Volume 21, No. 3, Art. 15 – September 2020
Indoktrinierung als Handlungsvollzug. Eine sequenzanalytische Rekonstruktion der SED-Linientreue von DDR-GeheimdienstmitarbeiterInnen
Uwe Krähnke
Zusammenfassung: Die hauptamtlichen MitarbeiterInnen des DDR-Geheimdienstes, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), gelten als politisch-ideologische ÜberzeugungstäterInnen des SED-Regimes. Dass diese Personengruppe sehr stark indoktriniert und der Staatspartei treu ergeben war, wird in der Forschungsliteratur zwar immer wieder behauptet, aber es mangelt an überzeugenden empirischen Belegen, detaillierten Beschreibungen und theoretischen Erklärungen. Mit dem vorliegenden Aufsatz soll ausgelotet werden, inwiefern diese Forschungslücke der Stasi-TäterInnenforschung mittels einer interpretativ-rekonstruktiven Sequenzanalyse geschlossen werden kann. Gezeigt wird an einem Fallbeispiel erstens, dass in den politischen Schulungsveranstaltungen jede Abweichung von der SED-Parteilinie registriert, negativ konnotiert und sanktioniert wurde. Mittels Kontroll- und Disziplinierungstechniken wurden die MfS-MitarbeiterInnen dazu gedrängt, sich der im Geheimdienst geltenden politisch-ideologisch geltenden Gesinnungsordnung willentlich zu unterwerfen. Neben dem Aspekt der fremdgeführten Selbstdisziplinierung innerhalb des MfS geht es in dem Aufsatz zweitens um die Verlässlichkeit autobiografischer Äußerungen von ZeitzeugInnen. Inwiefern sind deren Antworten in qualitativen Interviews aussagekräftig und was genau lässt sich mittels sequenzanalytischer Interpretationsverfahren herausfinden?
Keywords: Indoktrinierung; Staatssozialismus; Stasi; Sequenzanalyse; rekonstruktive Sozialforschung; Biografieforschung; ZeitzeugInnen; TäterInnenforschung
Inhaltsverzeichnis
2. Datenmaterial und methodisches Vorgehen
3. SED-Parteiveranstaltungen als regelmäßige politische Schulung mit Anwesenheitspflicht
4. Der eingeengte Blick und die gelenkte Meinungsäußerung bei der Zeitungsschau
4.1 Exklusive Zeitungsauswahl
4.2 Formale Textmarkierung
4.3 Inhaltliches Repetieren
5. Disziplinierung von AbweichlerInnen
5.1 Moralische Diskreditierung
5.2 Unterredung mit dem Parteisekretär
5.3 Selbststudium der "Klassiker"
5.4 Stellungnahme vor der Parteigruppe
6. Die Robustheit der SED-Indoktrinierung im MfS
7. Poetisch-stilistische, diskursive und habituelle Präfigurierungen der Autobiografien von historischen ZeitzeugInnen
1. Problemaufriss
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bildete mit seinen geheimdienstlich-geheimpolizeilichen und weiteren administrativ-exekutiven Aufgabenbereichen eine zentrale Säule des repressiven Herrschaftssystems der DDR. 1989 waren hier ca. 78.000 hauptamtliche MitarbeiterInnen tätig. Fast jede/r von ihnen war Mitglied der staatstragenden Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) (KRÄHNKE, FINSTER, REIMANN & ZSCHIRPE 2017; SCHUMANN 2002). Unter den insgesamt ca. 2 Millionen SED-GenossInnen in der DDR beanspruchten sie sogar eine herausgehobene Position. Sie verstanden sich – so die Selbststilisierung – als "Genossen erster Kategorie"1) (vgl. auch GIESEKE 1999; KRÄHNKE et al. 2017) und propagierten das Selbstbild, ihre Institution agiere als "Schild und Schwert der Partei" (GIESEKE & HUBERT 2000).2) Kurzum: Die MfS-MitarbeiterInnen schützten jene Partei, der sie selbst angehörten. Sie waren par excellence politisch-ideologische "Täter mit gutem Gewissen" (FRITZE 1998) des staatssozialistischen DDR-Regimes. [1]
Die enge Verzahnung zwischen der SED und dem MfS war Gegenstand einiger Studien von HistorikerInnen zum DDR-Geheimdienst (insbesondere SCHUMANN 2002; SÜß 1997). In diesen Studien, die sich hauptsächlich auf die in der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) archivierten MfS-internen Dokumente stützten, wurde durchgängig der politisch-ideologische und moralische Erziehungsauftrag der SED betont. Jedoch lassen sich in ihnen keine detaillierten Hinweise auf die praktische Umsetzung dieses Erziehungsauftrages innerhalb des MfS finden, ebenso wenig auf die tatsächlichen Indoktrinierungswirkungen bei den MitarbeiterInnen. [2]
Dieser bislang kaum untersuchte Aspekt steht im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes. Hierbei werden zwei miteinander verzahnte Zielstellungen verfolgt. Erstens soll der Modus Operandi der politisch-ideologischen Indoktrinierung von Stasi-MitarbeiterInnen rekonstruiert werden. Wie wurde die SED-Linientreue innerhalb des DDR-Geheimdienstes praktisch hergestellt? Diese Frage wird in den Abschnitten 2 bis 6 behandelt. Zweitens wird im abschließenden Abschnitt 7 einer methodologischen Problemstellung nachgegangen: Lässt sich überhaupt noch die damalige politisch-ideologische Gesinnung der MfS-Angehörigen empirisch nachweisen, wenn es jene Personengruppe heute gar nicht mehr gibt? Inwiefern sind deren biografische Selbstäußerungen in qualitativen Interviews aussagekräftig, und was genau lässt sich mittels Interpretationsverfahren herausfinden? Diese Fragen berühren ein in der historischen Sozialforschung immer wieder aufgeworfenes Problem: die Validität von Aussagen von ZeitzeugInnen totalitärer Regime, die früher selbst als "TäterInnen" in die repressiven Herrschaftspraktiken verstrickt waren. [3]
2. Datenmaterial und methodisches Vorgehen
Der vorliegende Aufsatz basiert auf einer empirischen Studie, in der ehemalige MfS-MitarbeiterInnen befragt wurden.3) Im Rahmen des Projekts wurden 72 lebensgeschichtlich-narrative Interviews (SCHÜTZE 1983) durchgeführt, die jeweils ca. 90 Minuten dauerten. Insgesamt wurden ca. 700 ehemalige MfS-MitarbeiterInnen angeschrieben, um die Bereitschaft für eine Interviewteilnahme einzuholen. Die Anzahl der positiven Rückmeldungen war ausreichend, sodass sich die im Projektantrag ursprünglich angestrebte Fallzahl von 60 Interviewten problemlos realisieren ließ. Die Auswahl der konkreten InterviewpartnerInnen erfolgte nach dem Prinzip des Theoretical Sampling (GLASER & STRAUSS 1970) mittels fortlaufender minimaler und maximaler Fallkontrastierung. D.h., die zu Interviewenden wurden sukzessive anhand der in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BSTU) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik einsehbaren Kaderakten gezielt ausgewählt. Als zielführende Auswahlkriterien für das Theoretical Sampling erwiesen sich vor allem die MfS-Dienststellenzugehörigkeit, der Karriereverlauf, der Dienstgrad und Aufgabenbereich, die Kohortenzugehörigkeit, das Geschlecht und die Dienstdauer. [4]
Bei der Auswertung des erhobenen Datenmaterials kamen mehrere sequenzanalytische Interpretationsschritte – im Sinne einer Methodenkombination – zum Einsatz. Es handelte sich um die formale Textanalyse, wie sie im Rahmen der Narrationsanalyse nach Fritz SCHÜTZE (1983) praktiziert wird, das gedankenexperimentelle Aufstellen von Lesarten im Sinne der objektiven Hermeneutik nach Ulrich OEVERMANN, Tilman ALLERT, Elisabeth KONAU und Jürgen KRAMBECK (1979) sowie den von Ralf BOHNSACK (2008) für die dokumentarische Methode entwickelten Zweierschritt formulierende und reflektierende Interpretation. Auch wenn die drei genannten Analyseschritte aus verschiedenen methodischen Ansätzen stammen, sprechen für ihre Kombination zwei Aspekte. Zum einen wird jeweils ein methodisch kontrollierter und grundlagentheoretisch unterfütterter Umgang mit dem "Problem des Fremdverstehens" (SCHÜTZ 1974 [1932], S.106ff.; siehe auch HIRSCHAUER & AMANN 1997) angestrebt. Anders als etwa bei der qualitativen Inhaltsanalyse hegen die VertreterInnen der drei genannten interpretativ-rekonstruktiven Verfahren eine grundsätzliche Skepsis, dass sich Äußerungen von Befragten ohne weiteres sinnadäquat paraphrasieren oder kategorisieren lassen. Die Sinnwelten und Eigenlogiken der jeweiligen Untersuchungsfelder seien den Forschenden zunächst verschlossen – so das Argument –, und erst im Zuge eines aufwendigen sequenziellen Analyseverfahrens ließen sich die im empirischen Datenmaterial eingelagerten indexikalischen Bedeutungen, die sprachlichen Codes, Ausdrucksgestalten, Relevanzsetzungen, Wirklichkeitskonstruktionen, sozialen Praktiken sowie die situativen Einflüsse des Interviews methodisiert entschlüsseln.4) [5]
