Volume 8, No. 3, Art. 30 – September 2007
Rezension:
Wolfgang Mack
Wolfgang R. Köhler (2004). Personenverstehen. Zur Hermeneutik der Individualität. Frankfurt/M., Lancaster, UK: Ontos Verlag, 234 Seiten, ISBN: 3-937202-54-4, Preis: 34 €
Zusammenfassung: Wolfgang KÖHLER's Monographie über das Verstehen einer Person als eines Individuums ist ein Versuch, den in der Alltagssprache undifferenziert gebrauchten Begriff des Fremdverstehens sowie den des Selbstverstehens, wie er in Aussagen wie "Maria versteht ihren Mann" oder "Ich verstehe mich selbst nicht mehr" vorkommt, durch eine philosophische Reflexion zu differenzieren. Durch diese Reflexion wird gezeigt, dass der Verstehensbegriff auf drei verschiedene Weisen gebraucht wird: mit dem Anspruch eines Wissens, eines Könnens und eines Fühlens. Es ergibt sich, dass das Verstehen der eigenen wie der fremden Person im Sinne eines Wissens eine Ausnahme bildet, zumal dieses Wissen in einer mehr oder weniger poetischen Beschreibung darzustellen ist. Der Normalfall des Verstehens einer Person als eines unverwechselbaren Individuums besteht dagegen in einem Können oder Fühlen – und verdient damit gar nicht, ein "Verstehen" genannt zu werden im Sinne eines Wissens, wer jemand und wer man selbst ist. Das Buch erlaubt es, kritisch zu prüfen, welche hohen Ansprüche an die Versuche zu stellen sind, andere Personen, aber auch sich selbst zu verstehen. KÖHLER bleibt dabei eng an seinem lebensweltlichen Gegenstand und klärt im besten Sinne über das Verstehen von Personen auf.
Keywords: Person, Verstehen, Hermeneutik, analytische Philosophie, Selbstverstehen, Fremdverstehen, kollektives Verstehen, Personverstehen
Inhaltsverzeichnis
1. Einordnung des Buches
2. Fragestellung und Aufbau des Buches
3. Klassische Hermeneutik und Modelle des Personenverstehens
4. Begriff des Personenverstehens
5. Wissensbedingungen für das Personenverstehen
5.1 Verfahren des Personenverstehens
5.2 Kognitives Selbstverstehen
5.3 Zusammenhang Selbstverstehen und Fremdverstehen
5.4 Verstehen von Kollektiven und die Prozessualität des Verstehens
5.5 Nichtkognitives Personenverstehen
5.6 Personen und Texte sowie die Grenzen des Personenverstehens
6. Abschließende Bewertung
Das Thema des Buches ist das Verstehen von Personen. Es geht somit weder um eine Theorie des Verstehens noch um eine Theorie der Person, sondern darum, was es heißt, eine Person in ihrer Individualität zu verstehen. Diese Frage umfasst nicht nur das Verstehen einer anderen Person, sondern auch das Sich-selbst-Verstehen und darüber hinaus die Frage nach dem Verhältnis beider Verstehensbezüge. Der Autor Wolfgang KÖHLER behandelt diese Fragen sehr grundlegend, weswegen sein Buch für alle geeignet ist, die sich die Frage stellen, was es heißt, jemanden oder sich selbst zu verstehen. Als Philosoph gelingt es ihm, über das Verstehen von Personen so zu reflektieren, dass er nie in einen unverständlichen philosophischen Jargon verfällt, sondern stets nahe an der lebensweltlichen Lage bleibt, in der versucht wird, andere und sich selbst zu verstehen. Es geht ihm um die Hermeneutik der Individualität, also die Übertragung des Verstehensbegriffs aus dem Bereich des Textverstehens in den Bereich des Personverstehens. Diese Übertragung nimmt KÖHLER im Kontext der sprachanalytischen Philosophie vor, wobei er an sprechakttheoretische Arbeiten (z.B. AUSTIN 1971), aber auch an die Philosophie Donald DAVIDSONs anknüpft. Er geht aus von den Einsichten des deutschen Idealismus und der klassischen hermeneutischen Philosophie, insbesondere DILTHEYs, verknüpft aber den Begriff des Verstehens mit dem sprachanalytischen Begriff des Wissens. Diese Verknüpfung erlaube es, Verstehensbehauptungen kritisch hinsichtlich ihrer Wahrheit zu behandeln. KÖHLER zeigt, dass viele Behauptungen, die sich auf das Verstehen von Personen beziehen, einer strengen Analyse nicht standhalten, was er beispielsweise an dem mehrdeutigen Begriff der "Einfühlung" aufzeigt. [1]
Das Buch ist damit für alle relevant, die sich in Alltag oder Wissenschaft vertieft mit der Frage beschäftigen wollen, was unter einem Begriff des Verstehens von Personen zu fassen ist und dabei mit den alltäglichen Ansprüchen an das Verstehen von Personen unzufrieden sind. Das Buch verfolgt einen philosophischen Anspruch der Klärung und bietet sich damit insbesondere für Personen an, die sich in unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Kontexten bewegen, in deren Mittelpunkt die Interpretation von Persönlichkeitsstrukturen, Lebensläufen und Biografien, Einstellungen und Handlungen, aber auch kleinerer und größerer Kollektive sowie der historische Wandel von Lebenswelten und das Verstehen historischer Persönlichkeiten steht. Von Interesse ist dieses Buch aber auch für diejenigen, die mit der Anwendung hermeneutischer Methoden vertraut sind. [2]
2. Fragestellung und Aufbau des Buches
Im Alltag gehen Menschen davon aus, dass sie einander verstehen können, ihre sprachlichen Äußerungen und die nichtsprachlichen Handlungen. Dies wird vor allem dann bewusst, wenn sprachliche Äußerungen und nichtsprachliches Handeln missverstanden werden. Daran schließt KÖHLER die Leitfrage seines Buches an, "ob Menschen einander und auch sich selber als (individuelle) Personen verstehen können und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssten" (S.7). Die zentrale Botschaft des Buches ist, dass Personen schwer zu verstehen sind. KÖHLER wendet sich gegen die im täglichen Umgang oft leichtfertig geäußerte Behauptung, jemanden zu verstehen. Er kritisiert den inflationären Gebrauch des Wortes "Verstehen" und plädiert dafür, Verstehensbehauptungen an einem anspruchsvollen Verstehensbegriff zu messen. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit gesagt werden kann, man verstehe eine(n) andere(n) oder sich selbst? [3]
Dieser Frage geht der Autor in elf Kapiteln nach. In Kapitel 0 werden Modelle des Personverstehens kurz skizziert, dann folgt in Kapitel 1 ein kurzer Abriss zur Geschichtlichkeit des Personverstehens, an das Darlegungen zum Begriff der Person (Kapitel 2), zum Begriff des Verstehens im Allgemeinen (Kapitel 3) und dem Verstehen von Handlungen und Texten im Besonderen (Kapitel 4) anschließen. Nicht nur der Abfolge, sondern auch dem Inhalte nach kommt dann der zentrale Teil des Buches, in dem es um den Begriff des Personenverstehens geht. Dieses Kapitel ist in vier Teile untergliedert: In Teil 1 beschäftigt sich der Autor mit dem kognitiven Fremdverstehen, in Teil 2 mit dem kognitiven Selbstverstehen, in Teil 3 mit den Zusammenhängen zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen und in Teil 4 mit dem Verstehen von Kollektiven und dem kollektiven Verstehen. Nach einem Kapitel über die Zeit(en) des Personenverstehens (Kapitel 6) schließt sich das Kapitel über nichtkognitives Personenverstehen an. Die drei letzten Kapitel beschäftigen sich mit der Interdependenz von Sprach-, Handlungs- und Personenverstehen (Kapitel 8), hermeneutischen Maximen und einem Verstehensprinzip (Kapitel 9) sowie mit den Grenzen des Personenverstehens und des Verstehens überhaupt (Kapitel 10). [4]
