Volume 8, No. 3, Art. 31 – September 2007

Rezension:

Gerhard Jost

Gerhard Niedermair (2005). Patchwork(er) on Tour. Berufsbiografien von Personalentwicklern. Münster/New York, München/Berlin: Waxmann, 623 Seiten, ISBN 3-8309-1634-5; 38 Euro

Zusammenfassung: Diese Studie setzt sich mit Berufsbiografien von Personalentwickler(inne)n auseinander, einer Thematik, die bis dato empirisch kaum untersucht worden ist. Mit qualitativen (narrativen) Interviews werden Erkenntnisse sowohl über Aspekte der beruflichen Tätigkeit als auch über berufsbiografische (Orientierungs-) Muster gewonnen. Thematisiert werden genauso Auffassungen über die Kernaufgaben in der Personalentwicklung bzw. Rollentypologien, wie Phasen des Berufsverlaufs, berufliche Krisen oder die Bedeutung von "Mentoring". Für den Erkenntnisgewinn wurden die Interviewdaten inhaltsanalytisch und computerunterstützt ausgewertet (KUCKARTZ), indem Kategoriensysteme entwickelt wurden. Ausgewählte Fälle wurden darüber hinaus hermeneutisch interpretiert, einerseits nach der Text- und thematischen Feldanalyse (FISCHER-ROSENTHAL und ROSENTHAL) und andererseits nach der strukturalen Sinnrekonstruktion (BUDE), um Erkenntnisse über Selbstdarstellungen bzw. Lebenskonstruktionen zu erlangen. Insgesamt handelt es sich aufgrund der umfangreichen Erhebungen und Auswertungen um eine für Bereiche der Personalwirtschaft und Berufspädagogik wahrscheinlich interessante Studie, wenngleich Kritikpunkte an jenen Teilen angebracht sind, die einer strukturrekonstruierenden Biografieforschung folgen.

Keywords: Biografieforschung, interpretative Methoden, Personalentwicklung, Berufsbiografien

Inhaltsverzeichnis

1. Anlage der empirischen Studie

2. Untersuchungsfeld "Personalentwicklung"

3. Vorgehensweise und Erkenntnisse

3.1 Datenerhebung

3.2 Datenauswertung

3.2.1 Analyse verschiedener Aspekte des beruflichen Werdegangs

3.2.2 Analyse der Selbstdarstellungen

3.2.3 Analyse der Lebenskonstruktionen

4. Kommentar

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Anlage der empirischen Studie

Zwischen berufsbiografischen Forschungsprojekten, die auf subjektiven (Eigen-) Deutungen des Verlaufs beruhen, und Karriereforschung ist die Grenze oft fließend. Während mit Karrieren institutionell festgelegte Phasen und Statuspassagen gemeint sind, verstehen sich Berufsbiografien als Orientierungs- und Deutungsmuster. Vielfach wird nun diagnostiziert, dass durch flexibilisierte Arbeitsverhältnisse stabile Karrieremuster aufgeweicht wären. So werden sie als "boundaryless" (ARTHUR 1996), "protean"- (LIFTON 1993) oder "patchwork-careers" definiert und es wird von einer Korrosion von biografischen Vorlagen gesprochen (vgl. auch SENNETT 1998). Geht man von einer solchen These aus, müssen berufliche Karrieren und das Sinnpotenzial stärker selbst hergestellt werden (vgl. auch die These des Arbeitskraftunternehmers: PONGRATZ & VOß 2004). Daran knüpft der Autor dieser Studie an: die erhobenen Daten verweisen auf vielfältige Ausbildungs- und Karrierewege innerhalb der Personalentwicklung. Trotzdem begreift sich die Studie weniger als eine, die nur ("objektive") Verläufe und Karrieremuster erhebt, sondern die – wie öfter betont wird – auf die "subjektiven Orientierungsmuster" rekurriert. Damit bewegt sich die Studie von ihrem Anspruch stärker in die Biografieforschung und ihren method(olog)ischen Ansprüchen hinein. [1]