Das methodisch kontrollierte Fremdverstehen mittels Sequenzanalyse stellt einen gemeinsamen Nenner der Narrationsanalyse, der objektiven Hermeneutik und der dokumentarischen Methode dar. Der zweite Aspekt, der für die Möglichkeit einer Methodenkombination spricht, ist, dass sich die drei Verfahren im Hinblick auf die Analyseausrichtung wechselseitig produktiv ergänzen. So liegt die Stärke der Narrationsanalyse darin, die biografierelevanten Prozessstrukturen (individuelle Lebensführung sowie die biografische Gesamtgestalt) zu rekonstruieren (Wie gestalten oder erleiden Subjekte ihren Lebensverlauf bzw. die darin eingelagerten Interaktionsprozesse?; SCHÜTZE 1983, 1995). Dagegen lässt sich mit der objektiven Hermeneutik tiefenscharf die jeweilige invariante Fallstruktur einer Lebenspraxis herausarbeiten (Welche latenten Sinnstrukturen manifestieren sich in protokollierten Handlungen und Äußerungen eines untersuchten Falles?; OEVERMANN et al. 1979). Schließlich ist die dokumentarische Methode auf die Analyse von sozial geprägten kollektiven Alltagsorientierungen, Habitus und Praktiken spezialisiert (Welche gewohnheitsmäßigen, konjunktiven Erfahrungsräume, Wissensbestände und Orientierungen liegen dem Handeln einer Gruppe, einer Organisation oder eines Milieus zugrunde?; BOHNSACK 2008). Begreift man das Set qualitativer Verfahren als "Werkzeug-Kasten" einer multiperspektivisch ausgerichteten Sozialforschung (KLEEMANN, KRÄHNKE & MATUSCHEK 2009, S.209ff.), erscheint es angebracht, sich bei der Methodenwahl nicht aus Gewohnheit oder forschungspragmatischem Kalkül auf ein einziges Verfahren festzulegen. Heuristisch zielführender ist es stattdessen, jene Verfahren systematisch auszuwählen und kontrolliert einzusetzen, die zum untersuchten empirischen Phänomen und zu den Forschungsfragen tatsächlich passen. Der "Methodenzwang" muss vom Untersuchungsgegenstand ausgehen und nicht umgekehrt (STRÜBING, HIRSCHAUER, AYAß, KRÄHNKE & SCHEFFER 2018, S.87). [6]
3. SED-Parteiveranstaltungen als regelmäßige politische Schulung mit Anwesenheitspflicht
Wurde in den Interviews mit den hauptamtlichen MfS-MitarbeiterInnen im Rahmen des oben genannten DFG-Projekts offen danach gefragt, welche konkreten Erfahrungen mit der SED gemacht worden waren, ähnelten sich die Schilderungen. Die Rede ist von Pflichtveranstaltungen mit Schulungscharakter. Bei diesen Pflichtveranstaltungen, in denen die MfS-Angehörigen unter sich waren5), handelte es sich um politische Bildungsveranstaltungen sowie um Mitgliederversammlungen der Parteigruppe und der übergeordneten Abteilungsparteiorganisation (APO)6). Laut den Interviewauskünften waren die Parteiveranstaltungen mit keinen positiven Erinnerungen verbunden. Der Tenor der Beschreibungen war: "gähnend langweilig"; "belastend"; "es war eigentlich Scheiß"; "da traute sich keiner, was zu sagen"; "das war immer so ein An-Haaren-Herbei-Geziehe"7). Die durchgängig negativen Einschätzungen sind erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie von den früheren "Genossen erster Kategorie" stammen. [7]
Wie solche SED-Schulungsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen konkret abliefen, soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden. Hierzu werden zwei Passagen aus dem Interview mit dem MfS-Angehörigen Herrn Hasel herangezogen.8) Um diese Interviewpassagen besser zu verstehen, sei darauf hingewiesen, dass sein Weg zum MfS untypisch verlief. Denn der 1950 Geborene wurde erst relativ spät, mit 30 Jahren, hauptamtlicher MfS-Geheimdienstmitarbeiter, nachdem er zuvor jahrelang als inoffizieller Mitarbeiter (IM) dem Ministerium Informationen über sein berufliches Umfeld in der Gastronomie geliefert hatte. Seine Dienstzeit betrug insgesamt lediglich neun Jahre (1980 bis zur Auflösung des MfS 1989/90). Herr Hasel war in dem Interview immer wieder darauf bedacht, sich von den älteren GeheimdienstkollegInnen, die – wie er meinte – "von der Pike dabei waren", abzugrenzen. Einem Großteil von ihnen attestierte er, sie hätten "das echte Leben nicht mehr gesehen [und stattdessen] [...] nur das Theoretische gehört, das, wie es sein muss". Im Gegensatz zu ihm selbst seien diese nicht in der Lage gewesen, eine kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Realität in der DDR vorzunehmen. Diese Distinktionsbemühungen gilt es bei der folgenden Analyse von Herrn Hasels Interviewpassagen mit zu berücksichtigen. [8]
In der ersten Passage verwies Herr Hasel auf die gemeinsame Zeitungsschau – ein Veranstaltungsformat, das im Rahmen der oben erwähnten, von der SED betriebenen politischen Schulung innerhalb des MfS regelmäßig praktiziert wurde:
"Du hattest das 'Neue Deutschland', das 'Freie Wort'. Und wenn ich grad eben noch überlege, Hauptsache du hattest alles schön bunt unterstrichen gehabt [...]. Drei- möglichst noch Vier-Farbensystem, dass sie gesehen haben, du hast dich damit befasst. Ich sag mal, da hättest du können auch wahllos [...] einfach was unterstreichen. Und dann wurde das wiedergekäut, das, was jeder lesen kann. Selber und zwischen den Zeilen lesen und deine eigenen Gedanken dazu wiedergeben, das war auch nicht immer so erwünscht." [9]
Geradezu szenisch wurde in dieser Interviewäußerung eine Handlungskette dargestellt. Aufgrund der szenischen Schilderung ist es angebracht, die einzelnen Handlungssequenzen im Sinne der oben beschriebenen Methodenkombination genauer unter die Lupe zu nehmen. Analysiert werden soll somit, welche sozialen Praktiken in der Schilderung der Zeitungsschau dokumentiert sind und ob sich ein latenter Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Handlungssequenzen, eine "innere Logik der Prozesskette", rekonstruieren lässt. Weiterhin interessiert die "performative Selbstpositionierung" (DEPPERMANN 2013, §50) von Herrn Hasel. Inwiefern unterschied sich der Quereinsteiger tatsächlich von seinen älteren GeheimdienstkollegInnen? [10]
4. Der eingeengte Blick und die gelenkte Meinungsäußerung bei der Zeitungsschau
In der von Herrn Hasel thematisierten Zeitungsschau kommen drei Handlungszüge zum Tragen: exklusive Zeitungsauswahl, formale Textmarkierung und inhaltliches Repetieren. [11]
Für die gemeinsame Zeitungsschau wurden von den MfS-GenossInnen ausschließlich Presseerzeugnisse ihrer Partei verwendet: das Zentralorgan Neues Deutschland sowie die von der SED-Bezirksleitung herausgegebene Regionalzeitung Freies Wort. Mit dieser exklusiven Zeitungsauswahl waren Themensetzung und Deutungsrahmen der gemeinsamen Besprechung klar vorgegeben, beziehungsweise – treffender formuliert – auf die SED-Berichterstattung eingeengt. Denn Alternativen jenseits der offiziellen Parteidarstellung blieben außen vor, konnten somit nicht auf die Themenagenda der politischen Schulungsveranstaltung gelangen. Die von Herrn Hasel gewählte Formulierung "Du hattest [...]" suggeriert eine Zwangsläufigkeit, so als hätten er und die Teilnehmenden keinerlei Einfluss auf die Zeitungsauswahl gehabt. Aber genau genommen kam die auf die SED-Zeitungen eingeengte Auswahl nur zustande, weil niemand von sich aus alternative Zeitungen mit in die Veranstaltung nahm oder dies einforderte.9) Das unkritische Hinnehmen bzw. das Erdulden der vorgesetzten SED-Zeitungen kann als eine Handlung (nach WEBER 1972 [1922]; SCHÜTZE 1983, 1995) angesehen werden. Demnach haben die Anwesenden die Fokussierung auf die SED-Berichterstattung passiv mitgetragen und somit auch praktisch vollzogen. In diesem Sinne lässt sich die exklusive Zeitungsauswahl als ein typischer Handlungsvollzug der Indoktrinierung im MfS charakterisieren. [12]
