Volume 8, No. 2 – Mai 2007
Paderborner Ansatz der Diskursanalyse: "Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse. Archäologie und Genealogie der Geschlechterdifferenz im Diskurs über die Kulturkrise um 1900" (DFG-Projekt von 1995-1999)
Hannelore Bublitz
1. Theoretischer Ansatz und Forschungsfragen
Theoretisch orientierte sich das Paderborner Projekt an einer diskurstheoretisch fundierten Diskursanalyse im Anschluss an Michel FOUCAULT. Gegenstand der diskursanalytischen Forschungspraxis war die Rekonstruktion des Archivs der kulturellen Krise und Erneuerung um 1900. Ausgehend von einem Verständnis von Diskursen als "semantische[n] Komplexe[n] einschließlich ihrer Praxisbezüge" (LINK 1997, S.15) und als "bewegliche[n] Praktiken (…), die sich, je nach Kräfteverhältnissen, kreuzen und sich miteinander verflechten" (BUBLITZ 2000a, S.21) ging es dabei insbesondere um die Rekonstruktion Diskurs tragender Kategorien und dynamischer Beziehungsgeflechte zwischen heterogenen diskursiven Elementen. [1]
Das Projekt verfolgte zwei Forschungsperspektiven, eine inhaltlich-theoretische und eine theoretisch-methodische. Den inhaltlich-theoretischen Ausgangspunkt der diskursanalytischen Untersuchung bildete die These des französischen Germanisten Jaques LE RIDER (1987), dass die zentralen Chiffren der Moderne mit dem Phantasma einer "Feminisierung der Kultur" verbunden sind. Daraus ergab sich die Forschungsfrage, ob und inwiefern das Geschlecht ein unhintergehbares Moment moderner Gesellschaften ist. Die konstitutive Rolle der Geschlechterdifferenz für die Formierung von Kultur und Gesellschaft wurde in der Forschung bis dahin, wenn überhaupt, nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Das Paradigma des Geschlechterkonflikts und die zentrale Bedeutung der Geschlechterordnung im Kontext der Neuordnung von Kultur und Gesellschaft sollte daher diskursanalytisch am historischen Material rekonstruiert und überprüft werden (vgl. dazu ausführlich den das Projekt einleitenden Tagungsband [BUBLITZ 1998a], der sich mit Beiträgen zur "Feminisierung der Kultur" als Metapher der "Vergeschlechtlichung" der modernen Kultur befasste sowie den einführenden Artikel zum Gegenstand des Projekts; BUBLITZ 1998b, S.26-48) [2]
2. Methodologische Überlegungen und methodischer Ansatz
Die methodologische Reflexion und forschungspraktische Anwendung der Diskursanalyse als sozialwissenschaftliches Verfahren und theoretisches Analyseinstrument bildete den zweiten Fokus des Paderborner Projekts. Hier erweiterte sich der Forschungsansatz zu der Annahme, dass die Diskursanalyse mehr als lediglich eine empirische Methode sei. Es wurde davon ausgegangen, dass die Diskursanalyse selbst den Status einer historisch angelegten Diagnostik hat, die nicht nur die Rekonstruktion eines zeitgebundenen kulturellen Archivs ermöglicht, sondern als "Diskurs der Diskurse" mit dieser aus dem historisch-empirischen Material heraus eine Theorie der Gesellschaft generiert, deren methodologisches Pendant die Diskurstheorie, insbesondere aber die Archäologie und Genealogie, bilden (vgl. BUBLITZ 2001, S.101-118). Insofern Diskurse sowohl die Gegenstände als auch die Strategien der Klassifikation und deren Taxinomien bilden, erschließt sich aus der Diskursdynamik eine Dynamik der Gesellschaft, die im Spiegelspiel unterschiedlicher Diskurse aufeinander eine diskursive Machtwirkung entfaltet (vgl. BUBLITZ 1999, S.22-48; BUBLITZ, HANKE & SEIER 2000). [3]
