Volume 17, No. 3, Art. 5 – September 2016
Tagungsbericht:
Charlotte Bruns & Matthias Sommer
Das Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie visueller Sozialkommunikation. Gemeinsame Tagung des Instituts für Medienforschung der TU Chemnitz und des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen im Rahmen des durch die DFG geförderten Forschungsprojektes "Das Selbstbild in der Bilderwelt", Veranstalter: Hans-Georg Soeffner & Michael R. Müller
Zusammenfassung: Während der im November 2015 abgehaltenen Tagung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen befassten sich 15 Referierende und 30 Gäste aus verschiedenen Perspektiven mit dem Bild als soziologischem Problem. Ziel der Veranstaltung war es, zu einem besseren Verständnis der Bedeutung und Folgen des Gebrauchs moderner Bildmedien für die Vergesellschaftung zu gelangen. Die im vorliegenden Bericht zusammengefassten Beiträge ermöglichen nicht nur eine weitere empirische Fundierung einer Theorie visueller Sozialkommunikation, sondern werfen ebenso Fragen auf, denen im Zuge zukünftiger Forschung nachzugehen ist und die im Rahmen weiterer Tagungen zu diskutieren sind.
Keywords: visuelle Soziologie; qualitative Methoden; Bild als soziologisches Problem
Inhaltsverzeichnis
1. Das Bild als ein soziologisches Problem
2. Zusammenfassung der einzelnen Beiträge
3. Fazit
1. Das Bild als ein soziologisches Problem
Vom 12. bis 14. November 2015 fand im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen die Tagung "Das Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie visueller Sozialkommunikation" statt. Die interdisziplinär ausgerichtete Veranstaltung wurde von Michael R. MÜLLER (Chemnitz) und Hans-Georg SOEFFNER (Essen) organisiert. Ziel war es, verschiedene Ansätze – ausgehend von empirischen Materialien – zu diskutieren, um zu einem besseren Verständnis der Bedeutungen und Folgen des alltäglichen Gebrauchs moderner Bildmedien für die menschliche Vergesellschaftung beizutragen. [1]
In seiner Begrüßung zeigte MÜLLER (Chemnitz) die theoretischen Grundlagen auf, auf Basis derer bildmedial organisierte Formen (und Prozesse) der Vergesellschaftung als Bestandteile sozialer Wechselwirkungen (vgl. SIMMEL 2013 [1908]) in den Blick genommen werden können. Eine Theorie visueller Sozialkommunikation könne sowohl an die Vorgeschichte der Höhlenmalereien (vgl. LEROI-GOURHAN 1995) sowie die Statthalterfunktion von Wappenschildern (vgl. BELTING 2001) anknüpfen, aber auch am Beispiel der welterschließenden Funktion sozialer Netzwerkfotografie oder der wissenschaftlichen Diagrammatik zur Anwendung kommen. Ausgangspunkt der Tagung waren Fragen nach der Art und Weise, wie Bilder in die Wechselwirkungen zwischen Individuen eingreifen, welche gesellschaftlichen Austausch-, Beziehungs- und Wissensformen sie ermöglichen und inwiefern Bilder selbst – mit SIMMEL (2013 [1908], S.1ff.) formuliert – derartige Wechselwirkungen und Wissensformen sind. MÜLLER betonte, dass für die Sprache (wenn man sie überhaupt so klar vom Bild abgrenzen könne) entsprechende Vermittlungsleistungen in vielfältigen Aspekten bereits beschrieben worden seien: Karl BÜHLER etwa habe auf die soziale Synchronisation von Situationserfahrungen durch "Zeigwörter" (vgl. 1965 [1934]) hingewiesen, Konrad LORENZ (1987 [1977]) auf die objektunabhängige Wissenstradierung. Zu nennen seien ferner: die Steigerung unserer praktischen und theoretischen Phantasie durch die sprachliche Abstraktion und Handlungsentlastung; die Rationalisierung von Recht, Religion und Wissen durch schriftliche Fixierungen und Systematisierungen und vieles andere mehr. Die Vermittlungsleistungen durch Bilder, gerade im Hinblick auf die Mediatisierung der Alltagswelt, seien im Vergleich dazu relativ wenig erforscht. Über eine inhaltlich-ideografische oder bildtheoretisch-formale Analyse des Bildes hinausgehend, muss dieses MÜLLER zufolge daher als "un phénomène social total" (MAUSS 1996 [1950], S.178) behandelt werden, um der Rolle von Bildern für moderne Rationalisierungsprozesse gerecht zu werden. Inwiefern Bilder nicht nur images und pictures, sondern auch Medien der Vergesellschaftung seien war eine der Fragen, die MÜLLER und SOEFFNER den folgenden Vorträgen als offene Problemstellung voranstellten. [2]
