Volume 8, No. 2 – Mai 2007

Projektbericht: Der Wiener Ansatz der Kritischen Diskursanalyse

Martin Reisigl

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird in Wien ein Ansatz für Kritische Diskursanalyse entwickelt und angewandt. Dieser Kurzbericht konzentriert sich auf drei Aspekte des Ansatzes: Im ersten Teil gebe ich die Geschichte der Wiener Diskursanalyse gerafft wieder. Dabei umreiße ich die Forschungsschwerpunkte, auf die sich das Interesse der Kritischen Diskursanalyse Wiener Provenienz mit zum Teil gleichbleibender und zum Teil wandelnder Gewichtung richtet. Im zweiten Teil charakterisiere ich den Ansatz allgemein. Ein kurzer Ausblick auf anstehende Herausforderungen beschließt meine Ausführungen (siehe zum Wiener Ansatz auch das Interview mit Ruth WODAK in der vorliegenden Ausgabe des FQS). [1]

1. Zur Geschichte des Ansatzes

1.1 Phase 1: Kritische Wiener Diskursanalyse ante litteram (1986–1993)

Ihren Ausgang nimmt die Geschichte der Kritischen Wiener Diskursanalyse im engeren Sinn in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit einer interdisziplinären Studie über die sogenannte "Waldheim-Affäre" in Österreich. In dieser Untersuchung wurde der "diskurshistorische Ansatz" Wiener Prägung konturiert. Die alltagspolitisch motivierte, sozialkritische Forschungsarbeit zum österreichischen Antisemitismus der Nachkriegszeit und zum verharmlosenden Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit vieler ÖsterreicherInnen rückte den Präsidentschaftswahlkampf des ÖVP-Politikers sowie langjährigen UNO-Generalsekretärs Kurt WALDHEIM im Jahre 1986 und dessen nationalsozialistische Vergangenheit in das Zentrum diskursanalytischer Aufmerksamkeit. Neben der Interdisziplinarität, der Teamforschung, der historischen Ausrichtung und dem Streben nach praktischer Relevanz (letztere zeigte sich unter anderem in der Mitwirkung an einer gegen antisemitische Vorurteile gerichteten Ausstellung und in einem Handbuch für MittelschullehrerInnen über Antisemitismus) kristallisierte sich in diesem Projekt ein weiteres Charakteristikum des Wiener Ansatzes heraus: die durch Triangulation und Methodenpluralismus gekennzeichnete Herangehensweise. Um den Untersuchungsgegenstand des österreichischen Nachkriegsantisemitismus von mehreren Punkten aus einzukreisen, griffen die ForscherInnen auf unterschiedliche Theorien und Methoden der Soziolinguistik, Textlinguistik, linguistischen Vorurteilsforschung, Argumentationstheorie, Erzähltheorie, Stilistik, Rhetorik, Sozialpsychologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Sozialphilosophie zurück. Sie zogen zudem verschiedene Datengrundlagen zur Analyse heran, darunter mediale Textarten und Genres (Fernsehsendungen, vor allem Fernsehnachrichten und politikbezogene Sendeformate, Zeitungsartikel und Zeitschriftenbeiträge), Reden und verschiedenste Statements bzw. schriftliche Texte von PolitikerInnen und "Alltagsgespräche" auf der Straße (vor allem solche, die im Rahmen und am Rande von Mahnwachen in der Wiener Innenstadt stattfanden) (WODAK, NOWAK, PELIKAN, GRUBER, DE CILLIA & MITTEN 1990). [2]

Mit einem zweijährigen Forschungsprojekt zum österreichischen Gedenkjahr 1988 durchlief die Entwicklung der Wiener Kritischen Diskursanalyse und insbesondere der "diskurshistorischen Methode" eine nächste Etappe. Dieses Projekt setzte die diskurshistorischen Untersuchungen zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich fort. Gegenstand war zum einen die Veröffentlichung des Berichts der internationalen Historikerkommission zur nationalsozialistischen Vergangenheit WALDHEIMs im Februar 1988. Zum anderen lag der Schwerpunkt der Analyse auf den Diskursen zum öffentlichen Gedenken an den 50. Jahrestag des "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich. Diese Diskurse entspannen sich 1. um das offizielle Gedenken im März 1988 an den sogenannten Anschluss im März 1938, 2. um die Enthüllung des "Denkmals gegen Krieg und Faschismus" von Alfred HRDLICKA im November 1988 (dieser Enthüllung waren monatelange öffentliche Kontroversen vorangegangen), 3. um die Premiere des Theaterstücks "Heldenplatz" von Thomas BERNHARD im November 1988 im Wiener Burgtheater und 4. um das Gedenken an das 50. Anniversarium des Novemberpogroms. [3]