Den methodischen Bezugspunkt des Paderborner Ansatzes bildete die historisch ausgerichtete Diskursanalyse Michel FOUCAULTs, in der die Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion sozialer Wirklichkeit mit einem kritischen Verfahren verbunden ist, das − scheinbar naturhafte − Evidenzen auflöst. In methodologischer Hinsicht unterliegt die (Anwendung der) Diskursanalyse einer Reihe theoriepolitischer Entscheidungen: Zugrunde liegt die Annahme einer Verselbständigung konstruktiver Prozesse. Diskursanalyse beschreibt nicht eine vorgängige Wirklichkeit, sondern sie (re-) konstruiert ihren Gegenstand mithilfe eines methodischen Instrumentariums. Diskurse liegen also nicht unmittelbar − auf der Oberfläche der Aussagen – als "lose Zeichenpartikel" (KELLER 2001, S.133) vor, wo sie lediglich entdeckt und beobachtet zu werden brauchen. Diskurse lassen sich nicht beobachten. Sie werden vielmehr diskursanalytisch "fabriziert". In Aussagen (-kombinationen) lediglich latent vorhanden, können sie erst durch diskursanalytisch-methodische Operationen als begrifflich strukturierte Denkschemata am historischen Material sichtbar gemacht und damit als solche manifest werden (vgl. auch DIAZ-BONE 1999). Dies erfolgt durch die Analyse des zunächst chaotischen Materials heterogener Aussagen und ihrer begrifflichen Architektur, durch Aufsuchen der Leitmotive von Problematisierungsweisen und deren Regeln, schließlich durch Bildung semantischer Elemente und Komplexe sowie Diskurs tragender Kategorien anhand des analysierten Materials. [4]
Ausgangspunkt der diskursanalytischen Untersuchung ist immer eine Ex-post-Diagnose, die sich als Konstrukt erweist und im Laufe der diskursanalytischen Arbeit de-konstruiert wird. Ziel des diskursanalytischen Verfahrens ist es, die Historizität und Machtförmigkeit sozialer Prozesse bis in ihre materialisierenden Wirkungen hinein aufzudecken. Der Diskursbegriff bildet gewissermaßen die Zeitmarke für das historische Erscheinen der Dinge, deren Präsenz diskursanalytisch als "diskursives Ereignis" markiert wird. In der Anwendung diskursanalytischer Regeln, die sich auf die Formation der Gegenstände, der Begriffe, der Äußerungsmodalitäten und Strategien beziehen (vgl. FOUCAULT 1973), geht es zunächst darum, aus dem historischen Material eine Menge an Gegenständen, Begriffen und Aussagen zu gewinnen, sie zu differenzieren, historisch einzuordnen und in Beziehung zueinander und zu anderen Diskursen zu setzen. Diskurse unterscheiden sich durch das Spiel der Regeln, also die Andersartigkeit diskursiver Regelmäßigkeiten, nicht durch die von ihnen begrifflich gebildeten Gegenstände oder Themen voneinander. [5]
3. Ergebnisse des diskursanalytischen Verfahrens
Das Forschungsprojekt hat sein methodisches Vorgehen am Material und unter Einbeziehung inhaltlicher, theoretischer und methodologischer Diskussionen entwickelt. Die diskurstheoretischen Begriffe FOUCAULTs (der Archäologie und Genealogie des Wissens) wurden nicht starr, als unbewegliche Kategorien und statische Formeln gehandhabt. Vielmehr wurden sie als spezifisches Instrumentarium und Analyseraster verstanden, das in einem mehrschichtigen Verfahren die diskurstheoretisch angeleitete Vorgehensweise im Projekt bestimmte. Aus der Schwierigkeit, das von FOUCAULT zwar programmatisch entwickelte, als solches aber nicht operationalisierte Verfahren der Diskursanalyse empirisch umzusetzen, ergab sich in der konkreten Forschungspraxis zunächst die Notwendigkeit, genauer zu bestimmen, was ein Diskurs ist, wie er als solcher erkannt und identifiziert werden kann, wie Aussagen zu Diskursen (zu-) geordnet und diese als Diskursfragmente, -stränge oder -formationen kenntlich gemacht werden können usw. (vgl. dazu BUBLITZ, BÜHRMANN, HANKE & SEIER 1999). Zum anderen war aufgrund der diskurstheoretischen Position, dass Diskurse "systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (FOUCAULT 1973, S.74), das keineswegs erstaunliche, aber empirische Problem zu lösen, dass sich das Phänomen einer "Kulturkrise" im historischen Material nicht explizit thematisiert fand. Erst über die Aufschließung und interpretative Analyse des überaus heterogenen Materials gelang es, die unter dem Topos einer "Feminisierung der Kultur" gebündelten historisch spezifischen Problematisierungsweisen von Kultur, sozialer Ordnung und Geschlechterordnung am Material zunehmend zu spezifizieren und anhand semantisch aufeinander verweisender Komplexe zu differenzieren. [6]