Durch paradigmatische und gesellschaftliche Entwicklungen wie eine stärkere Pluralisierung und Diversifizierung von Lebensläufen hat die interpretative Biografieforschung an Bedeutung gewonnen und einen festen Platz in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen (u.a. Soziologie, Pädagogik) erhalten. Diese Tendenz lässt sich an der Zahl der Veröffentlichungen und der Institutionalisierung des Forschungsbereichs ablesen. Auch berufsbiografische Studien haben, wenn auch nicht an so zentraler Stelle wie u.a. Forschungen zu Migration und Ethnizität, ihren Anteil daran. Dafür stehen etwa bekannt gewordene Arbeiten der 1980er Jahre (insbesondere BERTAUX & BERTAUX-WIAME 1981; HERMANNS, TKOCZ & WINKLER 1984; BROSE 1986), denen bis heute zahlreiche andere Arbeiten folgen. In jüngster Zeit wurden etwa Arbeiten zu (Berufs-) Biografien von Wissenschaftler(inne)n (ENGLER 2001) oder Lehrer(inne)n (FABEL 2004; NIESSEN 2005) verfasst und spezifische Fragestellungen mit berufsbiografischen Analysen untersucht: die Einmündung in das "entrepreneurship" (u.a FRITZSCHE 2006), transnationale Aspekte von Biografien bzw. Karrieren (KREUTZER & ROTH 2006), Führungskräfte nach dem Umbruch in der DDR (SCHIEBEL 2003) oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (z.B. DIERKS 2005). [2]

Berufsbiografische Analysen und Zugänge haben eine spezifische Ausrichtung. So wird, typisch für das gesamte Feld der Biografieforschung, der berufliche und biografische Verlauf nicht partikularistisch analysiert. Im Mittelpunkt stehen biografische Entwürfe einer Berufsgruppe oder einer Profession aus einer holistischen Perspektive heraus, da biografische Handlungs- und Wissensstrukturen nicht nur auf berufliche Prozesse beschränkt sind. Selbstverständlich werden dabei berufliche Prozesse stärker zentriert, ähnlich wie bei anderen Studien stärker generationelle Aspekte der Familie, Freizeit, Gesundheit, Leiblichkeit, Ernährung usw. fokussiert werden. [3]

Wendet man sich nun der Studie von NIEDERMAIR zu, werden darin stärker auf den Berufsverlauf bezogene Thematiken in den Blickpunkt genommen, lebensgeschichtlich-holistische Perspektiven eher zurückgestellt. Bereits die Verwendung eines Berufslinienblattes und die Ausrichtung des Leitfadens zeigen, dass Sinn- und Bedeutungsstrukturen beruflicher Provenienz im Vordergrund stehen. Grundsätzlich wird dabei ein für qualitative Studien typischer Aufbau gewählt. Zunächst wird einführend die Thematik der Personalentwicklung (ca. 50 Seiten) besprochen, dann auf das interpretative Paradigma (ca. 50 Seiten) und die verwendeten Erhebungs- und Auswertungsmethoden Bezug genommen (ca. 90 Seiten), um schließlich in den weiteren Kapiteln (ca. 400 Seiten) die Erkenntnisse und Daten darzustellen. Angeführt wird öfters, dass die Erkenntnisse aus Interviews mit österreichischen Personalentwickler(inne)n stammen. Allerdings lässt der Autor offen, welchen Stellenwert dies für die gewonnen Erkenntnisse hat. [4]