3. Klassische Hermeneutik und Modelle des Personenverstehens
Es wird eine philosophische Reflexion der Möglichkeit des Personenverstehens dargelegt und erörtert, wie das Verstehen einer Person als Individuum in seiner ganzen Komplexität zu begreifen ist. Die klassische Hermeneutik hat sich mit einer bestimmten Äußerungsform von Menschen befasst, mit Texten, aber nicht systematisch die Frage verfolgt, ob die Lehre über das Auslegen und Verstehen von Texten auf die Produzent(inn)en derselben angewendet werden kann oder gar angewendet werden sollte. WUCHTERL (1999) spricht von einer "Pragmatisierung der Hermeneutik", die er mit der Transzendentalpragmatik APELs und der Diskurstheorie HABERMAS' in Verbindung bringt. KÖHLER ist im weiten Sinne ebenfalls in der Pragmatisierung der Hermeneutik zu verorten, ohne freilich eng den Linien APELs und HABERMAS' zu folgen. Mit seiner sprachanalytischen Verbindung von Verstehen und Wissen, die die Analyse des Wahrheitsanspruches des Verstehens erlaubt, folgt KÖHLER eher dem Philosophen Donald DAVIDSON. Dies zeigt sich daran, dass KÖHLER sich dem Begriff des Personenverstehens vom Begriff des Verstehens aus nähert, um zu sagen, "dass Personen Sinn oder Bedeutung produzierende und verstehende Tiere sind – was in gewisser Weise auch ein transzendentales Merkmal ist" (S.49). Nach KÖHLER sollen daher zunächst die semantischen und pragmatischen Produkte von Personen betrachtet werden. Er beschränkt sich vorläufig nur auf die Behauptung, dass Personen Sinnhaftes produzieren und verstehen (S.50). [5]
Entsprechend geht es ihm nicht darum, "einen voll entwickelten Personenbegriff zu explizieren, der alle Facetten des Personseins umfasst" (S.29). Er stellt heraus, dass die Verstehbarkeit einer individuellen Person "unabhängig von der Wahrheit metaphysischer Theorien über Personen" (S.30) sei. Entsprechend wird die Person von der Weise des Personenverstehens her in den Blick genommen, wobei gesagt wird, dass das Fehlen einer der nicht-kontingenten Eigenschaften (Rationalität, Emotionalität, Sprachlichkeit, Handlungsfähigkeit, Leiblichkeit, Zeitbewusstsein bzw. Geschichtlichkeit, Sterblichkeit) dazu führe, einem Menschen das Personsein absprechen zu müssen. Durch diese Vorgehensweise vermeidet es KÖHLER zu suggerieren, der Begriff "Person" könne durch eine vollständige Liste von Merkmalen definiert werden. Auch für diejenigen, die an einer Theorie der Person interessiert sind, bietet dieser Zugang über das Verstehen von Personen in der Lebenswelt eine wichtige Methode für das Erstellen oder Prüfen von Bausteinen einer solchen Theorie. [6]
Es werden drei Modelle des Personenverstehens präsentiert, wobei Fremd- und Selbstverstehen zu unterscheiden sind. Es wird grundsätzlich zwischen einem kognitiven und einem nichtkognitiven Modell des Personenverstehens unterschieden. Das kognitive Modell betont das Wissen, dass es sich mit einer Person "soundso verhält" (S.8), es ist im Kern das Wissen über die fundamentalen Überzeugungen und Wünsche einer Person, ihrer Emotionen und Grundstimmungen, verbunden mit dem Anspruch, jemanden zu verstehen. Neben dieses theoretische Personenverstehen treten zwei Varianten des nichtkognitiven Modells, das praktische Personenverstehen im Sinne des "Sich-mit-jemandem-Verstehens" und das emotionale Personenverstehen im Sinne des "Zu-jemandem-eine Neigung haben". Die bekannten Arten des Personenverstehens, das Nachvollziehen oder das (Sich-) Hineinversetzen, die kognitive Simulation dessen, wie der oder die andere sich bei welchen Anlässen fühlen mag und daraufhin tun wird, schlägt der Autor dem theoretischen Personenverstehen zu. [7]
KÖHLER streift dann die klassische hermeneutische Tradition, um bei HEIDEGGER kurz zu verweilen, denn die "heideggerianisch-hermeneutische Tradition liefert den historischen Bezugspunkt für meine Fragestellung" (S.21). Unter Verweis auf KANT stellt KÖHLER heraus, dass Selbsterkenntnis in theoretischer Hinsicht unmöglich sei. Die Erkenntnisgewinnung über die eigene Person und die über andere seien epistemisch gleichrangig. Damit sei aber nicht jede Selbsterkenntnis unmöglich, sondern nur die des transzendentalen Selbst. KÖHLER geht es aber nicht um das "stehende", sondern um das "gehende" Selbst. Zu berücksichtigen seien demzufolge die semantischen und pragmatischen Verstehensdimensionen, wie sie in der sprachanalytischen Philosophie gewonnen worden sind. Es gehe also nicht um "subjektivitätstheoretische Überlegungen, sondern um eine im weitesten Sinne hermeneutische Theorie der Personalität und der Individualität" (S.27). Er geht von einem nicht-naturalistischen Verständnis des Personbegriffs aus und verfolgt die "generelle Strategie", "sich vermittels des Begriffs des Verstehens einen Begriff der Person zu machen – und nicht etwa über naturalistisch konzipierte Eigenschaften" (S.50). Dieser methodische Zugang zum Begriff Person soll es vermeiden, von einer vorgegebenen Naturverfassung der Person auszugehen, wie es kennzeichnend für beispielsweise neurowissenschaftliche Erklärungsversuche des Menschen ist. Vielmehr geht KÖHLER von der Vorgegebenheit der lebensweltlichen Bezüge aus, die auch wissenschaftliche Deutungen aller Art zu berücksichtigen haben. Entsprechend erspart KÖHLER den Lesenden auch Exkurse in die Verstehen-Erklären-Debatte. [8]
An diese Ausführungen schließen Überlegungen an, wie das Verstehen zu verstehen sei (Kap.3). Wichtig sei die Unterscheidung zwischen einer psychologischen und einer semantischen Deutung des Verstehensbegriffes. Da der Verstehensbegriff auch eine kognitive Seite habe sei das kognitive Verstehen als Wissen zu interpretieren. Daher müsse dann die Unterscheidung von wahr und falsch auf diese Verstehens- bzw. Wissensbehauptungen angewandt werden. Es seien also Kriterien zu fordern, anhand derer die Wahrheit einer Verstehensbehauptung zu prüfen ist. KÖHLER zieht das Sprechen und das Handeln zu "SprachHandeln" zusammen (Kap.4) und folgt dabei sprechakt- und handlungstheoretischen Gedanken, wie sie beispielsweise von AUSTIN (1972) und SEARLE (1971) formuliert wurden. Das Personenverstehen sei mit dem Verstehen des SprachHandelns nicht identisch. In beiden Fällen werde das Verstehen aber "durch eine holistische Sinn- und Bedeutungsstruktur überhaupt erst möglich" (S.70). [9]
