Volume 8, No. 3 – September 2007
Virtuelle Ethnografie
Daniel Domínguez, Anne Beaulieu, Adolfo Estalella, Edgar Gómez, Bernt Schnettler & Rosie Read
Die gegenwärtige virtuelle Ethnografie ist ein sehr heterogenes Feld, und über die vergangenen Jahre hinweg sind kontinuierlich neue Vorschläge unterbreitet worden. Der methodologische Ansatz einer virtuellen Ethnografie ist dabei kontinuierlich erweitert und reformuliert worden: Digitale Ethnografie, Netnografie, Ethnografie im (oder über bzw. durch) das Netz, Webnografie, Cyberethnografie usw. lauten beispielsweise die in diesem Forschungsfeld verbreiteten Bezeichnungen. Jeder dieser Ansätze tritt mit der etablierten ethnografischen Praxis in einen eigenen Dialog. Die jeweiligen Positionen reichen von denen, die der virtuellen Ethnografie zugestehen, eine spezifische ethnografische Ausprägung zu sein, bis hin zu jenen, die zwar Anstöße zur Reflexion für die etablierte ethnografische Praxis anerkennen, der virtuellen Ethnografie allerdings jegliche Singularität absprechen. In diesem Sinne beabsichtigen die Artikel in dieser FQS-Schwerpunktausgabe, eine Auswahl aus der Diversität derjenigen Ansätze zu demonstrieren, die sich mit der ethnografischen Erforschung des Internets beschäftigen.
Die verschiedenen Konzeptualisierungen einer virtuellen Ethnografie betrachten das Internet größtenteils als kulturellen Hintergrund und Kontext für soziale Interaktion. Das Internet ist ein in diesem Verständnis offener Kontext, in dem sich Praktiken, Bedeutungen und Identitäten miteinander vermischen. Die resultierenden sozialen Beziehungsformen stellen eine Herausforderung für die Sozialforschung dar und eröffnen neue Felder qualitativer Methodologie. Hier will FQS 8(3) einen Beitrag zur Debatte über die neuen Formen des Betreibens von Ethnografie im, über oder mit dem Internet leisten und zugleich die Reflexion darüber vertiefen, auf welche verschiedenen Bereiche sich das Beitreiben qualitativer Forschung mittlerweile erstreckt.
Weit davon entfernt, bereits einen etablierten Korpus von Forschungs- und Analysepraktiken darzustellen, weist das, was sich unter dem Namen virtuelle Ethnografie präsentiert, eine weite Spanne von methodischen Herangehensweisen auf, die aus der Komplexität des Gegenstands resultieren und aus den theoretischen Konstruktionen, die daraus abgeleitet werden. Dieser Prozess eröffnet für die qualitative Forschung neue Möglichkeiten der Datenerhebung und -analyse in verschiedenen sozialen Welten und konfrontiert sie zugleich mit neuen methodischen Problemen. Beispielsweise wird nach Lösungen der Integration von Textanalyse und der Analyse audiovisueller Daten gesucht oder nach einer Verbindung der Forschung "vor dem Bildschirm" mit der im virtuellen Feld. Dabei existiert eine permanente Spannung zwischen der scheinbaren Mühelosigkeit der Datenerhebung und den Schwierigkeiten einer Teilnahme im Forschungsfeld.
Wenngleich die ethnografischen Probleme der Repräsentation, der Perspektive und der Partizipation für die Ethnografie beileibe keine Neuigkeit darstellen, gibt das Internet als Untersuchungsobjekt Anstoß dazu, über diese Probleme erneut nachzudenken. Ebenso sind einige Basiskonzepte, wie etwa das der Gemeinschaft, sowie grundlegende Vorgehensweisen der Ethnografie, wie der Eintritt ins Feld und sein Verlassen oder die Erfahrung im Feld, im Lichte virtueller Ethnografie zu überdenken. Das Internet zum ethnografischen Untersuchungsobjekt zu machen, ruft deshalb eine breite Reflexion über die Zentralaspekte der Ethnografie ins Leben.