Der oben zitierten Interviewpassage von Herrn Hasel kann weiterhin entnommen werden, dass sich die MfS-MitarbeiterInnen auf die Zeitungsschau vorzubereiten hatten. Erwartet wurden farbige, möglichst systematisch vorgenommene Unterstreichungen in den beiden genannten Zeitungen. Von wem diese Textmarkierungen registriert ("gesehen") wurden, führte Herr Hasel nicht aus. Es könnten anwesende Mitglieder der Parteileitung gewesen sein, aber ebenso Dienstvorgesetzte oder die von ihm beargwöhnten älteren GeheimdienstkollegInnen. Auch wenn die konkreten Personen ungenannt bleiben, ist mit der Proposition "dass sie gesehen haben, du hast dich damit befasst" eine Kontrollfunktion dieses Handlungsvollzugs indiziert. Bemerkenswert ist die sich direkt anschließende persönliche Einschätzung von Herrn Hasel: "Ich sag mal, da hättest du können auch wahllos [...] einfach was unterstreichen." Scheinbar wird mit dieser ironischen Kommentierung die von ihm zuvor eingeführte Kontrollfunktion wiederum ad absurdum geführt. Da nicht näher ausgeführt ist, was genau mit dem zweiten Handlungsvollzug kontrolliert ("registriert") wurde, öffnet sich für die Interpretation ein Deutungsraum. Naheliegend ist die Assoziation mit der im Kontext von Wissensaneignung (etwa Schule) erlernten Technik, durch Farbmarkierungen einen Text inhaltlich zu strukturieren und damit das Gelesene überschaubarer und (be)greifbarer machen. [13]
Wie schon bei der exklusiven Zeitungsauswahl wurden bei der geforderten Textmarkierung die MitarbeiterInnen routinemäßig zur SED-Zeitungslektüre gedrängt, ist ihre Aufmerksamkeit konsequent auf die offizielle Parteilinie gelenkt worden. Was steckt hinter diesem Fokussierungseffekt? Um einen Text mehrfarbig zu unterstreichen, kommt man nicht umhin, sich ihm zuzuwenden. Der farbige Stift in der Hand muss an den Zeilen entlanggeführt werden. Freilich kann bei diesem Handlungsvollzug, wie Herr Hasel mit seiner ironischen Kommentierung andeutete, die Aufmerksamkeit niedrigschwellig sein. Es ließe sich sogar eine intensive Lektüre durch die Farbmarkierung simulieren. Aber ein Text lässt sich nicht blind bzw. vollkommen "am Text vorbei" unterstreichen, ohne dass dies einem kontrollierenden Blick entginge. Der Umstand, dass die zu erbringenden farbigen Markierungen im Rahmen der Zeitungsschau ein Mindestmaß an Sich-auf-die-SED-Berichterstattung-Einlassen erforderte, entpuppt sich als blinder Fleck bei Herrn Hasel. Mit seiner Einschätzung, dass man in den Zeitungen "wahllos" etwas unterstreichen konnte, lag er nicht ganz richtig. Aber seine Einschätzung ist auch nicht ganz falsch. Denn angesprochen ist damit ein strukturelles Problem der Textmarkierung: Von außen konnte nur der formale Vollzug dieser Handlung registriert werden, wohingegen das, was diese Person dabei tatsächlich dachte, nicht kontrollierbar war und sich somit auch nicht direkt beeinflussen ließ. Aber genau auf die Kontrolle und Beeinflussung der Gedanken zielte das Veranstaltungsformat der Zeitungsschau, wie spätestens mit dem dritten Handlungszug, dem inhaltlichen Repetieren, deutlich wird. [14]
Zur Charakterisierung des dritten Handlungszugs verwendete Herr Hasel wiederum eine ironische Formulierung ("Und dann wurde das wiedergekäut"). Auch anhand dieser Kommentierung lässt sich zeigen, dass Herr Hasel selbst nicht bemerkte, dass er einen wesentlichen Aspekt übersah: den Effekt, dass die MfS-MitarbeiterInnen durch das inhaltliche Repetieren wiederum zu den offiziellen Verlautbarungen der Parteiberichterstattung gedrängt wurden. Im Vergleich zur formalen Textmarkierung erforderte das Repetieren als Sprachhandlung eine deutlich intensivere inhaltliche Beschäftigung, ein stärkeres Sich-Einlassen auf die SED-Presseerzeugnisse. Denn nun waren die MfS-MitarbeiterInnen angehalten, sich in zusammenhängenden Sätzen zu äußern. Einzelne Zeitungsinhalte waren mündlich wiederzugeben. Damit erhöhte sich die Kontrollmöglichkeit von außen. Anhand ihrer Redebeiträge, d.h. der individuellen Wortwahl, der Satzformulierungen und verwendeten Argumentationen sowie der Intonation und prosodischer Merkmale konnten sogar Rückschlüsse gezogen werden, ob eine Person wahrhaftig dachte, was sie den anwesenden ParteigenossInnen verbal mitteilte. Wie konform mit der Parteilinie jemand dachte, war insofern kontrollierbar, als sich Abweichungen, Unstimmigkeiten, Unsicherheiten oder sogar konträr geäußerte Positionen sofort registrieren ließen. [15]
Diese Kontrollmöglichkeit wurde von Herrn Hasel im Interview ebenso wenig wie die mit dem Repetieren verbundene Aufmerksamkeitsfokussierung thematisiert. Er verwies lediglich darauf, dass eigene Gedanken, ja selbst ein "Zwischen den Zeilen lesen [...] nicht immer so erwünscht" waren. Damit brachte er sich selbst in einen Detaillierungszwang.10) Erläuterungsbedürftig ist nämlich, was es mit der angedeuteten Unerwünschtheit auf sich hatte und wie er selbst damit umgegangen ist. Nimmt man Herrn Hasel beim Wort ("nicht immer so erwünscht"), war das Zwischen-den-Zeilen-Lesen bei der MfS-internen Zeitungsschau durchaus möglich, also nicht mit einem expliziten Verbot belegt. Mit anderen Worten: Es gab einen gewissen Handlungsspielraum für die an der Zeitungsschau teilnehmenden MfS-MitarbeiterInnen, also auch für Herrn Hasel. [16]
5. Disziplinierung von AbweichlerInnen
In der nun folgenden (unmittelbar an die erste anschließende) Interviewsequenz thematisierte Herr Hasel den Umgang mit abweichenden politisch-ideologischen Meinungen innerhalb des MfS. Es geht um die Konsequenzen, sollte eine Person aus der Konformität der Parteigruppe ausgeschert sein.
"Also wenn [...] du dir deinen eigenen Reim darauf gemacht hast, mal ganz simpel gesagt, oh da warst du politisch-ideologisch aufgeweicht. Und dann [...] bist du eben zum Parteisekretär geladen worden und dann durftest du bestimmte Werke von Feliks Dzierzynski11) und ähnlichen dann konspektieren bis zum gewissen Zeitraum und deine persönlichen Schlussfolgerungen draus ziehen. [...] Dann musste man in der Mitgliederversammlung das darlegen, was du hier konspektiert hast, und deine eigenen Lehren draus gezogen und so weiter." [17]
Bei diesem hier beschriebenen und durch den Konditionalsatz ("Also wenn ...") eingeleiteten Folgeszenario lässt sich wiederum eine Kette von Handlungszügen – moralische Diskreditierung, Unterredung mit dem Parteisekretär, Selbststudium der "Klassiker" und Stellungnahme vor der Parteigruppe – identifizieren, die in den folgenden vier Abschnitten dargelegt werden soll. [18]
5.1 Moralische Diskreditierung
Der Person, die in der Parteiveranstaltung nicht die SED-Parteilinie vertrat, wurde vorgeworfen, sie sei "politisch-ideologisch aufgeweicht". Es ist nicht ersichtlich, ob Herr Hasel hier eine damals gebräuchliche Formulierung zitierte oder ob es sich wiederum um eine ironisch gemeinte Kommentierung von ihm selbst handelt. Denkbar ist auch, dass beide Varianten zutreffen. Auf jeden Fall lässt sich der Äußerung entnehmen, dass innerhalb der Parteigruppe eine Abweichung von der erwünschten politisch-ideologischen Konformität registriert, markiert und negativ konnotiert wurde. Mit der Diskreditierung nichtkonformer Personen wurde nunmehr eine Handlungsfolge in Gang gesetzt, die sich als Disziplinierung charakterisieren und weiter sequenziell ausdifferenzieren lässt. [19]
5.2 Unterredung mit dem Parteisekretär
Zunächst wurde die auffällig gewordene Person vom Parteisekretär zu einem persönlichen Gespräch einbestellt. Zum SED-Parteisekretär ist anzumerken, dass es sich um einen höherrangigen MfS-Offizier handelte, der die SED-Parteileitungsfunktion in der Diensteinheit hauptamtlich ausübte – gewissermaßen auf Augenhöhe mit dem Dienststellenleiter. Insofern bedeutete die Vorladung "politisch-ideologisch aufgeweichter" MitarbeiterInnen, dass dem Parteisekretär die während der Zeitungsschau innerhalb der Parteigruppe registrierte gesinnungspolitische Devianz gemeldet und der Vorfall zur "Chefsache" wurde. [20]
5.3 Selbststudium der "Klassiker"
