Volume 8, No. 2, Art. 5 – Mai 2007
Rezension:
Annika Mattissek
Dominik Schrage (Hrsg.) (2005). Die Flut. Diskursanalysen zum Dresdner Hochwasser im August 2002. Münster: MV-Wissenschaft, 128 Seiten, ISBN 3-86582-172-3, EUR 12,50
Zusammenfassung: In dem von Dominik SCHRAGE herausgegebenen Band sind die Ergebnisse eines Forschungsseminars am Institut für Soziologie der TU Dresden (Sommersemester 2004 und Wintersemester 2004/05) dokumentiert. Die Beiträge resultieren aus einer Untersuchung der (print-) medialen Berichterstattung zum Elbhochwasser im Sommer 2002 mit Hilfe diskursanalytischer Verfahren. Themen sind neben einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Umsetzung FOUCAULTscher Diskurstheorie in empirischen Forschungsarbeiten formale Aspekte des Flutdiskurses, die gegenseitige Beeinflussung von Wahlkampf- und Flutberichterstattung sowie das während des Hochwassers gezeichnete Naturbild. Der Sammelband zeigt auf überzeugende Art und Weise, dass FOUCAULTsche Diskursanalyse für die Analyse aktueller gesellschaftlicher Ereignisse interessante Einblicke bieten kann und weist mögliche Wege der empirischen Operationalisierung. Darüber hinaus ist der Band auch für Lesende empfehlenswert, die sich für die Veränderungen diskursiver Strukturen in sozialen Ausnahmesituationen im Allgemeinen und für die gesellschaftliche Rahmung von Naturkatastrophen im Besonderen interessieren.
Keywords: Diskursanalyse, Hochwasser, Natur und Gesellschaft
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Flut als Gegenstand soziologischer Diskursanalysen – Überlegungen zur Relevanz des Themas und zu seiner methodologischen Umsetzung (Dominik SCHRAGE)
3. Die Flut als "totales Thema" und soziale Auswirkungen des diskursiven Ausnahmezustandes (Rico HAUSWALD)
4. Einfluss der Elbeflut auf die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2002 (Dominique GELF)
5. Das Naturbild im Flutdiskurs (Gunther GEBHARD & Steffen SCHRÖTER)
6. Fazit
Die Beiträge in dem von Dominik SCHRAGE herausgegebenen Sammelband basieren auf den Ergebnissen eines Forschungsseminars, das im Sommersemester 2004 und Wintersemester 2004/05 am Institut für Soziologie der TU Dresden stattfand. Mit Hilfe diskursanalytischer Verfahren wurde die (print-) mediale Berichterstattung zum Elbhochwasser im Sommer 2002 in regionalen und überregionalen Tageszeitungen untersucht. [1]
Das Elbhochwasser überflutete Mitte August weite Teile Dresdens komplett, nachdem Anfang August 2002 bereits viele Landstriche in Österreich, Tschechien, der Slowakei und Bayern durch starke Regenfälle und Überschwemmungen betroffen waren. Begleitet wurde das Ereignis von einer ausführlichen und teilweise sehr emotionalen Berichterstattung in den Medien. Die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen anhand unterschiedlicher inhaltlicher Teilaspekte die "Frage nach der soziologischen Bedeutung eines derart einschneidenden Ereignisses: Was kann man über Gesellschaft erfahren, wenn man nicht ihr 'normales' Funktionieren betrachtet, sondern eine extreme Ausnahmesituation, um die es sich bei der Flut zweifellos gehandelt hat?" (S.10) Nach einem in Untersuchungsgegenstand, theoretischen Hintergrund und methodologische Grundlagen einführenden Einleitungsbeitrag von Dominik SCHRAGE werden in drei Einzelbeiträgen die folgenden Themen behandelt: die Flut als "totales Thema" (Rico HAUSWALD), der Einfluss der Flut auf die politische Semantik der überregionalen Presse im Bundestagswahlkampf (Dominique GELF) sowie das diskursiv gezeichnete Verhältnis der Gesellschaft zur bzw. ihr Bild von der Natur (Gunther GEBHARD & Steffen SCHRÖTER). [2]