Wir näherten uns dem Phänomen "Kulturkrise" auf "Umwegen" und erschlossen uns die "Kulturkrisendebatte" über die Erstellung eines umfangreichen Materialkorpus und eine zunehmend detaillierte Materialrecherche: In der stichprobenartigen Lektüre verstreuter Texte ging es zunächst um eine erste Annäherung an das historische Material, eine Sondierung des Untersuchungsfeldes und explorative Erschließung von diskursiven Feldern. Gleichzeitig erfolgten Recherchen zu den Problemfeldern "Kultur", "Kulturverfall", "Fortschritt" sowie zum gesamten Kontext, in den Kultur um 1900 situiert wurde. Die verschiedenen Zugänge zur Fragestellung des Projekts führten zu einer Öffnung und Ausweitung des Untersuchungsfeldes: Der Kulturbegriff schien "umstellt" von diversen Problemfeldern, wie Sittlichkeit, Sexualität, Fortpflanzung und Vererbung, Gesundheits- oder Krankheitszustand der Bevölkerung, technischer und kultureller Fortschritt, "Rasse" etc. Die Suche nach den diskursiven Orten dieser Gegenstände führte schließlich zu verschiedenen diskursiven Strängen. Auf diese Weise erschlossen sich ganze Diskurstableaus, aus denen sich intra- und interdiskursive Verweise herauskristallisierten. "Kulturkrise" war nun eingebettet in ein historisches und (inter-) diskursives Feld, in dem Anschlussmöglichkeiten von "Kultur" an "Geschlecht" und "Rasse" sichtbar wurden.
"Die Foucaultsche Perspektive öffnete das Untersuchungsfeld dahingehend, dass nicht nur nach dem Begriff der 'Kulturkrise' gesucht wurde, sondern die 'Kulturkrisendebatte' [...] in einem wesentlich weiteren Rahmen situiert wurde, den man als den Macht-Wissens-Komplex der Jahrhundertwende bezeichnen könnte: die Konstitutions- und Transformationsprozesse von Gesellschaft und Kultur um 1900" (HANKE & SEIER 2000, S.105). [7]
Ausgehend von der "Kulturkrisendebatte" geriet so die Konstitution eines Gesellschaftskörpers in den Blick, der sich entlang der Kategorien Kultur, Arbeit, Geschlecht und Rasse in verstreuten, z.T. wechselseitig aufeinander bezogenen Diskursen um die Rationalisierung von Arbeit, Bevölkerungspolitik und Sexualität herum anordnete. So ergab sich nicht nur ein differenziertes Bild dessen, was um 1900 als "Kulturkrise" firmierte und eine soziale Gefährdung der Gesellschaft bedeutete, sondern es zeichneten sich Konstitutionsbedingungen und -prozesse der Gesellschaft und Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab. [8]
Am Beispiel zweier Textfragmente soll das im Rahmen des Projekts entwickelte diskursanalytische Verfahren exemplarisch verdeutlicht werden. Sichtbar werden dabei nicht nur die zentralen Diskurs tragenden Kategorien, sondern auch die interdiskursiven Bezüge und strategischen Positionen:
"Was wir aber heute sehen, was in unseren Großstädten außerhalb der bürgerlichen Ordnung und Sitte heute sein Wesen treibt, das geht über das erträgliche Maß hinaus; das bedeutet nicht mehr einen notwendigen Abfluß gefahrdrohender Säfte, durch den der Gesellschaftskörper gereinigt wird, das ist selbst eine fürchterliche Krankheit, die das Volkstum zu entnerven und im Kern zu zerstören droht; das ist kein notwendiges und bei der Mangelhaftigkeit alles menschlichen Wesens entschuldbares Übel, sondern wildeste Entartung; nicht mehr unvollkommene, ungeläuterte Natur, sondern selbst üppigste, raffinierteste Kultur, deren gefährlicher Reiz, deren glänzender Schimmer weltmännischer Ungebundenheit Unzählige zur Vergeudung der Mittel verlockt, mit denen sie bei gutem Willen einen eigenen Haushalt sehr wohl hätten gründen können" (FREUDENBERG 1909, S.9, zit. n. BUBLITZ 1999, S.41). [9]