Die einbestellte Person erhielt in der Unterredung den Auftrag, bis zu einem festgelegten Zeitpunkt Texte der bolschewistischen Orthodoxie ("Werke von Feliks Dzierzynski und ähnlichen") durchzuarbeiten (zu "konspektieren"). Dieses "Nachsitzen" war mit einer klaren Zielstellung verbunden: Aus der Lektüre sollten "persönliche Schlussfolgerungen", die "eigenen Lehren" gezogen werden. Wiederum könnte die Formulierung von Herrn Hasel an dieser Stelle despektierlich gemeint sein oder/und den damals üblichen Sprachgebrauch wiedergeben. Was sie zu Tage fördert, ist eine bemerkenswerte Paradoxie: War die eigene Meinungsäußerung einer auffällig gewordenen Person während der in der Parteigruppe gemeinsam durchgeführten Zeitungsschau klar negativ konnotiert und der eigentliche Auslöser für die weitere Handlungskette, sollte nun am Ende wiederum die eigene Meinungsbildung dieser Person stehen. Diese Paradoxie lässt sich auflösen, indem man die auferlegte "Klassikerlektüre" als eine Disziplinierungsmaßnahme dekonstruiert. Unstrittig ist, dass es bei der Lektüre gerade nicht um die Verfestigung der eigenen, von der Parteilinie abweichenden Position ging. Genau das Gegenteil war intendiert. Das auffällig gewordene SED-Mitglied sollte mittels verordneter Lektüre dazu gebracht werden, selbst zu jener Meinung zu kommen, die im MfS, nun personifiziert durch den Parteisekretär, unhinterfragbare Geltungskraft hatte. [21]
Dass eine solche Beeinflussung der politisch-ideologischen Gesinnung tatsächlich gelingen konnte, scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich. Denn noch deutlicher als bei den vorangegangenen Handlungszügen zeigt sich hier das tiefer sitzende Problem der MfS-internen Indoktrinierungspraxis: Die uneingeschränkte Loyalität gegenüber der SED wurde zwar allen MfS-Angehörigen abverlangt, aber eine solche konforme Einstellung ließ sich von außen nicht aufzwingen, geschweige denn direkt steuern oder gar konditionieren – wie etwa das gewünschte Verhalten eines Hundes im Pawlowschen Experiment. Die einzige Möglichkeit bestand darin, eine Person mittels Irritation so anzuregen, dass sie sich selbst dazu entschloss, das von ihr Erwartete zu tun – beziehungsweise wenigstens die konforme Haltung gegenüber der Parteigruppe zu simulieren. Auf genau solch einen perlokutionären Irritationseffekt zielte die Disziplinierungsmaßnahme der "Klassiker"-Lektüre. Mit dieser Unbestimmtheit musste die adressierte Person umgehen. Denn der Imperativ lautete nicht etwa: "Komm zu der im MfS geltenden Parteilinie zurück!" Der Aufforderungscharakter war subtiler: "Überdenke Deine von der Norm abweichende politisch-ideologische Gesinnung!" Die hier zum Tragen kommende kommunikative Gattung (LUCKMANN 1986) ist die des Bekenntnisses. [22]
Der ausgelöste Irritationseffekt lässt sich gedankenexperimentell weiter spezifizieren: Er bestand erstens in der konkreten Erfahrung, dass die von der Norm abweichende politisch-ideologische Meinungsäußerung einen Preis hatte: Für die verordnete zusätzliche Lektüre mussten Freizeit und Energie aufgewendet werden. Zweitens bestand die Irritation darin, dass die betreffenden MitarbeiterInnen extremer als bei den oben genannten drei Handlungsvollzügen der Zeitungsschau zur Parteilinie gedrängt wurden. Denn nun sollten sie sich sogar intensiv mit den KlassikerInnen beschäftigen, auf deren Schriften sich das MfS berief. Drittens bekam die betreffende Person zu spüren, dass ein internes System der Gesinnungsüberwachung im MfS wirkte, an dessen Spitze der über das Vorkommnis informierte und mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattete Parteisekretär stand. Kurzum: Die vorgeladenen MitarbeiterInnen wurden dazu gedrängt, abzuwägen, ob es sich lohnt, weiterhin die zur Schau gestellte Abweichung von der im MfS normierten Gesinnungsordnung aufrechtzuerhalten, oder ob es besser wäre, "einzuknicken". Die Bewährungsprobe dieser Abwägungsentscheidung erfolgte im letzten, von Herrn Hasel genannten Handlungsvollzug. [23]
5.4 Stellungnahme vor der Parteigruppe
Ob sich auffällig gewordene MfS-MitarbeiterInnen tatsächlich zur politisch-ideologischen Parteilinie bekannten, wurde anschließend in der Parteiversammlung überprüft. Vor den Augen und Ohren der ParteigenossInnen, die zugleich die unmittelbaren KollegInnen im Dienst waren, musste eine persönliche Stellungnahme vorgetragen werden ("das darlegen, was du hier konspektiert hast, und deine eigenen Lehren draus gezogen und so weiter"). Allerdings reichte es nicht mehr wie noch bei der Zeitungsschau aus, den gelesenen Inhalt der "Klassiker"-Texte lediglich "wiederzukäuen" beziehungsweise die eigene politische Linientreue zu simulieren. Vielmehr ging es nun um die reflexive Verarbeitung des Gelesenen. Kontrolliert wurde die innere Haltung, die Authentizität der eigenen Positionierung – freilich in der Erwartung, dass die zuvor "politisch-ideologisch aufgeweichte" MitarbeiterInnen gewissermaßen im vorauseilenden Gehorsam wieder zum festen Klassenstandpunkt gefunden hatten, der in der Parteigruppe als politisch korrekt galt. [24]
Was hier in der Schilderung von Herrn Hasel exemplarisch aufscheint, hieß im SED-Parteijargon "Kritik und Selbstkritik". Es handelte sich um ein Überbleibsel stalinistischer Parteiprägung, welches in den 1930er bis 1950er Jahren von den KommunistInnen systematisch zur "politischen Säuberung" in den eigenen Reihen eingesetzt wurde.12) Charakteristisch für dieses Ritual war, dass soziale Praktiken der Missbilligung, Stigmatisierung und Demütigung zur Anwendung kamen. Wer negativ auffiel, sollte Reue bekennen und Besserung geloben. Um wieder auf Parteilinie gebracht zu werden, hatte die betreffende Person Rechenschaft über die eigene "Verfehlung" abzulegen und sich dem Kreuzfeuer einer von der Parteileitung geforderten kollegialen Kritik aller Parteigruppenmitglieder auszusetzen. [25]
6. Die Robustheit der SED-Indoktrinierung im MfS
Anhand der beiden Passagen aus dem Interview mit Herrn Hasel konnte die in den SED-Zeitungsschau und der Parteiversammlung wirksame politisch-ideologische Indoktrinierung der MfS-MitarbeiterInnen nicht nur nachgewiesen, sondern auch mittels einer sequenzanalytischen Interpretation im vorliegenden Datenmaterial als Kette ineinandergreifender Handlungsvollzüge genauer rekonstruiert werden. Von der exklusiven Zeitungsauswahl bis hin zur Stellungnahme vor der Parteigruppe zog sich ein Muster durch: Die Angehörigen des DDR-Geheimdienstes wurden in den Parteiveranstaltungen systematisch zu den Inhalten und Deutungsrahmen der offiziellen SED-Berichterstattung bzw. zur "tschekistischen"/marxistischen Orthodoxie gedrängt. Indem alternative oder gar gegensätzliche Deutungsangebote weitestgehend ausgegrenzt wurden, konnten die parteipolitischen Schulungsveranstaltungen in der Selbstreferenzialität der hegemonialen SED-Gesinnungsordnung verbleiben. Die thematische Engführung einerseits und die Abwehr von Alternativen andererseits bildeten bei der politisch-ideologischen Indoktrinierung der MfS-MitarbeiterInnen zwei Seiten ein und derselben Medaille. [26]
Angesichts des am untersuchten Einzelfall erkennbaren Wirkungszusammenhangs zwischen thematischer Engführung und Alternativenausblendung wird verständlich, dass die interviewten MfS-MitarbeiterInnen unabhängig voneinander vor allem den Schulungscharakter ihrer Parteiveranstaltungen betonten und bei ihnen der Eindruck haften geblieben war, sie seien – analog SchülerInnen – gegängelt worden.13) Offensichtlich sollten sie in den regelmäßig abgehaltenen SED-Veranstaltungen darauf gestoßen werden, dass tendenziell jede Abweichung von der Parteilinie registriert und kontrolliert, moralisch und emotional aufgeladen und zum Anlass parteierzieherischer Maßnahmen gemacht werden konnte. Die Kontroll- und Disziplinarmacht lag gewissermaßen auf der Lauer, um einzugreifen, wenn sich jemand anschickte, die Demarkationslinie der vorgegebenen politisch-ideologischer Überzeugungen zu verlassen und aus der Echokammer der SED-Gesinnung auszubrechen. Selbst eine indifferente politische Haltung bzw. erkennbare bloße "Lippenbekenntnisse" galten als verdächtig und wurden beargwöhnt. [27]
Mit Rekurs auf Ulrich BRÖCKLING (1997)14) kann behauptet werden, dass auch ein permanent scharf gestelltes Überwachungssystem keine hundertprozentig SED-konforme Gesinnung im MfS durchsetzen konnte. Eine solche Gesinnung ließ sich nicht gegen den Willen der MitarbeiterInnen erzwingen. Es bedurfte vielmehr deren Zustimmungsbereitschaft – sei es als intrinsisch hoch motivierte Gefolgschaft (nach dem Muster: ich tue freiwillig und bewusst das, was von mir erwartet wird) oder in Form einer extrinsisch motivierten Vermeidungsstrategie (nach dem Muster: um keine persönlichen Nachteile zu haben, falle ich nicht negativ auf). [28]
