Volume 19, No. 3, Art. 20 – September 2018
Forschen im Kontext von Vulnerabilität und extremem Leid – Ethische Fragen der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung
Cordula Dittmer & Daniel F. Lorenz
Zusammenfassung: In diesem Beitrag diskutieren wir ethische Fragen der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung. Wir gehen davon aus, dass die Katastrophenforschung sich in besonderer Weise ethischen Fragestellungen zu stellen hat, ist ihr zentrales Forschungsfeld doch häufig extremes Leid und Vulnerabilität. Zugleich bedingt die Notwendigkeit, dass diese Forschung auch zur Minderung dieses Leids und der Vulnerabilität der betroffenen Menschen beitragen sollte, weniger Grundlagenforschung, denn anwendungsorientierte Forschung durchzuführen. Ausgehend von einer szenischen Darstellung der Heterogenität des Feldes werden ethische Fragen der Katastrophenforschung dargestellt und mit standardisierten forschungsethischen Grundsätzen, Institutional Review Boards bzw. Richtlinien in den USA und Deutschland kontrastiert. Wir denken dazu den dualen Imperativ mit der informierten Einwilligung sowie dem Prinzip der Schadensvermeidung zusammen und zeigen die zugrundeliegenden Aporien auf. Über Judith BUTLERs Überlegungen zur ethischen Gewalt und grundsätzlichen sozialwissenschaftlichen Überlegungen zur Struktur von Gesellschaften unterbreiten wir einen Vorschlag, in dem wir Standardisierungen forschungsethischer Kriterien kritisch hinterfragen und stattdessen eine reziproke Ethik der Vulnerabilität einfordern, die die Forschung zu Katastrophen jenseits von Standardisierungen ethisch fundieren kann.
Keywords: Katastrophenforschung; Forschungsethik; informierte Einwilligung; dualer Imperativ; Prinzip der Schadensvermeidung; Vulnerabilität
Inhaltsverzeichnis
1. Katastrophenforschung: Eine szenische Darstellung
1.1 Szene 1: Berlin, Deutschland, Januar 2016
1.2 Szene 2: Elbe-Havel-Land, Deutschland, Juni 2016
1.3 Szene 3: Westlicher Himalaya, Indien, Mai 2017
1.4 Szene 4: Ansan, Südkorea, Juni 2017
1.5 Zu diesem Aufsatz
2. Was ist sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung und welche forschungsethischen Grundsätze impliziert sie?
2.1 Diskurse und Forschungstraditionen in den USA und in Deutschland
2.2 Forschungsethische Diskussionen in den USA und in Deutschland
3. Kritische Analyse forschungsethischer Diskurse im Kontext der Katastrophenforschung
3.1 Dualer Imperativ und Komplizenschaft mit dem Feld
3.2 Schadensvermeidung und informierte Einwilligung
3.3 Aporien der Forschungsethik
4. Eine reziproke Ethik der Vulnerabilität als Heuristik für eine sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung
1. Katastrophenforschung: Eine szenische Darstellung
1.1 Szene 1: Berlin, Deutschland, Januar 2016
Unverständliches Stimmengewirr. Menschen redeten auf uns ein. Handyfotos wurden gezeigt. Kinder zerrten an unserer Kleidung. Tränen. Geschichten über Gewalt. Hoffnung. Sprachlosigkeit. Es war Anfang 2016, wir befanden uns in einer Notunterkunft im Zentrum Berlins. Es waren die Nachwirkungen des euphorisch als "Summer of Migration" und als "Flüchtlingskrise" verschleiernd bezeichneten Entwicklungen, während derer vor allem in den Jahren 2015/16 in Deutschland eine bis dato unbekannte Anzahl an geflüchteten Menschen ankamen und Schutz sowie Asyl suchten (DITTMER & LORENZ 2017). Diese Situation forderte vom deutschen Katastrophenschutz – und damit auch von uns als sozialwissenschaftlichen KatastrophenforscherInnen – ein Engagement in einem neuen Betätigungsfeld, insbesondere in der Anfangsphase des Aufbaus und der übergangsweisen Leitung von Notunterkünften und der damit verbundenen Notversorgung tausender Menschen (DITTMER & LORENZ 2016a, 2017). Durch die enge transdisziplinäre Kooperation mit Organisationen des Bevölkerungsschutzes wie bspw. das Deutsche Rote Kreuz (DRK) oder der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) ergab