene Bestimmungen unbefriedigend bleiben. Er schlägt vor, die Untersuchung der geordneten Dinge auszuweiten und von seiner Einschränkung auf die Aussage zu befreien. FOUCAULT schränke sich selbst auf Diskurse ein,
"anstatt von einer Ordnung auszugehen, die sich auf die verschiedenen Verhaltensregister des Menschen verteilt, auf sein Reden und sein Tun, aber auch auf seinen Blick, auf seine Leibessitten, seine erotischen Beziehungen, seine technischen Hantierungen, seine ökonomischen und politischen Entscheidungen, seine künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen und anderes mehr" (WALDENFELS 1991, S.291). [11]
Ein solcher umfassender Ordnungsbegriff, so WALDENFELS, entspräche FOUCAULTs tatsächlicher Arbeitsweise im Gegensatz zu seinen theoretischen Äußerungen. Das Ordnungsgeschehen solle so weit differenziert werden, dass nicht "eine Ordnungsform dominiert" (ebd., S.292). Dieser Ausweitung der im Sinne der diskursanalytischen Methodologie zu beobachtenden Praktiken möchten wir folgen, allerdings nicht, um die diskursiven Praktiken als eine kleine Teilmenge der menschlichen Äußerungen zu betrachten und jenseits ihrer Existenz die "anderen Praktiken" als nicht-diskursive aufzuweisen. Es geht vielmehr darum zu zeigen, inwiefern verschiedene Verhaltensweisen diskursive Momente aufweisen. Einen ähnlichen Schluss ziehen Ernesto LACLAU und Chantal MOUFFE:
"Unsere Analyse verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen und behauptet, dass zum einen sich jedes Objekt insofern als Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist und zum anderen jede Unterscheidung von gewöhnlich als linguistisch und behavioristisch bezeichneten Aspekten gesellschaftlicher Praxis entweder eine falsche Unterscheidung ist oder als eine Differenzierung innerhalb der sich in verschiedene diskursive Totalitäten strukturierenden gesellschaftlichen Sinnproduktionen verortet werden sollte." (LACLAU & MOUFFE 1991, S.157) [12]
Anders formuliert: Erstens bekommen jedes Objekt und jede Handlung ihre Bedeutung und damit den Horizont gesellschaftlich anschlussfähiger Objekte und Handlungen erst im Horizont des Diskursiven. Es mag zwar das Erdbeben außerhalb des Diskurses geben, aber erst dann, wenn man es entweder als geologisches Phänomen oder als Zorn Gottes begreift, wird es Moment einer wie immer gearteten Praxis. Zweitens weist noch die Gegenüberstellung von Sprache und Handeln nur auf die in verschiedene wissenschaftliche Diskurse ausdifferenzierte Produktion wissenschaftlichen Wissens zurück. Es ist diese theoretische Reflexivität, die die Diskursanalyse ausmacht, und mit der sie den Moment des Diskursiven in allen gesellschaftlichen Objekten und Handlungen untersucht, ohne zugleich zu behaupten, dass es kein Außen des Diskurses gebe. [13]
Bei der Suche nach nicht-diskursiven Praktiken wird man immer wieder auf das Diskursive stoßen, und gleichzeitig wird man im Sprechen über das Nicht-Diskursive nicht umhinkommen, Diskurs zu produzieren, weil alles, ob es sprachlich ist oder nicht, nur in der Sprache theoretisch begriffen und kommuniziert werden kann. Diese Problematik, die innerhalb der Diskurstheorie in Form von Paradoxa formuliert wird, möchten wir nun greifbarer machen, indem wir sie an exemplarischen Untersuchungen in den Dimensionen der Macht, der Alltagspraxis und des Körpers durchspielen. Dabei wird sich zeigen, wie Diskursives und Nicht-Diskursives, Sprachliches und Nicht-Sprachliches in den Praktiken selbst bereits vermittelt ist. Wir werden dabei verschiedene Ebenen des methodischen Vorgehens explizieren, aber diese Explikation wird notwendig exemplarisch bleiben, da in den verschiedenen Untersuchungen unterschiedliche Methoden verwandt wurden: Je nach Gegenstand wurde die "Analytik der Diskurse" in stark formalisierten Textanalysen, in Interpretationen angelehnt an die Vorgehensweisen der Sprechakttheoretiker(innen) oder mittels Methoden der Ethnographie konkretisiert. Eine einheitliche diskursanalytische Methode oder Folge von Analyseschritten wäre eine Kanonisierung und Universalisierung gelungener situativer Strukturierungsleistungen, die für ihre Applikation auf andere Gegenstände und Forschungsfragen immer einer Dekonstruktion und Rekonstruktion bedürfen.1) Die Diskursanalyse verstehen wir somit nicht als Methode, sondern als theoretisches Framework, das methodologische Diskussionen leitet – der Blick auf die Breite diskursanalytischer Verfahrensweisen und Untersuchungen in den Handbüchern zur Diskursanalyse (KELLER, HIRSELAND, SCHNEIDER & VIEHÖVER 2001, 2003) zeigt die Variationsmöglichkeiten dieser Anschlüsse. Unser eigener Ansatz zeichnet sich – über die Differenz der untersuchten Gegenstände, deren Spezifik im Folgenden diskutiert wird, hinweg – dadurch aus, dass wir nicht Diskurse als isolierbare Einheiten untersuchen, sondern diskursive Praktiken in ihrer Situativität und Vernetztheit. [14]
4. Die Kraft der Machtbeziehungen
Wir möchten zunächst zeigen, inwiefern eine Analyse von Machtverhältnissen sich zwar auf umfassendere Bereiche bezieht als eine reine Diskursanalyse, dass dies aber nicht bedeutet, dass Machtpraktiken grundsätzlich verschieden von Diskursen sind, dass sich also Praktiken der Machtausübung auf der einen und Diskurspraktiken auf der anderen Seite unterscheiden lassen. Vielmehr lassen sich Diskurse als diskursive Praktiken selbst als Machtpraktiken in einem Ensemble verschiedener Machtpraktiken und Machtbeziehungen verstehen. Dies soll im Folgenden an einem konkreten Analysegegenstand herausgearbeitet werden. [15]
In einer Diskursanalyse zur Problematisierung der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten in Fachzeitschriften der Volks- und Erwachsenenbildung der Weimarer Republik haben wir eine Reihe öffentlicher Äußerungen von Funktionären des Feldes im Frühjahr 1933 untersucht. Diese verglichen wir mit weiteren Äußerungen innerhalb von Grundsatzdiskussionen, deren Thema die Frage ist, was Volks- und Erwachsenenbildung soll, kann und möchte, und die in denselben Zeitschriften innerhalb der vorhergehenden vier Jahre erschienen sind (vgl. LANGER & WRANA 2005, S.1). [16]
Für die bürgerliche Volksbildung zeigt sich, dass die Akteure dem "neuen Staat" zustimmen. Sie binden ihn in die eigene Narration der "Volksbildung" ein, in das eigene Projekt, das sie während der Weimarer Republik geführt haben. Hier zwei der Äußerungen:
"Soweit die deutsche Volksbildung geleitet war vom Gedanken 'gestaltender Volksbildung', soweit sie also antiliberal und antimanchesterlich eingestellt war, muß sie grundsätzlich den Staat, der es unternimmt, das deutsche Volk unter einheitlicher Führung wieder zur Nation zu formen, bejahen." (HOFMANN 1933, S.338)
"So wird der neue Staat die echte und freie Volksbildung benutzen wollen, können und müssen, will er jene Tiefenwirkung erreichen, die nötig ist, wenn der Staat nicht bloße Herrschaftsordnung ist, sondern Volksordnung erstrebt." (LAACK & WEITSCH 1933, S.124) [17]
In der erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion gibt es zwei Interpretationen solcher Äußerungen, die sich ähnlich auch für die Allgemeine Pädagogik oder die Sozialpädagogik finden lassen. Die einen sehen in ihnen die Aktualisierungen eines "Deutungsmusters", das man als über die Zeit und die Akteure hinweg stabil betrachtet. Für sie gelten der bürgerliche pädagogische Diskurs in der Weimarer Republik und damit Äußerungen dieser Art grundsätzlich als zum Denken der "konservativen Revolution" gehörig und diese als Unterstützerin des Nationalsozialismus (z.B. KEIM 1990). Für andere gilt, dass Pädagog(inn)en aufgrund des auf Freiheit gerichteten pädagogischen Denkens das so nicht gemeint haben können. Die Äußerungen werden dann mit einem subjektiven Faktor erklärt: Es wird interpretiert, dass die Akteure sich in diesem Sinn äußern "mussten", aber eigentlich etwas anderes gemeint und gedacht hätten (z.B. HERMANN 1988, S.296).2) Während die sprechenden Subjekte in der ersten Variante als Effekte einer Deutungstradition betrachtet werden, sind sie in der zweiten Position dem Symbolischen äußerlich und vorgängig. Der These, dass man in Deutungsmustern "gefangen" sei, wird entgegengesetzt, dass die Subjektivität die Deutungen transzendiere. Der Gegensatz dieser beiden Positionen wird von Diskurstheorie und Diskursanalyse gerade nicht, wie Kritiker(innen) aus dem Fach unterstellen, nach einer Seite aufgelöst, sondern unterlaufen. Eine Analyse diskursiver Praktiken versucht herauszuarbeiten, wie Diskursivität und Subjektivität in der diskursiven Praxis miteinander verwoben sind. [18]