2. Zusammenfassung der einzelnen Beiträge
Den Anfang der insgesamt 15 Vorträge machte Jo REICHERTZ (Essen) mit einem Beitrag zu "Visualisierungen als Mittel der Erkenntnisgewinnung". Er diskutierte die Frage nach der Bedeutung der Visualisierung in der Entwicklung neuen Wissens. Rekurrierend auf Überlegungen von Charles Sanders PEIRCE (1973 [1934]) zur Entdeckung des Neuen sowie von Vilém FLUSSER (1999) zu Technobildern stellte er dar, dass neben der Erhöhung des Handlungsdrucks und dem play of musement1) auch das Spiel mit Diagrammen im Sinne der Visualisierung komplexen wissenschaftlichen Wissens ein Weg sei, um Neues zu entdecken. Denn durch eine nichtsprachliche Ordnung könnten Konfigurationen leicht umgestaltet und Relationen sichtbar gemacht werden. REICHERTZ fügte hinzu, dass alles Soziale und Kommunikative, obwohl dies bei PEIRCE ausgespart bliebe, ein wichtiger und wesentlicher Bestandteil sowie Voraussetzung für erkennendes Denken und die Entdeckung des Neuen sei. [3]
Im Anschluss legte Bernt SCHNETTLER (Bayreuth) in seinem Beitrag "Bilder in Bewegung: Visualisierung in der Wissenschaftskommunikation" dar, dass durch den Rollenwandel der Wissenschaft in der Gesellschaft Visualisierungen in der internen und externen Wissenschaftskommunikation eine immer größere Rolle spielten. Am Beispiel des Imagefilms, welcher auf ein typisches, der Werbekommunikation entstammendes Repertoire audio-visueller Darstellungsoptiken, der ästhetischen Überhöhung und symbolischen Verdichtung rekurriere, zeigte er, dass dieser Einsatz von wissenschaftsfremden Kommunikationsmitteln die Gefahr berge, die Grenzlinien zwischen wissenschaftlichem und anderem Arbeiten immer undeutlicher werden zu lassen. Er schloss seinen Vortrag mit der Frage, wie der massive Einsatz dieser neuen Kommunikationsformen mit der veränderten Grenzziehung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Handlungsbereichen korrespondiere. [4]
Roswitha BRECKNER (Wien) stellte in ihrem Beitrag "Visuelle Kommunikation auf Facebook. Eine biographieanalytische Perspektive" anhand einer Fallstudie ein Konzept zur Verknüpfung von bildtheoretischen methodologischen Grundlagen mit biografieanalytischen Perspektiven vor. Sie begann ihre Ausführungen mit der Annahme, dass biografische Konstruktionsprozesse in sozialen Netzwerken im Wesentlichen über die Gestaltung und Verbreitung von Fotografien stattfinde. Anschließend legte sie anhand von Daten dar, dass es auf Facebook trotz dessen normativer Inszenierungsregeln die Möglichkeit der bildlichen Darstellung von Exzessivität in der Halböffentlichkeit gebe und dass diese mehr Raum einnehme, als es in traditionellen Fotoalben der Fall sei. BRECKNER warf die Frage auf, inwiefern durch die rituellen visuellen Akte auf Facebook neue Sozialformen und Denkräume (vgl. WARBURG 2000) entstünden und auf welche biografischen Probleme dieser Bildmediengebrauch antworte. [5]
Michael R. MÜLLER (Chemnitz) stellte in seinem Vortrag "Deixis am Bild – Über den fotografischen Umbau sozialer Situationen" dar, dass zu Bildclustern zusammengestellte Fotografien im Web 2.0 zu einem wichtigen Zeigfeld2) (vgl. BÜHLER 1965 [1934]) der Alltagskommunikation und Referenzraum der sozialen Wahrnehmung geworden seien. Anhand einer empirischen Analyse von Gestaltungs- und Nutzungsmerkmalen solcher Bildcluster zeigte er, dass diese auf das Problem der gesellschaftlichen Organisation wechselseitiger sozialer Anschauungsgewissheit reagierten. Dies werde durch die Aneignung der Fotografie als Mittel der Selbstdarstellung, den fotografischen Phantasieüberschuss3) (vgl. SCHELER 2016 [1928]) sowie durch spezifisch ausgebildete Portalästhetiken erreicht. MÜLLER wies des Weiteren darauf hin, dass die kommunikative Funktion der Fotografien durch rhetorische Markierungen ausgewiesen werden müssten. Deshalb bedürfe eine Soziologie des Bildes notwendig der Hermeneutik, da sie analytisch die wirkungsästhetische Struktur und metakommunikativen Markierungen von Bildern in Augenschein nehme. [6]