4. Begriff des Personenverstehens
Es schließen die Ausführungen zum Begriff des Personenverstehens (PV) an (Kap.5). KÖHLER sieht "keine Alternative zum Rückgriff auf den Sprachgebrauch" (S.71). Grundlegend sei ein Ausdruck der Form (PV) "P1 versteht P2", und dieser Ausdruck stehe im Sprachspiel unserer "individualistischen Lebensform" keineswegs auf gleicher Stufe mit Äußerungen wie "P1 versteht das, was P2 im einzelnen sagt" oder "P1 versteht das, was P2 im einzelnen tut". Vielmehr gehe das Personenverstehen über die Summe verstandener Einstellungen und Handlungen einer Person hinaus. KÖHLER kommt damit zur wichtigen Frage, inwieweit in Bezug auf das Personenverstehen "mehr als ein partikularistisches Verstehen möglich ist oder ob das Personenverstehen auf ein Erkennen einzelner Attribute beschränkt bleiben muss und sich bestenfalls eines irgendwie geordneten Zusammenhangs solcher personalen Attribute vergewissern kann" (S.75). Er verweist in diesem Zusammenhang auf die "hermeneutische Analogie zwischen einer Person und einem Text" (S.76ff.). Infolgedessen lassen sich Erkenntnisse aus dem Studium des Verstehens von literarischen Texten auch auf das Personenverstehen übertragen. So wie Texte auch nur als Ganzes, als Totalität verstanden würden, so verstehe man auch nur Personen als Ganze, "Personen ähneln Romanen" (S.79) in verstehenstheoretischer Hinsicht. Es stelle sich auch die Frage, was gewusst wird, wenn das kognitive Personenverstehen als Wissen gedeutet wird. Jedenfalls könnten dann Behauptungen, jemanden zu verstehen, wahr oder falsch sein. [10]
Im Folgenden seiner Ausführungen geht es um das kognitive Fremdverstehen (Kap.5.1). KÖHLER zufolge wird alltagspsychologisch nicht klar, wie Fremdverstehen verläuft. Nacherleben, (Sich-) Hineinversetzen seien Beispiele für unklare Ausdrücke, weil vor allem nicht klar sei, ob sie nun dem kognitiven oder nichtkognitiven Modell des Personenverstehens angehörten. Es sei unklar, was dabei gewusst, gekonnt oder gefühlt wird (S.82f.). Es gebe aber keine Kriterien, die es zu entscheiden erlauben, ob z.B. Sich-Hineinversetzen zu einer wahren oder falschen Verstehensbehauptung führe. KÖHLER konstatiert schließlich: "Das sogenannte Nachvollziehen und das sogenannte Sichhineinversetzen sind und bleiben hermeneutische Schimären" (S.88), die auf eine falsche Alltagspsychologie, die Gegenüberstellung von Innen und Außen, zurückzuführen seien. Im Vollsinn des Wortes sei es eben nicht möglich, sich in Andere hineinversetzen. "Innen" und "Außen" seien Bestandteile einer Verstehensbehauptung und bedürften der öffentlichen Kriterien. [11]
Obwohl diese Schlussfolgerung einiges für sich hat, so wird sie recht abrupt getroffen, ohne auf eine relativ umfangreiche Debatte zur kognitiven Simulation, zur theory of mind und zur Fähigkeit der sozialen Perspektivenübernahme einzugehen, wie sie in der kognitiven Entwicklungspsychologie und den Kognitionswissenschaften geführt wird (z.B. CARRUTHERS & SMITH 1996). Sicherlich liest sich das Buch ohne diese Debatte angenehmer, da deren Darstellung relativ umfangreich ausfallen müsste und dadurch die Klarheit von KÖHLERs Darstellungen eventuell gelitten hätte. KÖHLERs Kritik am verstehenden Nachvollziehen, Einfühlen und Sich-Hineinversetzen ist richtig, insofern die Frage gestellt wird, ob die daraus abgeleiteten Verstehensbehauptungen wahr oder falsch sind. Anderseits kann das Einfühlen auch als eine Phase im Versuch, eine Person zu verstehen, aufgefasst und als wertvoll für die Bildung von Verstehenshypothesen angesehen werden. Häufig versetzt man sich in andere, um vorhersagen zu können, was sie tun werden. Das Verstehen von Verhaltensweisen, die einem zunächst befremdlich erscheinen, beginnt gelegentlich so, beispielsweise im Umgang mit psychisch erkrankten Personen. Dies macht es meist nötig, dass anfängliche Verstehenshypothesen revidiert werden müssen, wenn sie kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt befragt werden, denn häufig lässt sich aus dem Einfühlen alleine kein zureichendes Verstehen einer Person, insbesondere einer von der statistischen Norm des Verhaltens und Erlebens abweichenden, gewinnen. Gerade in der klinischen Persönlichkeitsdiagnostik ist es daher erforderlich, dass verschiedene Methoden des verstehenden Zugangs zur Person gewählt werden, um bestimmte Verstehenshypothesen kritisch zu prüfen, wobei KÖHLER im weiteren Verlauf des Textes auf solche Methoden zu sprechen kommt. Hätte KÖHLER die Überlegungen zum Nachvollziehen und Einfühlen etwas weiter in beispielsweise diese Richtung ausgeführt, wäre sogar die besondere Stärke seines anspruchsvollen Verstehensbegriffs noch deutlicher geworden. [12]
5. Wissensbedingungen für das Personenverstehen
Es folgt nun das Hauptstück des Buches. KÖHLER formuliert fünf Wissensbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Anspruch, eine fremde Person zu verstehen, gerechtfertigt sei. Eine andere Person sei nur dann zu verstehen, wenn man a) weiß, warum sie/er die Gründe hat, die er/sie hat, b) was für eine Art Mensch sie/er ist, c) welche Lebensgeschichte sie/er hat, d) wie sie/er sich selbst versteht und e) wie sie/er sich fühlt. [13]
Zu ersten Wissensbedingung führt KÖHLER eine Analogie zum Verstehen einer Handlung aus. Eine Handlung sei verstehbar, wenn der Grund oder das Motiv der Handlung bekannt sei und eine Person verstehe man, wenn man weiß, warum sie diese Gründe hat. Das Wissen um die Gründe von Gründen, die eine Person hat, müsse, je nach angestrebter "Verstehenstiefe", letztlich den gesamten "Intentionalitätsraum" einer Person umfassen, aber auch nicht-intentionale, nicht-propositional strukturierte Dispositionen wie z.B. die Angstneigung einer Person. Was für eine Person subjektiv rational ist, müsse nicht auch intersubjektiv rational sein. [14]
Mit der zweiten Wissensbedingung wird konstatiert, dass man eine Person versteht, wenn man weiß, was für eine Art Person sie ist. Es gehe um das, was in der Persönlichkeitspsychologie von zentraler Bedeutung ist, die Persönlichkeitseigenschaften oder wie KÖHLER es nennt, die Personenprädikate, die in der Form "X ist ein P" oder einfach "X ist P" ausgedrückt werden können, beispielsweise "X ist ein Feigling" oder "X ist ängstlich", "X ist sehr intelligent". Personenprädikate seien als Dispositionsprädikate zu verstehen und haben damit den Status von theoretischen Begriffen. [15]