Dazu wurde zunächst ein Korpus von Texten zur Analyse herangezogen, das mit 35 Aufsätzen die Jahre von 1929-1933 ebenso umspannt wie die wesentlichen Fraktionen der Volks- und Erwachsenenbildung. Jeder der Texte wurde als Äußerungsakt begriffen, der seinerseits ein Komplex von Äußerungsakten ist, also als eine diskursive Handlung in einer Kette von diskursiven Handlungen, die sie wiederholend aktualisiert und zugleich variiert.3) In solchen Ketten von Äußerungsakten zeigen sich einerseits relativ stabile Differenzierungs- und Konnotationspraktiken, die sich im Anschluss an textlinguistische Verfahren als Differenzen wie die von "alt" vs. "neu", von "echt" vs. "unecht", von "Einheit" vs. "Gespaltenheit" in den Äußerungen isolieren lassen (vgl. LANGER & WRANA 2005, S.8; HÖHNE 2003, S.408). Im Anschluss an strukturale textanalytische Verfahren wurden hierzu in der Bedeutungspraxis (also dem Bedeuten im schreibenden Tun, s.o.) implizierte Momente (Seme) extrahiert, die als oppositionale Terme notiert werden können. In der Passage "Soweit die deutsche Volksbildung geleitet war vom Gedanken 'gestaltender Volksbildung', soweit sie also antiliberal und antimanchesterlich eingestellt war ..." finden sich die Adjektive "deutsch", "gestaltend", "antiliberal", "antimanchesterlich", die jeweils mit "der Volksbildung" konnotiert werden. Diesen Adjektiven lassen sich die Oppositionen "nicht-deutsch", "verbreitend", "liberalistisch", "ökonomistisch" zuordnen. Schon die Wahl dieser Oppositionen zeigt, dass es sich um einen interpretativen Schritt handelt, der die Bedeutungspraxis des Gesamtkorpus einbezieht. Dass die implizite Opposition zu "gestaltend" "verbreitend" ist, lässt sich nur aufgrund weiterer Textstellen erschließen. Die Analyse arbeitet also in einem zirkulären Verfahren ein Netz an Differenzsetzungen und Konnotationen heraus, ein Modell des Wissens, das Autor(inn)en und Leser(innen) in den Text einbringen, um ihn zu verstehen. [19]
Das zirkuläre Vorgehen ähnelt durchaus hermeneutischen Verfahren, nur dass sich die Formalisierungspraktiken unterscheiden. Es operiert nicht verdichtend wie die Paraphrasierung oder die Kodierung, sondern extrahierend auf der Basis von abstrakten Schemata. In diesem Deutungsprozess werden nicht nur differenzielle Oppositionen bestimmbar, es wird auch ihre Relevanz selektierbar. So forciert die oben genannte Stelle die vorläufige These, dass die Konnotation von "deutsch" mit der Volksbildung relevant ist. Die Kontrastierung mit dem Korpus zeigt aber, dass "deutsch" zwar zur Charakterisierung der Besonderheit der deutschen Volksbildung gegenüber etwa der englischen Volksbildung gebraucht wird, dass aber im Gebrauch von Differenzen im Sinne eines diskursiven Kampfes die Oppositionen "gestaltend" vs. "verbreitend" und "liberal" vs. "antiliberal" bedeutsam sind, da sie sich auf Fraktionen innerhalb der Volksbildung und zugleich auf gesamtgesellschaftliche politische Strömungen beziehen, während dem Gebrauch der Differenz "deutsch" vs. "?" kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die bisher beschriebenen Differenzen sind spezifisch für die Weimarer Volksbildung, sie werden in der von uns beobachteten Differenzierungspraxis meist mit sehr allgemeinen Differenzen wie "alt" vs. "neu" oder "echt/eigentlich/tief" vs. "unecht/uneigentlich/oberflächlich" bezogen. Auf diese Weise lassen sich differenzielle Doppelketten extrahieren, die sich durch einen Text ziehen.
gestaltend – verbreitend
antimanchesterlich – ökonomisierend
neu – alt
echt – unecht [20]
Eine solche Differenzkette verweist auf eine semantische Intensitätsebene im Text. In der kontrastierenden Gesamtschau der Zeitschriftentexte können diese Differenzketten auf gemeinsame Differenzkomplexe bezogen werden. Durch die Konstruktion eines solchen Netzes an Differenzen und Konnotationen ist zu beobachten, wie in der diskursiven Praxis mittels dieser Differenzen die Gegenstände konstruiert und in eine Ordnung gebracht werden. Die Komplexe aus Differenzen und Konnotationen lassen sich diskursanalytisch als Raster verstehen, anhand derer sich diskursive Gegenstände bilden (vgl. FOUCAULT 1981, S.64). Der Ort dieses Netzes und damit die Materialität des "Diskurses" sind aber weder die Textstrukturen noch eine abstrakte Diskursstruktur. Die Differenzsetzungen sind vielmehr als Kette von Äußerungsakten zu verstehen, deren Iterabilität – also ihre Wiederholung in der Andersartigkeit – beobachtet wird. Die etwas ungenau bleibende Rede von der "diskursiven Praxis" konkretisieren wir methodologisch als Iterabilität von Äußerungsakten. Was sich textanalytisch als Isotopie von Differenzen (GREIMAS 1971, S.60) zeigt, ist auf der Ebene der diskursiven Praxis die Aktualisierung einer Aussage (enoncé). Dieses Netz an iterablen Akten bildet ein komplexes Gefüge, in dem oppositionale Beziehungen als diskursive Kämpfe ebenso zu finden sind wie Beziehungen der Ähnlichkeit als diskursive Formationen und Beziehungen der Kontrastivität als diskursive Streuung. Der "Diskurs" wird damit nicht als Einheit konstruiert, er hat – um es mit gebräuchlichen Strukturmetaphern zu beschreiben – nicht die stabile Struktur eines Kristallgitters, sondern die komplexe Struktur eines Rhizoms, wie DELEUZE und GUATTARI (1992, S.12) betonen. [21]
Das Herausarbeiten von Differenzen, das wir exemplarisch genauer beschrieben haben, ist dabei nicht die einzige Analyseebene. Neben dieser semantischen Dimension, die mit Differenzen und Konnotationen operiert, wurde eine pragmatische Dimension untersucht: In narrativen Figuren wird die imaginäre Sprecherposition ("die pädagogische Bewegung", "wir Katholiken") ebenso auf ein Handlungsziel bezogen wie auf Elemente, die dieses Handeln unterstützen und solche, die dieses Handeln behindern.4) Der rekonstruierte Diskurs – so hat sich gezeigt – wird fast durchweg in einer narrativen Diskursart geführt und nicht in einer theoretisch-argumentativen oder empirisch-belegenden (vgl. LYOTARD 1989, S.235ff.). Mittels "Erzählungen" positionieren sich die Akteure gegenüber den Fraktionen der Volks- und Erwachsenenbildung sowie gegenüber der Weimarer Republik und der NS-Bewegung. Die beobachteten Äußerungsakte sind damit nicht nur in eine Kette von Äußerungsakten eingebunden, sondern zugleich in ein Netz von Subjektpositionen und gesellschaftlichen Gruppen. Diese bilden als diskursive Arena nicht nur den Ort, an dem sich der Äußerungsakt situieren, sondern an dem er im Text erscheinen und eine Position einnehmen kann. Durch diese Positionierung von Akteuren, Ansätzen, Zielen, Werten, Koalitionen und Feindschaften im Text ergibt sich zugleich eine Positionierung des Textes und des Autors/der Autorin innerhalb jenes Netzes von Beziehungen. [22]
Die Diskursanalyse dieser Texte beschreibt also das Zusammenbringen von Elementen als diskursives In-Beziehung-Setzen und zeigt, wie in diesem Zusammenbringen eine Welt konstruiert wird und wie diese durch das wiederholte Zusammenbringen auf ein und dieselbe Weise stabilisiert und so zur "Wirklichkeit", zur Wahrheit im Diskurs wird. In Anlehnung an eine viel zitierte Stelle in der "Archäologie des Wissens" kann man postulieren, dass das, was in Form von Texten vorliegt und in der Analyse als Komplex von diskursiven Praktiken untersucht wird, die Gegenstände systematisch herstellt, wovon es lediglich zu sprechen scheint (FOUCAULT 1981, S.74). Der "Diskurs" besteht in einer solchen Analyse also nicht in stabilen Deutungsmustern, die von den Sprechenden aktualisiert werden, sondern in einer Kette von Äußerungsakten, die als diskursive Praxis Wirklichkeit nicht nur stabilisieren, sondern auch variieren und wieder auflösen. [23]
Aus einer solchen Analyse heraus lässt sich dann auch das Auftauchen des Nationalsozialismus in den Äußerungen von 1933 deuten: In dem Moment, in dem der Nationalsozialismus die diskursive Arena "betritt", wird er zunächst zu einem neuen (mächtigen) Akteur, der verlangt, im Spiel der Positionierungen und im Netz der Konnotationen und Differenzen eingeordnet zu werden. Er wird für das eigene Ziel operationalisiert und auf diese Weise innerhalb eines Diskurses denkbar und akzeptierbar: Er wird diskursiv territorialisiert. Der singuläre Akt, der eine Transformation des Diskurses markiert, stellt zwischen den Gegenständen und den Bedeutungen eine Beziehung her, die Sinn konstituiert – und diese Herstellung ist eine Handlung. In der iterablen Serie von Herstellungsakten ist sie eine diskursive Praktik. [24]