Allerdings ist die virtuelle Ethnographie keine exklusive Methode der Anthropologie. Zahlreiche Disziplinen wie etwa die Soziologie, die Philosophie, die Erziehungswissenschaft, die Psychologie oder die Ökonomie betreiben Ethnografie, um sich ihrem Forschungsobjekt anzunähern. Sie verwenden Ethnografie vor allem für die Untersuchung kultureller Aspekte in ihrem Interessengebiet. Der multidisziplinäre Einsatz der Ethnografie bereichert die methodische Vielfalt und erhöht die Anzahl an Antworten auf die oben erwähnten Problemstellungen. Diese Vielfalt an Perspektiven hat zusammen mit dem Wiederaufgreifen einiger klassischer ethnografischer Debatten – wie etwa der Beziehung der Forschenden zum Feld, Fragen der Forschungsethik oder der Beobachtung oder Konstruktion des ethnografischen Diskurses – im Zuge der Erforschung des Internets eine neue Form erhalten und den Anstoß zu dieser FQS-Schwerpunktausgabe gegeben.
In dem Aufsatz "Feldethik: Zu einer situierten Ethik für die ethnografische Internetforschung" befassen sich Adolfo ESTALELLA und Elisenda ARDÈVOL mit einigen der zuvor erwähnten Fragen. Ihr Beitrag eröffnet mit Bezug auf die Ethnografie des Internets als Methode und Methodologie neue Horizonte. Sie befassen sich ebenso mit den ethischen Belangen, welche sich der Feldforschung stellen, wenn sie die Sphäre virtueller Interaktion verlässt und in den Bereich der Interaktionen in der physischen Welt übergeht. Die Arbeit von ESTALELLA und ARDÈVOL eröffnet methodische Reflexionen der ethnografischen Praxis vor dem Hintergrund der Verwendung von Artefakten wie dem Blog, der in seiner doppelten Charakteristik sowohl als Instrument zum Erhalt qualitativer Daten wie als Medium zum Aufbau von Beziehungen zum Feld dient.
Die letztere Perspektive ähnelt der, die Rubén ARRIAZU exploriert. Unter dem Titel "Neue Medien oder neue Formen der Forschung? Ein methodischer Vorschlag für die Online-Sozialforschung mittels Diskussionsforen" wirft er die Frage nach der fundamentalen Rolle von Artefakten und Technologien auf, die im Gebiet der virtuellen Ethnografie eine zentrale Rolle spielen. Vermittels einer Analyse der Vergemeinschaftung mithilfe von virtuellen Foren skizziert ARRIAZU sein Verständnis des Wandels qualitativen Forschens im Internet. Er geht von der Vorstellung aus, dass Kommunikation für die Sozialisation im Netz eine zentrale Rolle spielt und schlägt eine Reihe theoretischer und methodischer Anpassungen vor, welche es ermöglichen, den Forschungsprozess und dessen Resultate an ein Objekt anzupassen, dass nicht mehr vollständig physikalisch fassbar ist und durch die klassischen Dimensionen des euklidischen Raumes definiert wäre.
Der Aufsatz "Riereta.net: Epistemologisch-politische Notizen einer technoaktivistischen Ethnografie" von Blanca CALLÉN, Marcel BALASCH, Paz GUARDERAS, Pamela GUTIÉRREZ, Alejandra LEÓN, Marisela MONTENEGRO, Karla MONTENEGRO und Joan PUJOL zielt auf neue analytische Perspektiven und Reflexionsanstöße. Ihr Vorschlag einer intentionalen Verknüpfung von Intervention und gesellschaftlichem Aktivismus mit einer virtuellen Ethnografie im Netz enthält zwei analytische Implikationen: einerseits die Übertragung einiger Interventionsformen, die bislang exklusiv präsentisch waren, auf den virtuellen Raum (namentlich den Technoaktivismus), sowie andererseits Überlegungen dazu, welche Konsequenzen ein vollständigen Einbezug aller Phasen sozialer Intervention für die ethnografische Methode hat.