Dies leitet zur dritten Wissensbedingung für Personenverstehen über, dem Wissen, das über die Lebensgeschichte der zu verstehenden Person verfügbar ist. Das Wissen darüber, wie jemand das wurde, was er oder sie ist, muss KÖHLER zufolge als zentraler Beitrag zum Verstehen einer Person angesehen werden. Die Lebensgeschichte sei sogar als das "Prinzip der Individuierung" zu betrachten, in der Lebensgeschichte drücke sich die Einzigartigkeit der Person aus. KÖHLER verweist auf die epistemischen Probleme der Erzählungen von Lebensgeschichten hin, die wiederum auf die Probleme einer Geschichte des Verstehens verweisen. [16]
Mit der vierten Wissensbedingung wird festgestellt, dass man eine Person versteht, wenn man weiß, wie sich diese Person selbst versteht. Von zentraler Bedeutung ist an dieser Bedingung, dass nicht nur die Dritte-Person-Perspektive, die Beobachterperspektive, relevant für das Personenverstehen ist, sondern auch die Erste-Person-Perspektive, das Verständnis, das die Person von sich selbst hat. KÖHLER stellt fest, dass das Personenverstehen "immer aus einer Verschränkung von Selbstverstehen und Fremdverstehen besteht" (S.106). Die Art und Weise, wie andere mich verstehen, ist eine wichtige Quelle des Selbstverständnisses. [17]
Mit der fünften Wissensbedingung wird ausgesagt, dass man eine Person versteht, wenn man weiß, wie sie sich fühlt. Hierbei geht es vor allem um das Selbstgefühl und das Lebensgefühl. KÖHLER führt an dieser Stelle aus, was es heißen kann zu wissen, wie sich jemand fühlt, aber gibt wenig Anhaltspunkte, wie eine Person P1 zu dem Wissen über das Selbst- oder Lebensgefühl von P2 gelangt. Sicher ist neben der sprachlichen Mitteilung das nonverbale Ausdrucksverhalten von Bedeutung. [18]
KÖHLER diskutiert (Kap.5.12) zwei Interpretationen des Modells des kognitiven Fremdverstehens. Diese ergeben sich daraus, dass die fünf Wissensbedingungen in einem Falle konjunktiv, im anderen Falle disjunktiv verknüpft werden. Er geht der Frage nach, was in welchem Ausmaß zu wissen sei, um gerechtfertigt zu sagen, dass man eine Person verstehe. Damit hängt zusammen, inwiefern es Grade des (kognitiven) Verstehens (teilweises Verstehen) und Missverstehens gibt. Nach einer Reihe von Fallunterscheidungen plädiert KÖHLER
"für einen starken, inhaltsreichen Verstehensbegriff, durch den ausgeschlossen werden kann, dass manche Personen leichtfertig behaupten können, sie hätten eine Person verstanden. Außerdem ist es auch wichtig, dass es sich bei dem kognitiven Verstehensbegriff um ein Wissen-dass handelt und nicht nur um einen Glauben, der kein Wissen ist" (S.119). [19]
5.1 Verfahren des Personverstehens
Des weiteren stellt KÖHLER die Frage (Kap.5.1.3), "mit welchen Verfahren oder Schritten gelangt man dazu, das fremde und das eigene mentale System (Bewusstsein, Denken usw.) zu erkennen?" Er nennt drei generische Verfahren: (1) die Deutung des beobachteten SprachHandelns, (2) das deutende Beobachten von Mimik und Gestik und (3) die Prognosen aus diesem Beobachten und Deuten. KÖHLER stellt auch fest, "dass die Richtigkeit der Verstehensversuche anhand ihrer prognostizierten Konsequenzen überprüft werden muss" (S.124). Diese Feststellung KÖHLERs ist kompatibel mit den Verfahren der Persönlichkeitsdiagnostik und der Psychologie, die letztlich systematischer, kontrollierter und auf Objektivität im Sinne von Intersubjektivität angelegt sind als die Vorgehensweise in Kontexten des Verstehens, die weniger strenge Anforderungen stellen. Im forensischen Rahmen beispielsweise haben schließlich Verstehensbemühungen erhebliche Konsequenzen für die zu verstehende Person und ihr nahestehende Personen oder gar die Gesellschaft als Ganzes. Diese generischen Verfahren sind natürlich auch relevant in allen Formen des Beobachtens, die auf ein besseres Verständnis der beobachteten Personen abzielen. Was den Versuch, jemanden im Alltag zu verstehen von dem Versuch, jemanden mit wissenschaftlichem Anspruch zu verstehen, unterscheidet, ist das Bemühen, die Wahrheit von Verstehensbehauptungen, die aus den Verstehensversuchen gefolgert werden, kritisch und systematisch zu prüfen. [20]
Es werden dann (in Kap.5.2) zwei konträre Thesen aufgestellt, diejenige NIETZSCHEs, dass sich jeder selbst der Fernste sei und die alltagstheoretische, das jeder sich selbst am besten kenne. Dazwischen platziert KÖHLER sein von ihm so genanntes personalitätstheoretisches Modell des Selbstverstehens: "Jeder weiß einiges von sich, das andere Personen nicht wissen und wonach sie erst fragen müssen. Und einiges kann er sich nicht einmal selbst fragen, sondern muss sich beobachten und erfahren" (S.136). KÖHLER expliziert das Selbstverstehen durch die Gegenüberstellung der Begriffe Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Selbstbewusstsein setze keine Selbsterkenntnis voraus und erfordere auch keine Selbstidentifikation. Selbstbewusstsein beruhe "auf einem prärationalen oder vorprädikativen Mit-sich-selbst-vertrautsein", Selbsterkenntnis erfordere aber "Rationalität und Propositionalität, also Prädikativität" (S.138). [21]
5.2 Kognitives Selbstverstehen
Beim kognitiven Selbstverstehen "geht es um die Fragen, (1) was ich von mir selbst, d.h. über mich selbst als ich selbst wissen kann und (2) wie ich zu diesem Wissen gelangen kann" (S.142f.). KÖHLER fasst das kognitive Selbstverstehen dahingehend zusammen, dass es "nicht in einer inneren, vorsprachlichen, intuitiven Erfahrung oder Erkenntnis eigener Vorstellungen, Gedanken usw." bestehe, "sondern in einer äußeren, im Prinzip kommunikativ vermittelten, semantisch-pragmatischen Interpretation eigenen SprachHandelns: also nicht Introspektion, sondern Interpretation" (S.157). Er folgt der Kritik WITTGENSTEINs (z.B. WITTGENSTEIN 1988), in deren Folge die epistemische Priviligierung der Erste-Person-Autorität zurückgewiesen wurde. [22]
5.3 Zusammenhang Selbstverstehen und Fremdverstehen
Im folgenden Abschnitt werden die Zusammenhänge zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen (Kap.5.3) thematisiert. Für KÖHLER sieht es so aus, "als ob es eine ontogenetische Priorität des Fremdverstehens gibt, da Selbstverstehen mindestens an semantisches Wissen, unter anderem an die Fähigkeit zur Verwendung von Personalpronomina, aber auch an 'Weltwissen', gebunden ist. Das 'ich'-sagen-Können wird erst nach ungefähr drei Jahren gelernt" (S.158). Ein weiterer Aspekt, den KÖHLER anführt, ist, "dass Kommunikation und Interaktion unter dem Aspekt der Verschränkung von Selbstverstehen und Fremdverstehen rekonstruiert werden können" (S.158). Als Gegenposition führt er Alfred SCHÜTZ an, für den das Selbstverstehen dem Fremdverstehen vorangehe. Problematisch erscheint KÖHLER an dieser Position, dass zum einen das Verstehen des Selbstverstehens (Wissensbedingung d) einfach als gegeben vorausgesetzt werde und zum anderen, dass ein "blankes Selbst" vorprädikativ erfahren werden könne. (SCHÜTZ unterscheidet die in einer "ursprünglichen Tiefenschicht" angesiedelte vorprädikative Erfahrung eines Du in der Umwelt, während das Du in der Mitwelt als ein Selbst nur prädikativ, urteilend erfahren werden könne.) Hier sei das Fremdverstehen teils kognitiv, teils nichtkognitiv verstanden und es wäre die Frage, was an "einem nichtkognitiven Fremdverstehen noch ein Verstehen wäre" (S.159f.). [23]