Die diskursive Praktik knüpft ein Beziehungsnetz zwischen Adressat(in) und Adressant(in), zwischen Sprecher(in)/Autor(in) und den imaginären Leser(inne)n. Louis ALTHUSSERs Beitrag zur Diskurstheorie ist, gezeigt zu haben, wie jeder Äußerungsakt die Aufforderung an jemanden impliziert, auf eine bestimmte Weise zu denken oder zu handeln. Das Subjekt wird im Moment der Anrufung, wie ALTHUSSER dieses Moment nennt, im Diskurs konstituiert und konstituiert sich zugleich selbst, indem es "ja" sagt (ALTHUSSER 1977). Aber das "Ja" im Beispiel ALTHUSSERs ist nur ein Sonderfall. Das Subjekt kann auch "nein" sagen – und konstituiert sich. Es kann nicht nur aufgefordert werden zuzustimmen, sondern auch zu handeln, zu verstehen, zu antworten. Mit den diskursiven Ereignissen, die sich in den Zeitschriften der Volksbildung von 1933 finden, wird eine Beziehung zwischen dem anrufenden, schreibenden und dem angerufenen, lesenden Subjekt hergestellt. Letzteres ist aufgerufen, die Wahrheit des Textes als solche anzuerkennen, und genau darin liegt die Performanz dieser diskursiven Praktiken.5) [25]
Für eine poststrukturalistische Diskursanalyse kann die Unterscheidung zwischen Diskurs und Praxis keine vorgängige Differenz sein.6) FOUCAULTs Diskurstheorie unterläuft die Differenz von "Diskurs" und "Praktiken" ebenso wie die von "Sprache" und "Handeln", da er den "Diskurs" weder als Ensemble von Texten noch als symbolische Wissensordnung versteht, sondern als gesellschaftliche Praxis. Für den Äußerungsakt gilt, was FOUCAULT über die Ausübung von Macht im Allgemeinen sagte: Er ist ein Handeln auf Handlungen (FOUCAULT 1987, S.255). Der Diskurs steht also nicht nur in Beziehung zu Machtverhältnissen, er ist vielmehr selbst eine Form der Macht. Damit fällt aber auch die Gegenüberstellung von Subjekt/Bewusstsein und Diskurs, die den Ausgangspunkt dieses Abschnitts bildete. Da der Diskurs u.E. keine geschlossene Einheit ist, sondern ein Streuungsfeld von Äußerungsakten, ist das Subjekt nicht nur das Moment seiner Reproduktion, sondern auch seiner Variation. Dann ist das Subjekt aber weder der Ausgangspunkt des Diskursiven, noch im Diskursiven "gefangen", noch ist es als dem Diskurs entgegengesetzter Widerpart begreifbar. [26]
5. Die Eigenwilligkeit der Alltagspraxis
Die Untersuchung zur Problematisierung der "Machtübernahme" der Nationalsozialisten in Zeitschriften der Volks- und Erwachsenenbildung hat, ebenso wie die meisten methodologisch orientierten Diskursanalysen, öffentliche Diskurse bzw. institutionalisierte Diskurse zum Gegenstand. Anhand von Zeitschriften, Zeitungen, Gutachten, Protokollen etc. werden zum einen diskursive Formationen herausgearbeitet – verstanden als Einheiten, in denen sich bestimmte diskursive Formen in regelmäßiger und relativ stabiler Weise beobachten lassen – und zum anderen diskursive Kämpfe – verstanden als auf diskursive Arenen und gesellschaftliche Felder bezogene Machtspiele. Der bevorzugte Ort, an dem man "die Diskurse" finden kann, scheint daher der öffentliche Raum zu sein, in dem sie in Medien, von Zeitungen bis zum Fernsehen, oder auch in auf fachliche Kreise eingeschränkten Kommunikationsräumen enthalten sind. Mit der Auffassung, dass "die Diskurse" vor allem an solchen Orten zu finden sind, kann man zu dem Schluss gelangen, dass die anderen, weniger stabilen und weniger öffentlichen Gelegenheiten Orte der "Praxis" sind, und kann sie dem Diskurs gegenüberstellen. Andrea BÜHRMANN etwa weist kritisch darauf hin, dass manche, an die governmentality studies anschließenden Arbeiten nur den Diskurs rekonstruieren, weil sie die normativen Proklamationen der Programme universalisieren. Vernachlässigt werde der Anspruch der Gouvernmentalitätsperspektive, "die konkrete lokale Praxis von Regierungstechniken zu erkunden und dabei nicht zuletzt auch die ganz realen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen spezifische Subjektivierungsweisen sich historisch konkret formieren und/oder transformieren" (BÜHRMANN 2004, Abs.11). [27]
Es bleibt die Frage, wie die lokalen Praktiken zu den öffentlichen Diskursen in Verbindung gesetzt werden können. Reiner KELLER schlägt vor, "Diskurs" und "Praxis" analytisch voneinander zu unterscheiden und betont, es sei "hilfreich, zunächst eine diskursunabhängige Ebene der Praktiken anzunehmen und die Beziehungen zwischen Diskursen und dieser Ebene zum Gegenstand der Analyse zu machen" (KELLER 2005, S.252). Damit wäre die Alltagspraxis das Andere des Diskurses – in gewisser Hinsicht also eine nicht-diskursive Praxis. KELLER argumentiert weiter:
"Nur so kann die Eigen-Willigkeit der 'Taktiken' (Michel de Certeau) des Alltags im Umgang mit den diskursiven Zumutungen in der Analyse berücksichtigt und ein vorschneller Kurzschluss von Positionen im Diskurs auf Handlungsvollzüge in der Praxis vermieden werden, auch wenn Mischungsverhältnisse oder konjunkturelle Dominanzen des ein oder anderen Typus zu vermuten sind. Erst so findet die taktische Kreativität der Akteure des Alltags im Umgang mit Diskursen ihren angemessenen Platz." (ebd.) [28]
Folgt man dieser Aussage KELLERs, entsteht für die Forschenden ein doppelter Gegenstand in Form zweier Reihen von Ereignissen: auf einer Ebene die Reihe der diskursiven Ereignisse und auf einer zweiten Ebene die Ereignisse der Alltagspraxis. KELLER bringt für die Trennung forschungsethische Gründe vor: die Vermeidung eines "vorschnellen Kurzschlusses" einerseits und das Zur-Geltung-bringen der Kreativität der Akteure andererseits (s.o.). Damit wird die "Alltagspraxis" als ein "den Diskursen" gegenübergestellter Bereich konstruiert: Während die Alltagspraxis von der Kreativität der Akteure und einer gewissen Autonomie der Handlungsvollzüge gekennzeichnet ist, erscheint das Diskursive umgekehrt als Präskription, als "Zumutung" an die Subjekte, als Ort der Macht. [29]
KELLER betont zugleich, dass die Ebene der Alltagspraxis sprachliche wie nicht-sprachliche Elemente umfasst, und dass die "diskursiv konstruierten Modelle" von den "diskursexternen Praktiken" (KELLER 2005, S.251) oft kaum zu unterscheiden seien. Denn wenn man sich in den Bereich konkreter Untersuchungsgegenstände begibt, beginne die Unterscheidung von Diskurs und Praxis bzw. von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken unklar zu werden und sich auszudifferenzieren. Diesem unklar Werden und dieser Ausdifferenzierung möchten wir nun anhand eines weiteren Untersuchungsgegenstands nachgehen. [30]
Im Rahmen der Lernforschung wurden zwölf Lernjournale ausgewertet, die von erwachsenen Teilnehmer(inne)n eines Weiterbildungsstudiengangs über ein Jahr hinweg geführt worden sind. Es handelt sich um eine Art Tagebuch, Notizen beim Lernen. Die Lernenden bekamen es ausgehändigt und sollten es immer mit sich führen, in Präsenzveranstaltungen, aber auch bei der eigenen Vor- und Nachbereitung; sie konnten es auch im Privatleben benutzen. Sie wurden zwar von den Dozent(inn)en immer wieder aufgefordert, die eine oder andere Frage schriftlich zu bearbeiten, aber sie sollten (!) das Journal selbstständig als permanenten Begleiter des Lernens benutzen. Parallel zur Diskursanalyse dieser Lernjournale wurde der didaktische Diskurs in Fachzeitschriften analysiert, indem das Lernen mit dem Journal gefordert wurde, weil man ihm weitreichende Effekte auf die Ökonomisierung des Selbst und die Steigerung der Subjektivität zuwies. Das Lernjournal war eines der Instrumente selbstgesteuerten Lernens, von dem sich die Bundesregierung ab 1999 im Rahmen entsprechender Programme eine weitgehende Modernisierung des Weiterbildungssystems versprach (WRANA 2006, S.1). [31]
Um die Journale für eine Diskursanalyse aufzuschließen, galt es vorerst, die in ihnen realisierte Textualität herauszuarbeiten. Diese ist zunächst auf irritierende Weise fremd, fragwürdig und unverständlich. Es handelt sich nicht um einen durchgeschriebenen Text, sondern um lose verstreute Äußerungen. Oft gibt es keine bzw. eine stark reduzierte grammatische Struktur. Zudem haben die Äußerungen über weite Strecken eine elliptische Form. Als Ellipse wird allgemein jede Form der Auslassung bezeichnet. In Argumentationen hat sie sogar eine Funktion: Teile des Arguments werden ausgespart bzw. unterschlagen, damit die Argumentation noch überzeugender wirkt und ihre Performanz sich besser entfalten kann (BARTHES 1988, S.60). Bei den Lernjournalen hat die Ellipse den umgekehrten Effekt: Die Ellipsen bilden wirkliche Lücken im Text, sie schließen das verstehende Lesen nicht kurz, um es zu "überlisten", sondern sie unterbrechen das Verstehen und lassen es ins Unverständliche laufen. Aber das ist auch nicht verwunderlich, denn die Lernjournale haben weder eine rhetorische noch eine kommunikative Funktion. Der Text der Lernjournale ist elliptisch, weil keine Notwendigkeit besteht, anderen mit ihm etwas mitzuteilen. Die Schreibenden haben niemanden zu überzeugen und sie brauchen sich niemandem verständlich zu machen. Üblicherweise haben Texte zahlreiche grammatische und thematische Kohäsionsstrategien, die diskursive Figuren der Narrativität, der Argumentation, der Differenzen etc. konstituieren, die dem Text eine Form geben und durch Rekurrenz und Monosemierung seinen Zusammenhang begründen. Aber in den Lernjournalen gehen sie keine hinreichende Verbindung mit weiteren Äußerungen ein, so dass satzübergreifende thematische Kohäsionen sich stabilisieren könnten. Wenn der "Modellleser" – wie ECO (1990, S.61-82) ihn nennen würde – ausfällt, und wenn Sprache keine Performanz bei dem Anderen entfalten muss, verkehren sich zahlreiche Eigenschaften von Texten und Diskursen, die sonst als selbstverständlich erscheinen. Es sind gerade jene Eigenschaften, die sonst, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, zum Ansatzpunkt der Analyse diskursiver Praxis werden können: die narrativen, argumentativen und differenziellen Figuren in den Texten – diese Figuren sichern Kohäsion und Kohärenz und damit die Achse des Bedeutungsaufbaus innerhalb einer Folge von Äußerungen und die Achse des Verstehens zwischen dieser Folge und einem lesenden Subjekt. [32]