Einen Typus personaler Selbstdarstellung, in dem der Körper zum Bildmedium werde, beschrieb Anne SONNENMOSER (Essen) in ihrem Vortrag "In effigie. Das Bild als Sinnhorizont körperlicher Selbstdarstellung". Sie berichtete von einem Forschungsprojekt, in der sie piktorale Körpertechniken von Expert/innen und die Vermittlung von Körpertechniken im Sinne der Typenbildung vergleichend und auf Grundlage von historischem Quellenmaterial als soziale Figuration historisch rekonstruierte. Die spezifisch piktorale Selbstdarstellung stellte sie im Folgenden u.a. als den Versuch dar, sich innerhalb anonymisierter Interaktionssituationen als Person zu bewähren und eine Vielzahl komplexer Informationen über personale Eigenschaften innerhalb kürzester Zeit zu vermitteln. Die Charakteristika piktoraler Selbstdarstellung fasste SONNENMOSER schließlich als phantasmatische Selbstreflexion und Illustration einer Person in Interaktionssituationen zusammen. [7]
Im darauf folgenden Vortrag "Nach der 'Bilderflut' – anonyme Fotografien" beschäftigte sich Felix KELLER (St. Gallen) mit Fotografien, wie man sie auf Flohmärkten findet. Er konstatierte, dass sich durch die Problemstellung der Flut der Bilder der Status des Bildes verändere. So zeigte KELLER, dass sich das Interesse an unbedeutsamen, anonymen Fotografien als Antwort auf die Problematik der Bilderflut sehen lasse, da ein Prozess der Anonymisierung beobachtet werden könne, welcher eine immer weitergehende Dekontextualisierung der Fotografie beinhalte. Diese verlaufe von der Anonymisierung und Typisierung der fotografierten Menschen (vgl. SANDER 2002 [1980]) über eine Anonymisierung der fotografierten Subjekte ohne Typisierung (siehe street photography, vgl. WESTERBECK 1998) bis hin zu Fotografien, deren Urheber/innen und die darauf abgebildeten Personen anonym seien. KELLER führte aus, dass die Fotografie durch diesen Prozess vollständig anonym werde und in keine soziale Ordnung mehr rückführbar sei. Anonymisierte Fotografien seien Ausdruck einer fragmentarisierten symbolischen Ordnung, deren ästhetischer Effekt sich durch ihre Uninterpretierbarkeit ausbilde. [8]
Hans-Georg SOEFFNER (Essen) diskutierte in seinem Beitrag "Die Geste in der Fotografie" die Suggestionskraft der Anschauungsgewissheit mithilfe einer protosoziologischen, humanethologisch begründeten Auslegungstheorie und -empirie. Ausgehend von der Feststellung Charles DARWINs (1964 [1872]), dass es ein kulturunabhängiges Gestenverständnis gebe, sowie George Herbert MEADs Erkenntnis (1986 [1934]), dass Gesten als Anfänge gesellschaftlicher Handlungen gesehen werden könnten, untersuchte SOEFFNER eine Fotografie Adenauers und eine Fotografie, auf der Papst Franziskus abgebildet ist. SOEFFNER stellte dar, dass auch die Wahrnehmung von Gesten immer von Retention und Protention4) gesteuert sei. Bezogen auf das Sehen führte er daraufhin aus, dass drei Sehensvariationen unterschieden werden können: das mediale Sehen, welches nicht fixierend sei; das intentionale, aktive Sehen, welches fixierend und typisierend sei, und das Sehen als Reaktion, als implizite Bewertung des Gesehenen. Hermeneutik des Sehens heiße schließlich die Auslegung der Welt durch das Sehen sowie die Auslegung des Sehens eingebunden in die Synästhesie. [9]
