Volume 8, No. 3, Art. 23 – September 2007
Rezension:
Claudia Brunner
Manuela Boatca, Claudia Neudecker & Stefan Rinke (Hrsg.) (2006). Des Fremden Freund, des Fremden Feind: Fremdverstehen in interdisziplinärer Perspektive. Münster: Waxmann, 162 Seiten, ISBN 3-8309-1602-7, EUR 22,90
Zusammenfassung: Der Band umfasst die Beiträge einer multidisziplinären Zusammenschau zum Thema Fremdheit anlässlich eines eintägigen Workshops an der Katholischen Universität Eichstätt im Juli 2004. Sieben AutorInnen unternehmen den Versuch, "das Andere" nicht primär zu verstehen oder zu erklären, sondern die damit verbundenen Wege des Wissenwollens kritisch zu befragen: Um das SELBSTverständliche von angenommenen ANDERSartigkeiten und um so manche beFREMDliche EIGENheit verschiedener wissenschaftlicher Zugänge zum Thema Fremdheit kreisen die Beiträge zum "Fremdverstehen aus interdisziplinärer Perspektive". Ein ausführlicher Aufsatz der beiden Herausgeberinnen rundet die Sammlung theoretisch fundiert und auch politisch pointiert ab, zumal der Workshop wie die Publikation ein ambitioniertes Ziel verfolgen: Die Entwicklung eines internationalen und transkulturellen Wertehorizonts für gemeinsames politisches und soziales Handeln auf der Basis inter- bzw. multidisziplinärer Auseinandersetzungen – nicht nur mit den Objekt(ivierung)en, sondern gerade auch mit den Subjekt(ivierung)en von Forschung und mit den Forschenden.
Keywords: Fremdheit, Fremdverstehen, Othering, Freund/Feind, Selbst, Migration, AusländerInnendiskurs
Inhaltsverzeichnis
1. Selbst-Verständigungen über das Fremd-Verstehen
2. Multidisziplinärer Dialog über einen transdisziplinären Forschungsgegenstand
2.1 Gehirn und Selbst-Bewusstsein
2.2 Migration in deutschen Schulbüchern
2.3 Interkulturelles Geschichtslernen
2.4 Kinder als Fremdsprachenlernende
2.5 Volkskundliche Paradigmenverschiebungen
2.6 Vergebliche Praxis SchülerInnenaustausch
2.7 Fremdsein und fremd gemacht werden in englischer Utopie und Reiseliteratur
3. Fazit
1. Selbst-Verständigungen über das Fremd-Verstehen
Das Thema Fremdheit ist nicht nur in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern, sondern auch in Alltagsdiskursen sehr präsent und oft allzu selbstverständlich gezeichnet. Vorstellungen über Fremdheit/en sind gewissermaßen zu einem Allgemeingut geworden; die damit einhergehenden bzw. dadurch mit konstituierten "Eigen-heiten" dessen, was als selbstverständlich, hegemonial und normativ vorausgesetzt wird, jedoch nicht. Um eine solche Kritik zu entwickeln, muss zuvor eine (Selbst-) Verständigung darüber stattfinden, wie diese notwendigerweise vorausgesetzte Selbstreflexion beschaffen sein soll, kann und auch will. Dies gelingt vor allem Manuela BOATCA und Claudia NEUDECKER in ihrer umfassenden Einleitung "Eine interdisziplinäre Sicht auf Dimensionen der Fremdheit" (S.13-36), in der sie die Konturen einer möglichen interdisziplinären Sicht auf Dimensionen der Fremdheit skizzieren. Unter Fremdheit wird in diesem Buch zumeist Migration bzw. noch enger gefasst, Immigration nach Deutschland, verstanden. Dies wird in der Einleitung begründet, doch die einzelnen Beiträge theoretisieren kaum, was mit Fremdheit jeweils spezifisch gemeint ist. [1]