2. Die Flut als Gegenstand soziologischer Diskursanalysen – Überlegungen zur Relevanz des Themas und zu seiner methodologischen Umsetzung (Dominik SCHRAGE)
Im einleitenden Beitrag von Dominik SCHRAGE werden zunächst aus soziologischer Perspektive die Relevanz und das spezifische Forschungsinteresse am Untersuchungsgegenstand umrissen. In einem zweiten Schritt werden die Grundlagen der Diskursanalyse im Anschluss an FOUCAULT, die den konzeptionellen Bezugsrahmen der Arbeiten bildet, skizziert und auf ihre Anwendbarkeit für das Thema überprüft. [3]
Im Mittelpunkt der inhaltlichen Reflexion stehen zwei Aspekte: Zum einen geht es um die sozialen Prozesse, die für eine diskursive Ausnahmesituation kennzeichnend sind; SCHRAGE nennt hier die diskursive Konstitution eines feindlichen "Außen" (der Natur), von der sich das Kollektiv der mittelbar und unmittelbar Betroffenen absetzt, die Straffung der sozialen Ordnung sowie den Rückgriff auf verschiedene kulturelle Muster, die zur Erklärung der Katastrophe herangezogen werden. Zum anderen behandelt er das Spannungsverhältnis zwischen dem – zunächst außersozialen – physischen Naturereignis (der Flut) und seiner Diskursivierung und der damit verbundenen Integration in die symbolische Ordnung (S.13). Untersucht wird "aus diskursanalytischer Sicht […] der Gegenstand 'Flut' als das Thema von sprachlichen Zeugnissen […], die sich mit diesem Ereignis auseinandersetzen und es so mit Bedeutung versehen" (S.12). Im Vergleich zu anderen Ausnahmesituationen wie Krieg oder Unfällen rückt beim Thema "Flutkatastrophe" zusätzlich "das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur, zunächst verstanden als all das, worauf sich Gesellschaft beziehen muß, ohne es selbst ursächlich beeinflussen zu können" (S.10), ins Blickfeld. [4]
Bei der konzeptionellen Einordnung knüpft SCHRAGE an die Arbeiten von Michel FOUCAULT und dessen Verständnis von Diskursen als "Systeme[n] von Aussagen […], in denen sich Wissen in sprachlicher Form manifestiert" (S.12) an. Im Gegensatz zu FOUCAULTs eigenen Arbeiten steht jedoch nicht der historische Wandel von Diskursen und Wissensordnungen im Mittelpunkt der Untersuchungen, sondern die Veränderungen der sprachlichen Muster, die für die untersuchte soziale Ausnahmesituation während der Flutkatastrophe charakteristisch sind. SCHRAGE thematisiert hier auch die bislang bestehende Lücke bei der methodologischen Operationalisierung der Arbeiten FOUCAULTs: "Die Bezugnahme auf die Arbeiten Foucaults [kann] keinesfalls in Form einer schematischen Übernahme von verallgemeinerbaren Methodenbegriffen oder Analyseroutinen aus seinen Werken erfolgen" (S.15). Im vorliegenden Beitrag liegt das forschungsleitende, zentrale Charakteristikum FOUCAULTscher Diskursanalyse SCHRAGE zufolge "in der strikten Distanzierung vom Inhalt der untersuchten Aussagen […] – in der Trennung zwischen analytischen Konzepten und den untersuchten Bedeutungen" (S.15). [5]
Daraus leitet sich das empirische Forschungsprogramm ab: Diskursanalyse geht es in diesem Kontext um
"das Auffinden von charakteristischen Regelmäßigkeiten im Diskurs, die vor dem Hintergrund der Frage nach der sozialen Ausnahmesituation auf die Mechanismen schließen lassen, mit denen die Gesellschaft auf das Flutgeschehen reagiert. Wichtige Fragen sind beispielsweise: Welche Aussagen sind häufig, welche sind sogar unverzichtbar für den untersuchten Diskurs, welche sind miteinander kombinierbar, welche treten nie gemeinsam auf, auf welche unterschiedlichen historischen oder sozialen Kontexte wird verwiesen, welche Analogien werden hergestellt, haben Aussagen den Charakter von Aufforderungen oder moralischen Verurteilungen …?" (S. 22) [6]