Diese Frage ist eine Herausforderung für alle wissenschaftlichen Bestrebungen, die sich mit der Ontogenese des Selbstverstehens befassen. KÖHLER geht auf die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht ein, empirische Hinweise zu finden, wie sich aus der bloß vorprädikativen Erfahrung anderer Personen, wie sie einem präverbalen Säugling zugeschrieben werden müssen, die prädikative Erfahrung eines Du, einer anderen Person, und damit auch die Erfahrung, selbst ein Du für andere zu sein, entwickelt. Die Beschäftigung mit einem inzwischen großen empirischen Forschungsfeld (z.B. BRÅTEN 1998) ist KÖHLER auch keineswegs abzuverlangen, da es den von ihm gesteckten Rahmen sprengen würde. Da er tendenziell für die ontogenetische Priorität des Fremdverstehens optiert, ist es natürlich interessant, nach den Argumenten für diese Position zu fragen. KÖHLER ist zu Recht vorsichtig, eine einfache Antwort vorzulegen, und sein Hinweis auf die Verschränkung von Selbst- und Fremdverstehen in der kommunikativen Interaktion ist entscheidend. In der kommunikativen Interaktion zwischen Pflegeperson und Säugling herrscht ein Verstehensgefälle dahingehend, dass die Pflegeperson über ein prädikatives, sprachliches Verstehen verfügt im Gegensatz zum Säugling. Ob dem Säugling überhaupt eine Art von Selbst- und Fremdverstehen unterstellt werden kann, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Der Säugling erkennt schon sehr früh seine Pflegeperson und ist zu einfachen Koordinations- und Interaktionsleistungen in der Lage, die sich u.a. in seinem Imitationsverhalten ausdrücken, so dass von primärer Intersubjektivität gesprochen werden kann (vgl. TREVARTHEN 1998; MACK 2007). Sicherlich ist von einer Art Verstehen in der erfolgreichen Interaktion zwischen Säugling und Mutter auszugehen. Nach KÖHLER wäre dieses Verstehen ein nichtkognitives, das von Zuneigung und sich darauf verstehen, miteinander zu interagieren, gekennzeichnet wäre. Aber dies wirft gerade die Frage auf, ob dieses nichtkognitive Verstehen überhaupt Verstehen genannt werden sollte. Empirisch lässt sich diese Frage kaum entscheiden. [24]
KÖHLER lässt die weitere Fragestellung der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung nach dem Zusammenhang von Fremdverstehen und Selbstverstehen beiseite, aber auch einschlägige entwicklungspsychologische Arbeiten und fragt, "ob man die Beziehungen (es sind nämlich mehrere) zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen als Bedingungsverhältnisse rekonstruieren kann" (S.160). Er formuliert dazu die Wissensbedingung (d) "Eine Person verstehen heißt wissen, wie sie sich selber versteht" um zu (d') "P1 versteht P2, wenn P1 P2s Selbstverstehen kennt und wenn demzufolge P1 P2s Interpretation des Fremdverstehens seiner eigenen Person P2 kennt". Das Selbstverstehen von P2 setzt sich also zusammen aus dem Wissen, wie andere über P2 denken, wie andere mit P2 umgehen und wie andere P2 beurteilen oder interpretieren. Dies schließt nicht aus, dass P2 die Interpretationen der eigenen Person missversteht, aber durchaus andere Personen versteht, weswegen KÖHLER (d) und (d') noch um (d'') ergänzt: "P1 versteht P2, wenn P1 P2s Selbstverstehen kennt und wenn darüber hinaus P1 P2s Fremdverstehen der Personen P3 … Pn kennt". Die Person kann sich nicht ausschließlich aus sich heraus, in solipsistischer Reflexion, verstehen, "sondern in der das Fremdverstehen einschließenden und auf sie selbst bezogenen Kommunikation mit anderen Personen" (S.161). Für dieses Selbstverstehen (SV) formuliert KÖHLER: "(SV) 'P1 versteht P1 nur dann, wenn P1 das auf P1 bezogene Fremdverstehen von P2 … Pn versteht" (S.161). Diese Aussage erweitert KÖHLER, da das Selbstverstehen von P1 für andere Personen interpretierbar sein muss: "(SV') 'P1 versteht P1 nur dann, wenn P2…Pn P1s Selbstverstehen interpretieren können' " (S.161). KÖHLER hebt die rückbezügliche, reflexive Bezogenheit von Selbstverstehen und Fremdverstehen hervor: "eine sich selbst und andere zu verstehen versuchende Person versucht, eine sich selbst und andere zu verstehen versuchende Person zu verstehen" (S.161). Dies ist, so KÖHLER weiter, keine logische reflexive Relation, sondern eine Reflexion des Denkens, wie sie in dem Satze "Ich denke, dass ich selbst das und das bzw. der und der bin" (S.162) zum Ausdruck kommt. Zusammen mit den Wissensbedingungen (a), (b), (c) und (e) werde ein sehr starker Begriff des Personenverstehens formuliert, welcher verdeutlicht werden könne durch die Formulierung eines starken Begriffs des Fremdverstehens als "Regel des kognitiven Fremdverstehens" (VR) (S.162): "(VR) 'Wenn du P2 verstehen willst, versuche P2s Selbstverstehen und Fremdverstehen zu verstehen' ". Nach KÖHLER sollte dieser starke Begriff in Richtung eines komparativen Verstehensbegriffes abgeschwächt werden, in dem statt von "verstehen" stets von "besser verstehen" die Rede ist; dann könne zwischen einem Mehr-oder-weniger-Verstehen und einem Nichtverstehen unterschieden werden. [25]
5.4 Verstehen von Kollektiven und die Prozessualität des Verstehens
Abschließend geht KÖHLER auf das Verstehen von Kollektiven und kollektives Verstehen (5.4) ein. Dies ist deswegen angebracht, da Personen immer Mitglieder eines Kollektivs sind und häufig mehrere Personen ein gemeinsames Verständnis anderer Personen oder Sachverhalte haben. Oftmals ist es wichtig, die Zugehörigkeit einer Person zu einem Kollektiv mit in Betracht zu ziehen, um eine Person zu verstehen. Das kollektive Verstehen spielt eine wichtige Rolle beim Verstehen von Mentalitäten, aber natürlich insbesondere beim historischen Verstehen von vergangenen Kulturen und Zeiten. [26]