Wer Grenzen des Wissens, Sprechens und Handelns zu überschreiten antritt, muss der Selbstkritik fähig und willens sein, so die beiden Herausgeberinnen. Dazu bedarf es auch einer theoretischen Standfestigkeit innerhalb der Ambivalenzen rund um das Thema Fremdheit, das beständig zwischen Faszination und Feindbild, zwischen Bereicherung und Bedrohung changiert. Die Einleitung liefert diese theoretischen Rahmungen und stellt unmissverständlich fest, dass das Verhältnis zum Fremden ein für die Moderne typisches, weil in ihr konstitutiv angelegtes Problem darstellt. Mit der Etablierung universalistischer Standards und postulierter Vollintegration der Mitglieder ihrer (nationalstaatlich organisierten) Gesellschaft(en) verspricht die Moderne theoretisch ein Ende aller Exklusionen, während sie diese praktisch immer wieder produziert, so die Herausgeberinnen BOATCA und NEUDECKER. Die damit einhergehenden Normsetzungen sind somit zugleich für die Selbste identitätsstiftend und in Bezug auf die jeweiligen Anderen fremdheitsgenerierend. Vereindeutigungen und Polarisierungen legitimieren immer auch Strategien der Ausgrenzung und Vereinnahmung des Fremden zur Kontrolle von sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen Räumen. Zugleich bleibt das Verbindende unbenannt und muss immer wieder erst in mühsamer Detailarbeit und entgegen einem wirkmächtigen Mainstream zutage gefördert und diskursiv wirksam gemacht werden. Souverän ist in jedem Fall, wer die Definitionsmacht besitzt, nutzt und zur Anwendung bringt. [2]
BOATCA und NEUDECKER, die Autorinnen der Einleitung, stellen weiterhin fest, dass die Nation, deren westeuropäisch geprägtes Modell als Integrations- und Sinninstanz fungiert, dabei eine wesentliche Rolle spielt. In dieser Eigenschaft hat dieses Modell einen heiß umkämpften Prototyp hervorgebracht: "den Ausländer". Die Aufrechterhaltung der rationalen gesellschaftlichen Ordnung, so BOATCA und NEUDECKER, ist mit dessen1) Konturierung eng verzahnt, und es konstituiert sich beständig aufs Neue entlang vielfältig beschworener Barbarengrenzen, also Unterscheidungsweisen, was als zivilisiert und was als dessen Gegenteil gilt. Im Unterschied zu den einzelnen Beiträgen, die diese Dimension nicht immer im Blick haben, macht die Einleitung deutlich, dass die Herstellungsweisen von "Andersheiten" eine zentrale Eigenheit verbindet: die kolonialpolitische Expansion einer kapitalistischen Wirtschaftslogik, die "Durchsetzung des Homo oeconomicus [...] als kulturübergreifende Norm" (BOATCA & NEUDECKER, S.18) und die damit einhergehende "Pathologisierung aller, die Profitmaximierung des Systems hemmenden, anderen Subjektivitätsprofile" (a.a.O.). [3]
Vor diesem Hintergrund lesen sich die ansonsten etwas zu vereinzelt erscheinenden Beiträge wie Mosaiksteinchen in einem großen, von den einzelnen AutorInnen oft nicht übersehenen Gesamtbild, das die beiden Herausgeberinnen in ihrem Überblicksbeitrag jedoch überzeugend gezeichnet haben. [4]
2. Multidisziplinärer Dialog über einen transdisziplinären Forschungsgegenstand
"Was gilt als 'fremd' und warum wird es positiv oder negativ besetzt? Welche Parallelen gibt es zwischen den beiden Polen – folklorisierte Faszination versus befremdliche Bedrohlichkeit – im Umgang mit 'dem' Fremden? Was lässt sich daraus für das Idealbild einer Normalität des Fremden ableiten?" (BOATCA & NEUDECKER, S.30)