Ob nun im Einzelfall eher intrinsisch oder eher extrinsisch motiviert, ob jemand tatsächlich von der Idee des Sozialismus felsenfest überzeugt war oder Zweifel hegte, letztlich unterwarfen sich – so die gegenstandsverankerte These im Sinne der Konzeptbildung nach der Grounded-Theory-Methodologie (STRAUSS & CORBIN 1990) – alle MfS-Angehörigen willentlich und wissentlich der innerhalb des MfS geltenden Gesinnungsordnung. Weder wurden sie einer Gehirnwäsche unterzogen, noch waren sie Opfer massiver Zwangsmaßnahmen oder handelten aus blindem Gehorsam. Stattdessen stellten sie die politisch-ideologische Konformität selbst her, im situativen Vollziehen der oben näher ausgeführten Handlungen. Der bei den SED-GenossInnen im MfS erkennbare Unterwerfungsmechanismus lässt sich begrifflich fassen als fremdgeführte Selbstdisziplinierung.15) [29]
Dass sich die hauptamtlichen GeheimdienstmitarbeiterInnen tatsächlich der im MfS geltenden SED-Gesinnungsordnung selbstdiszipliniert unterwarfen, verdeutlicht ausgerechnet der Fall Herr Hasel. Diese Einschätzung mag zunächst verwundern. Denn deuten die in den beiden Interviewzitaten eingeflochtenen ironischen Kommentare nicht eher darauf hin, dass der MfS-Quereinsteiger sich der politisch-ideologischen Konformitätserwartung seines Geheimdienstes entzogen hat? Gegen diese Deutungsmöglichkeit spricht, dass es in den beiden Zitaten keine konkreten (d.h. empirisch belastbaren) Hinweise gibt, aus denen klar hervorgeht, dass Herr Hasel sich tatsächlich grundlegend anders verhielt als seine MfS-KollegInnen. Denkbar ist freilich, dass Herr Hasel distanziert und reserviert gegenüber der Parteilinie eingestellt war, und er diese Grundhaltung mit den ironischen Kommentierungen im Interview zum Ausdruck bringen wollte. Allerdings verpufft die Wirkung der Ironie, weil von ihm nicht deutlich markiert wurde, wer eigentlich spricht – Herr Hasel als Teilnehmender der damaligen SED-Veranstaltungen oder Herr Hasel als Erzähler, der in der Interviewsituation ein bestimmtes Bild von sich als früherem MfS-Mitarbeiter präsentieren wollte. Letztlich bleibt unklar, worin eigentlich der "springende Punkt", die "reportability" (SACKS 1992, S.2ff.) seiner Schilderung besteht. Diesen Zugzwang erkannte Herr Hasel offenbar selbst im Interview, denn er ging unmittelbar nach seinen Ausführungen zur Parteiversammlung darauf ein, dass er Ende der 1980er Jahre beim Parteisekretär aneckte, weil er sich auf die (zu diesem Zeitpunkt vom SED-Staat aus dem Verkehr gezogene) Zeitschrift Sputnik berief,16) wenn es um aktuell-politische Themen ging:
"Und wo ich eben dann den Sputnik hatte, [...] da waren die [KollegInnen] überrascht: 'Peter wo haste denn das her'? Ich sag: 'Ganz offiziell vom Zeitungskiosk, musst bloß 'nen heißen Draht haben'. [...] Und der Sputnik hat nun die Runde gemacht unter bestimmten Kumpels. So und dann wurde das zum Parteisekretär [gemeldet] und [es ist ihm und] manch anderen wahrscheinlich etwas zu viel [geworden]. Und dann wollte man mir, Anfang '89 hat man mir das untersagt, dass ich diese Literatur weiterhin verwende. [...] Das hat dich dann so – ich sag's mal – so mich persönlich angewidert, weil ich sagte: 'Was ist denn hier los'?" [...] So und da durfte ich erst mal pausieren [lacht]."17) [30]
Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Interviewpassagen erzählte Herr Hasel hier eine konkrete Begebenheit, und vor allem: Er erzählte von sich selbst. Erfahrbar wird, dass er sich die vom SED-Staat aus dem Verkehr gezogene Zeitschrift Sputnik (legal) besorgte; dass dies die Aufmerksamkeit von GeheimdienstkollegInnen hervorrief; dass er die Zeitschrift unter nahestehenden KollegInnen zirkulieren ließ und ihm schließlich Anfang 1989 nach einer Meldung an den Parteisekretär die Benutzung und Verbreitung der Zeitschrift innerhalb des MfS untersagt wurde, woran er sich auch hielt. Wie oben bereits herausgearbeitet wurde, war für die Aufrechterhaltung des internen politisch-ideologischen Indoktrinierungssystems des MfS die Abwehr alternativer Informationsmedien notwendig, insofern konnte der Sputnik im MfS offiziell nicht geduldet werden. Herr Hasel ist – wie aus dem letzten Satz dieses Zitats hervorgeht – erfolgreich dazu gedrängt worden, die Zeitschrift innerhalb des MfS nicht weiter zu verwenden. [31]
Bezieht man diese Interviewpassage auf die beiden vorangestellten, könnte folgendes Gedankenexperiment (im Sinne der objektiven Hermeneutik) aufschlussreich sein: Die KollegInnen, die wahrnahmen, dass Herr Hasel mit der Beschaffung und Verbreitung des Sputnik die vorgegebene SED-Parteilinie unterlief, dürften auch wahrgenommen haben, dass er in den parteiinternen Schulungs- und Mitgliederversammlungen reserviert blieb, d.h., es vermied, die eigene kritische Stimme zu erheben und auch nicht mehr auf den Sputnik-Inhalten insistierte. Sein Stummsein könnte auf sie eine Vorbildwirkung gehabt haben nach dem Muster: Wenn schon der Peter eingeknickt ist, dann werde ich in den Parteiversammlungen erst recht nicht den Helden/die Heldin spielen. [32]
In diesem Lichte betrachtet, verkehrt sich die Reserviertheit und Distanziertheit von Herrn Hasel in das Gegenteil: Anstatt Ausdruck einer Verweigerungshaltung gegenüber der MfS-internen Indoktrinierung zu sein, stützte seine zurückgehaltene Kritik das Indoktrinierungssystem. Letztlich unterwarf sich auch der etwas aufmüpfige und umfassender informierte MfS-Mitarbeiter Herr Hasel den Parteivorgaben. Beeinflusst durch die Indoktrinierungspraktiken der SED-Veranstaltungen verhielt er sich ebenso wie die anderen MfS-GenossInnen angepasst und hatte somit selbst einen Anteil daran, dass der Rubikon der SED-Gesinnungsordnung im DDR-Geheimdienst nicht überschritten wurde. [33]
Es geht hier nicht darum, Herrn Hasel als konformen MfS-Mitarbeiter und linientreuen SED-Genossen vorzuführen. Vielmehr lässt sich anhand dieses Falles erahnen, wie robust das politisch-ideologische Indoktrinierungssystem innerhalb des DDR-Geheimdienstes tatsächlich war. Die Indoktrinierung konnte nämlich deshalb greifen, weil – in Anlehnung an die Überlegungen von Albert O. HIRSCHMAN (1970) zu Reaktionsweisen unzufriedener Organisationsangehöriger formuliert – die SED-hörigen MfS-MitarbeiterInnen weder ihre Partei-Organisationsmitgliedschaft aufkündigten ("Exit"), noch ihre Kritik und Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten ("Voice"), sondern stattdessen die eigenen, subjektiven Anschauungen und Befindlichkeiten zugunsten der Partei zurückstellten, in deren Auftrag sie handelten und mit der sie sich stark identifizierten ("Loyalty"). [34]
7. Poetisch-stilistische, diskursive und habituelle Präfigurierungen der Autobiografien von historischen ZeitzeugInnen
Die Zielstellung des vorliegenden Aufsatzes geht über eine bloße Präsentation der empirischen Untersuchungsergebnisse zur Indoktrinierung der MfS-MitarbeiterInnen hinaus. Der Erkenntnisweg im Zuge der Datenerhebung und -analyse soll an dieser Stelle methodologisch reflektiert werden. Insbesondere interessiert, inwiefern sich überhaupt die politisch-ideologische Gesinnung im Zuge einer gegenstandsangemessenen qualitativen Forschung empirisch nachweisen lässt. Die Relevanz dieser Fragestellung ergibt sich schon daraus, dass zwischen dem aktiven Dienst für den DDR-Geheimdienst (bis 1989) und dem Erhebungszeitraum der Interviews (2010 bis 2015) mehr als zwei Jahrzehnte lagen. Zudem muss in Rechnung gestellt werden, dass die MfS-MitarbeiterInnen im öffentlichen Diskurs seit 1989 vor allem als "Stasi-TäterInnen" thematisiert worden sind und ihre subjektiven Erinnerungen und früheren Welt- und Selbstbilder im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik keinen Platz gefunden haben. Die zeitliche Differenz zwischen damals und heute sowie die Stigmatisierungserfahrung nach 1989 könnten bei den ehemaligen MfS-Angehörigen dazu geführt haben, dass die von ihnen während ihrer aktiven Dienstzeit erlebten Geschehnisse falsch oder verzerrt erinnert, verdrängt oder verschwiegen werden, so dass keine methodisch kontrollierbaren Daten für die Analyse zur Verfügung stünden. Insofern ist die "Stasi"-Forschung – analog der historischen Forschung zu den "NS-TäterInnen" – in ganz besonderer Weise mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Inwieweit ist den lebensgeschichtlichen Selbstdarstellungen von ZeitzeugInnen überhaupt zu trauen? [35]