Wenn man den sehr sorgfältigen Ausführungen LYOTARDs (1989) im "Widerstreit" folgt, lässt sich dieses Phänomen auch erklären: Diese diskursiven Figuren sind an bestimmte Diskursarten gebunden, und die Diskursarten entfalten sich nicht in einzelnen Äußerungsakten, sondern in Sequenzen von Äußerungen und den damit verbundenen Anschlussmöglichkeiten. Sie entfalten sich in einer Kommunikationssituation, die nicht nur eine Äußerung und einen Bedeutungshorizont, sondern zugleich eine spezifische Relation von Sprecher(in) und Hörer(in), Autor(in) und Leser(in) etc. impliziert. Die Analyse der Äußerungen im Lernjournal dient also zunächst dazu, die Implikationen sichtbar zu machen, die die Diskursivität von Texten konstituieren. Es zeigt sich, dass die pragmatische Dimension einer Äußerung, die in ihrem Bezug auf eine Adressat(in)-Adressant(in)-Achse7) besteht, nicht zum Diskursiven hinzu kommt, sondern für die Form der Diskursivität des Geäußerten konstitutiv ist. Diese Beobachtungen resultierten aber nicht in einer Beschränkung der Analyse, sondern in einer Erweiterung des Diskursverständnisses: Nicht nur die halbwegs stabilen Formationen und Kämpfe der öffentlichen Debatten können zum Gegenstand von Diskursanalysen werden, sondern jede alltägliche und nicht-alltägliche Äußerung – insofern in ihnen qua sprachlichem Handeln Gegenstände hervorgebracht, Bedeutungsfelder konstruiert und Subjekte konstituiert werden. Das alltägliche Sprechen nimmt dabei aber andere Formen an – es folgt zum Teil anderen Eigenschaften. Die relative Autonomie ebenso wie der bisweilen präskriptive Charakter öffentlicher Diskurse erwachsen aus ihrer medialen Form und ihren spezifischen Produktionsbedingungen. Ändern sich diese Produktionsbedingungen, dann ändern sich auch die Formen der Äußerungen, der Figuren und der diskursiven Genres. Die Produktionsbedingungen aber sind dem Diskurs nicht äußerlich, sondern implizit, insofern seine pragmatische Dimension ein Moment des Diskursiven ist. [33]
Sowohl theoretisch als auch methodisch muss eine Diskursanalyse bei einem solchen Material aber anders ansetzen. Wenn man die Theorie der diskursiven Praxis bzw. der Aussage aus FOUCAULTs "Archäologie" beibehält, zugleich aber unterstellt, dass die Formierung der diskursiven Praxis zu Formationen ein Spezialfall des Diskursiven und zugleich eine bestimmte analytische Perspektive ist, ergibt sich theoretisch ein Anschluss an das Konzept der énnoncé bzw. der énonciation (vgl. BENVENISTE 1974, ANGERMÜLLER 2005, S.34) und methodisch an die Analyse von Äußerungen der korpuslinguistisch operierenden Sprechakttheorie (z.B. FRITZ 1994) und die Analytik der Sprachspiele von WITTGENSTEIN (1999) und AUSTIN (1972). [34]
Im Rahmen der eigenen Untersuchung wurden die Äußerungen auf die Akte hin interpretiert, die sie implizieren, aber nicht, um sie als Repertoire möglicher Akte zu klassifizieren – wie einige Ansätze der Sprechakttheorie –, sondern um sie als Netz diskursiver Praktiken des Schreibens an und über sich selbst zu beschreiben. In einem Wechsel von Interpretationen der über 3.000 Äußerungen des Korpus sowie theoretischen Formalisierungen ließ sich das Modell der Instanzen des Äußerungsaktes diskurstheoretisch reformulieren:8)
A (Adressant[in]) sagt X (Inhalt) über Y (Referent, Gegenstand) zu B (Adressat[in]) [35]
Eines der entscheidenden Theoreme der Diskurstheorie ist nun, dass der Satzinhalt X nichts aussagt, was ein Satzgegenstand Y bereits präexistent enthalten hätte. Mit anderen Worten: X verhält sich zu Y nicht repräsentativ. Vielmehr verhält es sich so, dass der Äußerungsakt, insofern er wiederholbar ist und wiederholt wird (FOUCAULT 1981, S.153) und damit zur diskursiven Praktik wird, den Gegenstand des Sprechens Y erst herstellt, indem A etwas zu B sagt. So jedenfalls lässt sich die Aufforderung FOUCAULTs lesen, die Diskurse nicht mehr "als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen Sie sprechen" (FOUCAULT 1981, S.74). Das pragmatische Modell der Äußerungsinstanzen, das vielleicht formal erscheinen mag, ist der diskursiven Praxis implizit. Welches Modell angenommen wird ist konstitutiv für die Diskurstheorie, die vertreten wird. Während dem klassischen Strukturalismus vorgeworfen wird, die pragmatische Ebene ganz auszublenden, und der klassische Pragmatismus von der Mitteilung einer Mitteilung über einen präexistenten Sachverhalt ausgeht, womit sich dann die Frage aufwerfen lässt, ob die Mitteilung bezüglich des Sachverhaltes wahr oder falsch ist, führt FOUCAULT ein poststrukturalistisches Modell ein. Es bringt die pragmatische Ebene zurück in die Struktur, versteht die Beziehung von X zu Y aber nicht als Abbildung, sondern als Konstruktion eines Feldes von Gegenständen. Wie bedeutsam die Reflexion auf das Standardmodell ist, wird aber erst richtig deutlich, wenn sich zeigt, inwiefern es in der reflexiven Praxis anders gebraucht wird als in der gewöhnlichen Rede.9) [36]
Für eine bestimmte Gruppe der Äußerungen des Korpus, die als "Sprechen über sich selbst" bzw. "Sprechen an sich selbst" gelten konnten, ließ sich nun das Modell mit spezifischen Positionierungen im Äußerungsakt konkretisieren. Wenn A etwas zu B über sich selbst sagt, dann ist es dieses Selbst, das als Gegenstand in diesem Sprechen hergestellt wird. Das erklärt, wieso das Wort selbst/Selbst in zwei Formen existiert: klein geschrieben ist es nichts als die reflexive Beziehung, die entsteht, indem A im Sprechen zu B die referenzielle Beziehung auf sich selbst zurück beugt. Und das Selbst als groß geschriebenes Nomen ist jener Gegenstand, der in diesem Sprechen eine Kontur gewinnt, ein ICH, das durch die Iterabilität der Praxis des Sprechens über sich selbst als diskursiver Effekt entsteht. Dieser Effekt entsteht nicht, wenn die reflexiv Schreibenden irgendwann später ihren Text nochmals lesen, dann sind sie ohnehin "jemand anderes". Er entsteht im Moment des Schreibens, in dem das Ich "mein", "mich" und "mir" sagt. Es handelt sich um einen bestimmten Typus von Sprachspiel, mit dem man im reflexiven Schreiben sich selbst in ein Spiel verstrickt, ein "Sprachspiel mit sich selbst", wie im Anschluss an WITTGENSTEIN (1999, S.241) gesagt werden könnte. [37]
Wenn aber in der Praxis des reflexiven Schreibens der/die Adressat(in) absent und daher im Moment des Schreibens mit dem Adressanten/der Adressantin identisch ist, dann muss man das Schema variieren. Wenn also in das Schema, in dem A zu B X über Y sagt, sowohl für Y als auch für B A gesetzt wird, dann taucht A dreimal auf. Die Instanzen würden sich dann folgendermaßen konkretisieren:
A sagt X über A* zu A' [38]
Indem das Ich zu sich selbst etwas über sich selbst sagt, produziert es nicht nur sein Selbst in der referenziellen Beziehung, es verschiebt zugleich sich selbst. Wenn A über A* spricht, sind A und A* dieselben und doch nicht dieselben, denn A wird temporalisiert und ist A und A* zugleich und doch nicht zugleich. Folglich lässt sich festhalten:
A wird zu A', indem er X über A* sagt. [39]
Die Performanz, die der Äußerungsakt – dass A zu A' über A* eine Aussage macht – herstellt, ist doppelt: zunächst die Konstitution des Selbst als Gegenstand der Rede, als "Wahrsprechen seiner Selbst", und schließlich eine Verschiebung des Selbst, die noch viel tiefer in die Strukturen der Sprache eingelassen ist. Dass "ich" "ein anderer" ist, wird in den Strukturen der Sprache hergestellt, sobald man über sich selbst schreibt und spricht und dazu noch dieses Schreiben und Sprechen an sich selbst adressiert. Diese Variation des Instanzenmodells der Äußerung fassen wir im Anschluss an die Differenzierungen LYOTARDs als reflexive Diskursart, also als spezifische Praxisform in der Konstellierung der Instanzen (LYOTARD 1989, S.34). [40]