Das sind die Fragen, die die Publikation in einer ausführlichen Einleitung aufwirft, und die, gespeist aus Neuropsychologie, Pädagogik, Geschichts-, Literatur-, Kultur- und Ethnowissenschaften zu beantworten versucht werden. Dies gelingt mehr oder weniger fokussiert bzw. überzeugend in sieben sehr heterogenen Einzelbeiträgen, deren Aneinanderreihung keinen inhaltlichen oder method(olog)ischen roten Faden sichtbar werden lässt. [5]
2.1 Gehirn und Selbst-Bewusstsein
Werner WITTLING wirft in "Gehirn und Selbst-Bewusstsein. Zur Problematik von 'fremd' und 'eigen' aus neurowissenschaftlicher Sicht" (S.37-50) die Frage auf, welche Rolle das Gehirn bei der Generierung des Selbst spielt und welche Bedeutung diesem Selbst in der Konfrontation des Individuums mit der Außenwelt zukommt. Der leitende Gedanke provoziert vermutlich weite Teile der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften, denn die Neurowissenschaften stellen in der Tat in Frage, dass ein Ich, ein Selbst, ein Individuum sich seines Gehirns oder Verstandes intentional bedient. Kann es sein, dass auch dieses Selbst einer "Fremdsteuerung durch das Gehirn unterliegt, dessen Produkt es darstellt" (S.38)? Der Neuropsychologe führt eine Fallgeschichte aus der klinischen Praxis als Beispiel an, das klar macht, dass z.B. die Unterscheidung zwischen fremd und eigen bezogen auf den eigenen Körper beileibe nicht so selbstverständlich ist wie angenommen: Ein Patient nach einem Hirninfarkt behauptete etwa felsenfest, sein linker Arm gehöre nicht zu ihm, obwohl die Untersuchungen des Gehirns keinerlei Schädigung der dafür zuständigen Region im Gehirn zeigten. Dennoch, die neurowissenschaftliche Behauptung, dem Ich komme nur eine passive Rolle als Interpret von unbewusst ablaufenden Handlungen zu, fordert andere Disziplinen in der Tat zu Widerspruch heraus. [6]
2.2 Migration in deutschen Schulbüchern
Welche Inhalte SchülerInnen in Deutschland in verschiedenen Schulbüchern und Curricula vermittelt werden, ist Gegenstand des Beitrages "Toleranz ist nicht genug. Migration in deutschen Schulbüchern" (S.51-64) von Hanna SCHISSLER, mit dem in den Schwerpunkt Migration/Integration eingestiegen wird, der beinahe den gesamten Band durchzieht. Die anhaltenden Aufregungen um die Ergebnisse aktueller PISA-Studien und problematisch geführte Debatten zum Thema Integration und Migration lassen diesen Beitrag in sehr aktuellem Licht erscheinen. Die Autorin schickt voraus, dass Schulbücher zwar besser seien als ihr Ruf, doch sie lässt keinen Zweifel daran, dass an ihnen gerade zu diesem Thema die politischen und sozialen Werte einer Gesellschaft und ihre Konfliktlagen deutlich ablesbar sind. Migration erscheint dort im Kontext von Flucht und Vertreibung, Wanderungsbewegungen, Arbeitsmigration und Fremdenfeindlichkeit. Durchgängig wird mit der Annahme operiert, dass MigrantInnen ein Außen konstituieren, "die Anderen" sind und nicht wirklich als Teil der deutschen Gesellschaft verstanden werden. Daraus folgen vielfache Appelle an "Toleranz", doch dieser und andere Begriffe – wie etwa die Rede von den "ausländischen MitbürgerInnen", so die Autorin, "befördern lediglich ein geschöntes Verständnis komplexer und widerständiger Realitäten" (S.59), denn das Toleranzgebot setzt immer voraus, dass eine dominante Gruppe über die Definitionsmacht verfügt. Freundlich illustrierte Andersartigkeit ist dann vielleicht wohlmeinend, aber letztlich kontraproduktiv. Insgesamt überzeugt der Beitrag und ist schlüssig strukturiert, doch an manchen Stellen unbehaglich wirkt das "wir", das die Autorin durchwegs kommentarlos einsetzt und damit selbst unsichtbare Grenzen des Ein- und Ausschlusses reproduziert. [7]