Im folgenden Kapitel geht es KÖHLER über die Zeit(en) des Personenverstehens. Verstehen und Personen sind prozessual, zeitlich, weswegen sich die Frage nach dem Verhältnis der Zeitlichkeit des Verstehens und der Zeitlichkeit bzw. dem Zeitbewusstsein von Personen stellt. Unklar sei, wie das Verhältnis der personalen und der hermeneutischen Identität der zu verstehenden Person begriffen werden kann. Wie zeitlich konstant müssen die zu verstehenden mentalen und intentionalen Zustände gedacht werden, damit eine Person überhaupt verstanden werden kann? Was relativ konstant sein muss, sind vor allem Personenprädikate wie Überzeugungen, Einstellungen, Wissen, Fähigkeiten oder Intelligenz, ohne die ein Verstehen der Person als dieselbe nur eingeschränkt oder gar nicht möglich wäre. KÖHLER betont die Unterscheidung von Prozess und Produkt des Verstehens und verweist auf die Veränderlichkeit des Verstehens einer Person, z.B. dass man sie heute besser verstehen kann als früher, was natürlich auch für historische Personen zutrifft. Er weist auf die Wichtigkeit des Lebensalters hin, was Versuche des Verstehens einer Person betrifft und was mit Erziehung und Fürsorge zusammenhängt. [27]
Diese Unterscheidung zwischen Prozess und Produkt des Verstehens von Personen wird häufig in hermeneutischen Fragestellungen eher randständig behandelt. Dabei findet sich gerade im engen Zusammenleben zwischen Personen der oft langwierige, unter Umständen das ganze Leben währende Versuch, den anderen bzw. die andere zu verstehen. Manche Ehekrise setzt damit ein, dass dem einen Partner oder beiden klar wird, die andere Person nicht mehr zu verstehen oder sogar nie verstanden zu haben. Die Trennung wird oft damit begründet, dass die Verstehensversuche keine Aussicht auf Erfolg haben. Entsprechende Hinweise lassen sich aus den Forschungen zur Paartherapie gewinnen, welche zeigen, dass große Bereiche des Zusammenlebens immer wieder durch Verstehensversuche gekennzeichnet sind, und dass das wechselseitige Verständnis keineswegs ein dauerhafter Bestand ist (z.B. KAISER 2000). Barrieren und Gefährdungen des Verständnisses können Geschlechterdifferenzen sein, neue Interessen und Freundschaften oder Veränderungen des Zusammenlebens, wenn beispielsweise die Kinder das Haus verlassen, die zu einer Reinterpretation des für unveränderlich gehaltenen wechselseitigen Verstehens führen oder zu Vorwürfen, dass der oder die andere sich nie darum bemüht habe, einen wirklich zu verstehen. Derartige Verstehenskonstellationen und -dynamiken in Dyaden können mit einem prozessualen Verstehensbegriff, wie in KÖHLER vorschlägt, begrifflich gut analysiert werden. [28]
5.5 Nichtkognitives Personenverstehen
Personenverstehen hat auch eine nichtkognitive Seite, die nach KÖHLER Fühlen und Können umfasst. Im 7. Kapitel ("Nichtkognitives Personenverstehen") geht KÖHLER von zwei möglichen Übergängen aus, einmal vom kognitiven zum nichtkognitiven Personenverstehen, vereinfacht vom Wissen zum Können und Fühlen, und zum anderen von nichtkognitivem zu kognitivem Personenverstehen, vereinfacht vom Können und Fühlen zum Wissen. Die Abtrennung zwischen beiden Weisen des Personenverstehens war sowieso nicht vollständig, da die Wissensbedingung (e) des kognitiven Personenverstehens das Wissen um die Gefühle der zu verstehenden Person kennzeichnete. KÖHLER geht das nichtkognitive Personenverstehen an, indem er die prozessuale Seite des Verstehens betont, die auch Verstehensversuche umfasst. [29]
Zunächst betrachtet er den Übergang vom Kognitiven zum Nichtkognitiven, was er in zwei Aussagen formuliert:
"(1) P1 erfüllt alle Wissensbedingungen (a) – (e) und kann sich deswegen mit P2 gut (schlecht) verstehen.
(2) P1 erfüllt alle Wissensbedingungen (a) – (d) und ist deswegen P2 zugeneigt (abgeneigt)" (S.179). [30]
In (1) wird das Verstehen als Wissen mit dem Verstehen als Können, in (2) mit dem Verstehen als Fühlen verbunden. Die Aussage (1) bringt ein Bedingungsverhältnis zum Ausdruck, denn weil P1 alle Wissensbedingungen des Fremdverstehens erfüllt, also auch weiß, wie sich P2 fühlt, kann P1 mit P2 gut oder schlecht umgehen. Nach KÖHLER muss dieses Bedingungsverhältnis nicht kausal interpretiert werden. Können und Fühlen müssen nicht durch die Erfüllung der Wissensbedingungen bewirkt werden. Gemäß Aussage (2) erfüllt P1 nicht alle Wissensbedingungen. Da (e) nicht erfüllt ist, weiß P1 nicht, wie P2 sich fühlt. Das Bedingungsverhältnis ist jedoch so, dass die Zuneigung oder Abneigung trotzdem abhängig ist von dem ansonsten gelingenden kognitiven Fremdverstehen. [31]
An dieser Stelle wird deutlich, dass diese Überlegungen eine vertiefte Untersuchung des Verhältnisses von Kognitivem und Nichtkognitivem nötig machen, da hier Bedingungsverhältnisse genannt werden, die sowohl kausal als auch nicht kausal verstanden werden können. Es ist hier nicht klar, was mit "Übergang" gemeint ist. Unklar ist auch, warum "verstehen, wie jemand ist" kognitiv und "sich mit jemandem gut (schlecht) verstehen" nichtkognitiv ist. In Situationen der Interaktion und Kommunikation sind Wissen und Handeln engstens miteinander verbunden, und es stellt sich die Frage, ob es daher überhaupt reine Übergänge beider Verstehensarten gibt. Die Trennung wird dann nötig, wenn nach wahrheitswertdefiniten Komponenten des Verstehens gesucht wird. Dies wären dann Verstehensbehauptungen, aber solche werden hinsichtlich ihrer Häufigkeit und Wichtigkeit vielleicht überschätzt. In der Interaktion spielt das Aushandeln der wechselseitigen Bezugnahmen eine wichtige Rolle, und dabei lassen sich nur schwer Trennungen zwischen kognitiven und nichtkognitiven Verstehensanteilen vornehmen. Sprechakt- und kommunikationstheoretische Arbeiten (z.B. GREVE 2003) zeigen daher die Begrenztheit der Konzeption, Personen wie Texte zu verstehen, denn Personen können in der Interaktion aktiv darauf Einfluss nehmen, wie sie verstanden werden wollen, aber natürlich auch in Selbstdarstellungen und Lebenserzählungen (Autobiografien). Man kann viel über eine Person wissen, aber doch nicht in wechselseitiger Zufriedenheit mit ihr umgehen. Umgekehrt kann man darauf verzichten, über eine Person das ein oder andere wissen zu wollen, aber sich gut mit ihr verstehen, vielleicht gerade deswegen, weil nicht beansprucht wird, sie über den wechselseitigen Umgang hinaus verstehen zu wollen. Verstehensvorgänge sind nicht nur an die aktuelle Interaktions- und Begegnungssituation gebunden, sondern auch an die Ansprüche, die Ziele und Werte, die Erwartungen, Gewohnheiten, Stereotype und Vorurteile, die in eine Interaktion einfließen. Dazu gehört auch die Interaktionsgeschichte, worauf Köhler im Kap.6 verweist. Allerdings passen sich diese Anmerkungen durchaus in das Verstehenskonzept KÖHLERs ein. Er hebt schließlich die prozessuale Natur des Verstehens hervor und unterscheidet streng zwischen Verstehensversuchen und Verstehensresultaten, insbesondere in Form von Verstehensbehauptungen. Große Teile der Kommunikation sind als Verstehensversuche aufzufassen, insbesondere das Aushandeln. Weite Bereiche der kommunikativen Interaktion sind wiederum gar nicht verstehensthematisch, da sie kein Problem aufwerfen. Die Erwartungen und Gewohnheiten, die bei einem Restaurantbesuch aktualisiert werden, erlauben es, die Situation zu verstehen. Auch hier finden sich kognitive und nichtkognitive Verstehensanteile des praktischen Umgangs insbesondere, so dass eine Interaktionsanalyse durchaus komplexe Bedingungsverhältnisse zwischen nichtkognitiven und kognitiven Verstehenskomponenten zeigt. [32]