Der Aufsatz von Heike Mónika GRESCHKE "Bin ich drin? – Methodologische Reflektionen zur ethnografischen Forschung in einem plurilokalen, computervermittelten Feld" fasst die Untersuchung der Autorin über eine Internetplattform mit dem Pseudonym www.cibervalle.com zusammen, die vor allem von einer über den Globus verstreuten Gemeinschaft paraguayischer Emigrant(inn)en benutzt wird. Aus der Verbindung von Online- mit Offline-Aktivitäten ist es dem sozio-elektronischen Netzwerk gelungen, die Anonymität unter seinen Mitgliedern in eine echte globale Gemeinschaft zu verwandeln. Die Autorin leitet aus dieser Erfahrung ein methodischen Argument ab: Sie vertritt die Auffassung, dass virtuelle Ethnografie sich nicht auf eine Forschung vor dem Bildschirm reduzieren darf, sondern mit einer physischen Beobachtung an verschiedenen Orten verbunden werden muss – mit dem Ziel zu explorieren, wie die medienvermittelten Aktivitäten über das Netz in die alltägliche Lebenswelt der Beteiligten eingefügt sind.
Simona ISABELLA stellt unter dem Titel "Die Ethnografie eines Online-Rollenspiels: Die Bedeutung virtueller und realer Wettbewerbe in der Konstruktion des Feldes" einen methodologischen Aufsatz vor, der auf Feldforschung über zwei Spiele-MUDs basiert. In ihrer Ethnografie behandelt sie die Themen der Identität, der Gemeinschaftsbildung und die Spielkonzepte der Beteiligten. Ausgehend von ihrer eigenen Feldforschung stellt sie einige methodologische Fragen, die in der Literatur bisher kaum behandelt werden. Dazu zählt etwa die Frage nach der Verwendung von Daten, die aus Interaktionen außerhalb des Untersuchungsbereichs stammen, wie in diesem Fall der Einbezug von Informationen aus E-Mails oder Instant-Messenger-Nachrichten oder die Frage nach dem Einbezug der lokalen Kontexte der Teilnehmenden, sowie – erneut ein Thema, das in verschiedenen Aufsätzen dieser Ausgabe behandelt wird – die Notwendigkeit, die Offline-Aktivitäten zwischen den Individuen miteinzubeziehen. Hinzukommt eine Frage, hinsichtlich der enorme Differenzen zwischen den einzelnen Ländern bestehen: die verdeckte Beobachtung und deren ethische Implikationen.
Die Arbeit von ISABELLA hat zwei weitere Vorzüge, die hervorzuheben sind: Es handelt sich um eine vergleichende Untersuchung zwischen zwei Multi User Dungeons, von denen es in der Internetethnografie bedauerlicherweise bislang nur wenige Beispiel gibt, und außerdem besitzt die Autorin die Kühnheit, eine Technologie zum Forschungsobjekt zu machen, die mit einer Lebensdauer von mehr als einer Dekade den Glamour der Neuigkeit längst verloren hat. ISABELLA zeigt, dass eine Vielzahl bedeutsamer Aspekte analysiert werden kann und macht hierdurch deutlich, dass es für die sozialwissenschaftliche Internetforschung nicht entscheidend ist, nur technologische Neuigkeiten zu untersuchen, sondern vielmehr, die angemessenen Fragen zu formulieren.
Kip JONES öffnet in "Wie bin ich an Prinzessin Margaret gekommen? (Und wie kam sie in das World Wide Web?)" die Tür zur Repräsentation qualitativer Daten im Internet. In seinem Aufsatz erzählt JONES detailliert die Übersetzung der in einer autoethnografischen Schilderung enthaltenen Bedeutungen auf einen digitalen Träger und später ins Internet. Dieser Verlauf ist nicht zufällig, sondern Frucht früherer Reflexionen und von Positionen, die der Autor bewusst einnimmt. Zusätzlich bietet der Aufsatz interessante Gesichtspunkte, um die Debatte über qualitative Forschungsethik voranzutreiben und über Möglichkeiten einer performativen Sozialwissenschaft, qualitative Daten auf neue und unkonventionelle Weise zu präsentieren.