Wie man an diesem Beispiel sieht, kreuzen sich in einem Text (-fragment) durchaus verschiedene Diskurse und Diskursstränge: Hier verknüpfen sich Metaphern eines kulturkritischen, ethischen (Sittlichkeits-) Diskurses mit denen eines biologisch-medizinischen und eugenischen, nebenbei auch noch nationalökonomisch ausgerichteten Bevölkerungsdiskurses. [10]
So lässt sich folgendes Beispiel etwa in Abgrenzung und dennoch im Verweis auf zentrale Diskursfiguren des oben zitierten Textes lesen:
"Was heute überall herrscht, das sind die traurigen Kehrseiten eines unglücklichen Sexuallebens: Prostitution und Geschlechtskrankheiten, Geldheirat und Askese der Frau […] Wir wollen nicht in die Heuchelei verfallen, zu behaupten, dass der Geschlechtsverkehr nur sittlich sei, wenn er der Erzeugung von Kindern diene […]. Man wird zwischen Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung trennen müssen. Man wird z.B. auch Mittel finden müssen, um unheilbar Kranke oder Entartete ganz an der Fortpflanzung zu hindern" (STÖCKER 1907, S.673f., zit. n. BUBLITZ 1999, S.43). [11]
Die strategische Wahl dieser Diskursposition zeigt sich am Rückgriff auf die Diskursfiguren "Prostitution und Geschlechtskrankheiten" auf der einen und "Entartete" auf der anderen Seite. Die Problematisierung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten im Kontext ehelicher Sexualität soll das Argument von Helene STÖCKER, Vertreterin der liberalen Frauenbewegung, die für uneheliche Sexualität und "freie Liebe" plädiert, Interesse geleitet stützen und ihm, eingebettet in das diskursive Feld von Sexualmoral, Fortpflanzung, sittlich-moralischer und biologischer Konstitution des Gesellschafts- und Volkskörpers, strategisch Nachdruck verleihen und zur Durchsetzung verhelfen. Die Bedeutung beider Texte erschließt sich erst durch ihre historische Situierung und Kontextualisierung. Eingebettet in ein diskursives Feld (der Äußerlichkeit), ergibt sich die diskursanalytische Rekonstruktion ihrer Bedeutung nicht aus dem Inneren dessen, was gesagt oder subjektiv beabsichtigt wird, sondern aus ihrer Beziehung zu anderen Diskurs(position)en, die die strategische Wahl (der benutzten Begriffe) beeinflusst. In beiden Textfragmenten verknüpfen sich unterschiedliche semantische Komplexe zu Diskursfiguren, die sich aus verschiedenen − bevölkerungspolitisch-demographischen, ethisch-sittlichen, biologisch-medizinischen und kulturkritischen − Diskurssträngen speisen. Uneheliche, sexuelle Beziehungen (im oberen Text nicht explizit, aber latent angesprochen) erscheinen als Ausdruck ethischer Minderwertigkeit, die Kultur gefährdend, sozial schädlich und krank‚ ja, als "Entartung" einer Kultur, die so "raffiniert" ist, dass sie die natürliche Fortpflanzung, aber auch die natürliche Auslese vernachlässigt (weshalb man, wie Helene STÖCKER im zweiten Textfragment aus strategischen Gründen meint, "Entartete ganz an der Fortpflanzung" hindern muss, die anderen aber nicht zur Fortpflanzung zwingen darf). [12]