Empirische Untersuchungsbasis dieser Studie, die zwei LinguistInnen und zwei Historiker durchführten (WODAK, MENZ, MITTEN & STERN 1994), waren mediale Printprodukte, Radioberichte, Fernsehnachrichten, Fernseh- und Zeitungsserien sowie unterschiedliche Statements und Ansprachen österreichischer PolitikerInnen. Im Vordergrund standen konkurrierende Geschichtsentwürfe zur Rolle der ÖsterreicherInnen in der Zeit zwischen 1938 und 1945 und insbesondere der Konflikt zwischen VerfechterInnen der Opferthese (der zufolge die ÖsterreicherInnen erste Opfer des sogenannten "Hitlerdeutschlands" gewesen seien) und denen, die – mehr als vier Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges – endlich die tatkräftige Beteiligung vieler ÖsterreicherInnen an den nationalsozialistischen Verbrechen kritisch zur Sprache brachten. [4]

Neben dem Studium des Zusammenhangs von Sprache bzw. Diskurs und Geschichte bildeten sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre am Wiener Institut für Sprachwissenschaft noch weitere Forschungsschwerpunkte heraus, darunter einer zur medizinischen Kommunikation zwischen PatientInnen und ÄrztInnen (z.B. in der Ambulanz; LALOUSCHEK, MENZ & WODAK 1990), einer zur Verständlichkeit von Gesetzestexten und Radionachrichten und einer zur Ausarbeitung von Leitlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs in der österreichischen Verwaltungssprache. Auch wenn diese Forschungen zur institutionellen Kommunikation in der "externen Wahrnehmung" durch die Scientific Community nicht so unmittelbar mit dem Label der Kritischen Wiener Diskursanalyse assoziiert werden wie die diskurshistorischen Studien, speisen sie sich dennoch aus demselben wissenschaftlichen Ethos und sozialkritischen Impetus wie die Arbeiten über den österreichischen Umgang mit dem Nationalsozialismus. Das praktische Anliegen, einen Beitrag zur Verbesserung kommunikativer Verhältnisse in gesellschaftlichen Institutionen wie dem Krankenhaus, dem Gericht, den Massenmedien und den Ämtern zu leisten, wurde in diskurstheoretischer Hinsicht weniger in FOUCAULTs Denken verankert als vielmehr – wenngleich locker – an HABERMAS angelehnt. Dessen Diskursmodell galt, anders als in anderen Ansätzen der (Kritischen) Diskursanalyse, nicht von vornherein als kontrafaktisch diskreditiert, sondern wurde – bei aller Kritik an HABERMAS' "unempirischer", handlungsentbundener, idealisierter Konzeption von "Diskurs" – als mögliche kritische Richtschnur zur Evaluation öffentlicher argumentativer Auseinandersetzungen ins Feld geführt. [5]

1.2 Phase 2: Die Etablierung der Kritischen Wiener Diskursanalyse (1993–1997)

Zu den englisch publizierenden Kritischen DiskursanalytikerInnen unterhielten WODAK und ihre MitarbeiterInnen seit dem ersten, von Teun A. VAN DIJK in Amsterdam organisierten "Annual CDA Meeting" regen Kontakt und Gedankenaustausch. In der Folge boten sich immer wieder Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Gemeinsame thematische Berührungspunkte und medien- sowie politikkritische Interessen förderten in dieser Zeit auch den Austausch mit der Duisburger Gruppe um Siegfried und Margarete JÄGER. [6]

In der neuen Phase, in der nun auch am Wiener Institut für Sprachwissenschaft post- und neostrukturalistische Zugänge zu Diskurstheorie und Diskursanalyse wahrgenommen wurden, entwickelte sich der Wiener Ansatz im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte weiter, unter anderem in einer Studie über fremdenfeindliche und rassistische Diskriminierung rumänischer ImmigrantInnen zur Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs (MATOUSCHEK, WODAK & JANUSCHEK 1995) und in einer Studie über die diskursive Konstruktion der österreichischen Nation und Identität in Österreich (WODAK, DE CILLIA, REISIGL, LIEBHART, HOFSTÄTTER & KARGL 1998; eine Weiterentwicklung des diskursanalytischen Instrumentariums zum Studium von Diskursen über Nationen und nationale Identitäten findet sich in REISIGL 2003). [7]