Der Einleitungsaufsatz leistet eine gelungene Einführung in das Thema und seine Relevanz als soziologischer Forschungsgegenstand und macht neugierig auf die weiteren Beiträge. Die theoretisch-methodologische Einführung verortet die Texte auf knappe, aber sinnvolle Art und Weise im Forschungskontext der Diskursanalyse und macht insbesondere deutlich, dass Diskursanalyse auch für Arbeiten, die nicht auf langfristig ablaufende, historische Veränderungen des Wissens abzielen, ein Gewinn bringender Zugang sein kann. [7]
Abschließend weist SCHRAGE darauf hin, dass es im Rahmen der empirisch angelegten Einzelbeiträge nicht möglich ist, eine weitergehende soziologische oder gesellschaftstheoretische Einbettung und Interpretation zu leisten. Er zeigt aber mögliche Anbindungen an weiter gefasste Sozialtheorien auf, wie etwa die Frage, wie allgemein in Ausnahmesituationen soziale Kollektive konstituiert werden und Handlungsfähigkeit erlangen (S.28). Eine Weiterführung der Arbeiten in diese Richtung wäre sicherlich vielversprechend, auch wenn sie den Rahmen des Projektes an dieser Stelle gesprengt hätte. [8]
3. Die Flut als "totales Thema" und soziale Auswirkungen des diskursiven Ausnahmezustandes (Rico HAUSWALD)
Rico HAUSWALD untersucht anhand regionaler Printmedien die Flut als "totales Thema", d.h. als Thema, das sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens durchdringt, und als diskursiven Ausnahmezustand. Er geht dabei der Frage nach, wie sich die Berichterstattung über die Flut in mehrere Phasen gliedern und wie sich durch die Herausarbeitung formaler Merkmale des Diskurses die These stützen lässt, dass es sich bei der Flut um eine soziale Ausnahmesituation handelte. Der Schwerpunkt der Analyse liegt folglich auf formalen Aspekten. HAUSWALD geht dabei davon aus, dass "die Flut nicht ein Thema wie jedes andere ist, über das berichtet wird wie über jedes andere, sondern dass der ('diskursive') Ausnahmezustand gerade darin besteht, dass die Regeln und Strukturen, die die Berichterstattung organisieren, verändert werden" (S.33). [9]
Um diese These zu stützen, führt er eine Reihe von Belegen an, die mit unterschiedlichen methodischen Werkzeugen erarbeitet werden. Auf der formalen bzw. quantitativen Ebene bestimmt HAUSWALD in den von ihm untersuchten drei regionalen Zeitungen (Sächsische Zeitung [SäZ], Dresdner Neueste Nachrichten [DNN], Dresdner Ausgabe der Bildzeitung) den prozentualen Anteil von Artikeln zur Flutkatastrophe im Verhältnis zur Gesamtfläche und legt dar, wie sich dieser Anteil im Verlauf der Flut verändert. Es zeigt sich, dass während der Hochphase der Überschwemmung fast der komplette Druckbereich in den Printmedien dem Thema Flut gewidmet war. Darüber hinaus verändern sich auch die inhaltliche Gliederung der Zeitungen sowie die Gestaltung und Aufteilung der Titelseiten; die normalen formalen Regeln der Berichterstattung werden gesprengt. [10]
Diese Veränderungen der formalen Struktur sind jedoch nicht während der ganzen Überschwemmungsphase gleichermaßen zu beobachten. So teilt HAUSWALD den Verlauf der Flutereignisse in vier Diskursphasen ein, die er durch eine interpretierende Beschreibung der jeweils kennzeichnenden semantischen Merkmale charakterisiert. Die so herausgearbeiteten Veränderungen des Sprechens und Schreibens über die Flut im Verlauf der Katastrophe werden anhand einer Reihe von Zitaten aus einzelnen Zeitungsartikeln belegt. [11]