2. Untersuchungsfeld "Personalentwicklung"

Einführend wird in der Studie darauf verwiesen, dass die Bedeutung der Personalentwicklung in Profit- und Non-Profit-Unternehmen gestiegen sei. Gründe sieht NIEDERMAIR im Wandel der Arbeitswelt, ausgelöst durch Globalisierungstrends, technologische Dynamisierung, "lean-management" und andere Faktoren. Damit wurden in diesen neuen Entwicklungskontexten die Entfaltung des Humankapitals im Unternehmen und die Steuerung der Karriereentwicklung noch wichtiger. Personalentwicklung greift dabei auf persönlichkeits-, organisations- und teambezogene Steuerungselemente zurück. Der Autor führt genauer aus, welche Ziele und Maßnahmen Personalentwicklung hat und zeigt auf, dass Aus- und Weiterbildung immer noch zentrale Elemente sind. Spezifischer geht er auch noch auf Funktionen von Personalentwicklung in Abhängigkeit von organisationalen Entwicklungsphasen ein und differenziert hierbei zwischen einer Pionier-, Differenzierungs- und Integrationsphase, die für den Stellenwert und die Aufgabenstruktur von Personalentwicklung bedeutend seien. [5]

NIEDERMAIR stellt heraus, dass die Forschungslage über die Funktion, Rolle und Identität der Personalentwickler(innen) jedoch nicht deren zunehmende Bedeutung widerspiegelt. Er intendiert, ein umfassendes Bild über die Berufsbiografien der Gruppe der PersonalentwicklerInnen zu erstellen. Dazu wurden narrative Interviews durchgeführt und transkribiert. Auch wurde ein Forschungstagebuch angelegt, um Beobachtungen im Umfeld und die Besonderheiten der sozialen Situation von Interviews festzuhalten. [6]

3. Vorgehensweise und Erkenntnisse

Vorangestellt seien die Eckdaten der qualitativen Studie: In den Jahren 1999 und 2000 wurden vom Autor 33 narrative Interviews mit Personalentwickler(inne)n durchgeführt, die im Alter zwischen 26 und 57 Jahren waren. Betrachtet man die Verteilung biografischer Strukturdaten wie Familienstand und höchste abgeschlossene Ausbildung, zeigt sich folgendes Bild: ca. 1/3 der Personalentwickler(innen) waren ledig, ca. 1/3 verheiratet sowie etwa ein weiteres Drittel geschieden bzw. vom Partner getrennt lebend; ca. 2/3 der Interviewten hatten einen akademischen Abschluss im Bereich der Sozial-, Wirtschafts- oder Rechtswissenschaften. [7]

3.1 Datenerhebung

NIEDERMAIR entscheidet sich, die Berufsbiografien in einem offenen und kommunikativen Gesprächsrahmen zu erheben und orientiert sich am Konzept des narrativen Interviews, das er sehr ausführlich darstellt (S.109ff.). Das narrative Interview ist gerade in der Biografieforschung zum zentralen Erhebungsinstrument geworden. Der Autor geht auf die Eigenschaften dieser Gesprächsform ein, beginnend bei der Bedeutung biografischer Erzählungen, über die sich die Erlebnisse und Ereignisse des bisherigen Lebens als prozessuale Größe des Werdens ausdrücken lassen. Angestrebt wird neben einer narrativen Darstellungsform, dass die Interviewten das Gespräch weitgehend selbst strukturieren. So werden auch die Wirkmechanismen von offenen Fragen besprochen, die sich in einem "Zugzwang" zur Gestaltschließung, Kondensierung und Detaillierung manifestieren. In Folge einer offenen und breiten Erzählaufforderung zu Beginn sollen die des Interviewten sich in vergangene Handlungsabfolgen "verstricken" und über eigenerlebte Erfahrungen erzählen. Das Rekurrieren auf Erzählungen erfolgt aufgrund der Annahme, dass sie den Orientierungsstrukturen des vergangenen Handelns sehr nahe kommen und mehr Platz für den Vorgangscharakter von Handlungsverläufen lassen. Andere Darstellungsformen wie Beschreibungen und Argumentationen nehmen auf vergangene Ereignisse relativ statisch und in anderer Form Bezug. [8]