2.3 Interkulturelles Geschichtslernen
Unter dem Titel " 'Fremdverstehen' – 'Empathieleistung' – 'Abenteuerfaszination'? Zu Chancen und Grenzen interkulturellen Geschichtslernens" (S.65-84) berichtet Bodo VON BORRIES aus der didaktischen Praxis im Schul- und im Universitätsunterricht, wo er die Empathiefähigkeit und -bereitschaft von SchülerInnen und Studierenden gewissermaßen auf die Probe stellte. Exemplarisch berichtet er von Arbeiten zum Thema Hexenverfolgung bzw. mit imaginiativen historischen Biografieentwürfen. Er spricht von "Graden der Fremdheit" (S.66), die im Geschichtsunterricht zu unterscheiden seien, zumal es gerade dort immer um Fremdverstehen gehe: Die vier Hauptdimensionen nach VON BORRIES werden als synchron-autokulturell, synchron-heterokulturell, diachron-autokulturell und diachron-heterokulturell bezeichnet, wobei das Diachron-Heterokulturelle, also das, was sowohl zeitlich als auch räumlich weit entfernt ist, den "höchsten Grad von Unvertrautheit" (S.66) aufweist. Leider fallen Theorie und Empirie in diesem Beitrag recht weit auseinander und es bleibt offen, was nun eigentlich die zentrale These des Autors war/ist. Was eindrücklich bleibt, sind anregende didaktische Methoden wie etwa das Verfassen von selbst geschriebenen Geschichten zur Geschichte der Hexenverfolgung oder das Imaginieren von historischen Biografieentwürfen durch Studierende, die sich gegebenenfalls auch in andere Lehr- und Lernsettings übertragen lassen. [8]
2.4 Kinder als Fremdsprachenlernende
Einen kurzen Praxisbericht über ein empirisches Forschungsprojekt gibt Elzbieta CHROMIEC in ihrem Beitrag "Das Kind und das Fremde" (S.85-99). Sie untersuchte über ein ganzes Schuljahr hinweg mehrere Gruppen von SchülerInnen erster Klassen, wovon eine Hälfte (Experimentalgruppe) in Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wurde, die andere (Kontrollgruppe) lediglich die begleitenden Untersuchungsmaßnahmen durchlief. Einerseits wurde untersucht, wie das von CHROMIEC konzipierte, aber im Text leider nicht gut nachvollziehbare Konzept des interkulturellen Fremdsprachenlernens sich in der Praxis bewährt, andererseits wurden die SchülerInnen beider Gruppen mit fremden Gästen konfrontiert, wobei ihr Verhalten in teilnehmender Beobachtung protokolliert wurde. Fragen nach Strategien von Kindern im interkulturellen Kontakt, deren evtl. Zusammenhang mit frühem Fremdsprachenunterricht und der Versuch einer Prognostik über kindliche Einstellungen (S.87) stellen das Hauptinteresse der Autorin dar. Das vorläufige Ergebnis stellt CHROMIEC in einem theoretischen Modell (S.96) vor, das Empfindungen, Emotionen und Einstellungen erfasst und auf den drei Stufen Ambivalenz, Polarisation und Kohärenz einordnet. Etwas zu schnell ist der Übergang zwischen Werkstattbericht und angedeuteten, aber nicht wirklich ausformulierten Ergebnissen, was den Beitrag etwas zusammengeflickt wirken lässt, was auch das im grafischen Modell skizzierte Zwischenergebnis nicht gänzlich auszuräumen vermag. Es scheint, dass es sich dabei um eine Art "work in progress" handelt, denn außer der Benennung gewünschter Verbesserungen und dem Andeuten des möglichen Potenzials eines weiter entwickelten theoretischen Modells bleibt am Ende nicht viel, das sich theoretisch auf den Punkt bringen, politisch zuspitzen oder forschungspraktisch umsetzen ließe. [9]