Darüber hinaus zeigt HAUSWALD auf, wie die Veränderung der formalen Diskursstrukturen Einfluss auf soziale Verhaltensregeln hat und wie moralische Richtlinien verändert werden. So entsteht insbesondere in der Kernphase des Flutdiskurses ein moralisches Spannungsfeld einerseits "zwischen der vielbeschworenen Solidarität in der Zeit der Not und andererseits dem Ausnutzen des Unglücks durch einige, die der Totalität und dem Ernst der Situation nicht Rechnung tragen" (S.48). Dies führt zu Unsicherheiten darüber, was in dieser veränderten diskursiven Situation als "richtiges" oder "falsches" Handeln gilt:
"Die prekäre Frage lautet: Wie verhält man sich angesichts der Flut richtig? Diese Unsicherheit liegt darin begründet, dass im diskursiven Ausnahmezustand herkömmliche Strukturen und Orientierungsregeln nicht mehr anwendbar sind. Die Logiken des Sprechens und Handelns in den verschiedenen Bereichen werden aufgehoben und man ist auf der Suche nach neuen Maßstäben" (S.48). [12]
Diese Effekte veranschaulicht HAUSWALD beispielhaft an vier unterschiedlichen sozialen Bereichen:
Wirtschaftliche Logik, deren Selbstverständlichkeit angesichts der Flut außer Kraft gesetzt wird;
Politik und Wahlkampf, wo sich Politiker und Politikerinnen im Spannungsfeld zwischen dem Vorwurf der Instrumentalisierung der Flut für eigene Publicity und dem Vorwurf der Gleichgültigkeit positionieren müssen;
moralische Verpflichtung zum Spenden, verbunden mit dem Gebot, nicht zu versuchen, sich dabei selber in ein besseres Licht zu rücken und
"Gaffen", das als sozial unerwünschte, das Gebot der Anteilnahme missachtende soziale Praktik verurteilt wird. [13]
In dem Beitrag werden sowohl die formalen Veränderungen des Diskurses in der sozialen Ausnahmesituation, als auch die daraus resultierenden Konsequenzen für soziale Verhaltensweisen schlüssig und anschaulich dargestellt. Etwas unbefriedigend bleiben die abschließend angestellten Überlegungen zur Frage, wie ein Thema zum "totalen Thema", zum diskursiven Ausnahmezustand wird. So endet der Beitrag recht offen mit der Bemerkung "Unter bestimmten Bedingungen scheint ein Thema geeignet zu sein, totales Thema zu werden" (S.60). [14]
4. Einfluss der Elbeflut auf die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2002 (Dominique GELF)
Dominique GELF untersucht in ihrem Beitrag den Einfluss der Flut auf die politische Semantik der überregionalen Presse im Bundestagswahlkampf 2002. Die zentralen Fragen lauten: Wie wurde die Flut in der Berichterstattung zur Bundestagswahl 2002 dargestellt? Wie verändern sich in der Verschneidung von Wahlkampfberichterstattung und der medialen Berichterstattung über die Flut die Sprecherpositionen der beteiligten Politiker(innen)? Wie verändert sich der Raum des Sagbaren und des zu Sagenden? Welche Zwänge (Dinge zu tun oder zu lassen, Einstellungen zu betonen oder zu bestimmten Themen sich zu äußern oder zu schweigen) ergeben sich durch die spezifische diskursive Konstellation? [15]
Anhand einer Analyse überregionaler Tages- und Wochenzeitungen von Beginn der Flut bis zum Zeitpunkt der Bundestagswahl am 26. September 2002 arbeitet sie heraus, dass die Flut für die am Bundestagswahlkampf beteiligten Politikerinnen und Politiker eine diskursive Gratwanderung mit sich bringt, in der sich diese zwischen der politischen Notwendigkeit, sich den Problemen der Menschen vor Ort zu widmen und dem Vorwurf, Wahlkampfpopulismus auf Kosten der Flutopfer zu betreiben, bewegen müssen. Es wird deutlich, dass das diskursiv sich konstituierende Bild zwischen den beiden aussichtsreichsten Kanzlerkandidaten Schröder und Stoiber dabei stark differiert: Während Schröder als Mann der Tat, als "Politiker mit Instinkt" (S.70), als "entschlossener Krisenmanager" (S.71) dasteht, wird Stoiber vorgeworfen, sich mit seinem Auftreten vor Ort nur beim Volk anbiedern zu wollen (S.69). Diese Diskrepanz erklärt sich zumindest teilweise aus den unterschiedlichen diskursiven Orten, von denen aus die Politiker sprechen, denn Schröder hat hier als Mitglied der amtierenden Regierung einen klaren Vorteil. [16]