Der Autor verweist auch auf Vorbehalte gegenüber narrativen Interviews, wie sie in der Literatur aufscheinen. Die biografische Erzählung sei ein Konstrukt, indem Vergangenes nicht nur rekonstruiert und in einem heutigen Sinnzusammenhang neu konstruiert wird, sondern auch "ausgeschmückt", "verschönert" oder "geglättet" werden kann. Genauer wird dann von NIEDERMAIR auch noch auf den idealtypischen Gesprächsverlauf und die Gesprächsphasen im narrativen Interview eingegangen, wie sie auch in der Literatur ausführlich beschrieben sind (ursprünglich SCHÜTZE 1983, 1987; zuletzt KÜSTERS 2006). [9]

Die weiteren Ausführungen geben den Vorstellungen über ein narratives Interview allerdings eine Akzentuierung in Richtung eines Leitfadeninterviews. Der Autor argumentiert, dass ein höheres Maß an Vergleichbarkeit von Aussagen mit dem Einsatz eines Leitfadens erreicht und mit einem Berufslinienblatt die Karriere mit ihren Stationen sowie Höhen und Tiefen visualisiert werden sollte. Das Berufslinienblatt diente auch als Grundlage für die Erzählung, um die angeführten bedeutenden Ereignisse im Gespräch zu explizieren und ihre Sinnzusammenhänge zu verdeutlichen. Allerdings wird postuliert, dass damit das Offenheitsprinzip und die subjektiven Relevanzsetzungen des narrativen Interviews nicht wesentlich beeinflusst worden seien. Den Interviewten sei weiterhin die Priorität der Strukturierung des Interviews zugekommen. [10]

3.2 Datenauswertung

Zunächst stellt der Autor allgemeine Überlegungen zu interpretativen Verfahren an, um schließlich auf die konkret angewandten Strategien in Form einer Methodentriangulation einzugehen. Er verwendet dabei unterschiedliche Verfahrensweisen, die einerseits stärker auf Kategorienbildung inhaltsanalytischer Art abzielen (siehe Punkt 3.2.1) und die andererseits aus dem Repertoire hermeneutisch-rekonstruktiver Biografieforschung stammen (siehe Punkt 3.2.2 und 3.2.3). Mit den Worten des Autors stellt seine Konzeption "eine Mischung von quantitativer, hermeneutischer und semantischer Auswertung sowie Interpretation dar und umfasst mehrere Stufen unterschiedlicher Interpretationstiefen, wobei erkennbar wird, dass der Prozess der textgebundenen Interpretation helixartig angelegt ist" (S.181). [11]

3.2.1 Analyse verschiedener Aspekte des beruflichen Werdegangs

Für die Analyse diverser Aspekte der beruflichen Tätigkeit wurden Kategorien gebildet, dabei auch das Textaufbereitungs- und -analyseprogramm "WinMax" (KUCKARTZ 1999) eingesetzt. Konkret wurde als erster Schritt eine chronologische Aufstellung (berufs-) biografischer Strukturdaten vorgenommen und es wurden "summaries" als eine Art Gesamtschau über die einzelnen Interviews verfasst. Im zweiten Schritt wurden unter Einbezug des Computerprogramms Kategorien entwickelt, um Textteile zu organisieren und strukturieren. Sie wurden – so der Autor – deduktiv (auf der Grundlage des Gesprächsleitfadens) und induktiv (genuin aus dem Text heraus) gewonnen. Folglich wird nicht die Option der automatischen Kodierung im Programm "WinMax" genutzt, sondern in diesem Verfahrensschritt des Kodierens unter anderem auf die Grounded Theory Methodologie verwiesen (S.182; vgl. GLASER & STRAUSS 1998). Erst die entwickelten Kategorien werden computergestützt weiter verarbeitet, also Textsegmente und Zusammenhänge zwischen den Kategorien auf diese Weise analysiert. [12]