Diskursanalytisch handelte es sich darum, Ordnungskategorien und Klassifikationsvorgänge ans Licht zu bringen, die die Zugehörigkeit zum Gesellschaftskörper regeln. Mithilfe des diskursanalytischen, historischen Verfahrens gelang es in dem genannten Forschungsprojekt, die unterschiedlichen Diskurse jeweils in ihrer Heterogenität und Differenz zu untersuchen, ohne sie unzulässig zu vereinheitlichen. Gleichzeitig ermöglicht die Diskursanalyse, die Verschränkung unterschiedlichster Diskurse und deren Gemeinsamkeiten deutlich zu machen. Durch die Analyse interdiskursiver Prozesse wird ein Feld der Homogenität sichtbar, das bei aller Heterogenität und Ereignishaftigkeit einzelner Diskursstränge deren Kohärenz hervorhebt. Mit der historischen Diskursanalyse erschließt sich die Gesellschaft als Differenzierungsraum, in den Felder der Streuung und der Homogenisierung eingetragen sind. Auf diese Weise erscheint der Gesellschaftskörper als multidiskursiv konstruierte Kategorie, die die individuellen Abweichungen normalisiert und sie in ein Feld der Norm(alität) integriert. Durch Bloßlegung diskursiver Kreuzungen und diskursiver Geflechte erscheint die Gesellschaft als ein in sich heterogener und durch Zusammenschluss heterogener Elemente zugleich kohärent wirkender sozialer Raum. Die sozialwissenschaftlich optimierte Diskursanalyse ermöglicht im Anschluss an FOUCAULT die Rekonstruktion der diskursiven Gesamtarchitektur und Dynamik der Gesellschaft, die auf einer Diskursdynamik beruht. An der historisch materialreichen Aufarbeitung zahlreicher Diskurse, die sich zu Diskurssträngen und -formationen (an-) ordnen, zeigte sich: Diskurse entfalten ihre volle Machtwirkung erst im Rahmen einer gesellschaftlichen Landkarte, in die die Diskurse als Wissensorte mit unterschiedlichen Bedeutungen eingetragen sind.1) [13]
4. Zusammenfassung der inhaltlichen Befunde
In der Rekonstruktion der Machtwirkungen von Diskursen als Elementen eines bevölkerungs- und geschlechterpolitischen Dispositivs wurde die Komplexität der (Neu-) Konstitution von Kultur, Geschlecht und Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts sichtbar. Konstitutiv für die Ordnung der Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts war der biologisch gestiftete Zusammenhang von Geschlecht, "Rasse" und Kultur. Die Kontrolle und Steuerung von Fortpflanzung und Vererbung standen im Zentrum einer Kulturpolitik, die über sozialtechnologische Praktiken die Konstitution einer im Sinne des kulturellen Fortschritts "höherwertigen", und darin "natürlichen" Kulturentwicklung sichert (vgl. zum "Wuchern" der Kultur-Diskurse um 1900 auch den Beitrag von SEIER 2000, S.112-178). Die zentrale Fragestellung des Projekts nach der konstitutiven Rolle der Geschlechterdifferenz für die Formierung von Kultur und Gesellschaft um 1900 erweiterte sich in diesem Zusammenhang um die der "Rasse" (vgl. auch HANKE 2000, S.179-235). [14]
In der diskursanalytischen Rekonstruktion unterschiedlicher Diskursstränge und deren Verschränkung zeigte sich, dass sich an den Scharnierstellen von biologischem Körper des einzelnen Individuums und sozialem Gesellschaftskörper Geschlecht und Sexualität sowie Geschlecht und "Rasse" über sexualethisch-sittliche Fragen der Lebens(re)form, der Fortpflanzung, Degeneration und Vererbung sowie der Bevölkerungsstatistik, -politik und schließlich der Rassenhygiene und Eugenik kreuzen, in die zudem immer wieder nationalökonomische, tayloristische und sozialdarwinistische Denkfiguren einer ingenieurmäßig berechnenden Kräfte- und Arbeitsökonomie eingelagert sind. An der engen diskursiven Verkoppelung von individuellem und sozialem Körper zeigten sich aber auch die unmittelbar physischen Auswirkungen der Diskurse: Am individuellen Körper wurden ebenso wie am Gesellschaftskörper "Kulturkrankheiten" bekämpft. Beide, Individual- und Sozialkörper, wurden entlang einer analogen kulturellen Matrix organisiert. Gleichzeitig wurde der soziale Volkskörper, wie der individuelle Körper, biologisch gedacht. Dadurch wurden beide biologisch körperlich fundiert, aber an einer kulturellen Norm ausgerichtet und dies nahezu deckungsgleich. Machteffekt dieser untrennbaren Verwobenheit beider Körperkonzepte bildete die biologische Verortung und Potenzierung sozialer Konzepte. Das Geschlecht ist, so hat die Diskursanalyse erbracht, "als unhintergehbares Beschreibungsmuster moderner Körpervorstellungen […] auf diese Weise auch in der letzten Faser des Gesellschaftskörpers präsent" (ELLERBROCK 2004, S.68). [15]