Im Folgenden möchten wir zeigen, wie sich eine solche Herstellung von Differenz als reflexive Praxis in den Lernjournalen untersuchen lässt. Die genannte Dynamik der Verschiebung des Selbst wird in der reflexiven Praxis auf vielfältige Weise benutzt, um das eigene Ich zu konstituieren und zu verschieben. Die grundsätzliche Potenzialität von Äußerungspositionen wird in der reflexiven Praxis gebraucht, um das Ich zu thematisieren und zu konstituieren:
"Methodenmecker: nö, ich bin für neue Versuche offen. Im Ende zeigt sich meist, wozu das Ganze gut war." (lj-1-3:2) [41]
Die Autorin reflektiert, wie sie mit einem "Methodenmecker", also mit einer Unzufriedenheit mit dem Kurs, in dem sie sich befindet, umzugehen gedenkt – das ist das Thema. Die Äußerung setzt ein mit "Methodenmecker". Vielleicht kommt dem Ich der Gedanke des "Meckerns an der Methode" selbst, vielleicht übernimmt es die Aussage von anderen. Darauf folgt gleich "nö, ich bin für neue Versuche offen". Das ICH macht sich zum Gegenüber, dessen Eigenheiten, Aussagen und Wünsche zum Gegenstand einer Reaktion werden. In diesem Fall werden sie zurückgewiesen. Die sprachliche Spur im Lernjournal ist die Folge dieser Selbstinteraktion. Auf das "nö" folgen dann weitere Erklärungen des Selbst an sich selbst. Erstens eine Deklaration "ich bin für neue Versuche offen" und dann eine Begründung des Vorteils einer solchen Haltung: "Im Ende zeigt sich meist, wozu das Ganze gut war". Der Clou der Passage ist aber nicht, dass eine Deklaration über sich selbst gemacht wird, sondern dass die Probandin diese Aussage über sich an sich richtet. Sie verliert damit ihren deklarativen Charakter und wird zu einer performanten Selbstanrufung. Die Autorin sagt also nicht einfach, sie sei "offen für Neues", sondern sie ruft sich selbst dazu auf, "offen für Neues" zu sein. Sie konstituiert ihr Selbst in dieser Auseinandersetzung mit sich selbst, denn sie weist das "Methodenmecker" als Teil ihres Selbst zurück, um einen anderen Teil, den "offenen", gegenüberzustellen. Diese Konstitution, die sich in einzelnen Äußerungsakten analytisch zeigen lässt, ist aber weder als existentialistischer Akt der Selbstsetzung noch als heroischer Akt des Widerstands gegen Determinationslinien zu verstehen. Es ist ein Akt in einer Serie von Akten der Selbstanrufung und der Fremdanrufung, der die permanente Subjektkonstitution im Sozialisationsprozess fortzusetzen, aber auch zu variieren und zu konterkarieren in der Lage ist.10) [42]
Ein zweites Beispiel:
"Ich weiß immer noch nicht, wo mir der Kopf steht, habe den Bedarf das für mich zu strukturieren. Das ist mir wichtig für mich festzuhalten. Aber ob ich das für mich heute noch strukturiere ... mal sehen. Ich überlege gerade, was mit meinen 2 Spalten ist, die Ebenen sind für mich viele geworden. Aber welche?" (lj-2-4:7) [43]
Die Reflexionen machen einen schnellen und fließenden, und doch stark segmentierten, sprachlich pulsierenden Eindruck. Das Thema scheint sich immer wieder plötzlich zu verschieben. Man hat das Gefühl, die Reflexionen huschen den Gedanken hinterher, um sie gerade noch einzufangen. Dieser Eindruck liegt zum Teil an der grammatischen Form: eine Serie relativ kurzer (Haupt-) Sätze mit Ellipsen. Die Teile der Äußerung folgen zwar als Gedankenfluss hintereinander, ohne die Kette der Referenzen zu durchbrechen, wechseln aber ständig die Art der Sprechhandlung. Auf die Deklaration "Ich weiß immer noch nicht, wo mir der Kopf steht" folgt die implizite Selbstaufforderung "habe den Bedarf das für mich zu strukturieren", und dann die Begründung "Das ist mir wichtig für mich festzuhalten". Daran schließt die Zeitplanung in Form einer Infragestellung der unmittelbaren Dringlichkeit der Aktion "Aber ob ich das für mich heute noch strukturiere" und die vage Antwort "mal sehen" an. Die Gedanken schweifen weg, fliegen über das Blatt. [44]
Dieses Zitat hat noch stärker die Form einer Art "Gespräch mit sich selbst" als das vorangehende. Hier wechseln die Rollen seltener und der Fluss der Wörter ist kontinuierlicher. Diese Form der Selbstinteraktion liegt in einer Doppelung des Ich, das in verschiedenen grammatischen Formen zwei Mal pro Satz in der ersten Person auftaucht. Aber die Doppelung besteht nicht wie zuvor im fiktiven Wechsel des Subjekts des Äußerungsaktes, es verdoppelt sich vielmehr in ein "ich" und ein "mir", sodass das Ich zugleich Gegenstand und Subjekt der Äußerungen ist. Es gibt immer ein handelndes und ein zu behandelndes Ich ("Ich weiß immer noch nicht, wo mir der Kopf steht"). Das passive Ich erlebt die Desorientierung und sucht nach Klarheit. Das aktive Ich versucht, dem passiven zu Klarheit zu verhelfen, indem es "Struktur" bringt ("Aber ob ich das für mich heute noch strukturiere"). [45]
Das Schreiben ins Lernjournal lässt sich als Diskurs analysieren, wenn auch mit einer bestimmten Form, die sich einer unmittelbaren Komparation mit öffentlichen Diskursen sperrt, weil es sich um eine "private Rede" zu handeln scheint, die nicht auf Kommunikation ausgerichtet ist. Andere diskursive Alltagspraxen, wie sie etwa über Interviews oder in ethnographischen Beobachtungen zugänglich werden, sind öffentlichen Diskursen weniger fern. Anstatt also die klare Unterscheidung von Diskurs und Alltagspraxis zu treffen, scheint es uns methodologisch sinnvoll, je nach Untersuchungsgegenstand verschiedene Diskursräume zu unterscheiden und zu bestimmen, welche Produktionsbedingungen in ihnen gelten und welche Diskursgenres sich dort finden. Diese Räume stehen in spezifischen Relationen zueinander, die es herauszuarbeiten gilt. In der genannten Studie wurden neben den Lernjournalen der didaktische Diskurs bzw. konkrete Handlungsanweisungen für Lehrende untersucht. Daneben wurde – aufgrund von Schwerpunktsetzungen weniger systematisch im Sinne einer methodischen Diskursanalyse – auf zwei weitere Diskursräume Bezug genommen: die bildungspolitische Debatte sowie die wissenschaftliche Debatte um lebenslanges und selbstgesteuertes Lernen. Betrachtet man nun das Verhältnis des didaktischen Diskurses über Lernjournale zu den Lernjournalen selbst, dann scheint sich zunächst die Vermutung zu bestätigen, dass die "diskursiven Taktiken" der Lernenden sich den im didaktischen Diskurs postulierten Effekten entziehen. Die vor allem von Seiten der Metakognitionsforschung11) unterstellten und untersuchten Praktiken der Selbstbewusstmachung und Selbstkontrolle lassen sich kaum finden. Aber die taktische Kreativität lässt sich auch für den didaktischen Diskurs reklamieren, der alles andere als homogen ist. Eine ganze Reihe von Akteuren wenden die ökonomisierenden bildungspolitischen Forderungen auf ihre Weise, indem sie mit dem Journal die zweckfreie Subjektorientierung des pädagogischen Feldes erneut reklamieren (vgl. WRANA 2006, .S.70). Darüber hinaus ist es gerade jene taktische Kreativität, die als Steigerung des Selbst als dessen Kapital gelten kann (vgl. ebd., S.83). Aber es genügt auch nicht, die taktische Kreativität im Selbstunternehmertum aufzuheben. Es finden sich zwar die selben Themen und Figuren wie in den Managementratgebern, die BRÖCKLING untersucht (z.B. 2000, S.142ff.), aber der didaktische Diskurs ist vielfach gebrochen, und diese Brüche gilt es herauszuarbeiten. Als wesentliche Dimension dieses didaktischen Diskurses zeigt sich zudem, dass er sich nicht in Präskriptivität für eine Praxis erschöpft, sondern dass er eine Legitimationsfunktion für "Best Practice" hat, die wiederum innerhalb der Bildungspolitik eine bestimmte Funktion hat. Auch der didaktische Diskurs hat seine Produktionsbedingungen, die ihn zu einem spezifischen Einsatz in Machtverhältnissen machen, der nicht einfach präskriptiv ist. Entgegen dem ersten Anschein ist der didaktische Diskurs also mehr und anderes als die modellbildende Theorie, an der sich die didaktische Praxis zu orientieren habe. [46]
Auch in diesem Beispiel verwischt die Unterscheidung von diskursiv und nicht-diskursiv, weil die binäre Unterscheidung von Diskurs und Praxis bei der genaueren Beobachtung der Praktiken eines gesellschaftlichen Handlungsbereichs in eine Vielzahl von Genres verfällt, in denen Diskursivität je anders impliziert ist. Auch scheint es zu einfach, im Anschluss an DE CERTEAU (1988) den Diskurs mit der Ausübung strategischer Macht und die Alltagspraxis mit der taktischen Kreativität der Akteure in Verbindung zu bringen. Wenn man "den Diskurs" nicht als determinative Einheit versteht, wird deutlich, dass die diskursive Praxis selbst von taktischer Kreativität durchzogen ist. Es mag nicht-diskursive Praktiken geben, aber die Alltagspraxis ist nicht ihr privilegierter Ort. Vielmehr gilt es, eine Reihe verschiedener Räume von Praktiken auszudifferenzieren, in denen das Diskursive eine unterschiedliche, je zu bestimmende Rolle spielt. [47]