Diese generelle Frage nach der Authentizität von erzählten Lebensgeschichten und ihrer wissenschaftlichen Verwertbarkeit wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen intensiv diskutiert. Die Auffassungen sind breit gefächert. So hegen nicht wenige HistorikerInnen eine grundlegende Skepsis gegenüber autobiografischen Erinnerungen und setzen auf aktenförmige Dokumente.18) Demgegenüber argumentieren VertreterInnen der Oral History, dass die nur über Dokumentenanalyse gewonnenen abstrakten Kategorien und Erklärungen sowie die darin eingelagerten politischen Erwartungen zerbröselten, sobald "man sich auf Subjekte und ihre Lebensgeschichten einlässt" (NIETHAMMER 1980, S.10). In ähnlicher Weise wird von qualitativen SozialwissenschaftlerInnen das heuristische Potenzial lebensgeschichtlicher Erhebungen betont. BiografieforscherInnen, die sich auf die Narrationsanalyse von Fritz SCHÜTZE beziehen, gehen davon aus, dass autobiografische Darstellungen in Form von Stegreiferzählungen wiedergeben, "wie die lebensgeschichtlichen Ereignisse (ob Handlungen oder Naturereignisse) vom Erzähler als Handelnden erfahren worden sind" (SCHÜTZE 1976, S.197; vgl. auch KALLMEYER & SCHÜTZE 1977). [36]
Gegen diese Annahme einer strengen Homologie zwischen Erleben und Erzählen sind mehrere Einwände erhoben worden. So dürfe der Realitätsgehalt der erzählten biografischen Geschehnisse nicht überschätzt und die Darstellungsabsicht der befragten Person in der Interviewsituation sowie die Interaktivität nicht unterschätzt werden (WOHLRAB-SAHR 1999, S.487). Aus linguistischer Sicht sei es ein Irrtum, anzunehmen, dass sich in einer Stegreiferzählung authentische Erfahrungen unvermittelt niederschlügen. Vielmehr würden Erfahrungen in begrifflich verarbeiteter Form und der konkreten Sprechsituation angepasst verbalisiert (REHBEIN 1989, S.171f.). Gerade weil jede Narration eine poetische Konstruktion ist, d.h. Ereignisse und Handlungen als Plot (mit einem Anfang, einem Spannungsbogen und einem Ende) arrangiert werden (WHITE 1991 [1973]), unterliegen auch autobiografischen Erzählungen der Tendenz, erlebte Fakten in Fiktionen zu transformieren. Ein weiterer Einwand gegen die Annahme einer strengen Homologie von autobiografischem Erleben, Erinnern und Erzählen lautet, dass man nicht von einer konstanten Identität der BiografieträgerInnen ausgehen könne (BUDE 1985). Vielmehr sollten Autobiografien als "Selbstbeschreibungen von Individuen im Kreuzungsbereich gelebter Lebensgeschichte und gelebter Gesellschaftsgeschichte" (FISCHER-ROSENTHAL 1995, S.44) interpretiert werden. Dabei gelte es zu beachten, dass die identitätsstiftenden Selbstbilder und Wirklichkeitskonstruktionen mit Bezugnahme auf die in der Gesellschaft jeweils diskursiv verhandelten Wissensbestände und Deutungsrahmen gebildet würden und schon deshalb im Laufe des Lebens einem Wandel unterlägen (ROSENTHAL 2010). Neben den gesellschaftsprägenden Öffentlichkeitsdiskursen spiele auch die lebensweltlich eingebundene mündliche Alltagskommunikation für die Memorierung von historischen Ereignissen eine Rolle (ASSMANN 1988, S.9ff.). Nicht zuletzt wird die Familie als eine zentrale Gelegenheitsstruktur für das intergenerationale "soziale Gedächtnis" angesehen, weil die Vergangenheit gemeinsam von den Familienangehörigen in der Alltagskonversation vergegenwärtigt werde (KEPPLER 2001; ROSENTHAL 1997; WELZER, MOLLER & TSCHUGGNALL 2002). Einige AutorInnen zeigten, dass annähernd Gleichaltrige eine "Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft" bildeten (BUDE 1999). Dies äußere sich in der Tendenz, dass ihre kollektiv geteilten einschneidenden Erlebnisse (insbesondere in der Adoleszenzphase) in eine generationsspezifische Sichtweise eingingen. [37]
Vor der Folie der Erkenntnisse aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften, der Linguistik und der Psychologie, die inzwischen in die ZeitzeugInnen- und Biografieforschung eingeflossen sind, lassen sich die bisherigen Analyseergebnisse des Falls "Herr Hasel" präzisieren. Vor allem wird erkennbar, warum es diesem ehemaligen MfS-Mitarbeiter in der Interviewsituation nicht gelingen konnte, sein Selbstbild, er sei resilient gegenüber der politisch-ideologischen Indoktrinierung im DDR-Geheimdienst gewesen, überzeugend zu vermitteln. Entsprechende Versuche scheiterten daran, dass Herr Hasel seine Darstellung nicht per se in beliebiger Form präsentieren konnte, sondern er unweigerlich auf poetisch-stilistische Muster zurückgeworfen wurde, die tatsächlich zum dargestellten Inhalt passten. Wie ist das gemeint? Auffällig ist, dass der Rückblick auf die Zeitungsschau, das "Klassikerselbststudium" und die Stellungnahme vor der Parteigruppe in der Textsorte der "Beschreibung" (KALLMEYER & SCHÜTZE 1977) bzw. der "biografischen Schilderung" (REHBEIN 1989, S.234f.) erfolgte, während die Interviewpassage über die Sputnik-Zeitschrift die Gattungsmerkmale des "autobiographischen Stegreiferzählens" (SCHÜTZE 1984) aufweist. Charakteristisch für eine Stegreiferzählung ist, dass eine Ereignisabfolge mit konkreten AkteurInnen, die in bestimmten Situationen Handlungen vollziehen, konsequent aus der Ich-Perspektive in der Vergangenheitsform dargestellt wird, angereichert mit Detaillierungen (erinnerten Wortäußerungen und subjektiven Erlebenszuständen) und durch eine Coda abgeschlossen ("So und da durfte ich erst mal pausieren [lacht]"). [38]
Aufgrund der verwendeten stilistischen Mittel der Stegreiferzählung kann davon ausgegangen werden, dass in Herrn Hasels Interviewpassage zum Sputnik einerseits eine sehr nah am damaligen Erleben angesiedelte Erinnerung zur Sprache kommt und andererseits diese reale Begebenheit dem Interviewenden als eine "Story" präsentiert werden sollte. Es handelt sich um eine Belegerzählung (KALLMEYER & SCHÜTZE 1977), mit der Herr Hasel seine Andersartigkeit gegenüber den indoktrinierten GeheimdienstkollegInnen am konkreten Beispiel verdeutlichen und somit die fehlende Pointe der vorangegangenen Schilderung der Zeitungsschau, des verordneten "Klassikerstudiums" und der Parteiversammlung "nachreichen" wollte. Jedoch hat dieser Reparaturversuch, ähnlich wie die ironischen Kommentare zuvor, seine Tücken. Denn dokumentiert ist in dieser Sequenz auch der Rückzieher von Herrn Hasel, nachdem er dazu gedrängt wurde, die Zeitschrift Sputnik aus den Parteischulungen herauszuhalten. So gesehen, bestätigt die Belegerzählung die damalige Konformität des Interviewten: Letztlich verhielt sich der MfS-Mitarbeiter und SED-Parteigenosse Herr Hasel nicht grundsätzlich anders als seine älteren GeheimdienstkollegInnen: angepasst und diszipliniert. Dieser konformistische Eindruck setzt sich auch deshalb fest, weil die Belegerzählung stilistisch als Tragödie19) (als Story ohne Happy End) eingekleidet ist. Es fehlt eine positive Heldengeschichte nach dem Muster "Da habe ich mal während einer Parteiversammlung auf den Tisch gehauen und deutlich gesagt: So geht das nicht. Ich sehe das vollkommen anders. Und das hat eingeschlagen wie eine Bombe. Seitdem haben wir offen diskutiert." [39]
Wie gezeigt wurde, ist Herr Hasel bei der retrospektiven Wiedergabe seiner Erfahrungen mit der SED-Indoktrinierung auf ein Set an sprachlichen Darstellungsformen und Stilmittel zurückgeworfen worden, deren Logik sich nicht aushebeln lässt. Es war ihm per se nicht möglich, sich als Protagonist der Geschichte vollkommen neu zu erfinden bzw. sich in einem ganz anderen Licht darzustellen, als es in der erlebten Vergangenheit tatsächlich der Fall war. Zwar zielten seine Distinktionsbemühungen (ironischen Kommentare) gegenüber den MfS-Altvorderen genau darauf, allerdings blieb Herr Hasel in diesen Bemühungen stecken – erkennbar vor allem am Ausblenden seiner eigenen Person in Beschreibung der Indoktrinierungspraktiken und der Darbietung der Belegerzählung (Sputnik) als Tragödie. [40]