Mit Abbildungen des Papstes beschäftigten sich auch Mathias BLANC (Lille) und Hubert KNOBLAUCH (Berlin) in ihrem gemeinsamen Vortrag "Religion im Bild. Der Papst in Deutschland und das Publikum". Anhand von Videoaufnahmen des Besuches von Benedikt XVI. im Berliner Olympiastadion im Jahr 2011 stellten BLANC und KNOBLAUCH zwei Kommunikationsstile dar: den Stil der high church5) und den der populären Religion. Sie beobachteten, dass der Akt der Frömmigkeit im Wandel sei, z.B. wenn das Bekreuzigen bei dem Eintritt des Papstes wegfalle und das Fotografieren des Papstes an dessen Stelle trete. Auch in der Aneignung, Produktion und affektiven Besetzung des Bildlichen sahen BLANC und KNOBLAUCH die Ersetzung der ritualen Geste durch kommemorative Rituale. Sie stellten schließlich die Vermutung an, dass es eine Pathosformel (vgl. WARBURG 2000), eine Einschreibung in die Bilder gebe, die für die Rituale stünden, da spezifische Formen des Versenktseins und der Andacht beobachtbar seien. Es existiere somit eine Einschreibung bestimmter Codes in Bilder, welche die verschiedenen Ritualformen ikonografisiere. [10]
Im Anschluss an den genetischen Strukturalismus und die Medienkulturtheorie der kanadischen Schule entfaltete Jeanette BÖHME (Essen) in ihrem Beitrag "Morphologie des Bildes: Ikonische Kompositionen sozialer Sinnformen" ein Modell morphologischer Hermeneutik und beschrieb den Weg zu einer übergreifenden Methodologie rekonstruktiver Sinnerschließung medienspezifisch ausgeformter Protokolle von Wirklichkeit. BÖHME wies die Annahme einer ikonischen Universalgrammatik zurück und ging stattdessen von differenten Grammatiken sozialen Sinns aus, die in Form einer doppelten Historizität des Sinnverstehens im Wechselspiel von Beobachtung und Beobachtetem in den Blick genommen werden müsse. Am Beispiel einer Analyse zur schulpädagogischen Bedeutung architektonischer Ordnung zeigte sie das Potenzial des Verstehens bildimmanenter ikonischer Sinnformen auf. Durch Kompositionsanalysen und Parallelprojektionen, die sich mit dem Schulneubau des vom Bergbau geprägten Ruhrgebiets auseinandersetzen, exemplifizierte sie die Verschränkung familiärer Privatheit und fordistischer Öffentlichkeit und betont das konservierende Moment sozialer Sinnformen. [11]
Auch Jürgen RAAB (Landau) nutzte den Primat der Form als Ausgangspunkt seines Vortrags "Formverweise und Sinngestalten. Überlegungen zu einer wissenssoziologischen Symboltheorie fotografischer Bilder". Der Bezug auf die Form ermögliche ihm, die Offenheit qualitativer Forschung betonend, eine größtmögliche Distanz zum Gegenstand einzunehmen, sowie den Verzicht auf Zusatzannahmen, welche von außen an das Bild herangetragen werden müssten. Im Anschluss an SIMMEL (2000 [1918]) beschrieb RAAB das Bild als umfriedeten Bezirk, der viele Elemente der heterogenen Welt in sich aufnehme und nach seinen besonderen Gesetzen synthetisiere. Die Differenz von Zentrum und Peripherie kennzeichnete RAAB als zentrale Analysekategorie der Form des Bildes, welche im Anschluss an Bernhard WALDENFELS (1999) durch weitere zentrale Dimensionen wie Anordnung, Einordnung und Über- und Unterordnung erweitert werden könnten, um einen Zugang methodischer Art zum Bild zu erschließen. Mit Bezug auf den Bildkanon zum Tod eines syrischen Flüchtlingskindes (vgl. exemplarisch STADLER 2015) wurde das Potenzial einer Konstellationsanalyse von Bildern aufgezeigt, die sich dem Kern der Formalstruktur einzelner Bilder, ihren mittelbaren und unmittelbaren Bildkontexten sowie dem Aspekt der Sehgemeinschaften und ihren Handlungshorizonten zuwende. [12]