5. Perspektiven und aktuelle Arbeitsgebiete
Im Anschluss an das dargelegte Projekt, das ein enges Verhältnis von Theorie, Methode, Gegenstand und historischem Material voraussetzte, ging es darum, die Diskursanalyse für eine sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalyse methodisch fruchtbar zu machen und zu entwickeln (vgl. BUBLITZ 2006). Ausgehend von einer diskursanalytischen Rekonstruktion gegenwärtig explodierender Körper- und Subjekt-Diskurse wird in naher Zukunft sowohl im Rahmen eines Graduiertenkollegs ("Automatismen") als auch in der Vorbereitung eines Buch- und Forschungsprojekts die konstituierende Logik kultureller Selbstpraktiken und das Zusammenspiel von Sozial- und Selbsttechnologien erschlossen. Im Spiegelspiel der unterschiedlichen Diskurse aufeinander kann, so der Forschungsansatz, die Konstitution des Sozialen dann nicht als letzter Grund, sondern als einer diskursiven Dynamik unterworfenes performatives Geschehen betrachtet werden. In diesem Zusammenhang soll die skizzierte Konzeption der Diskursanalyse als sozialwissenschaftliche Methode zu einer Theorie, die die Dynamik der Gesellschaftsperformanz "abbildet", erweitert werden (vgl. BUBLITZ 2003c). [16]
1) So entfaltet der rassenhygienisch-eugenische (Bevölkerungs-) Diskurs seine volle Wirkung erst im Umfeld sozialdarwinistischer und sexualpathologischer Wissensformen und der ihnen entsprechenden Praktiken; gleichzeitig sind aber auch seine Verwerfungen (sexualwissenschaftlicher und sexualethischer Annahmen) geradezu konstitutiv für seine Machteffekte. Seine Machtwirkungen sind eingeschrieben in ein evolutionsbiologisches und sexualpathologisches Archiv, das zentrale Elemente des Dispositivs der Bevölkerungsregulierung stellt, gleichzeitig aber die verworfenen Diskurse ebenfalls wirksam integriert (vgl. ausführlich zur Komplexität diskursiver Kreuzungen und Beziehungsgeflechte BUBLITZ 2006). <zurück>
Literatur
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Zur Autorin
Hannelore BUBLITZ, Soziologin, 1966-1972 Studium der Soziologie, Philosophie, Psychoanalyse und Pädagogik in Heidelberg und Frankfurt. Nach Promotion an der FU Berlin und Habilitation an der RWTH Aachen seit 1995 Professur für Soziologie an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte sind insbesondere poststrukturalistisch inspirierte Analysen von Gesellschafts-, Geschlechter- und Körpertechnologien, Subjektivierungs- und Normalisierungsprozessen moderner Gesellschaften, sozialwissenschaftliche Diskurstheorie und -analyse, Theorie der Massen- und Populärkultur, Technologien der Selbstführung im Rahmen des Graduiertenkollegs "Automatismen" (DFG-Antrag 2007 gemeinsam mit Hartmut WINKLER, Barbara BECKER, Annette BRAUERHOCH u.a.). Gegenwärtig Arbeit an Buchprojekten "Körper nach Maß" und "Im Beichtstuhl der Medien".
Kontakt
Prof. DR. Hannelore Bublitz
Universität Paderborn
Fakultät für Kulturwissenschaften
Institut für Humanwissenschaften
Soziologie
Warburgerstr. 100
D-33098 Paderborn
Tel.: 05251/60-2319
Fax: 05251-60- 3989
E-Mail: BUBLITZ@mail.uni-paderborn.de
URL: http://www.uni-paderborn.de/fakultaeten/kw/institute-einrichtungen/institut-fuer-humanwissenschaften/soziologie/personal/bublitz/
Zitation
Bublitz, Hannelore (2007). Projektbericht: Paderborner Ansatz der Diskursanalyse: "Die Ordnung der Geschlechterverhältnisse. Archäologie und Genealogie der Geschlechterdifferenz im Diskurs über die Kulturkrise um 1900" (DFG-Projekt von 1995-1999). Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702P63.