Die autobiografischen Äußerungen in den drei Interviewpassagen sind mehr als bloß inhaltliche Auskünfte über das damalige Geschehen in MfS-internen Parteiveranstaltungen. Sie dokumentieren Innenansichten einer Person, die in diesem Geschehen selbst verstrickt war und sogar noch zum Zeitpunkt des Interviews um die eigene Position(ierung) rang. Wie verstrickt Herr Hasel in seine eigene Geschichte war, lässt sich nicht nur an den präfigurierenden Darstellungs- und Stilmitteln festmachen. Die "Geschichten-Verstrickung"20) hat auch – wie oben bereits angedeutet – mit dem öffentlichen "Stasi"-Diskurs zu tun. Konstitutiv für die Thematisierung des MfS in den Medien ist seit 1989/90 die Diskreditierung der MfS-MitarbeiterInnen. Dem im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik inzwischen fest verankerten negativ konnotierten Bild von den "Stasi-TäterInnen" können sich die ehemaligen DDR-GeheimdienstmitarbeiterInnen kaum entziehen. Erwartet wird von ihnen, dass sie sich selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Dieser allgemeinen Erwartungshaltung ist es geschuldet, dass Herr Hasel im Interview seine frühere MfS-Zeit zu relativieren versuchte, indem er sich abgrenzte von den Altgedienten und suggerierte, der SED-Indoktrinierung nicht anheimgefallen zu sein. [41]
Wie alle interviewten hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter zeigte Herr Hasel weder Reue über die eigene Stasi-Mittäterschaft, noch fühlte er sich (mit)schuldig. Ebenso wenig thematisierte er einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bzw. eine eindeutige Ablehnung der repressiven Praktiken des DDR-Geheimdienstes. Aus erinnerungspolitischer Sicht muss diese Verweigerungshaltung als Affront aufgefasst werden, impliziert sie doch, dass kein zeitgemäßes Unrechtsbewusstsein existiert. Aus einer biografie- bzw. habitustheoretischen Perspektive kann allerdings die mangelnde (selbst)kritische Haltung der ehemaligen Angehörigen gegenüber dem DDR-Geheimdienst kaum verwundern. Diese Unfähigkeit lässt sich auf den Hysteresiseffekt des "tschekistischen" Habitus zurückführen.21) Gemeint ist, dass die von den hauptamtlichen GeheimdienstmitarbeiterInnen während ihrer Dienstzeit erfahrene habituelle Prägung sehr nachhaltig Teil ihrer persönlichen Identität geworden ist. Diese inkorporierten Wahrnehmungs- und Deutungsschemata ließen sich nicht einfach so abstreifen. Ein wesentliches Element dieses Habitus ist die nach 1989 fortlebende politisch-ideologische Gesinnung, die kontinuierlich über die einzelnen Handlungsvollzüge der Parteischulung internalisiert wurde. [42]
Am untersuchten Fall "Herr Hasel" konnte rekonstruiert werden, dass die autobiografischen Äußerungen von ehemaligen MfS-Angehörigen zur politisch-ideologischen Indoktrinierung innerhalb des Geheimdienstes poetisch-stilistisch, diskursiv und habituell präfiguriert sind und dadurch sehr viel über die jeweilige Person verraten – auch wenn die Interviewten die Konversationstechniken der Camouflage, Persuasion, Täuschung oder Ironie einsetzen. Daran lässt sich die These anknüpfen, dass die in der Interaktionssituation des biografisch-narrativen Interviews evozierten mündlichen Selbstzeugnisse einerseits keine bloßen Spiegelbilder oder Aufschüttungen der Vergangenheit sind und andererseits keine rein erfundene Geschichte. Die autobiografischen Selbstzeugnisse von ZeitzeugInnen liegen zwischen Faktizität und Fiktion. Sie sind im formal-logischen Sinne weder wahr noch falsch, sondern für die Personen selbst subjektiv bedeutsam und authentisch. In ihnen manifestieren sich jeweils die eigene Identitätskonstruktion und der Habitus. Eine lebensgeschichtliche Darstellung schließt somit blinde Flecken, Tabuisierungen, Exkulpationen sowie ungenaue oder sogar fälschlicherweise als authentisch erlebte Erinnerungen durchaus mit ein. Dieses "Verstricktsein" in der erlebten, erinnerten und erzählten Lebensgeschichte kann von den ZeitzeugInnen nicht vollständig reflektiert, geschweige denn in der Interviewsituation kontrolliert werden. Es ist gerade der Vorzug der qualitativ ausgerichteten Sozialforschung, eine solche biografische Verstrickung in ihrer Vielschichtigkeit im Zuge einer sequenzanalytischen Fallrekonstruktion systematisch und methodisch kontrolliert aufzudecken. Zudem sollten die empirischen Befunde in Verbindung mit theoretischen Konzepten gebracht werden. Denn nur mittels einer theoretischen Durchdringung des Datenmaterials sind gegenstandsangemessene Erkenntnisse möglich, die über den untersuchten Einzelfall hinausweisen und nicht in der bloßen Paraphrase von autobiografischen Interviewäußerungen stecken bleiben. [43]
Ich danke Katja MRUCK für die zielführenden Hinweise und Anmerkungen bei der Durchsicht des Manuskripts.
1) ZAISSER in einer Rede während des 15. Plenums des ZK der SED, 24.-26. Juli 1953. Das Dokument befindet sich unter dem Sigel SAPMO-BA, DY 30 IV 2/1/119, Bl. 187-201 im Archiv der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv (SAPMO). <zurück>
2) Die Gehorsamspflicht gegenüber der SED wurde auch institutionell verankert. So waren etwa laut Dienstlaufbahnordnung vom 13. Juli 1972 (BStU, ZA, DSt 101352, S.2) alle MfS-Angehörigen "verpflichtet, der Arbeiterklasse und der marxistisch-leninistischen Partei sowie ihrem sozialistischen Staat treu und ergeben zu sein". <zurück>
3) Es handelt sich um das 2012 bis 2015 am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig durchgeführte DFG-Projekt (eigene Stelle) Hauptamtliche Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit (GZ: KR 3503/1-1). Dem von mir geleiteten Forschungsteam gehörten Matthias FINSTER, Philipp REIMANN, Anja ZSCHIRPE und Maria EPLINIUS an. <zurück>
4) Ähnlich plädierte auch Gabriele ROSENTHAL (2016) für konsequent durchgeführte interpretative bzw. rekonstruktive Einzelfallstudien und eine "wirklich empirisch geerdete Theorieentwicklung" (§21), wenn es im Rahmen einer historischen Sozialforschung um kollektive und individuelle Dynamiken gehe. <zurück>
5) Anzumerken ist, dass die SED-Basisorganisationen in der DDR generell nicht in den Wohngebieten ihrer Mitglieder, sondern in deren Arbeitsstätten angesiedelt waren (abgesehen von den wohnortgebundenen Parteigruppen für Rentner und Rentnerinnen und Nichterwerbstätige). Für das MfS bedeutete dies, dass die Parteiorganisationen und -gremien der SED eine Parallelstruktur zur militärischen Organisation innerhalb des DDR-Geheimdienstes bildeten. Aufgrund der fast flächendeckenden Parteizugehörigkeit im MfS waren die Angehörigen einer Diensteinheit nicht nur KollegInnen im Dienstalltag, sie waren auch in derselben, dieser Diensteinheit zugeordneten Parteigruppe organisiert. <zurück>
6) Die Parteigruppe bildete die kleinste Organisationszelle der SED. Sie wurde innerhalb einer Abteilung, eines Arbeitsabschnittes oder einer Arbeitsstätte mit weniger als 150 Parteimitgliedern gebildet. Einzelne Parteigruppen wurden zu einer Abteilungsorganisation (APO) zusammengefasst. <zurück>
7) Die zitierten Interviewpassagen wurden stilistisch geglättet, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Es handelt sich nicht um einen Eingriff in die Aussagenstruktur, die sich auf die Interpretation auswirken könnte. Vielmehr wurden die für mündliche Äußerungen typischen, aber beim Lesen der Transkriptionen störenden Sprachgewohnheiten herausgefiltert, insbesondere Sprechpausen, Stotterer, Dialekt, Partikel wie "äh", "gell" und grammatikalische Fehler. Zudem wurden Satzzeichen verwendet und auf Transkriptionszeichen verzichtet. <zurück>
8) Der Name "Hasel" wurde zur Pseudonymisierung der interviewten Person gewählt. Bei der Analyse der zwei Interviewpassagen handelt es sich um die Überarbeitung einer früheren Fassung (KRÄHNKE 2016, S.113ff., aufgenommen in KRÄHNKE et al. 2017, S.186ff.). <zurück>