Der Unterschied einer Verständigung im Medium Bild gegenüber einer Verständigung im Medium Sprache war der Ausgangspunkt des Beitrags von Aglaja PRZYBORSKI (Wien). In ihrem Vortrag "Praxis in und mit Medien" entfaltete sie ein Modell zur medialen Kommunikation, welches den Ausgangspunkt nicht von einer Botschaft im Medium nehme, sondern die Handlungspraxis in den Mittelpunkt stelle. Verschiedene Personengruppen wurden in einer Studie aufgefordert, jeweils ein Foto aus der eigenen Alltagspraxis und zudem ein kommerzielles Personenbild auszuwählen und innerhalb eines Gruppeninterviews zu präsentieren. Durch diese Methodik wies PRZYBORSKI auf neue Möglichkeiten ikonisch-ikonologischen Verstehens hin, welche im internen Fallvergleich der Medienauswahl der Befragten begründet lägen. Der Blick auf Homologien zwischen den präsentierten Bildern ermögliche eine Rekonstruktion von Körperpraxis und Körperimagination. Durch den Vergleich der Alltagspraxis mit imaginativen bzw. fiktiven Situationen könnten zudem fallübergreifend Aussagen zu Habitus und Norm getroffen werden. [13]
Beim Vortrag von Aida BOSCH (Erlangen) rückten im Anschluss an Bruno LATOUR (1998) "Fotografische Bilder als performative Aktanten" als Quasi-Akteure in den Mittelpunkt. Das fotografische Bild beschrieb sie als paradoxen Aktanten, durch den etwas präsent und gleichzeitig absent vorhanden sei. Dieser schaffe einen Möglichkeitsraum, den Bilder im Handlungsverbund mit menschlichen und nicht-menschlichen Akteur/innen einnehmen könnten. Entlang von vier Dimensionen entfaltete BOSCH die Möglichkeiten des Bildes, als Akteur in Erscheinung zu treten: die Interaktionsdynamiken bei der Entstehung der Bilder, die Interaktion zwischen Bild und Betrachtenden sowie zwischen Bildern selbst und der Wirkung eines Bildes innerhalb eines Diskurses. Am Beispiel der Kriegsfotografie vertiefte sie die Machtverhältnisse innerhalb der verschiedenen Interaktionsebenen und identifizierte das Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik als einen zentralen Spannungspunkt. Abschließend thematisierte sie verschiedene Haltungen von Journalist/innen in Relation zum Bild, welche sich in Form von Affirmation, Zeug/innenschaft oder Widerstand zusammenfassen ließen. [14]
Auch Ruth AYAß (Klagenfurt) befasste sich in ihrem Beitrag mit dem Potenzial von Fotografien, Emotionen zu evozieren. Im Vergleich zur Kriegsfotografie thematisierte der Vortrag "'Tsunami Girl': Die Genese eines ikonographischen Bildes" das in der bisherigen Forschung wenig erschlossene Gebiet der Katastrophenfotografie. Sie warf die Frage auf, inwiefern Katastrophenbilder eine inhärente "disastrousness" aufweisen. Zentral sei die Kontrastierung von Ordnung und Chaos, welche die Störung gewohnter Sehordnungen impliziere. Die Größe der Ereignisse mache Katastrophen an sich nicht fotografierbar und nur in Ausschnitten erfassbar, wodurch den Fotografien Leerstellen immanent seien. Am Beispiel des Tsunami Girls6) rekonstruierte AYAß, wie das Bild einer unbekannten Frau inmitten des Chaos zum Schlüsselbild eines historischen Ereignisses werden konnte: Die Katastrophenfotografie zeige die Auflösung von Ordnung in einer geordneten Art und Weise, hier im Kontrast zwischen grenzenloser Zerstörung und isoliert unversehrtem Individuum. Je begreifbarer eine Fotografie eine Katastrophe machen könne, umso größer sei die Chance, als Schlüsselbild in Erinnerung zu bleiben. [15]
Auf der empirischen Grundlage eines Videos der russischen Punk-Band und Performancegruppe Pussy Riot thematisierte Marija STANISAVLJEVIC (Landau) "Provozierte Sehstörungen. Visualisierungsstrategien der Protestkommunikation". Ausgangspunkt war das Spannungsverhältnis zwischen Protestkommunikation und Massenmedien sowie die Fragestellung, inwiefern Ästhetik bzw. ästhetische Formung als Vehikel der Protestkommunikation wirksam sei oder sein könne. Anhand der Analyse der spezifischen Ästhetisierungsstrategien, der symbolischen Kommunikation und der kommunikativen Anschlüsse, wie sie im Protest von Pussy Riot zum Ausdruck gebracht würden, zeigte STANISAVLJEVIC auf, wie in Form der Störung und Karikierung verschiedene Anschauungen und Sehordnungen irritiert würden. Das Aufnehmen und die Transformation bestehender religiöser und massenmedialer Settings, eine bewusst eingesetzte Logik des Dilettantischen und Unvollendeten sowie die Ironisierung religiöser und politischer Anschauungen seien zentrale Bestandteile dieser Form moderner Protestkommunikation und Ursachen für den massenmedialen Erfolg der Protestaktion. [16]