2.5 Volkskundliche Paradigmenverschiebungen
Mit einem kleinen Reisebericht durch die mittlerweile teilglobalisierte kulinarische Landschaft Bayerns und die daraus resultierenden Verfremdungseffekte auf BewohnerInnen und BesucherInnen steigt Angela TREIBER in " 'Der Zone der Vertrautheit fremd werden': Zum Wandel volkskundlich-ethnowissenschaftlicher Arbeitsstrategien und Erkenntnisziele" (S.101-117) ein. Damit wird exemplarisch veranschaulicht, dass etwa eine Typisierung "Bayrische Lebensart" Bestand einer massenmedial vermittelten symbolischen Ordnung ist, die Bewertungen von Eigenem und Fremdem naturalisiert. An solchen und ähnlichen Forschungsgegenständen entlang haben sich die (wissenschaftliche) Volkskunde als Disziplin und die (populär-praktische) Heimatkunde als ihr Begleitprogramm etabliert; als "Wissenschaft des Eigenen und Inneren, des Nationalen und Regionalen gegen das Äußere und Fremde" (S.103). Gewissermaßen als ihr Pendant hat die einstige Völkerkunde hingegen den Blick in die exotische, fremde Ferne gerichtet. Beide, so TREIBER, waren aber lediglich verschiedene Formen, mit dem Fremden in der eigenen Gesellschaft fertig zu werden. Was beide miteinander verbunden hat, ist eine intensive Method(ologi)endebatte in der Abwägung der jeweils zielführenden und adäquaten Zugänge zum und zu Fremden, als deren Hauptcharakteristikum die Autorin etwa die Methode der teilnehmenden Beobachtung nennt. Als "Schrittmacher von Weltbildern, die zu Kulturalismus und Ethnizismus beitrugen" (S.110), gehören die kultur- und ethnowissenschaftlichen Disziplinen seit ihren Anfängen zum Instrumentarium der nationalstaatlich geordneten europäischen Moderne und des Kolonialismus. Darüber hinaus durchziehen die in ihnen geprägten Begriffe und Vorstellungen über das Eigene und das Fremde auch alltägliches Wissen bis heute und generieren ihre Effizienz immer wieder durch die Verlockung der drastischen Reduktion von Komplexität. Theoretisch fundiert und plausibel argumentierend macht TREIBER klar, wie ein "Fremdwerden im selbstreflexiven Erkenntnisprozess" (S.113) nicht nur die Entwicklung der von ihr diskutierten wissenschaftlichen Disziplin grundlegend transformiert hat, sondern vor allem auch, wie unabdingbar ein solcher Prozess in jedem und jeder einzelnen ist, der oder die nicht auf die Abkürzung über den Weg der bereits zitierten Toleranz des Anderen vertraut, sondern sich tatsächlich auf die Suche nach dem Eigenen als für das Andere Konstitutives machen will. [10]
2.6 Vergebliche Praxis SchülerInnenaustausch
"Wenn Regierungen Schüler austauschen ... 'just business as usual'? 20 Jahre Congress-Bundestag Youth Exchange Programm/Parlamentarisches Patenschaftsprogramm" von Christine STROBL (S.119-136) ist wiederum ein Bericht aus der Praxis ohne breite theoretische Verortung. Doch es wird gezeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit kulturelle Austauschprogramme von Jugendlichen – hier am Beispiel zwischen den USA und der BRD – davon ausgehen, dass allein das Leben in einem anderen Land gleichsam automatisch zur politisch gewünschten "Völkerverständigung" führe. Einer Fülle von Erfahrungsberichten und Protokollen steht eine markante Leerstelle in der wissenschaftlichen Evaluation des geschilderten Programms gegenüber, und die Autorin stellt