9) Dass eine erweiterte Lektüreauswahl tatsächlich nie auf der Tagesordnung der SED-Zeitungsschau stand, ist freilich zunächst nur eine Hypothese, die während der Fallanalyse im Sinne einer gedankenexperimentellen Lesart nach der objektiven Hermeneutik aufgestellt wurde. Für diese Hypothese spricht, dass ansonsten ein entsprechender Hinweis in die Schilderung von Herrn Hasel eingeflossen wäre – etwa als Verweis darauf, dass die konkrete Lektüreauswahl immer ausgehandelt worden sei, oder als besondere Begebenheit bzw. Ausnahme von der Regel (der Indoktrinierung) nach dem Muster: "Wir hatten auch mal die Wochenpost bei der Zeitungsschau, und da haben wir über XYZ diskutiert." Auch in allen anderen Interviews gab es keinen entsprechenden Hinweis. Inwiefern das Nichtzulassen von alternativen Presseerzeugnissen ein neuralgischer Aspekt der Indoktrinierung im MfS war, wird in Abschnitt 6 dargelegt). <zurück>
10) Siehe zum Zugzwang des Erzählen LUCIUS-HOENE und DEPPERMANN (2004) sowie SCHÜTZE (1976). <zurück>
11) Feliks DZIERZYNSKI war ein enger Kampfgefährte des russischen Revolutionsführers LENIN. Nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki 1917 war er verantwortlich für die Gründung des Geheimdienstes, der TSCHEKA, dem Vorläufer des Komitees für Staatssicherheit (KGB). Die Person DZIERZYNSKI wurde innerhalb des MfS stark heroisiert und diente als zentrale Identifikationsfigur. Allerdings gehören seine Schriften nicht zum zentralen KlassikerInnenkanon des Marxismus. Sie wurden eher im Geheimdienstkontext rezipiert. <zurück>
12) Vgl. ERREN (2008), HOLLANDER (1969), UNFRIED (1994) sowie WEBER und STARITZ (1993). Unter den in den Archiven der BStU lagernden Disziplinarakten über die MfS-MitarbeiterInnen und den internen Protokollen der SED-Organisationen und -funktionärInnen finden sich unzählige Hinweise, die belegen, dass die MfS-Parteiorganisationen tatsächlich die stalinistischen Praktiken über die Jahre "kultiviert" hatten. Gegenstand solcher Tribunale waren jeweils Verfehlungen von Parteigruppenangehörigen – nicht selten Verstöße, die bereits im Zuge der militärischen Bestrafung durch die Dienstvorgesetzten geahndet wurden. <zurück>
13) Es wäre m.E. lohnend, der sich geradezu aufdrängenden Assoziation mit dem Schulkontext weiter nachzugehen. Denn auch im Unterricht ist es eine gängige Praxis, die Aufmerksamkeit einer sozialen Gruppe (der SchülerInnen und der LehrerInnen) durch das vorgegebene Lehr-/Lernmaterial thematisch stark zu fokussieren, also einzuengen. Ebenso werden die oben ausgeführten Techniken der systematischen Textunterstreichung, des inhaltlichen Repetierens, des "Nachsitzens" sowie des Präsentierens der Lektüreergebnisse vor der Gruppe eingesetzt. Sogar Vorladungen zu leitenden PositionsinhaberInnen, etwa der Schulleitung, gehören zum Schulalltag. Bekanntlich sah Michel FOUCAULT (1976 [1975], S.192ff.) gerade in der systematischen Kontrolle, Reglementierung und Normierung von körperbezogenen Tätigkeiten sowie in Bestrafungspraktiken Wesenszüge der modernen Disziplinargesellschaft und verdeutlichte dies anhand von Erziehungseinrichtungen. <zurück>
14) BRÖCKLING argumentierte, dass einer auf Gehorsam fixierten Disziplinierung Grenzen gesetzt sind. Denn Disziplinieren ziele auf "Erwartbarkeit des Verhaltens – Befehle sollen befolgt werden – und muß doch stets mit dem Unerwarteten rechnen. [...] Disziplinierung impliziert stets eine Utopie totaler Ordnung, ohne sie jedoch einlösen zu können. Sie realisiert sich daher als permanente Abwehr drohender Unordnung" (1997, S.329). <zurück>
15) Dieser hier am empirischen Datenmaterial herausgearbeitete Disziplinierungsmodus ist alles andere als ein historischer Sonderfall. Er klingt bereits bei Alexis de TOCQUEVILLE (1962 [1840]) an, der ausgehend von seinen Studien in Amerika konstatierte, dass anstelle physischer Gewaltanwendung, militärischer Zucht und eingefordertem blinden Gehorsam, wie sie typisch seien für aristokratisch-despotische Herrschaftsausübung, in demokratischen Gesellschaften die Disziplinierung "gleich auf die Seele" (1. Teil, S.295) ziele und der Gehorsam "im Willen des Gehorchenden selbst" (2. Teil, S.300) wurzele. Nach Norbert ELIAS (1997 [1939]) ist generell für den Zivilisationsprozess des Abendlandes konstitutiv, dass die Individuen, beginnend in den Oberschichten, die gesellschaftlich erwarteten Verhaltensweisen so stark verinnerlichten, dass deren Einhaltung zu einem Selbstzwang geworden sei und dies eine Affektkontrolle bewirkt habe. Michel FOUCAULT (1976 [1975]) arbeitete schließlich heraus, dass das sich selbst überwachende Individuum historisch zunächst in den modernen, nach dem "panoptischen Prinzip" (S.251) strukturierten Disziplinaranstalten entstanden sei. Stärker als die genannten Autoren sind jedoch Lewis COSER (1974) mit seinem Konzept der "Greedy Institutions" und Elias SIBERSKI (1967) mit seinen Überlegungen zu Untergrundbewegungen des 20. Jahrhunderts Referenztheoretiker für den Modus der fremdgeführten Selbstdisziplinierung (vgl. KRÄHNKE et al. 2017, S.200). <zurück>
16) Der Sputnik war eine aus der Sowjetunion stammende Monatszeitschrift in einem für damalige Verhältnisse recht modernen Format. Im Zuge der Reformpolitik des in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre amtierenden sowjetischen Staatschefs Michail GORBATSCHOW ("Glasnost und Perestroika") gab es im Sputnik eine kritische Berichterstattung. Im Herbst 1988 wurde die in der DDR erhältliche deutschsprachige Ausgabe von der Postzeitungsliste gestrichen. Dies kam einem faktischen Verbot des Sputnik gleich und wurde zu einem Aufreger unter DDR-BürgerInnen – und auch für einige MfS-MitarbeiterInnen wie etwa Herrn Hasel Die Irritationen sind vor allem darauf zurückzuführen, dass mit dem Verbot die in den Jahrzehnten zuvor propagierte historische Vorbildrolle des "sowjetischen Klassenbruders" für die DDR plötzlich negiert wurde. Die in den SED-Kreisen kursierende Parole "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen" erwies sich nun als obsolet (OLDENBURG 1996). <zurück>
17) Die unmittelbare Nachfrage des Interviewers, was "pausieren" heiße, ergab, dass Herr Hasel die Anweisung befolgte und sich von nun an in MfS-internen Diskussionen zu aktuell-politischen Themen nicht mehr auf den Sputnik berief. <zurück>
18) Diese Skepsis fand ihren wohl prominentesten Niederschlag in dem Bonmot von Wolfgang KRAUSHAAR (1999) "Der Zeitzeuge als Feind des Historikers"; siehe zur differenzierten Betrachtung der Bedeutung des "Zeitzeugen" ERNST und SCHWARZ (2012) sowie SABROW und FREI (2012). <zurück>
19) Seit der Antike gibt es feststehende, kulturell tradierte Erzählformen, um Plotstrukturen poetisch darzustellen. Alternativen zur Tragödie sind die mit einem positiven Ende bzw. einer positiven Wendung versehenen Erzählformen der Romanze, der Komödie und der Satire (WHITE 1991 [1973], S.2ff.). <zurück>
20) Mit dieser Formulierung wird auf Wilhelm SCHAPPs (2012 [1953]) Konzept einer Geschichten-Hermeneutik rekurriert. <zurück>
21) Zur Hysteresis des Habitus vgl. Pierre BOURDIEU (2001 [1997], S.207) und Hans-Peter MÜLLER (1986, S.164). <zurück>
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Uwe KRÄHNKE ist Professor für qualitative Forschungsmethoden an der Medical School Berlin. Neben der Methodologie interpretativ-rekonstruktiver Verfahren sind seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte psychische Belastungen und Erkrankungen in der Arbeitswelt; biografische Verarbeitung von gesellschaftlichen Krisen; Lebensführung in gierigen Institutionen und Unterwerfungspraktiken. Von 2014 bis 2018 war er im Vorstand der Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).
Kontakt:
Uwe Krähnke
Professur für Qualitative Forschungsmethoden
Department für Psychologie
Medical School Berlin. Hochschule für Gesundheit und Medizin
Rüdesheimer Straße 50
D-14197 Berlin
Tel: +49 (0)30-7668375-821
E-Mail: uwe.kraehnke@medicalschool-berlin.de
URL: https://www.medicalschool-berlin.de/hochschule/unser-team/team-fakultaet-naturwissenschaften/professoren/prof-dr-habil-uwe-kraehnke/
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