Wenn sich schon weder die Macht noch die Alltagspraxis als das Andere des Diskursiven begreifen lassen, so müsste doch zumindest der menschliche Körper jenseits des Diskurses angesiedelt sein. Zumindest proklamiert dies Robert GUGUTZER unter körpertheoretischem Fokus: "Was Foucault analysiert, ist ausschließlich das Reden über Körper, das Wissen vom Körper, nicht aber der Körper als Materialität oder eigenleibliche Erfahrung. Foucault untersucht nicht den Körper, sondern Diskurse über Körper" (GUGUTZER 2004, S.81, Herv. i.O.). Er schreibt weiter: "Foucaultianer würden dem entgegenhalten, es gibt keine vordiskursive Materialität und Erfahrung, weshalb es angemessen sei, die Diskurse zu untersuchen, die den materiellen und phänomenalen Körper hervorbringen. Dieser Diskursdeterminismus ist jedoch kritisch zu hinterfragen" (ebd.). Auf diesem Abstraktionsgrad mag man GUGUTZER zustimmen, aber in der Diskussion konkreter Gegenstände zeigt sich, wie das Körperliche und das Diskursive verwoben sind, und wie noch die "eigenleibliche Erfahrung" nicht zu trennen ist von den Praktiken des Deutens und Interpretierens derselben. Diese Verbindungen möchten wir im Folgenden nachzeichnen. [48]
Allgemein anerkannt ist in der Fachdisziplin der Erziehungswissenschaft, dass Erziehung auch am Körper ansetzt. Dieser ist nicht nur Ziel, sondern wird – neben anderen – auch als Mittel der Erziehung eingesetzt. Dies zum Ausgangspunkt stand im Fokus der Untersuchung, auf deren Material und Analysen wir im Folgenden u.a. zurückkommen, die Frage, wie sich insbesondere das Verhältnis von Körper(lichkeit) und Schule sowie die diskursive Vermittlung dieses Verhältnisses darstellt (LANGER 2007). Um eine differenzierte und detaillierte Analyse der Körperpraktiken und der damit verknüpften Problematisierungen sowie pädagogischer Steuerungspraktiken vornehmen zu können, wurden folgende Zugänge gewählt: Im Rahmen ethnographischer Feldforschung wurde in einer 7. Klasse einer großstädtischen Hauptschule teilnehmend beobachtet und es wurden Interviews mit Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n durchgeführt. Um herauszuarbeiten, wie Körper und Körperlichkeit bezogen auf Erziehungs- und Bildungsprozesse sowie ihr Verhältnis zur Institution Schule problematisiert werden, sind konstrastierend dazu Texte aus Handbüchern zu Unterricht und Schule sowie drei schulpädagogischen Fachzeitschriften der letzten zehn Jahre analysiert worden, die praxisnah konzipiert sind. Mit einem so konzipierten Forschungsdesign liegen verschiedene Materialien und Textgenres vor: wissenschaftliche Texte, didaktische Konzepte sowie Erfahrungsberichte, die eine Art "Best Practice" illustrieren; daneben Bilder, Interviewtranskripte und Beobachtungsprotokolle. Mit den beiden Zugängen, der ethnographischen Feldforschung und dem diskursanalytisch aufbereiteten Zeitschriftenkorpus, soll nun nicht der Eindruck erweckt werden, als gingen die Beobachtungen der Feldforschung in den diskursiven Praktiken in den Texten der Fachzeitschriften auf oder als ließen sich bestimmte Denkweisen kausal auf spezifische Beobachtungen oder Äußerungen von Lehrenden beziehen. Die Analyse zeichnet sich stattdessen als ein wechselseitiger Prozess aus, in dem die Materialien einander gegenüber gestellt und kontrastiert werden, wobei sich Verknüpfungen, Irritationen, Spannungen, Brüche und Widersprüche ebenso zeigen, wie bestimmte Leerstellen im Reden über Körperlichkeit an der Institution Schule überhaupt erst deutlich werden. [49]
In den entsprechenden Fachzeitschriften für Lehrer(innen) finden sich weitläufige Thematisierungen des Körpers, unter anderem zur "Körpersprache im Unterricht". Wenn Wissenschaftler(innen) und Didaktiker(innen) über das Thema Körper schreiben bzw. es zum Thema machen, ist dies zunächst im Sinne GUGUTZERs "nur Diskurs", verstanden als Reden über den Körper. Bei der Körpersprache jedoch wird der Körper selbst ein Diskursmedium. Dabei wird der Sprachcharakter und damit die Diskursform, die der Körper produziert, von den verschiedenen Autor(inn)en unterschiedlich begriffen. In vielen untersuchten Texten gilt die Körpersprache als "quasi-natürliche" Sprache. Bestimmten Gesten werden dabei spezifische Bedeutungen zugeordnet: Beispielsweise vermittelten die Hände unterhalb der Gürtellinie eine negative Aussage (HEIDEMANN 1998, S.31), oder der aufgestellte Daumen gilt als Zeichen für Rücksichtslosigkeit (MEYER & PARADIES 2005, S.31). Als Form der Körpersprache wird hier die eines einfachen Codes ohne Historizität unterstellt. In vielen Texten des Korpus wird versucht, eine Art Lexikon zu erstellen, indem bestimmten Blicken, Gesten oder Mimiken nicht nur eine eindeutige Bedeutung, sondern auch eine eindeutige Wirkung zugeschrieben wird, womit sie in der jeweiligen Unterrichtssituation jeweils nur richtig bzw. falsch sein können. Für den Autor und Kommunikationstrainer Hubert SCHMITT, der Fortbildungen zur Körpersprache angelehnt an das Neurolinguistische Programmieren (NLP) durchführt, sind es "überwiegend nonverbale Kommunikationsstrategien, mit denen Lehrer Störfaktoren effektiv begegnen können" (SCHMITT 1997, S.47), da ihr Anteil bei "zwischen 58% und 80% der Gesamtinformation" (ebd.) läge. Nonverbale Kommunikation sei effizienter als verbale. Ineffizienz entstehe jedoch vor allem durch Uneindeutigkeit, nämlich dann, wenn die verbalen und die nonverbalen Informationen inkongruent seien. Lehrende haben also erstens an ihrer Körpersprache zu arbeiten, um Inhalt und Ausdruck in Übereinstimmung zu bringen, und zweitens ihre Körperpraktiken zu kontrollieren, da die Schüler(innen) sonst unbewusst die unkontrollierten Körperpraktiken der Lehrer(innen) wahrnehmen und ebenso unkontrolliert darauf reagieren könnten. Dass die Sprache des Körpers in vielen Texten als die authentischere Sprache gilt, wird schon dadurch fraglich, dass ihr rechter Gebrauch unzureichend verbreitet sei. Alle Autor(inn)en haben das Ziel, den Lehrenden den diskursiven Gebrauch ihres Körpers besser zu ermöglichen, den Körper "zu alphabetisieren". Der Körper soll nicht nur zu einem Diskursträger werden, er soll dies auch durch einen didaktischen Diskurs, der den Körper gewissermaßen "diskursivieren" soll. [50]
Diese Thematisierungen des Körpers in den schulpädagogischen Fachzeitschriften wurden mit der ethnographischen Beobachtung in einer 7. Hauptschulklasse und begleitenden Gesprächen mit den Lehrer(inne)n kontrastiert. Hier zeigt sich, wie das scheinbar "rein körperliche" Berühren von Schüler(inne)n durch Lehrende diskursiv konstituiert ist, indem bestimmten sozialen Positionen je unterschiedliche Möglichkeiten zugewiesen werden, sich zu verbalisieren. Dazu zunächst ein Zusammenschnitt aus den Beobachtungsprotokollen der Feldforschung:
"Die Lehrerin nimmt häufig körperlich auf ihre Schüler/-innen Bezug: Dem einen Jungen streicht sie beim Rundgang durch die Klasse während des Kontrollierens der Aufgaben über den Kopf, dem anderen legt sie die Hand auf die Schulter oder packt ihn freundschaftlich am Kragen. Da während des Unterrichts keine Kappen getragen werden dürfen, nimmt sie diese den Schülern sanft vom Kopf und blickt ihnen dabei eindringlich mahnend in die Augen. Sie setzt sich neben eine Schülerin auf den Tisch, beugt sich zu ihr hinunter und flüstert leise mit ihr. Oder sie hockt sich vor oder neben die Schüler/-innen, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein. Sie schaut ihnen in die Augen, lächelt sie an, vermittelt Nähe, Offenheit und Zuneigung. Manchmal erfolgt ein mahnender Blick von Ferne. Eine weitere Fachlehrerin wirkt dagegen viel distanzierter. Wenn sie in der Klasse umhergeht, bleibt sie z. B. aufrecht, beugt sich nicht herunter, kommt den Schüler/-innen weniger nahe." [51]
Dokumentiert ist hier eine Reihe von körperlichen Handlungen, die Kontakt herstellen, die nicht den Charakter einfacher Zeichen haben, aber dennoch einen kommunikativen Aspekt. In den Interviews betonen die Lehrer(innen) der Klasse, wie wichtig ihnen diese Art von Körperkontakt ist. Eine Lehrerin beschreibt, dass sie ihn als "pädagogisches Mittel" einsetze. Der Körperkontakt werde zur pädagogischen Praktik, z.B. um Beziehungen herzustellen, um innerhalb der Schulklasse und während des Unterrichts leiser sprechen zu können, um zu ermahnen und eventuell auch zu sanktionieren. Zugleich erklärt sie, dass sie dabei vorsichtig sein müsse.