Auf diese Weise wurden Erkenntnisse zu verschiedenen Punkten des Berufslebens gewonnen:

3.2.2 Analyse der Selbstdarstellungen

Während sich die bisherigen Analysen vor allem auf verschiedene Kategorien beruflicher (Entwicklungs-) Aspekte bezogen, werden im Weiteren detaillierte (berufs-) biografische Einzelfallanalysen durchgeführt. Durch die Rekonstruktion von Fallstrukturen der erzählten Lebensgeschichte sollten mit Hilfe der Text- und thematischen Feldanalyse (FISCHER-ROSENTHAL & ROSENTHAL 1997a, 1997b; FISCHER-ROSENTHAL 1996, 2000; ROSENTHAL 1995) Erkenntnisse über die Selbstdarstellung "des Biografieträgers" gewonnen werden. Der Autor bringt in diesem Zusammenhang auch Verbindungslinien zum Selbstkonzept ein und intendiert mit diesem Auswertungsschritt die extensive Erschließung des "gegenwärtigen Präsentationsinteresses" (S.405). An drei Einzelfällen wird das Verfahren angewandt. Im ersten Fall wird aufgezeigt, dass sich die Person als "Pionier" präsentiert (S.496f.). Entgegen der bürokratischen Organisationsstruktur und den Vorstellungen seines Vorgesetzten wendet sich der Interviewte z.B. gegen einengende Stellenpläne in seinem Unternehmen. Sein risikoreiches Engagement des Probierens führt zu Krisen über eine längere berufliche Phase hinweg, die erst durch die Pensionierung seines Vorgesetzten beendet werden. Eine weitere Fallanalyse wird mit der Überschrift "Die ehrgeizige Karrierefrau aus ärmlichen Verhältnissen" (S.504f.) begonnen. Angesichts schwieriger familiärer Verhältnisse kann die interviewte Personalentwicklerin kaum auf Sicherheit und Ressourcen aus der Herkunftsfamilie verweisen. Ihre Mutter starb, als sie drei Jahre alt war. Ihr Vater, ein Bäcker, heiratete nochmals. In dieser Ehe wurden zwei weitere der insgesamt sieben Kinder geboren. Aufgrund finanzieller Probleme musste die Interviewte das Gymnasium abbrechen und begann eine Lehre. Nach einer Laufbahn in der Hotellerie wechselte sie in die Medienbranche. Ihren sozialen Aufstieg erklärt sie mit ihrer Konsequenz und ihrem Ehrgeiz. Der Autor konstatiert "Versagensängste" und Bedürfnisdefizite in der Jugend, die sie in der beruflichen Karriere antreiben. Als dritter Fall wird ein Personalentwickler herangezogen, der sich für diese Tätigkeit "prädestiniert" fühlt (S.509f.): Immer wieder wird auf seine Fähigkeiten der Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung verwiesen, beginnend in der Schule und im Sport. Eine solche Argumentation wird dann auch im beruflichen Kontext weitergeführt, sei es während seiner Arbeit im Handel, seiner selbständigen Tätigkeit als Trainer oder seiner jetzigen Tätigkeit als Personalentwickler. Sie ist essenzielle Basis seines beruflichen Orientierungsmusters. [14]