Neben den diskursanalytischen Forschungen zum Verhältnis von Geschichte, Politik und Sprache wurden in der zweiten Phase auch noch andere Arbeitsschwerpunkte gepflegt, darunter die Ausarbeitung von Richtlinien zu geschlechtergerechtem Formulieren (KARGL, WETSCHANOW, WODAK & PERLE 1997) und die Analyse medizinischer Kommunikation (z.B. LALOUSCHEK 1995). Zwischen 1994 und 1996 wurde in Wien zudem ein zweijähriges linguistisch-soziologisches Projekt zum Zusammenhang von Sprache und politischer Diplomatie durchgeführt, das als Nebenprodukt die kontrastive Überblicksarbeit "Methoden der Textanalyse" (TITSCHER, WODAK, MEYER & VETTER 1998) hervorbrachte, die auch ins Englische übersetzt wurde. [8]

1.3 Phase 3: Der Forschungsschwerpunkt "Diskurs, Politik, Identität" (1997–2003)

Die dritte Phase der Weiterentwicklung des Wiener Ansatzes umfasste die Jahre von 1997 bis 2003. Die Themenschwerpunkte und gesellschaftlichen Probleme, die in dieser Zeit von zum Teil unterschiedlich zusammengesetzten Gruppen von ForscherInnen im neu geschaffenen Forschungszentrum "Diskurs, Politik, Identität" (kurz: DPI) bearbeitet wurden, waren

Den gemeinsamen Nenner dieser sechs Projekte bildet das Interesse an der Frage nach dem Zusammenhang von Diskurs, Politik und Identität in einem den nationalstaatlichen Rahmen Österreichs transzendierenden Zusammenhang. Die thematische Kontinuität zu den Forschungen aus der zweiten Phase ist offensichtlich, obwohl sich das Schwergewicht in dieser dritten Phase zunehmend von einer primär österreichischen auf eine europäische Ebene verlagert – eine Ausweitung des analytischen Bezugsrahmens, die auch in der vierten Phase der Entwicklung des Ansatzes bis heute beibehalten wird. [10]

Die von Projekt zu Projekt variierende Zusammensetzung der interdisziplinären Teams hat zur Konsequenz, dass von den fachlich unterschiedlich sozialisierten DiskursanalytikerInnen vielfältige theoretische und methodische Verknüpfungen hergestellt und Gewichtungen vorgenommen werden. Einerseits wird diese eklektische Vielfalt als großer Vorzug wahrgenommen, der eine kreative Forschungsdynamik und pluralistische Mannigfaltigkeit jenseits restriktiven Methodenzwangs ermöglicht. Andererseits beginnt die Wiener Forschungsgruppe sich in den letzten Jahren immer mehr der Schwierigkeit gewahr zu werden, dass der Reichtum an theoretischen und methodischen Quellen und Bezugsnahmen zuweilen den Preis theoretischer Inkohärenz fordern kann, wenn die Kombination theoretischer Versatzstücke nicht auf der Basis soliden Grundlagenwissens in den Bereichen der "Spenderdisziplinen" und "Spendertheorien" erfolgt. Das Problem stellt sich zum Beispiel da ein, wo im sozialwissenschaftlichen Bereich Anleihen bei FOUCAULT, HABERMAS, BOURDIEU, GIDDENS und LUHMANN genommen werden und man im linguistischen Bereich auf Systemisch Funktionale Linguistik, Soziosemiotik, konversationsanalytisch ausgerichtete Gesprächsanalyse sowie Funktionale Pragmatik rekurriert. Dieser Problematik, die aus meiner Sicht eine der wichtigsten methodologischen Herausforderungen der kommenden Jahre ist, gilt es selbstreflexiv zu begegnen: "However, we would like to emphasize that researchers need to be conscious of such eclecticism and justify it for each distinctive issue. Only a constant reflection of the research processes avoids epistemological contradictions." (WODAK & WEISS 2005, S.124) [11]