GELF arbeitet diese Grundzüge der Verknüpfung von Wahlkampfberichterstattung und medialer Repräsentation der Flutkatastrophe auf überzeugende Art und Weise heraus. Dennoch sind in diesem Beitrag einige formale wie inhaltliche Unsicherheiten und irritierende Redundanzen vorhanden. In der inhaltlichen Darstellung des Materials fehlt teilweise etwas die wissenschaftlich-kritische Distanz zum Untersuchungsmaterial. So erscheinen streckenweise die Medien als moralisch handelnde Quasi-Akteure, etwa wenn es heißt, "dass die Medien Wahlkampfpopulismus, wenn er auftaucht, auch als solchen benennen bzw. die geschickte Verknüpfung von Wahlkampf und politischer Pflichterfüllung bei Schröder und der SPD aufzeigen" (S.75). Hier stellt sich die Frage, ob es denn "den Medien" (als handelnden Akteuren?) möglich ist, "den Wahlkampfpopulismus" (der als solcher zu erkennen ist?) zu benennen? Oder ob sich nicht vielmehr auch die diskursive Sprecherposition der Massenmedien durch das diskursiv moralisch aufgeladene Flutereignis in einer Art und Weise verändert, die bestimmte Darstellungen und Abwägungen möglich oder notwendig macht (etwa die Legitimierung der eigenen Rolle als Berichterstatter der Katastrophe durch das scheinbare Aufdecken von Wahlkampfpopulismus). [17]
5. Das Naturbild im Flutdiskurs (Gunther GEBHARD & Steffen SCHRÖTER)
Der Beitrag von Gunther GEBHARD und Steffen SCHRÖTER ist der Frage gewidmet, "wie innerhalb des Flutdiskurses Natur konzeptualisiert und wie Gesellschaft zu dieser so konzeptualisierten Natur ins Verhältnis gesetzt wird" (S.122). Die Darstellung der Ergebnisse wird durch eine Einführung zu Theorie und Methode eingeleitet, in der die Autoren insbesondere auf den Zusammenhang zwischen empirischer Arbeit und theoretischer Reflexion eingehen:
"Will Diskursanalyse Zusammenhänge und Kontinuitäten, Brüche und Diskontinuitäten aufzeigen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen, sondern gerade die im Material mitgeführten, aber nicht thematisierten Selbstverständlichkeiten aufzeigen, so muss sie notwendigerweise selbst zwischen materialer Rekonstruktion und theoretischer Konstruktion oszillieren" (S.87). [18]
Aus diesem Grund werden die aus dem empirischen Material herausgearbeiteten Diskursstränge mit zwei Exkursen inhaltlich unterfüttert, die quasi als Hintergrundwissen für die Lesenden dienen und den diskursiven Kontext des während der Flutkatastrophe gezeichneten Bildes von Natur umreißen. [19]
Für die Darstellung von "Natur" innerhalb des Flutdiskurses arbeiten GEBHARD und SCHRÖTER mehrere dominante Stränge heraus, die sich nebeneinander im Diskurs finden lassen. Ihr Ziel ist es hierbei nicht, aus diesen verschiedenen inhaltlichen Strängen ein homogenes Ganzes zu konstruieren. Vielmehr stellen sie die Verschiedenheit und teilweise auch die Widersprüchlichkeit der einzelnen Darstellungsweisen heraus. [20]
Ein erstes, häufig wiederkehrendes Muster stellt die diskursive Subjektivierung bzw. Anthropomorphisierung von Natur dar, etwa wenn es heißt: die Natur "nimmt sich, was sie will" (S.91). Daneben lassen sich zwei weitere, häufig auftretende Konzeptionen von Natur finden, die sich jeweils aus einer dichotomen Abgrenzung zu etwas "Anderem", nämlich im einen Fall vom Menschen bzw. der Gesellschaft und im anderen Falle von der Technik ergeben. Neben diesen verschiedenen Naturbildern ist ein weiterer Begriff zentral, der in enger Verbindung zur Natur steht: die Umwelt. Im Begriff der Umwelt werden die genannten Dichotomien aufgehoben und Gesellschaft und Umwelt in einen gemeinsamen Zusammenhang gestellt – Umwelt ist dann im Wortsinn die Um-Welt des Menschen. [21]