"Ich denke, Körperkontakt, da muss man vorsichtig sein, aber ich finde ihn wichtig. Sag ich jetzt einfach mal ungebremst raus …". [52]
Die Vorsicht gilt der möglichen Deutung durch Schüler(innen) oder Beobachter(innen), die die Berührung als Grenzüberschreitung wahrnehmen könnten. Es scheint zudem nicht ohne Weiteres legitim zu sein, Körperkontakt bedeutsam zu finden, denn es wird "ungebremst heraus" gesagt. Was in den Zeitschriften gefordert wird – der bewusste Einsatz und die Thematisierung des Körpers – scheint den Lehrer(inne)n eher ein Tabu zu sein. Allerdings, so zeigt sich wiederum von diesen Beobachtungen ausgehend, stellt die körperliche Berührung auch in den Zeitschriften ein Tabu dar – Körperkontakt kommt als Thema in den pädagogischen Texten einschließlich ihrer Bebilderung schlichtweg nicht vor. Das Thema Körperkontakt bildet gewissermaßen eine Leerstelle im Diskurs. Dennoch ist der Akt der Berührung von spezifischen Diskursen gerahmt, wie sich im Reden der Lehrenden zeigt: vor allem bzgl. Professionalität, Moralität, Geschlecht, Alter und sozialer Positionierung. [53]
Die diskursive Konstellierung des Körperkontakts überschreitet noch jenen instrumentellen Einsatz. Darauf verweisen die Begründungen der Interviewten. Sie legitimieren ihr Handeln damit, dass sie an einer ganz speziellen Institution arbeiten – einer Hauptschule. Im Gymnasium "ginge dies so nicht", würde dort aber auch nicht derart von den Schüler(inne)n eingefordert, wie es bei ihrer Klasse der Fall sei. Die Körpersprache jenseits des Verbalen würden Hauptschüler(innen) eben besser verstehen, womit eine bestimmte Figur des Hauptschülers/der Hauptschülerin sowohl über die beobachteten Körperpraktiken konstituiert als auch im Reden innerhalb der Interviewsituation konstruiert wird. An die differenzierenden Kategorisierungen "verbal-sprachlich" (sowie "sprach-fähig") und "körper-sprachlich" werden soziale Positionen gekoppelt. Die auf einer körperlichen Ebene stattfindende – nicht-sprachliche – Berührung ist mit sozialen Positionen sowie Zuschreibungen (nicht-) verbaler Fähigkeiten verknüpft. Die Praktiken der Kommunikation, die den Hauptschüler(innen) vorbehalten sind, sind non-verbal, aber nicht nicht-diskursiv. Sie sind derart mit Praktiken des Symbolischen verbunden, dass sie ohne Diskursivität gar nicht existieren würden. Das Diskursive legitimiert nicht einfach die genannte Körperpraxis, es liegt ihr vielmehr als symbolische Ordnung der sozialen Hierarchie zugleich zugrunde und wird von ihr stabilisiert.12) [54]
Die Beziehung von Diskurs und Körper ist bisher an einem spezifischen gesellschaftlichen Bereich, der Institution Schule, diskutiert worden. Mit einer weiteren ethnographischen Beobachtung möchten wir zeigen, dass sich dieselbe Beziehung auch in einem ganz anderen Bereich beobachten lässt, nämlich in Interaktionspraktiken zwischen Prostituierten und Freiern auf dem sogenannten Drogenstrich (LANGER 2003, S.141ff.). Neben den vorgenommenen Beobachtungen im Feld wurden hier Interviews mit verschiedenen Akteuren: Prostituierten, Sozialarbeiterinnen und Polizisten geführt. Das Material, das der ethnographischen Studie zugrunde liegt, interpretieren wir nachträglich im Sinne des hier vertretenen Ansatzes und fragen nach den diskursiven Anteilen in Interaktionspraktiken und Körpererfahrungen. [55]
Die weiblichen Prostituierten berichteten in den Interviews fast alle von "komischen Gefühlen" im Bauch, welche beim Zusammentreffen mit einem Freier eintreten können. Sie interpretieren diese Gefühle als Warnsignal, welches darauf verweist, dass der entsprechende Freier möglicherweise nicht "korrekt" sei bzw. gefährlich werden könnte. Können sie es sich finanziell leisten, auf dieses Gefühl "zu hören", steigen sie zu diesem Freier nicht ins Auto. Das "Gefühl im Bauch" wird hier zur Metapher, ein Entscheidungsgrund, dessen mögliche Nicht-Diskursivität wir im Folgenden diskutieren möchten. Zunächst eine der typischen Formulierungen dieses Gefühls in einem Interview:
"Also ich red' halt viel mit den Freiern. Und ich sag mal, die ersten paar Sätze, die du mit denen redest, was er dir darauf antwortet, das ist eigentlich für mich ausschlaggebend. Und halt das Gefühl im Bauch. Ich hab die Erfahrung gemacht, wie soll ich sagen, manchmal wenn dich ein Typ anspricht, und du sitzt da so neben ihm oder du läufst neben ihm und du redest mit ihm, dass du plötzlich so`n Gefühl im Bauch kriegst so wie Angst. Und wenn das halt jetzt ist, dann geh ich. Dann sag ich 'Hey tut mir leid, ich glaub, das wird nichts mit uns beiden'." (Carmen) [56]
Die Prostituierten postulieren, dass sie gute (korrekte, ungefährliche) und schlechte (unkorrekte, gefährliche) Freier aufgrund eines Körpergefühls unterscheiden können, das sie in bestimmten Momenten an sich wahrnehmen. Mit dieser Selbstzuschreibung berichten sie von einem wichtigen Element ihres Sicherheitsmanagements und weisen sich zugleich als kompetent für ihre Arbeit (und) auf der Straße aus. Sie machen die Erfahrung, dass sich der Einsatz des Gefühls lohnt.
"Und also drei-, viermal hab ich eben die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich dann trotzdem mitgehen wollte, weil ich's Geld gebraucht hab, wirklich ja, dass dann immer was passiert ist. (Carmen) [57]
Die Folgerungen, die Prostituierte aus dem "Gefühl" ziehen, scheinen noch weniger diskursiv als das Gefühl selbst: Sie steigen zu einem Freier ins Auto oder nicht. Der Zusammenhang von Beobachtung, Gefühl und Handlung wird zu einer Strategie. Erst dieser Zusammenhang einer Strategie macht das (Nicht-) Ins-Auto-Steigen aus, aber genau damit ist die Strategie eng mit einer diskursiven (Be-) Deutungspraxis verbunden. Das Wissen über gute und schlechte Freier lässt sich innerhalb dieser (Be-) Deutungspraxis als eine Art "implizites Körper- oder Praxiswissen" begreifen, denn die Interviewten können zwar von diesem Gefühl sprechen, aber sie können es als solches nicht konkretisieren und begründen, und so werden das Gefühl und die daraus gezogenen Schlüsse im Interview wieder erklärungsbedürftig. Die Prostituierten erklären es sich und den Interviewenden mit einer Art Alltagsempirie damit, dass sie Erfahrungen gemacht haben, die sie gelehrt haben, diese Gefühle ernst zu nehmen. Dieses Reflexiv-Werden des Zusammenhangs von Freiern und eigener Körperwahrnehmung findet nicht nur im Interview statt, es ereignet sich auch im Gespräch mit Kolleginnen, wenn eine der anderen erzählt: "Heute hatte ich wieder so einen komischen Typen, der hatte …, da bin ich lieber nicht mitgefahren. Hast Du den auch gesehen?" Diese fiktive, aber doch ausgesprochen realistische Unterhaltung zeigt, wie das Gefühl und seine Deutungsgrundlagen wieder in einen sozialen Austausch geraten. Die Strategie, nicht ins Auto zu steigen, ist zwar selbst nicht-diskursiv, aber sie ist eng mit solchen sozialen Abgleichsprozessen von Deutungen verbunden. Ein weiteres Zitat kann dies deutlich machen:
"Am Anfang denkt man sich nix dabei, fährt man auch mit Ausländern weg, also die auch den gleichen Preis zahlen wollen, die meisten wollen das ja gar nicht zahlen, die versuchen zu handeln oder so. Das sind auch die meisten, die dann ohne Gummi das wollen, und dann ist mir halt auch passiert, da bin ich mit 'nem Türken weggefahren und der hat mich nicht bezahlt. Das ist ein kleineres Übel, aber trotzdem, ist es Scheiße, wenn ich zum Beispiel Turkey gehabt hätte oder so in dem Moment, wäre Scheiße gewesen. Weil die anfangen zu handeln, man fährt weg und auf einmal fangen sie an 'Nee, ich will das net bezahlen'. Und das ist mir zur blöd." (Kirsten) [58]
Dass es gute und schlechte Freier gibt, ist nicht nur eine Erfahrung, die zum entsprechenden Gefühl passt. Die Entscheidung (und die Reflexion darüber), ins Auto zu steigen oder nicht, wird erst sinnvoll innerhalb von spezifischen Prostitutions-, Sicherheits-, Wahrheits- und/oder Geschlechter-Diskursen. Beispielsweise werden Erfahrungen und Diskurse über ausländische Männer subsumiert und wenn möglich Kont(r)akte mit ihnen vermieden. Es sind neben dem bestimmten unbestimmten Gefühl konkrete Hinweise oder das Gefühl auslösende Zeichen, die argwöhnisch machen, die von anderen Prostituierten aufgegriffen werden und auf die eine Streetworkerin besonders hinweist. Das implizite Körperwissen ist von dieser Diskursivität durchzogen und wird selbst zur Rahmung einer Situation gebraucht (GOFFMAN 1996). Die Frauen gehen davon aus, dass diejenigen, die sie täuschen wollen, dies durch ihr Verhalten unwillkürlich zeigen, dass es sichtbar und damit erkennbar wird. Das Erkennen des Verdeckten ermögliche den Blick auf das Eigentliche hinter der Fassade. So machten eben besonders "verstohlene" Verhaltensweisen, wie z.B. beim Nennen seines Namens herumzudrucksen (vgl. LANGER 2003, S.146), plötzlich stutzig. Ihre Erfahrungen sowie das Reden über Freier, Drogen- bzw. Straßenprostitution usw. bestimmen, was sie als warnende Hinweise empfinden. Zum Teil ist es ein implizites Zeichenwissen, welches über das oben ausgemachte "Körperwissen" hinausgeht und doch so "verinnerlicht" ist, dass es von den jeweiligen Personen nur schwer expliziert werden kann. [59]