Daniel ŠUBER (Würzburg) nahm in seinem Beitrag "Zwischen Index und Symbol: Beobachtungen zur Semiotik und Pragmatik des Bildgebrauchs in Serbien" die besondere Bedeutung des Visuellen für die serbische Kultur in den Blick. Im Anschluss an BELTING (2005) verfolgte er die Beziehung zwischen Bildpraktiken und Glaubenspraktiken. Ausgehend von verschiedenen Fällen, in denen Trauerrituale zelebriert werden, beschrieb er, wie in Form der Sakralisierung des Profanen oder der Profanisierung des Sakralen eine Vermischung zweier Codes stattfinde. Dies zeige sich anhand des Umgangs mit ikonischen Bildern, der Einbettung des Heiligen in die Umgebung von Alltagsgegenständen wie beispielsweise der räumlichen Anordnung von Fotografien Titos7) in Schaufenstern. Die Komplexität der Ausbildung einer relativ geschlossenen Symbolwelt in Serbien könne nur durch die Berücksichtigung und das Verständnis der Pluralität semiotischer Regime verstanden werden, einer sozialwissenschaftlichen Diagnostik, welche die Spezifika eines serbisch-orthodoxen Bilder-Codes in den Blick nähme. [17]
Insgesamt lieferte die Tagung einen zentralen Beitrag zur Erforschung der Mediatisierung der Alltagswelt und der Vermittlungsleistung, die Bildern innerhalb von Mediatisierungsprozessen zuzuschreiben ist. Bilder als soziales Phänomen wurden von den Referierenden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: Neben protosoziologischen Überlegungen (beispielsweise anhand der Bedeutung von Gesten) wurde das Bild unter Betrachtung seiner formalen Struktur fokussiert, und es wurden verschiedene Formen des Sehens anhand empirischen Materials exemplifiziert. Als soziologisches Problem wurden Bildmedien – ausgehend von einer Vielzahl empirischer Fälle – in den Blick genommen. So wurden symbolische Ordnungen verschiedener Welten, beispielsweise der symbolische Gehalt von Bildmedien in der wissenschaftlichen Welt, herausgearbeitet. Zudem wurde das Wechselverhältnis zwischen spezifischen Bildercodes spiritueller Welten und des alltäglichen (Er-) Lebens thematisiert. In mehreren Beiträgen und Diskussionen kam anhand des vorgestellten empirischen Materials das Verhältnis von Öffnungs- und Schließungsprozessen zum Ausdruck, welches sich insbesondere in der Frage nach dem kreativen Potenzial von Bildern und deren immanenter Möglichkeit zur Exzessivität und Gründung neuer Denkformen widerspiegelte. Auf der anderen Seite stand die Bedeutung von Bildmedien im Sinne der formalen Strukturierung sozialen Geschehens. So konnten im Rahmen der Tagung beispielsweise Fragen zu architektonischen Ordnungen, körperlicher Selbstdarstellung, Überlegungen zur Werbekommunikation sowie zu Schlüsselbildern in der Medienberichterstattung innerhalb dieses Spannungsverhältnisses genauer beleuchtet werden. Auch die Beziehung zwischen dem Visuellen und sozialer Ordnung wurde aus verschiedenen Perspektiven thematisiert, so beispielsweise in der Frage, wie etablierte und institutionalisierte Sehordnungen gestört werden und, diese irritierend, kreatives Potenzial entfaltet werden kann. [18]
Zusammenfassend gelang es während der Tagung, das Bild als ein soziologisches Problem in den Mittelpunkt zu stellen und dessen Bedeutungsgehalt für ein besseres Verständnis der Gegenwart zu betonen. Auch konnte ein Überblick über die verschiedenen Perspektiven und Ansätze geboten werden, welche sich derzeit mit dem Bild aus sozial- und geisteswissenschaftlicher Perspektive auseinandersetzen. Der problemzentrierte Fokus auf die Bedeutung des Bildes für Vergesellschaftungs- und Rationalisierungsprozesse gab hierbei nicht nur Antworten, sondern betonte stets auch offene Fragen, welche nur in Form einer kontinuierlichen Arbeit am Bild als soziologisches Problem zu lösen sein werden; einem Ziel, welches von den Organisatoren und Beitragenden der Tagung als offene Aufgabe für kommende Veranstaltungsformate begrüßt wurde. [19]