Anhand der zwei Exkurse "in den historischen Diskurs" (S.105ff.) und "in die Umweltethik" (S.112ff.) zeichnen die Autoren nach, an welche gesellschaftlichen Großerzählungen über Natur diese Diskursstränge anschließen. So muss etwa die Dichotomie Natur-Technik vor dem Hintergrund der technisch vollzogenen Enthebung des Menschen aus der Natur im Zuge der Entstehung eines "modernen" Weltverständnisses gesehen werden. Der Begriff der Umwelt verweist wiederum auf den Diskurs der Umweltethik, die sich im Zuge der ökologischen Krise der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte, und in der sich mit der Begriffsverschiebung von "Natur" zu "Umwelt" die Sichtweise eines gemeinsamen Existenzzusammenhangs von Mensch und Umwelt etablierte. [22]
Die Analyse bietet interessante Einblicke in die diskursive Konstitution von Natur und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft während des Flutdiskurses. Insbesondere die vorgenommene Verknüpfung der Darstellung des empirischen Materials mit den beiden Exkursen ist schlüssig und ermöglicht es, das sich während der Flutkatastrophe konstituierende Naturbild in einen weiteren Kontext von in der Gesellschaft kursierenden Vorstellungen von Natur einzuordnen. [23]
Bei der konkreten Interpretation der Ergebnisse wird aus meiner Sicht neben den beiden dargestellten Oppositionen Natur vs. Mensch/Gesellschaft und Natur vs. Technik noch eine weitere sichtbar, die im Text nicht angesprochen wird, nämlich die zwischen Natur und Kultur (zu der dann die Dichotomie Natur-Technik eine Unterkategorie darstellen würde). Der Einbezug dieser Opposition in die Analyse wäre sicherlich noch spannend gewesen, ist diese doch mit einer ganzen Reihe weiterer Konnotationen verbunden (etwa Kultur = rational, modern, zivilisiert, männlich vs. Natur = irrational/emotional, primitiv, weiblich; vgl. HARAWAY 1991, ZIERHOFER 2003). [24]
Hier ergeben sich mögliche Anschlüsse an Arbeiten aus der Humangeographie und der Humanökologie. Diese untersuchen zum einen die gesellschaftliche Konstruktion von Natur und Umwelt (vgl. FLITNER 2000; KRINGS 1999), zum anderen stellen sie aber auch den Gegensatz Mensch/Natur bzw. Gesellschaft/Natur als solchen in Frage (LATOUR 1995; ZIERHOFER 2003; JÖNS 2006). Aber auch diskurstheoretische Konzepte im Anschluss an Jaques LACAN oder Ernesto LACLAU, mit denen sich (gesellschaftliche) Identität als (temporäres, fragiles und heterogenes) Ergebnis der Abgrenzung von einem unverfügbaren Außen (in diesem Fall der Natur) konzipieren lässt, bieten Potenziale für mögliche Weiterentwicklungen des Themas. [25]
Insgesamt ist mit dem vorliegenden Band ein überzeugender und interessant zu lesender Beitrag zur empirischen Diskursforschung gelungen, der insbesondere deutlich macht, dass FOUCAULTsche Diskursanalyse nicht nur für die Untersuchung langfristiger historischer Entwicklungen, sondern auch für aktuelle gesellschaftliche Ereignisse interessante Einblicke bietet. Als zentrales Konzept dient der Begriff des "diskursiven Ausnahmezustandes": Dieser kennzeichnet eine Situation, in der die sonst üblichen Strukturen des Sprechens und Handelns (die sich in der Regel nur über lange Zeiträume verändern) außer Kraft gesetzt sind. Diese Veränderungen der diskursiven Strukturen und deren Auswirkungen in unterschiedlichen sozialen Situationen werden in den einzelnen Beiträgen offen gelegt. [26]