Der Übergang vom Nichtkognitiven zum Kognitiven wird mit der Annahme verbunden, "dass es eine emotionale oder eine praktische Voraussetzung des Fremdverstehens gibt, also so etwas wie eine kontingente Anfangs- oder Startbedingung" (S.180). Diese seien "keine notwendigen oder begrifflichen Bedingungen", "sondern zufällige, zeitliche Voraussetzungen emotionaler und praktischer Art". Obgleich es plausibel sei, emotionale und praktische Voraussetzungen des kognitiven Fremdverstehens als hilfreich anzunehmen, lasse sich nicht zwingend zeigen, dass es sie als Voraussetzungen für das Fremdverstehen geben müsse. [33]
Dieser Gedanke ist allerdings missverständlich, denn natürlich lassen sich emotionale, praktische und kognitive Weisen des Fremdverstehens unterscheiden, aber die Grenzen sind zum einen nicht scharf und deren Zusammenspiel ist nicht völlig transparent, und zum anderen zeigt die Humanontogenese, dass kognitives Fremdverstehen im Rahmen einer täglichen Praxis des Miteinander-Umgehens, die stets emotional getönt ist, erlernt werden muss. Am Beginn der Interaktionsentwicklung müssen Kleinkinder sogar lernen, dass andere anders sind und nicht einfach Fortsetzungen des eigenen Körpers. Es ist fraglich, ob man einen ontogenetischen Primat des Fremd- vor dem Selbstverstehen annehmen sollte, denn beide werden interaktionell stets als interdependente Bezugnahmen gelernt (vgl. MACK 2007). [34]
KÖHLER stellt in den beiden folgenden Abschnitten "Emotionales Fremdverstehen" (7.1) und "Praktisches Fremdverstehen" (7.2) dar. Letzteres sei als Können anzusehen, als Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht oder als Sich-mit-jemandem-Verstehen. Das Fremdverstehen sei immer ein Können, das ein Wissen-wie-man-mit-jemandem-umgeht einschließt. KÖHLER verweist auf die skeptische These, "dass man nie über ein praktisches Fremdverstehen hinauskommen und zu einem kognitiven Fremdverstehen gelangen kann" (S.190). [35]
5.6 Personen und Texte sowie die Grenzen des Personenverstehens
Dann geht KÖHLER im 8. Kapitel, beschränkt auf das kognitive Fremdverstehen, der Frage nach, "wie die Interdependenz von Personenverstehen und SprachHandlungsverstehen zu verstehen" (S.195) ist. Ausgangspunkt sind zwei Thesen: zum einen die Unabhängigkeitsthese des SprachHandlungsverstehens, derzufolge die meisten oder gar alle SprachHandlungen auch ohne ein Personenverstehen verstanden werden können, zum anderen die Zuspitzung dieser These zur Unmöglichkeitsthese des Personenverstehens, dass also Personen nicht verstanden werden können, weil ausschließlich SprachHandlungen verstehbar seien. KÖHLER hält beide Thesen für falsch oder problematisch und argumentiert, "dass das SprachHandlungsverstehen von einem Personenverstehen abhängig ist" (S.195). [36]
In Kapitel 9 greift KÖHLER nochmals die Analogie zwischen dem Verstehen von Texten und Personen auf. Es wird darauf hingewiesen, dass einige texthermeneutische Prinzipien in einem wörtlichen Sinne nicht für das Personenverstehen gelten. KÖHLER stellt eine Bemerkung KANTs in den Mittelpunkt, derzufolge die mündliche oder schriftliche Äußerung eines Gedankens eventuell besser verstehbar sei für Dritte als für die äußernde Person selbst. Eine lebende Person kann, vor allem im Gespräch, immer gefragt werden, ob eine ihrer Äußerungen richtig verstanden wurde, anders als im Falle toter Personen oder von in Textform fixierten Gedanken. Eine historische Person kann nicht mehr nach den Gründen ihrer Entscheidung gefragt werden, und ein Gedicht erlaubt Deutungen, an die die Dichterin oder der Dichter nicht gedacht hat. Es ist möglich, dass Historikerinnen und Historiker die Gründe für die Entscheidung der historischen Person besser verstehen als diese jene in ihrer Gegenwart. Genauso ist es möglich, dass die Dichterin oder der Dichter das Gedicht weniger gut verstehen als eine Leserin oder ein Leser. Aufgrund dieser Überlegungen formuliert KÖHLER das Verstehensprinzip VP: "(VP) 'Man kann eine Person besser verstehen, als diese sich selbst versteht' " (S.203). [37]
Im letzten Kapitel geht KÖHLER auf die "Grenzen des Personenverstehens und des Verstehens überhaupt" ein. Als Grund für die Unvollständigkeit des Personenverstehens nennt er die Annahme einer semantischen Insuffizienz des Fremdverstehens. Diese überträgt sich letztlich von der semantischen Insuffizienz des Verstehens von SprachHandlungen und kommunikativen Missverständnissen. Es ergebe sich hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Instabilität des kognitiven Personenverstehens die "Zwiespältigkeit, nämlich, ob man die Unwägbarkeiten des Fremdverstehens der zu verstehenden Person zuschlägt oder der verstehenden Person" (S.208). [38]
Zum Schluss legt KÖHLER dar, dass die Unvollständigkeit des Personenverstehens nicht auf der Unvollständigkeit der Beschreibung eines Individuums beruhe, denn die Unmöglichkeit einer vollständigen Beschreibung treffe für jedes Einzelding zu. Die Unvollständigkeit des Personenverstehens resultiere vielmehr daraus, "dass es für Personen keine interpretationsfreien, neutralen Beschreibungen geben kann" (S.212). Bei dem "kognitiv gedeuteten Personenverstehen gibt es den Gegensatz zwischen Kreativität und Objektivität so nicht wie in den Wissenschaften" (a.a.O.). Das Personenverstehen sei schon deswegen auch schöpferisch, weil die lebende Person selbst ein schöpferischer Prozess sei. KÖHLER schließt mit dem Gedanken, dass das Herausarbeiten der Individualität einer Person als "ein kognitives Verstehen dieser Person kreativ bzw. poetisch sein" sein müsse. "Die Individualität einer Person ist kognitiv anders nicht zu fassen, praktisch oder emotional schon" (S.216f.). Das Interessante an diesem Schlussgedanken scheint mir zu sein, dass er zwar eine prinzipielle Grenze des Verstehens von Personen ausdrückt, diese Grenzziehung aber nicht im Ungefähren bleibt, da mit dem starken Verstehensbegriff KÖHLERs eben diese Grenze bestimmbar wird. [39]