verwundert die Frage, warum im Vergleich zu diesem großzügig budgetierten Programm kaum ähnliche Kooperationen etwa mit anderen europäischen Staaten existieren. Daraus wird plausibel geschlossen, dass das skizzierte Programm z.B. dem Anspruch des Workshops nur punktuell genügen würde. Was angesichts einer solchen Beurteilung allerdings als fehlend erscheint, ist eine Auflistung existierender Partnerschaften und etwaiger anderer Konzepte außerhalb der beschriebenen transatlantischen Kooperation. Zudem erscheint im Kontext gerade dieses Sammelbandes zu diskutieren, warum ähnliche Projekte nur mit anderen europäischen Staaten und nicht etwa mit afrikanischen, asiatischen oder arabischen wünschenswert wären. Denn wenn der von der Autorin eingeforderte Dialog der Kulturen eine binneneuropäische Angelegenheit bleibt, bleibt auch der Horizont der aufgeworfenen Problematik von Fremdheit und Feindlichkeiten, von Selbstverständlichkeiten und Eigenheiten ein eigentümlich eng gezogener. [11]
2.7 Fremdsein und fremd gemacht werden in englischer Utopie und Reiseliteratur
Den Abschluss der Sammlung bildet Richard NATES " 'Brave New Worlds': Zur Wahrnehmung des Fremden in der englischen Utopie und Reiseliteratur" (S.139-160), in dem er gleich eingangs feststellt, dass auch das fremdeste Fremde niemals ohne Rekurs auf das Eigene dargestellt werden kann – und das nicht erst in gegenwärtigen Debatten. Bereits die von den EuropäerInnen in der frühen Neuzeit "neu entdeckten" fremden Kulturen wurden in literarischen Werken entlang der Grenze von Selbst und Anderem, von Eigenem und Fremdem beschrieben. Doch die Erfahrung des Fremden bekräftigte damals wie heute nicht nur bereits bestehende Vorurteile gegenüber dem Anderen, sondern eröffnet auch die Möglichkeit zu einer Kulturkritik des Eigenen. NATES skizziert die Phasen der historischen Entwicklung in englischer Utopie und Reiseliteratur entlang von drei prinzipiellen Formen der Auseinandersetzung mit dem Fremden: als Strategien der Assimilation, der Kulturkritik oder aber der Ausgrenzung. Theorie und Textbeispiele sind leserInnenfreundlich ineinander verwoben, und nach vielen aktuellen und forschungspraktisch auf die Gegenwart ausgerichteten Beispielen macht die Konfrontation mit historischen Quellen am Ende des Bandes klar, welche langlebigen Kontinuitäten die durchaus brüchigen Eigenheiten der Herstellungsweisen von Fremdheiten bis heute begleiten. [12]
"Eigene Sichtweisen 'in Unordnung' bringen" (BOATCA & NEUDECKER 2006, S.33) wollte der Workshop und will die Publikation, was – wie bei Tagungsbänden üblich – mehr oder weniger überzeugend und mehr oder weniger kohärent gelingt. Was bei einer lebendigen Diskussion in einem Workshop und in den sich daraus entwickelnden Kommunikationsformen geschieht, findet leider kaum Eingang in publizierte wissenschaftliche Formate. Gerade das jedoch sorgt bei Tagungsbänden immer wieder für zumindest von mir als bedauerlich empfundene Leerstellen. Die übliche Aneinanderreihung von formal und inhaltlich oft sehr heterogenen verschriftlichten Redebeiträgen ist nämlich oft weder imstande, die tatsächlich erfolgte Komplexität der realen Veranstaltung wiederzugeben, noch entspricht sie dem Format und der Qualität einer vielfach redigierten und lektorierten Monografie oder einer referierten Zeitschrift zu einem Themenschwerpunkt. Insofern kann von der Lektüre eines