Methodisch kommen verschiedene Vorgehensweisen zum Einsatz, die von der quantitativen Auszählung der Flächenanteile von Flutartikeln im Verhältnis zur Gesamtfläche bis hin zu recht freien Interpretationen reichen. In den eher interpretativen Passagen (Einfluss auf Wahlkampf, Naturbild) werden Aussagen in der Regel durch Zitate belegt; die Autor(inn)en zählen somit weitgehend auf die unmittelbare Evidenz des präsentierten Textmaterials. Nicht immer wird hierbei klar, inwieweit die eingangs als zentrale methodische Annahme FOUCAULTs postulierte Distanz zum Inhalt der untersuchten Aussagen, die "Trennung zwischen analytischen Konzepten und den untersuchten Bedeutungen" (S.15) durchgehalten wird – eine dahingehende Reflexion des methodischen Vorgehens wäre an einigen Stellen wünschenswert gewesen. [27]
Trotz dieser kleinen Einschränkungen ist der Gesamteindruck des Buches durchaus positiv – über weite Strecken werden die konzeptionellen Prämissen FOUCAULTscher Diskursanalyse auf schlüssige Art und Weise für die Interpretation des empirischen Fallbeispiels genutzt. Beachtlich ist dies vor allem vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Buch um die Dokumentation der Ergebnisse eines Forschungsseminars handelt und dass bis auf den Einleitungsaufsatz alle Beiträge von Studierenden verfasst wurden. Der Band ist empfehlenswert für alle Lesenden, die sich für die gesellschaftliche Rahmung von Naturereignissen interessieren, ebenso wie für Sozialwissenschaftler(innen), die die empirische Umsetzung von Diskurstheorie umtreibt. [28]
Flitner, Michael (Hrsg.) (2000). Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Frankfurt/M.: Campus.
Haraway, Donna (1991). Simians, cyborgs and women: The reinvention of nature. New York: Routledge.
Jöns, Heike (2006). Dynamic hybrids and the geographies of technoscience: Discussing conceptual resources beyond the human/non-human binary. Social and Cultural Geography, 7(4), 559-580.
Krings, Thomas (1999). Editorial: Ziele und Forschungsfragen der Politischen Ökologie. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 43, 129-130.
Lacan, Jacques (1986). Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In Jacques Lacan, Schriften I (S.61-70). Weinheim: Quadriga.
Laclau, Ernesto (1990). New reflections on the revolution of our time. London: Verso.
Latour, Bruno (1995). Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie-Verlag.
Zierhofer, Wolfgang (2003). Natur – das Andere der Kultur? Konturen einer nicht-essentialistischen Geographie. In Hans Gebhard, Paul Reuber & Günter Wolkersdorfer (Hrsg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen (S.193-212). Heidelberg: Spektrum.
Annika MATTISSEK, geb. 1975, Dipl. Geogr., 1994-2002 Studium der Hydrologie, Geographie, Mathematik und VWL an den Universitäten Freiburg i.Brsg. und Heidelberg. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Diskurstheorie, angewandte Diskursanalyse, Methoden der empirischen Sozialforschung, Stadtgeographie, Sozialgeographie.
Kontakt:
Dipl. Geogr. Annika Mattissek
Geographisches Institut Heidelberg
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E-Mail: annika.mattissek@geog.uni-heidelberg.de
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Mattissek, Annika (2007). Rezension zu: Dominik Schrage (Hrsg.) (2005). Die Flut. Diskursanalysen zum Dresdner Hochwasser im August 2002 [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 5, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs070252.