1.4 Phase 4: Die Wiener Kritische Diskursanalyse wird plurizentrisch (2004–heute)

Seit 2004 hat Ruth WOADK einen Lehrstuhl für Diskursstudien an der Universität Lancaster inne. Damit schreitet die Internationalisierung des Ansatzes weiter fort und wird – etwa im Unterschied zu den meisten anderen diskursanalytischen Ansätzen im deutschen Sprachraum, die sich stärker nach Frankreich als auf den anglophonen Raum hin orientieren – der Austausch mit englischsprachigen DiskursanalytikerInnen intensiviert. Andererseits sind die in Wien am Institut für Sprachwissenschaft Forschenden bemüht, Arbeitsschwerpunkte wie die medizinische Kommunikation, die Kritische Feministische Diskursanalyse und das Studium politischer Gedenkrhetorik fortzuführen. Die Forschung zur Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen lenkt in den letzten Jahren den Fokus vor allem auf Schmerzdarstellungen und Krankheitserzählungen (siehe http://www.univie.ac.at/linguistics/personal/florian/Schmerzprojekt/). Kritische Feministische Diskursanalyse wird gegenwärtig im Rahmen des Schwerpunktfachs "Sprachwissenschaft und Geschlechterforschung" gelehrt und in manche Forschungsprojekte integriert, darunter in das Projekt über Schmerzkommunikation. Das mehrfache Gedenkjahr 2005 wird zur Zeit in einem an die 1995 und 1996 durchgeführten Forschungen anknüpfenden Projekt diskurshistorisch-komparativ analysiert. Zum Teil setzen die in Wien arbeitenden DiskursanalytikerInnen in den letzten Jahren auch neue Forschungsakzente. So rücken etwa die Frage nach dem Verhältnis von Cultural Studies und Kritischer Diskursanalyse und methodologische sowie wissenschaftstheoretische Fragen zum Wiener Ansatz immer mehr ins Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit. Auch avancieren Forschungen zum wissenschaftlichen und studentischen Schreiben zu einem neuen Schwerpunkt (GRUBER, RHEINDORF, WETSCHANOW, REISIGL, MUNTIGL & CZINGLAR 2005). [12]

An der Schwelle von der dritten zur vierten Phase waren zwei Projekte angesiedelt: das eine widmete sich dem Diskurs über die Verfassung der Europäischen Union in der Presse (siehe OBERHUBER, BÄRENREUTER, KRZYŻANOWSKI, SCHÖNBAUER & WODAK 2005; KRZYŻANOWSKI & OBERHUBER 2007), das andere dem Diskurs über Integration, Diskriminierung und Migration in der EU. [13]

Gegenwärtig sind WODAK und ihre MitarbeiterInnen in Lancaster in drei große Forschungsprojekte involviert, in denen auch Kritische Diskursanalyse betrieben wird, nämlich

Ein viertes Forschungsprojekt über "Neue Diskurse im heutigen China" (kurz: NDCC) ist gerade angelaufen (siehe http://www.ling.lancs.ac.uk/research/projects/discoursechina.htm). [15]

2. Allgemeine Charakterisierung des Wiener Ansatzes

Den sprachwissenschaftlichen Hintergrund des Wiener Ansatzes bilden die linguistische Pragmatik (insbesondere die Gebrauchstheorie der Bedeutung, die Sprechakttheorie und zum Teil die Funktionale Pragmatik), die Soziolinguistik, die Textlinguistik, die linguistische Diskursanalyse und die Argumentationstheorie, an die der Wiener Ansatz eher als andere Ansätze der Kritischen Diskursanalyse gezielt Anschluss gesucht hat, um Argumentationsanalyse nicht lediglich "aus dem Handgelenk heraus" zu betreiben (vgl. REISIGL & WODAK 2001). Darüber hinaus knüpfen die Wiener DiskursanalytikerInnen an die Kritische Theorie, an WITTGENSTEINs Spätphilosophie und – je nach Fragestellung und disziplinärer Zusammensetzung der forschenden Teams – an geschichtswissenschaftliche Untersuchungen und politikwissenschaftliche, soziologische sowie (sozial-) psychologische Theorien an. [16]

Der vorwiegend qualitativ ausgerichtete Ansatz lehnt die Vorstellung "wertneutraler Wissenschaft" ab, versteht sich also als "anti-objektivistisch", bemüht sich jedoch um begriffliche Präzision und text- bzw. diskursanalytische Sorgfalt und Nachvollziehbarkeit. Kennzeichen des Wiener Ansatzes sind zudem ein gemäßigter Konstruktivismus, eine hermeneutische Ausrichtung, die sich in keinem Subjektivismus verfangen möchte (weshalb Triangulation und Teamforschung hochgehalten werden), und eine empirische, problemorientierte, gesellschaftskritische sowie anwendungsbezogene Zugangsweise. Früher als andere Varianten der Kritischen Diskursanalyse war der Wiener Ansatz bereits darum bemüht, konkrete Beiträge zur Verbesserung der Kommunikationsverhältnisse in bestimmten gesellschaftlichen Institutionen zu leisten. Obwohl im Rahmen dieses Ansatzes primär qualitative Analysen vorgenommen werden, kommen auch quantitative (einschließlich korpuslinguistischer) Forschungsmethoden zum Einsatz. [17]