3.2.3 Analyse der Lebenskonstruktionen

Im letzten Kapitel des Buches werden weitere Einzelfallanalysen durchgeführt, allerdings wird der konzeptuelle und methodische Zugang gewechselt und es werden auf dieser Basis zwei andere Interviews einer genaueren Interpretation unterzogen. Der Autor greift dabei auf das von BUDE (1984, 1996) ausgearbeitete Konzept von Lebenskonstruktionen zurück. Darunter lassen sich Regeln fassen, nach denen sich biografische Konstruktionen konstituieren. Lebenskonstruktionen bieten Orientierungsleistungen und folgen bestimmten, nur latent im Text enthaltenen Strukturierungsgesetzlichkeiten. Zur Analyse dieser "verborgenen" Regeln in den Lebenskonstruktionen werden Auswertungsschritte einer strukturalen Sinnrekonstruktion an zwei erzählten Berufsbiografien vorgenommen. Im ersten "Porträt" wird auf eine zentrale Regel in der Lebenskonstruktion verwiesen, die bereits aus dem Beginn des Interviews herausgelesen wird: die Kompensation von "Minderwertigkeitsgefühlen", die der Interviewte in seiner Kindheit erfahren hat (S.531f.). Sie stehen im Kontext, dass der Interviewte als Halbweise in einer am Nazi-Regime aktiv beteiligten Familie aufwächst – der Vater, vor der Geburt des Sohnes gestorben, war "Kreisleiter". Auch erfährt er die Familienverhältnisse als ärmlich und scheitert an Anforderungen schulischer Ausbildungsinstitutionen. Er beginnt seine berufliche Laufbahn, indem er verschiedene Abteilungen eines Unternehmens durchläuft, bis er schließlich in die Schulungsabteilung gelangt. Erst sehr spät und schon lange im Arbeitsleben stehend, legt er die Berufsreifeprüfung an einer Universität ab. Der Autor diagnostiziert beim Interviewten unter anderem "Obstination", "Zynismus", "Bosheit" usw. und stellt sie in den Zusammenhang mit Selbstwertproblemen, die mit einer narzisstischen Besetzung seines Lebens einhergehen. Im zweiten Porträt wird eine Lebenstechnik des "Aktionismus" und der "Umtriebigkeit" festgestellt (S.557f.). Nach einem beruflichen Aufstieg zum PR-Direktor wechselt der Interviewte erst mit 49 Jahren im Zuge von Reorganisationsmaßnahmen in die Personalabteilung, gesteht sich dabei nicht ein, dass Fremdbestimmung zu diesem Abstieg führte und argumentiert mit familiären Anforderungen. Es wird diagnostiziert, dass der Interviewte anpasst und elastisch reagiert, sodass er auch in dieser neuen Abteilung seine Freude an der neuen beruflichen Tätigkeit findet. [15]

Die Ergebnisse dieses Auswertungsschrittes sind sowohl zu jenen des ersten (und quantitativ dominierenden) als auch des zweiten methodischen Zugangs (vgl. Abschnitte 3.2.1 und 3.2.2) kaum in Beziehung gesetzt. Das triangulierende Vorgehen wird vorrangig dazu genutzt, das erhobene Datenmaterial aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu betrachten, um die Erkenntnisse nebeneinander stehend zu ergänzen. In einigen Bereichen wäre ein erkenntnisintegrierendes Vorgehen allerdings sinnvoll gewesen. So hätte ein Bezug zwischen den Kapiteln zur berufsbiografischen Entwicklungsevaluation, zur Selbstdarstellung und zu den Lebenskonstruktionen der Personalentwickler(innen) sowohl konzeptuell als ergebnisorientiert vorgenommen werden können. [16]