ganzen Tagungsbandes selten ein kohärenter Gesamteindruck verbleiben; vielmehr sind es einzelne Gedanken, Formulierungen oder Verweise, die zum Weiterdenken anregen oder einen auch interpersonellen und damit auch in der Praxis tatsächlich interdisziplinären Diskussionsprozess einleiten können. Die Lektüre verschiedener Beiträge aus verschiedenen Disziplinen allein macht noch keine Interdisziplinarität, sondern stellt eine multidisziplinäre Vielfalt zur Schau, innerhalb der es erste Schritte in Richtung interdisziplinärer Praxis zu setzen gilt. Erst dann scheint langfristig auch eine transdisziplinäre Theoretisierung von Phänomenen möglich, die in sich notwendigerweise komplex sind. [13]
Dies liegt nun aber tatsächlich in der "Natur" des Formats und der historischen Entwicklung wissenschaftlicher Praktiken im Allgemeinen und nicht unbedingt in dessen spezifischer hier diskutierter Ausgestaltung. Die Herausgeberinnen (die beiden Frauen verfassten den Einleitungstext; der dritte im Bunde, Stefan RINKE, erscheint im Band nicht mehr) jedoch bieten in ihrem ausführlichen und inspirierenden Beitrag viel mehr als nur eine Zusammenfassung der Beiträge des Workshops. Der vorangestellte Artikel füllt sozusagen die am Ende der Lektüre aller Beiträge gefühlte Leerstelle – zumindest so weit, dass jenseits des "multi" ein "inter" denkbar wird. [14]
Um gewissermaßen zwischen den Disziplinen oder quer über sie hinweg weiterdenken zu können, wäre gewiss auch eine vertiefte Diskussion der jeweiligen methodologischen und epistemologischen Prämissen spannend gewesen; oder auch – eine Verständigung über deren Grundlagen vorausgesetzt – eine ganz forschungspragmatische Diskussion der jeweils angewendeten Methoden. Die Ergebnisse des Workshops lassen nicht vermuten, dass ähnliche Debatten strukturiert und innerhalb des Veranstaltungssettings stattgefunden haben. Das überrascht nicht wirklich, ist es doch oft schon innerhalb einer einzigen Disziplin eine Herausforderung, die Grundlagen, Mittel und Wege des eigenen Tuns und Lassens explizit zu machen und damit immer auch potenziell in Frage stellen zu lassen. Gerade in der Unterschiedlichkeit der disziplinären Verortung der AutorInnen und damit auch ein Stück weit jenseits intradisziplinärer Konfrontationslinien und Schulenstreits hätte m.E. aber auch eine Chance gelegen, Prozessuales offen zu diskutieren, methodische Ungereimtheiten gegeneinander abzuwägen bzw. sich Anregungen aus anderen Arbeits- und Begründungsweisen zu holen – oder aber, wie dies in multidisziplinären Settings der Fall sein kann, überhaupt erst einmal die eigenen method(olog)ischen Selbstverständlichkeiten explizit zu machen, um den "anders Disziplinierten" zunächst die Gelegenheit zu geben, ganz nahe am eigenen Forschungsgegenstand mitzudenken. Im Band selbst wird jedenfalls nicht sichtbar, inwiefern VeranstalterInnen und/oder HerausgeberInnen überhaupt zu einer Debatte über Methoden und Methodologien aufgefordert haben. Diese Chance scheint nicht in hohem Maße genutzt worden zu sein; oder in den nicht publizierten Zwischenräumen stattgefunden zu haben. Diesbezüglich ist wissenschaftliches Arbeiten wohl noch in vielen Feldern innerhalb seiner eigenen Begrenzungen und Befindlichkeiten im Denken von EIGENEM und FREMDEM befangen und vielleicht auch mit so manchen professionellen FREUND- und FEINDschaften beschäftigt. Doch auch dies gilt gewiss nicht nur für diese kleine Auswahl an Beiträgen, die sich immerhin einer multidisziplinären Konfrontation stellen. [15]