Die folgende Darstellung forschungspraktischer Analyseschritte, die im Rahmen empirischer Diskursanalysen "abgearbeitet" werden, stellt eine heuristische Vereinfachung, Verkürzung und Idealisierung dar, welche die forscherische Kreativität derjenigen, die sich an diesen Schritten orientieren, nicht in die Schranken weisen will (siehe genauer REISIGL im Druck):

3. Desiderata

Aus meiner Sicht stehen für die VertreterInnen der Kritischen Wiener Diskursanalyse etliche Aufgaben an, die in den nächsten Jahren in Angriff genommen werden können. Vier von ihnen will ich abschließend anführen: [19]

Eine wissenschaftshistorische Herausforderung sehe ich erstens darin, die Geschichte der Wiener Kritischen Diskursanalyse in Form einer differenzierten "Biographie" des Ansatzes zu rekonstruieren, welche die Genese und den Wandel dieser Art von Diskursanalyse selbstkritisch aufarbeitet, um Entwicklungslinien mit ihren Kontinuitäten und Brüchen nachzuzeichnen. [20]

An die Lösung der ersten Aufgabe ist ein zweites Desiderat geknüpft: die Ausarbeitung und Publikation einer kompakten, aber umfassenden Einführung in den aktuellen Stand der Wiener Diskursforschung. [21]

Drittens sieht sich die Wiener Diskursanalyse, wie die Kritische Diskursanalyse insgesamt, mittlerweile mit der Frage konfrontiert, ob die zunehmende Etablierung und damit einhergehende Institutionalisierung, Ritualisierung und teilweise auch Verschulung diskurskritischer Anliegen und Praktiken den Charakter der Kritik verändert, abschwächt oder gar zu einer immer "unkritischeren" Diskursanalyse führt (vgl. BILLIG 2003). [22]

Die wohl größte Herausforderung ist für mich schließlich der Versuch einer schlüssigen Vermittlung zwischen sozialwissenschaftlicher bzw. philosophischer und linguistischer Diskursanalyse – eine Vermittlung, die kritische Selbstreflexion und einen konstruktiven Dialog mit anderen diskursanalytischen Ansätzen und Diskurstheorien voraussetzt. Eine solche Vermittlung hat sich darum zu bemühen, den VertreterInnen einer rein sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse verständlich zu machen, dass die grundlegende Berücksichtigung der linguistischen Dimension auch für eine sozialwissenschaftliche Diskursanalyse ein großer Gewinn ist. Ziel einer solchen Vermittlungsarbeit wäre es, einer integrativen interdisziplinären Diskursanalyse ein großes Stück näher zu kommen, die sich von arbiträrer Theorienklitterung und additivem Patchwork weitgehend verabschiedet und sich philosophisch bzw. diskurstheoretisch sowie linguistisch konsistenter fundiert, als es zur Zeit noch der Fall ist. [23]

Literatur

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Gruber, Helmut; Rheindorf, Markus; Wetschanow, Karin; Reisigl, Martin; Muntigl, Peter & Czinglar, Christine (2005). Genre, Habitus und wissenschaftliches Schreiben. Eine empirische Untersuchung studentischer Texte. Münster: LIT Verlag.

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Kargl, Maria; Wetschanow, Karin; Wodak, Ruth & Perle, Néla (1997). Kreatives Formulieren. Anleitungen zu geschlechtergerechtem Sprachgebrauch. Wien: Bundesministerium für Frauenangelegenheiten und Verbraucherschutz.

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Wodak, Ruth; Pelikan, Johanna; Nowak, Peter; Gruber, Helmut; De Cillia, Rudolf & Mitten, Richard (1990). "Wir sind alle unschuldige Täter!" Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Zum Autor

Martin REISIGL, Lektor am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien, derzeit APART-Forschungsstipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Kontakt:

Martin Reisigl

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Universität Wien
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E-Mail: Martin.Reisigl@univie.ac.at

Zitation

Reisigl, Martin (2007). Projektbericht: Der Wiener Ansatz der Kritischen Diskursanalyse. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702P75.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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