Die Bespiele aus höchst unterschiedlichen Kontexten zeigen, wie Diskurse und Körperpraktiken miteinander verwoben sind, Diskurse bestimmte Körperpraktiken ermöglichen und legitimieren, die wiederum Subjekte konstituieren. Ebenso deutlich wird, wie Körpererfahrungen als Gefühl zwar aufgrund der "fehlenden Worte" schwer zu artikulieren sind, ihre Erklärungen jedoch wiederum auf spezifische Diskurse verweisen, womit auch die Erfahrung und das Gefühl selbst von ihnen gespeist werden. [60]
7. An den Rändern des Diskurses
An den drei Dimensionen der Macht, der Alltagspraxis und des Körpers haben wir zu zeigen versucht, dass Diskurse nicht einfach als das Sprachliche dem Nicht-Sprachlichen gegenübergestellt werden können, und in welchem Sinn Diskurse selbst als diskursive Praktiken, also als Handlungen begriffen werden müssen. Das Postulat der Diskurstheorie, dass das Diskursive die Grenze des Sprachlichen ausmache, also nicht eine Seite einer Unterscheidung bilde, sondern ihren Übergang prozessiere, bleibt in der Abstraktion notwendig unbestimmt – die Unterscheidung ist nur über Paradoxa artikulierbar. Dekliniert man diese Problematik aber an verschiedenen Gegenständen durch, wird deutlich, dass man überall dort, wo man das Andere des Diskurses gefunden zu haben glaubt, wieder zum Diskursiven zurückkommt. Damit ist keineswegs behauptet, dass alle Praktiken diskursiv sind, und auch nicht, dass alles allein von Diskursen her erklärbar sei. Praktiken sind vielmehr nicht einfach diskursiv oder nicht-diskursiv, sondern enthalten – das hoffen wir gezeigt zu haben – das Diskursive in unterschiedlicher Weise. Es geht um ein Grundaxiom strukturaler Analysen, dass nämlich alle Gegenstände nicht in ihren Identitäten, sondern in ihren Relationen zu untersuchen sind, wie BOURDIEU (1994, S.29) argumentiert. In einem Komplex von Praktiken, die einen Gegenstandsbereich konstituieren, wird das Diskursive immer eine bestimmte Rolle spielen. Diese herauszuarbeiten, ist Aufgabe der Diskursanalyse. Daher betrachten wir FOUCAULTs Bemerkung, dass der Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv zu viel Bedeutung beigemessen werde, anders als JÄGER (s.o.), nicht als Verlegenheit, sondern würden ihr zustimmen. [61]
Diskursive und nicht-diskursive Praktiken sind nicht zwei Wirklichkeitsbereiche, die zunächst voneinander getrennt untersucht werden können, um anschließend zu fragen, wie das eine auf das andere wirkt. Am konkreten Forschungsgegenstand zeigt sich, dass Diskursives und Nicht-Diskursives in der gesellschaftlichen Praxis untrennbar verbunden sind. Gerade in Bezug auf Alltagspraktiken scheinen daher die Ränder der Diskurse ein lohnendes Forschungsgebiet. [62]
1) Diese Argumentation, die FORNECK (2002) als didaktische Dekonstruktion für die Methoden der Weiterbildung vorbringt, gilt u.E. ebenfalls für wissenschaftliche Methoden und Methodologien. <zurück>
2) Diese Debatte betraf – aus disziplinärer Perspektive – bedeutendere Personen als HOFMANN, LAACK oder WEITSCH. Sie entzündete sich an ähnlichen Äußerungen von FLITNER und SPRANGER in der führenden erziehungswissenschaftlichen Zeitschrift der Weimarer Republik "Die Erziehung". <zurück>
3) Dieses Prinzip der Iterabilität von Äußerungsakten, das DERRIDA in einer poststrukturalistischen Revision der Sprechakttheorie herausgearbeitet hat, ist u.E. zugleich der Clou der Theorie der Äußerung, wie sie FOUCAULT in der "Archäologie des Wissens"ausarbeitet (vgl. ausführlich WRANA 2006, S.127ff.). <zurück>
4) Um diese herauszuarbeiten, wurden für alle Texte Strukturbilder erstellt, die sowohl die jeweiligen Narrationen in Anlehnung an ein Analyseschema von Algirdas GREIMAS (1971), als auch die häufig mit den darin enthaltenen narrativen Subjektpositionen verknüpften Differenzen sowie Argumentationen und Metaphern enthalten. Dabei zeichnen sich sich wiederholende Konstellationen ab (vgl. LANGER & WRANA 2005, S.10). Die Schemata (Aktantenschema für die Narrationen, Differenzketten, Argumentationsschema) sind in diesem Zusammenhang ein wichtiges Werkzeug in der Analyse; sie erlauben, als pragmatische, am Gegenstand zu begründende Raster diskursive Figuren zu beschreiben, die ihrerseits nicht formal, sondern auf eine bestimmte Weise strukturierte Inhalte sind (zu diesem Erfordernis jeder Strukturanalyse vgl. LÉVI-STRAUSS 1975, S.183). <zurück>
5) Wie John AUSTIN gezeigt hat, besteht die Performanz eines Sprechaktes nicht darin, einen Effekt zu haben, sondern darin, auf einen Effekt gerichtet zu sein (AUSTIN 1972). In ihren Dekonstruktionen der Sprechakttheorie haben Jacques DERRIDA (2001), Judith BUTLER (1998) und Jean-François LYOTARD (1989) die Sprechakttheorie AUSTINS für eine poststrukturalistische Diskursanalyse fruchtbar gemacht (vgl. Anmerkung 4). <zurück>
6) In diesem Punkt dürfte es einen breiten Konsens verschiedener Richtungen der Diskursanalyse geben, auch wenn die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs je recht verschieden ist (z.B. für die wissenssoziologische Diskursanalyse SCHNEIDER & HIRSELAND 2005, S.258). <zurück>
7) Die Relation von Adressat(in) und Adressant(in) ist eine abstraktere Formulierung für Sprecher(in)-Hörer(in), Autor(in)-Leser(in) etc. und geht auf das Aktantenmodell von GREIMAS (1971, S.162) zurück. <zurück>
8) Theoretisch führt das Folgende die Modellbildung weiter, die sich in LYOTARDS "Widerstreit" (1989, S.30, 34, 126, 136), in BENVENISTEs Theorie des Äußerungsaktes (1974, S.289) und auch in FOUCAULTs Theorie der ennoncé finden, die er in der"Archäologie des Wissens"entwirft (FOUCAULT 1981, S.128ff.). <zurück>
9) Einen solchen Gebrauch des Standardmodells zu etwas anderem, z.B. zur Rede an sich selbst, hat AUSTIN als "parasitär" begriffen, als Moment der Auszehrung der Sprache (AUSTIN 1972, S.42). DERRIDA zeigt demgegenüber, dass dieser Gebrauch als Zitathaftigkeit lediglich den Normalfall etwas weiter treibt. Jeder "normale" Gebrauch des Standardmodells ist selbst eine iterable Zitation. Das Standardmodell ist nur eine Abstraktion von Sprechakttheoretiker(inne)n und keine formale und zugleich universale Struktur des Sprechens bzw. der Sprachformen, die herausgearbeitet werden (vgl. DERRIDA 2001, S.39). <zurück>
10) Dass sich im gewählten Material der Lernjournale nur die reflexiven Akte beobachten und analysieren lassen, verhindert nicht, ihre Einbettung in eine gesellschaftliche Praxis mitzudenken. <zurück>
11) Die Metakognitionstheorie und -forschung ist ein Zweig der kognitiven Psychologie und Lehr-Lern-Forschung, die die Bezüglichkeit von Kognitionen auf Kognitionen untersucht. In der Forschung zu Lernjournalen wird dabei i.d.R. die Lernleistung beim Einsatz von Lernjournalen mit einer Vergleichsgruppe ohne Lernjournale gemessen. Die Realisierung solcher Bezüge in der Sprachlichkeit der Journale hingegen wurde bisher nicht untersucht. Ihre Operationalisierung im Rahmen der kognitiven Psychologie dürfte auch einige Schwierigkeiten bereithalten (vgl. WRANA 2006, S.7ff.). <zurück>
12) Das, was am Körper in der "sozialen Welt" relevant ist, ist mit dem Diskursiven verbunden, schon bevor sich so etwas wie Erfahrung einstellt. Dazu gibt es eine breite Debatte in der Körpersoziologie und den gender studies (BUTLER 1995; JÄGER 2004; LUDEWIG 2002). <zurück>
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Daniel WRANA ist Erziehungswissenschaftler und arbeitet seit 1999 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der Weiterbildung an der Universität Gießen. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind: Methodologie der Diskursanalyse, Institutionelle Transformationen durch Qualitätssicherung, Formierung des Feldes Erwachsenenbildung/Weiterbildung.
Kontakt:
Dr. Daniel Wrana
Justus Liebig-Universität Gießen
Institut für Erziehungswissenschaften
Professur für Weiterbildung
Karl-Glöckner-Str. 21 B
D-35394 Gießen
Tel.: 0641/99-24064
Fax: 0641/99-24069
E-Mail: daniel.wrana@erziehung.uni-giessen.de
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Antje LANGER ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet seit 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Frankfurt/Main. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind: Empirische Geschlechterforschung, Körpersoziologie, Qualitative Forschungsmethoden und Methodologie der Diskursanalyse.
Kontakt:
Antje Langer
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft
Robert-Mayer-Str. 1
D-60054 Frankfurt/Main
Tel.: 069/798-28044
Fax: 069/798-28842
E-Mail: antje.langer@em.uni-frankfurt.de
URL: http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/langer.html
Wrana, Daniel & Langer, Antje (2007). An den Rändern der Diskurse. Jenseits der Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken [62 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 20, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702206.