4. Kommentar

Mit einer für Verhältnisse interpretativer Sozialforschung relativ hohen Fallzahl wird ein umfangreiches Datenmaterial erzeugt, das unter mehreren Gesichtspunkten und auf der Basis differenter Auswertungsstrategien analysiert wird. Der Autor scheint dadurch dem Gegenstandsbereich besonders entsprechen zu wollen. Prinzipiell gefällt mir eine solche Intention wie auch, dass in methodischen und methodologischen Kapiteln nicht nur auf "Mainstream"-Literatur einer interpretativen Biografie- bzw. Sozialforschung Bezug genommen wird, sondern zum Teil abseits der etablierten Wege argumentiert und auch methodisch originell verfahren wird. Allerdings sind Ausführungen zu den adaptierten Verfahrensweisen und insbesondere deren konkrete Anwendungen auch kritisch zu betrachten. Das gilt etwa für den Einsatz eines Berufslinienblattes und eines Leitfadens in einem narrativen Interview. Nicht nur aufgrund der Abgrenzung zu problemzentrierten Interviews und Leitfadeninterviews erscheint es keineswegs selbstverständlich, dass die Möglichkeiten der Eigenselektion von Relevanzen – wie sie im narrativen Interview idealtypisch vorgesehen sind – durch diese strukturierenden Instrumente nicht zumindest partiell eingeschränkt werden. Diskussionswürdig erscheint auch die Anwendung des Verfahrens der Text- und thematischen Feldanalyse, welches aus dem Gesamtkontext der Interpretationsstrategie von FISCHER-ROSENTHAL und ROSENTHAL genommen und mit Vorstellungen eines (gegenwärtigen) "Präsentationsinteresses" kontextualisiert wird. Gleichzeitig entsteht beim Lesenden auch der Eindruck, dass das Verfahren ohne Bezugnahme auf Textsorten (Erzählung, Bericht, Argumentation) durchgeführt wurde. Ist bereits eine solche Vorgehensweise auffällig, irritieren dann jedenfalls Interpretationen bzw. deren Darstellungen im Text, indem manifeste Inhalte hervorgehoben und der Rekonstruktion von (latenten) biografischen Wissens- und Handlungsstrukturen nicht mit der notwendigen Intensität gefolgt wird. Dadurch werden präsentierte Bedeutungsstrukturen, wie unter anderem jene des "Pioniers" (S.500) oder der Kompensation von "Minderwertigkeitsgefühlen" (S.532), einfach aus dem Interview übernommen und nicht hinterfragt. Der Autor reproduziert damit immer wieder subjektive Äußerungen der Interviewten, anstatt die präsentierten Deutungen über Prozesse im Beruf, in der Familie und anderen Bereichen umfassend zu analysieren. Damit entfernt er sich von der Aufdeckung "verborgener" Regeln und Inhalte biografischer Präsentationen, wie es die Verfahrensweisen beanspruchen. Störend wirkt aber auch die Verwendung umgangssprachlicher Ausdrücke im Analysezusammenhang, wie etwa "asozial" (S.505) oder "wilder" bzw. "rüder Hund" (S.556, S.566), selbst wenn darauf verwiesen wird, dass es sich um "Selbstattribuierungen" handelt. [17]

Diese Kritik bezieht sich allerdings auf einen Ausschnitt der Arbeit, da die Studie insgesamt nicht als biografisch-rekonstruktive einzuordnen ist. In letzterem Typus von Studien wird Fall für Fall extensiv interpretiert, danach eine Typenbildung biografischer Strukturen oder/und eine Verallgemeinerung durch Fallvergleiche vorgenommen. Dabei sind es soziale Entitäten – je nach theoretischem Diskurs biografische Strukturen, Lebenskonstruktionen, Verlaufskurven, Formen narrativer Identitäten oder biografische Kommunikationen –, welche zum Forschungsgegenstand werden. [18]

Literatur

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Zum Autor

Gerhard JOST, Dr., ao. Univ.Prof, Studium der Soziologie an der Universität Wien. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Biografieforschung und qualitative Sozialforschung; Durchführung verschiedener qualitativer Forschungsprojekte.

Kontakt:

Gerhard Jost

Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung
Department für Sozialwissenschaften
Wirtschaftsuniversität Wien
Augasse 2-6
A-1090 Wien

Tel.: +43/1/31336-4743 (od. 4737)

E-Mail: Gerhard.Jost@wu-wien.ac.at

Zitation

Jost, Gerhard (2007). Rezension zu: Gerhard Niedermair (2005). Patchwork(er) on Tour. Berufsbiografien von Personalentwicklern [18 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(3), Art. 31, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703316.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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