Volume 8, No. 2 – Mai 2007

Projektbericht: Arbeitskreis "Sozialwissenschaftliche Diskursforschung"

Reiner Keller & Werner Schneider

Seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich im deutschen Sprachraum quer durch verschiedene Disziplinen – Geschichte, Sprachwissenschaften, Kulturwissenschaften, Soziologie, Pädagogik, Politikwissenschaften – eine sich zunehmend vergrößernde und lebendige Szene einer "neuen" Diskursforschung, die mittlerweile eine wichtige Position zwischen mikro- und makroanalytischen Ansätzen der Sozial- und Geisteswissenschaften einnimmt. Zunächst erschien dabei "Diskursanalytik" – zumal in der Soziologie und trotz der Pionierarbeiten z.B. der Bochumer Diskurswerkstatt oder des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) – summa summarum eher als eine Angelegenheit singulärer Einzelforschungen, die häufig einen hohen diskurstheoretischen Aufwand betrieben und zugleich in ihrer Methodik wenig Transparenz boten. [1]

Vor diesem Hintergrund formierte sich 1994 zunächst in München – am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität und in den Forschungszusammenhängen der Münchner Projektgruppe für Sozialforschung (MPS) – mit Marten HAAJER, Sven KESSELRING, Werner SCHNEIDER sowie Reiner KELLER rund um diskursanalytische Themen und eigenen Forschungserfahrungen ein erster loser Gesprächskreis. Dieser Austausch mündete schließlich 1997 in die Gründung des Arbeitskreises Sozialwissenschaftliche Diskursforschung durch Andreas HIRSELAND, Reiner KELLER, Alexandra OBERMEIER, Werner SCHNEIDER und Willy VIEHÖVER an der Universität Augsburg. Im Jahre 2000 erfolgte dann durch Werner SCHNEIDER und Reiner KELLER eine institutionelle Ergänzung und Erweiterung dieses Arbeitszusammenhangs durch die Gründung einer Sektionsarbeitsgruppe "Diskurstheorie/-analyse" in der Sektion "Wissenssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), an dem nunmehr u.a. auch Andrea BÜHRMANN und Rainer DIAZ-BONE mitwirken. [2]

Die Gründung des Arbeitskreises resultierte vor allem aus dem Interesse, die eigenen bisherigen Erfahrungen mit der Diskursforschung zu reflektieren und empfundene Defizite des damaligen Feldes der Diskursanalytik zu bearbeiten.1) Seine Ziele bestehen zum einen darin, die Diskussion und Entwicklung diskurstheoretischer Ansätze und diskursanalytischer Forschung in den Sozialwissenschaften unter Einbeziehung interdisziplinärer Gesichtspunkte voranzutreiben. Zum anderen beschäftigt sich der Arbeitskreis insbesondere mit der diskurstheoretischen Fundierung und diskursanalytischen Forschungspraxis als Vermittlung zwischen – im weiteren Sinne – (post-) strukturalistischen Konzepten sowie wissenssoziologischen Theoremen, mit Fragen nach der historischen Genese und Transformation von (komplexen) Aussagen- und Wissensordnungen und der Rekonstruktion der diskursiven Konstruktion kollektiver Wirklichkeitsdefinitionen und Praktiken. Diese Ziele konkretisieren sich in verschiedenen inhaltlichen Arbeiten wie z.B. in der Ausarbeitung der "Wissenssoziologischen Diskursanalyse" (Reiner KELLER), der "narrativen Diskursanalyse" (Willy VIEHÖVER) oder in Fragen nach dem Verhältnis von Diskurs- und Dispositivanalysen (Andreas HIRSELAND, Werner SCHNEIDER), die alle das Interesse an einer gegenstandsbezogenen und theoretischen Grundlegung der Diskursforschung mit der Forderung nach methodologischer Reflexion und empirisch-methodischer Präzisierung verbinden. [3]