Für allgemein von Thema und Titel angesprochene LeserInnen wird es vermutlich der erste Teil sein, der am meisten anspricht und weiterführt; für speziell an einzelnen Fachbereichen Interessierte findet sich aber bestimmt der eine oder andere Beitrag, der über einen Blick in das Buch auch den von ihm angestrebten fortgesetzten Blick "über den Tellerrand" und "von außerhalb des Tellerrandes in den eigenen Teller hinein" (BOATCA & NEUDECKER, S.33) schärft, erweitert und sensibilisiert. Denn es kann durchaus Sinn machen, (sich) zu fragen, warum die USA eine Tomatensuppe sein sollen, wie man mit zwei durchtrennten Hirnhälften leben kann, warum keiner eingreift, wenn Martha Feuer fängt, was die bayrische Dreieinigkeit von Kirche, Maibaum und Wirtshaus ist oder warum Indianerhäuptlinge vor 250 Jahren keine Freunde des SchülerInnenaustauschs waren. [16]
1) Die beiden Autorinnen integrieren einen ganzen Abschnitt zum "Ur-Prinzip Vergeschlechtlichung" (BOATCA & NEUDECKER 2006, S.19-22) in die Einleitung und weisen dabei auf die "Institutionalisierung der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre als Merkmal der spezifischen modernen Form sozialer Organisation" (S.19) hin, die auch für die Dichotomisierung von Eigenem und Fremden zentral sei. Dennoch bleiben sie sprachlich – wie auch die meisten anderen AutorInnen – durchwegs dem androzentrischen maskulinen Singular treu. Angesichts der theoretischen Einbettung von "Othering" auch in einen geschlechtertheoretischen bzw. intersektionalen Kontext wirkt dieser Weg etwas unentschlossen. <zurück>
Claudia BRUNNER ist Politikwissenschaftlerin (Mag. phil., Universität Wien 2003) und DFG-Stipendiatin im Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie" an der HU Berlin sowie Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und im Studiengang Gender Studies der HU Berlin.
Forschungsschwerpunkte: Politische Gewalt/Terrorismus, Internationale Beziehungen, Gender Studies/Feministische Theorie, Wissenssoziologische Diskursforschung.
Im Kontext der Rezension relevante Publikationen:
Brunner, Claudia & Krieger, Helmut (2007/im Druck). Der Ort des Anderen in Europas Mitte. Zur okzidentalistischen Repositionierung des Orientalismusdispositivs am Beispiel englischsprachiger medialer Diskursfragmente über die Selbstmordanschläge von London im Juli 2005. In Wolfgang Sützl & Doris Wallnöfer (Hrsg.), Gewalt und Präzision. Wien: Turia & Kant.
Brunner, Claudia (2007/im Druck). Occidentalism meets the female suicide bomber. A critical reflection on recent rerrorism debates. Review Essay. SIGNS. Journal of Women in Culture and Society, 32(4).
Kontakt:
Claudia Brunner
Graduiertenkolleg "Geschlecht als Wissenskategorie"
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien
Humboldt Universität zu Berlin
E-Mail: claudia.brunner@univie.ac.at
URL: http://politikwissenschaft.univie.ac.at/index.php?id=10596, http://www2.hu-berlin.de/gkgeschlecht/stip.php#Claudia
Brunner, Claudia (2007). Rezension zu: Manuela Boatca, Claudia Neudecker & Stefan Rinke (Hrsg.) (2006). Des Fremden Freund, des Fremden Feind: Fremdverstehen in interdisziplinärer Perspektive [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 23, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703238.