1) Das play of musement ist PEIRCE zufolge wichtig bei dem Streben nach Erkenntnis. Er rät: "Enter your skiff of Musement, push off into the lake of thought, and leave the breath of heaven swell your sail. With your eyes open, awake to what is about or within you, and open conversation with yourself; for such is all meditation. It is, however, not a conversation in words alone, but is illustrated, like a lecture, with diagrams and with experiments" (1965 [1908], S.315). <zurück>
2) Mit dem "Zeigfeld der Sprache" beschreibt BÜHLER jenes Feld, in dem alles sprachlich Deiktische seine Bedeutungserfüllung und -präzision erfährt: Mit dem Positionswechsel des Sprechers/der Sprecherin verändere sich etwa auch das Zeigfeld der deiktischen Ausdrücke "hier" und "dort" (1965 [1934], S.80). <zurück>
3) Im Gegensatz zum Tier ist SCHELER zufolge der Phantasieüberschuss im Menschen bereits angelegt. Der Phantasieüberschuss befähige den Menschen, sich mithilfe von Mythos, Religion und Kultur in der Welt zu behaupten (2016 [1928], S.86). <zurück>
4) Retention und Protention stellen zwei Formen der Zeitlichkeit der Erfahrung in HUSSERLs Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins dar. Während Retention das Bewusstsein von etwas, das aus dem Jetzt in die Vergangenheit übergeht, bezeichnet, beschreibt die Protention die Erwartung von noch ausstehender Wahrnehmung. Die aktuelle Wahrnehmung ist somit stets von dem Vorausgegangenen und Erwarteten geprägt (2012 [1928], S.390, 396). <zurück>
5) Der Anglokatholizismus wird auch high church genannt, da er der episkopalen Organisationsform der Sakramente, der Liturgie und der Kirchenämter einen hohen Stellenwert einräumt (Encyclopædia Britannica, Lemma "Anglo-Catholicism", siehe https://www.britannica.com/event/Anglo-Catholicism, Zugriff 26. August 2016). <zurück>
6) AYAß nimmt hierbei Bezug auf die Medienberichterstattung über das Foto einer junge Japanerin, welches diese inmitten des im März 2011 durch ein Erdbeben und einen Tsunami verursachten Chaos abbildet (vgl. http://www.dailymail.co.uk/indiahome/indianews/article-2107931/Japan-tsunami-A-mothers-face-staring-tense-difficult-future.html, Zugriff: 26. August 2016). <zurück>
7) Josip Broz Tito, *1892 in Kumrovec/Kroatien, † 1980 in Ljubljana/Slowenien. Von 1945-1953 Ministerpräsident und Verteidigungsminister, von 1953-1980 Staatspräsident von Jugoslawien. <zurück>
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Charlotte BRUNS arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Visuelle Kommunikation in Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der visuellen Soziologie sowie in der Kulturanalyse und Bildwissenschaft. Innerhalb ihres Dissertationsprojekts befasst sie sich mit der symbolischen Formung des Weltbezugs.
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Matthias SOMMER arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Visuelle Kommunikation in Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich qualitativer Sozialforschung und Wissenssoziologie. Innerhalb seines Dissertationsprojekts befasst er sich mit Selektionsprozessen figurativer Ordnungen.
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Bruns, Charlotte & Sommer, Matthias (2016). Tagungsbericht: Das Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie
visueller Sozialkommunikation [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 17(3), Art. 5,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs160358.