Der Aufsatz von Natalia RYBAS und Radhika GAJJALA "Die Entwicklung cyberethnografischer Forschungsmethoden zur Untersuchung digital vermittelter Identität" trägt eine Reflexion über das pädagogische Potenzial der teilnehmenden Beobachtung im Klassenraum bei. Die Autorinnen argumentieren, dass dies ein geeigneter Kontext sei, um die Fragen der Identität vermittels einer ethnografischen Annäherung an virtuelle Orte zu explorieren, in denen Identitäten produziert werden, wie FaceBook oder MySpace.
Maurizio TELI, Francesco PISANU und David HAKKEN analysieren in ihrem Beitrag "Das Internet als "Library-of-People": Für eine Cyberethnografie von Online-Gruppen" einige Derivationen computervermittelter Kommunikation, bei der Gruppen verschiedene synchrone und asynchrone Kommunikationswerkzeuge nutzen. Von einer Konzeption der virtuellen Ethnografie als Cyberethnografie ausgehend fokussieren die Autoren die ethnografische Untersuchung im Schnittbereich der Online- und Offline-Kommunikation. Ihre Untersuchung bezieht sich auf Gruppen, die in beiden Situationen interagieren, und zu deren Fundierung arbeiten sie klassische Konzepte aus der Literatur zur Wissenschafts- und Technikforschung, wie Cyborgs oder Cyberspace, erneut auf.
Der Text von Michaela FAY "Mobile Subjekte, mobile Methoden: Virtuelle Ethnografie in einem feministischen Online-Netzwerk" leistet einen interessanten Theoriebeitrag zur Debatte über Feminismus, Mobilität und Technologie. Ausgehend von einer Fallstudie über die Internationale Frauen-Universität (IFU) und deren virtuelles Pendant (VIFU) entwickelt die Autorin eine "dislozierte" Ethnografie, um die Rolle der Technologie für die Mobilität von Frauen zu verstehen, die sich an dieser Universität beteiligen.
In einer hochmediatisierten Kultur, in der das Internet immer mehr Bedeutung für das berufliche und alltägliche Leben, für Beziehungen, ja sogar für das Gefühlsleben gewinnt, ist es erforderlich, neue Instrumente zu seiner Erforschung und angemessene Methoden für seine Analyse zu entwickeln, um die Daten bewältigen zu können, die es uns anbietet. Die hier veröffentlichten Beiträge beabsichtigen, die Debatten in diesem Themenfeld zu verstärken, indem sie exemplarische Studien vorstellen und die Reflexion der jeweils verwendeten Methoden anregen. In diesem Sinne eröffnen sie eine Gelegenheit, die Überlegungen in einem sich erst formierenden Feld zu vertiefen, das für qualitative Forschung eine immer stärkere Bedeutung gewinnen wird.
Die Beiträge stellen Ethnografien aus eine Reihe verschiedener Blickwinkel vor. Wenngleich sich einige hierbei in partikularen Traditionen und institutionellen Zusammenhängen verorten, ist es nicht weniger zutreffend, dass der Wunsch nach "Verstehen durch Beteiligung" eine zentrale Motivation für die Arbeit aller hier versammelten Autorinnen und Autoren ist. Die Herausforderungen der Vermittlung, des Wechsels von Ort, Distanz und Zeit, die hier unter dem Begriff der virtuellen Ethnografie subsumiert sind, vereinigen sich im einem Prozess, der versucht, ein solches Engagement zu befördern. Wir hoffen, dass die verschiedenen Formen, in denen dieses Engagement zum Ausdruck gebracht wird, auf Studierende und Forschende, die an dem Phänomen des Digitalen interessiert sind, stimulierend wirken.
Zitation
Domínguez, Daniel; Beaulieu, Anne; Estalella, Adolfo; Gómez, Edgar; Schnettler, Bernt & Read, Rosie (2007). Virtuelle Ethnografie. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(3), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703E19.