Es lässt sich festhalten, dass mit diesem Buch "Personenverstehen" ein guter Einblick in wesentliche Aspekte der Problematik möglich ist, was unter dem Verstehen einer Person verstanden werden kann oder verstanden werden sollte und was die Grenzen des Personenverstehens sind. Auch wenn manches nur angedeutet und angeschnitten ist, nicht zuletzt, weil das Buch auf die Bedingungen des Personenverstehens fokussiert, so ermöglicht es den Erwerb eines übersichtlichen Grundrisses des Problemfeldes, was es heißt, eine Person zu verstehen. Das Werk verfolgt einen philosophischen Anspruch und keinen sozialwissenschaftlichen, psychologischen, persönlichkeitsdiagnostischen oder gar psychotherapeutischen, wenngleich es etwas bedauerlich ist, dass zu diesen Bereichen nicht mehr Bezüge hergestellt worden sind. Es ist jedoch mit den Erkenntnissen und Vorgehensweisen der Verstehensversuche und -bestrebungen dieser und anderer humanwissenschaftlicher Disziplinen kompatibel. Es liefert mit einem am Begriff des Wissens der sprachanalytischen Philosophie orientierten Verstehensbegriff einen guten Zugang, um grundlegende Fragen des Selbst- und Fremdverständnisses zu reflektieren. KÖHLER formuliert Wissensbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Personenverstehen überhaupt geredet werden kann. Es wird dafür argumentiert, dass das kognitive Verstehen von Personen auf Wissen basiert, das hinsichtlich seines Wahrheitswertes rational beurteilt werden kann und muss. Insofern optiert KÖHLER für das kognitive Personverstehen, da in dem Maße, in dem das Interpretieren von nichtkognitivem Verstehen in der Sprache vollzogen wird, es Teil des kognitiven und damit rationalen Personenverstehens wird. Erst die sprachlich formulierte Verstehensbehauptung eröffnet die Möglichkeit, sie auf ihre Wahrheit hin zu prüfen. Damit kritisiert KÖHLER den alltäglichen, inflationären Gebrauch des Wortes "Verstehen" und die damit meistens unzulänglichen Verstehensversuche und nicht rechtfertigbaren Verstehensbehauptungen. Insofern ist kognitives Fremdverstehen die Ausnahme, nicht-kognitives hingegen die Regel. [40]
Es wird nach der Lektüre klar, welche Schwierigkeiten mit dem Bemühen einhergehen, eine andere Person, aber auch sich selbst, gut oder vielleicht sogar vollständig verstehen zu wollen. Auch die Introspektion ist nicht der Weg, sich gut verstehen zu lernen, sondern die Interpretation des Verständnisses, die andere der eigenen Person emotional, praktisch und kognitiv entgegenbringen. Ohne anspruchsvolle Kriterien dafür wird es kaum möglich sein, Verstehensversuche und Verstehensbehauptungen zu kritisieren. Jeder hat schon erfahren, dass andere behaupten, sie würden einen verstehen und eine Diskrepanz zum eigenen Selbstverstehen bemerkt. Solche Erfahrungen lassen sich mit diesem Buch gut durchleuchten und zeigen, dass Personen in ähnlicher Weise wie Romane, wie KÖHLER heraushebt, mehrere Lesarten zulassen. Dies verweist auch auf die Geschichtlichkeit des Verstehens. Ein und dieselbe historische Person kann zu verschiedenen Zeiten anders verstanden werden. In vergleichbarer Weise trifft das auch auf die eigene Lebensgeschichte zu, beispielsweise wenn man eigene Tagebuchaufzeichnungen aus der Jugendzeit als älterer Mensch wieder liest. Kognitives Verstehen ist also im Rahmen der interpretatorischen Praxis als Bedeutungswissen zu fassen. [41]
Auf die Grenzen des kognitiven Verstehens, insbesondere des Selbstverstehens, weisen viele Befunde der Psychologie hin. Man ist kein "offenes Buch" für sich selbst, sondern kann viele Seiten nicht lesen, und von der Existenz einiger Seiten weiß man nichts, wozu alle Prozesse der unbewussten Informationsverarbeitung und der automatischen Stereotypbildung und -aktivierung gehören. Jedenfalls stehen beide in Einklang mit dem hermeneutischen Verstehensprinzip KÖHLERs, dass eine andere Person besser zu verstehen sein kann als die eigene. Auch die Alltagserfahrung belehrt, dass andere vor einem selbst wissen, dass man eifersüchtig oder verliebt ist, um ein Beispiel KÖHLERs aufzugreifen. [42]
Der Ansatz ist anregend, Text- und Personhermeneutik auf tragende und weiterführende Analogien zu durchdenken, aber auch auf Grenzen dieser Analogie zu achten. Basierend auf einem sprachanalytisch geklärten Verstehensbegriff geben die Gedanken KÖHLERs ein gutes, orientierendes Gerüst zum Weiterausbauen sowie Weiterfragen und gute Anregungen sowohl für philosophierende, Alltags- und wissenschaftliche Psychologie betreibende Personen. [43]
Aus philosophischer Sicht besteht die große Stärke des Buches darin, auf klare Weise zu verdeutlichen, wie komplex das Phänomen des Personenverstehens ist. Auf sehr übersichtliche und einleuchtende Weise wird gezeigt, wie durch einfaches Nachfragen das vorgeblich einfache Verstehen einer Person komplex wird. Dazu werden auch viele Zitate aus philosophischer und schöner Literatur herangezogen, die dies schlaglichtartig verdeutlichen. Bei all der klar dargestellten Komplexität hält KÖHLER stets den engen Kontakt zum "lebensweltlichen" Gegenstand, was für Philosophen und Philosophinnen keine Selbstverständlichkeit ist. [44]
Austin, John Langshaw (1972). Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam.
Bråten, Stein (Hrsg.) (1998). Intersubjective communication and emotion in early ontogeny. Cambridge, UK : Cambridge University Press.
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Greve, Jens (2003). Kommunikation und Bedeutung: Grice-Programm, Sprechakttheorie und radikale Interpretation. Würzburg: Königshausen & Neumann.
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Mack, Wolfgang (2007). Wie ist Sozialität möglich? Allgemeine und entwicklungspsychologische Überlegungen zur Genese des personalen und sozialen Individuums. In Wolfgang Mack & Kurt Röttgers (Hrsg.), Gesellschaftsleben und Seelenleben (S.59-107). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Wittgenstein, Ludwig (2003). Philosophische Untersuchungen (auf der Grundlage der kritisch-genetischen Ed. neu hrsg. von Joachim Schulte). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Wuchterl, Kurt (1999). Methoden der Gegenwartsphilosophie (3., neubearb. und erw. Aufl.). Bern: Haupt (UTB).
Wolfgang MACK ist Diplom-Psychologe und wissenschaftlicher Angestellter am DFG geförderten Sonderforschungsbereich 435 "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Kontakt:
PD Dr. Wolfgang Mack
SFB / FK 435 Wissenskultur
Institut für Psychologie
Georg-Voigt-Str. 8
D-60054 Frankfurt am Main
E-Mail: mack@psych.uni-frankfurt.de
URL: http://www.entwicklungspsychologie.uni-frankfurt.de/personen/mack/index.html
Mack, Wolfgang (2007). Rezension zu: Wolfgang R. Köhler (2004). Personenverstehen. Zur Hermeneutik der Individualität [44 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(3), Art. 30, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0703303.