Darüber hinaus organisierte der Arbeitskreis an der Universität Augsburg in den Jahren 1999, 2000 und 2003 in Kooperation mit der Sektion "Wissenssoziologie" (vorher: "Sprachsoziologie") der DGS drei interdisziplinäre und internationale Tagungen zum Stand und zu den Perspektiven der Diskursforschung. Die Tagungen thematisierten die zukünftigen Perspektiven der Diskursanalyse im Hinblick auf aktuell verhandelte theoretische Konzepte, vorliegende methodische Ansätze sowie forschungspraktische Umsetzungen und boten dabei vor allem auch dem disziplinübergreifenden Diskurs über Diskursanalyse ein Forum. Zuletzt organisierte der Arbeitskreis im Jahre 2006 in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe innerhalb der Sektion "Wissenssoziologie" eine Vormittagssitzung auf dem Kasseler Kongress der DGS. Aus den Diskussionen und den genannten Arbeitszielen sind mehrere Publikationen des Arbeitskreises hervorgegangen.2) Neben den Tagungen hat sich als ein weiterer Veranstaltungsschwerpunkt die Organisation von Praxis-Workshops bzw. "Methoden-Werkstätten" zu diskursanalytischen Forschungsprojekten entwickelt. In den Jahren 2004 und 2005 fanden in Augsburg entsprechende Workshops mit einem begrenzten Teilnehmer(innen)kreis statt3); auch haben die Mitglieder des Arbeitskreises in den letzten Jahren bspw. im Rahmen von Graduiertenkollegs eine Reihe von Veranstaltungen zur Praxis der Diskursforschung durchgeführt bzw. daran mitgewirkt. Entsprechende Aktivitäten, Veröffentlichungen u.a.m. sind auf der Homepage des Arbeitskreises dokumentiert und sollen in Zukunft fortgeführt bzw. intensiviert werden.4) [4]

Kontakt (Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Diskursforschung sowie Arbeitsgruppe Diskurstheorie/-analyse der Sektion Wissenssoziologie der DGS):

Prof. Dr. Reiner Keller

Universität Koblenz-Landau
FB 6, Institut für Sozialwissenschaften
Abteilung Soziologie
Thomas-Nast-Str. 44
D-76829 Landau

Tel.: 06341 990-126
Fax: 06341 990-242

E-Mail: keller@uni-landau.de
URL: http://www.diskursforschung.de/, http://www.uni-landau-soziologie.de/

Prof. Dr. Werner Schneider

Phil.-Sozialwiss. Fakultät
Universität Augsburg
Universitätsstr. 10
D-86135 Augsburg

Tel.: 0821 598-5570 (Durchwahl: -5679)
Fax: 0821 598-5639 (oder -145570)

E-Mail: werner.schneider@phil.uni-augsburg.de
URL: http://www.diskursforschung.de/, http://www.philso.uni-augsburg.de/lehrstuehle/soziologie/sozio3/

Anmerkungen

1) Reiner KELLER hatte 1993-1996 eine vergleichende Analyse öffentlicher Debatten über "Hausmüllprobleme" durchgeführt, in deren Kontext eine erste Systematisierung der Diskursforschung im Rahmen der qualitativen Sozialforschung entstand. Werner SCHNEIDER hatte 1994 eine wissenssoziologisch/diskurstheoretisch orientierte Studie zu Familienkonflikten publiziert und war mit seiner Analyse der parlamentarischen Debatten um den Hirntod befasst. Willy VIEHÖVER hatte etwa zur gleichen Zeit die Klimadebatten in Deutschland und England untersucht. <zurück>

2) Diese Aktivitäten fanden nicht nur in diversen Monographien der Arbeitskreismitglieder ihren Niederschlag, sondern auch in folgenden gemeinsamen Publikationen:

Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner & Viehöver, Willy (Hrsg.) (2006). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, Band 1: Theorien und Methoden (Erw. u. aktual. Neuauflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner & Viehöver, Willy (Hrsg.) (2004). Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, Band 2: Forschungspraxis (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner & Viehöver, Willy (Hrsg.) (2005). Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz: UVK. <zurück>

3) Siehe dazu die Tagungsberichte in FQS von Jana KLEMM und Georg GLASZE (2005) sowie von Willy VIEHÖVER (2004). <zurück>

4) Mittlerweile erfolgt auch durch verschiedene Initiativen anderer Kolleginnen und Kollegen eine zunehmende Vernetzung der Diskursforschung, an der der Arbeitskreis unterstützend mitwirkt, z.B.:

Zitation

Keller, Reiner & Schneider, Werner (2007). Projektbericht: Arbeitskreis "Sozialwissenschaftliche Diskursforschung". Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702P57.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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