sich für uns spontan die Möglichkeit, im Rahmen einer Auftragsforschung geflüchtete Menschen in einer Berliner Notunterkunft hinsichtlich ihrer Bedürfnisse zu befragen, um die zahlreichen freiwilligen Hilfsangebote der Zivilgesellschaft auf diese Bedürfnisse abzustimmen und Einblicke in die Verflechtungen von Bevölkerungsschutz und Flüchtlingsbetreuung zu erlangen (DITTMER & LORENZ 2016b). Diese Forschung wurde zusammen mit Studierenden durchgeführt (DILGER, DITTMER, DOHRN, LORENZ & VOSS 2017) und war aufgrund des sehr eng gesteckten Zeitrahmens des Forschens in dieser konkreten Lage sowie der Aktualität der Fragen aus dem Feld als Quick-Response-Forschung angelegt (PHILIPPS 2014). Das bedeutete, dass wir kaum Zeit zur Vorbereitung hatten und die Rahmenbedingungen des Forschens ebenso wie die gewünschte Ausrichtung der Ergebnisse durch die Auftraggeber definiert wurden. Außer Frage stand, dass die Ergebnisse anwendungsorientiert zu sein hätten, keine Grundlagenkritik, die wir aber – uns dem dualen Imperativ, sowohl Praxis als auch Wissenschaft zu bedienen, verpflichtet fühlend – dennoch versuchten zu äußern (DITTMER & LORENZ 2016c, 2016d). Zudem fand die Forschung in einem zu diesem Zeitpunkt hochgradig politisierten Umfeld statt – auch die Studierenden engagierten sich in der Forschung vor allem aus politischen Gründen, um etwas "Gutes zu tun". Neben der Unmöglichkeit, die an uns herangetragenen Hoffnungen und Wünsche, unsere Forschung möge die Situation in der Notunterkunft für die Geflüchteten konkret verbessern, zu erfüllen und gleichzeitig den Erwartungen unseres Auftraggebers zu entsprechen, forderte uns die Situation als Menschen und als Verantwortliche für Studierende in einem Maße heraus, das wir nicht vorhergesehen hatten. Wir erfuhren am eigenen Leib, was es bedeutet, sprachlos zu sein: im Angesicht der gehörten Geschichten, der eigenen linguistischen Begrenzungen, der Struktur des Feldes, welches uns "machtvolle" Positionen zuwies (BOURDIEU 1996) und doch als Forschende zugleich ohnmächtig zurückließ, da wir nicht eingreifen konnten, wollten oder sollten. Wir fragten uns, wie die uns zugeschriebene machtvolle Position und unsere situativ gefühlte eigene Vulnerabilität eigentlich forschungsethisch zu vereinen sein könnten und welchen Umgang wir damit für uns finden wollten. [1]
1.2 Szene 2: Elbe-Havel-Land, Deutschland, Juni 2016
Der Sommer war heiß und trocken. Zwischen den Häusern fand sich kaum Schatten. Zu zweit oder alleine suchten wir – ForscherInnen der Katastrophenforschungsstelle gemeinsam mit Studierenden eines Lehrforschungsseminars – in der Region Elbe-Havel-Land vom Elbehochwasser 2013 Betroffene zu Hause auf. Im Rahmen eines BMBF-Forschungsprojektes zu den Themenkomplexen Vulnerabilität und Resilienz sowie Freiwillige im Katastrophenschutz, das u.a. auch das Ziel verfolgte, die bestehenden Planungen des Katastrophenschutzes und hier vor allem des am Projekt beteiligten Deutschen Roten Kreuzes zu verbessern, hatten wir 2015 einen bis 2018 andauernden Forschungsprozess in der Region begonnen, der eine Vielzahl von Methoden wie Leitfadeninterviews, quantitative Befragungen, Workshops und Gruppendiskussionen umfasste. Wir befanden uns in der Kernphase der Forschung und versuchten ein umfassendes Bild der differenzierten und zeitlich sehr variablen Betroffenheit der Katastrophenopfer durch die Kombination qualitativer und quantitativer Methoden zu zeichnen. [2]
An den Gartenzäunen und Haustüren, die wir im Rahmen der quantitativen Befragung aufsuchten, trafen wir auf Menschen in sehr unterschiedlichen Stimmungen und Verfassungen. Einige hatten bereits die Ankündigung der Forschung in der Lokalzeitung gelesen und auf die Interviewenden gewartet, um diesen ihre Geschichte zu erzählen. Viele waren dankbar dafür, dass sich die Forschenden immer noch für ihre Erfahrungen und ihr Leid interessierten, als die Katastrophe im öffentlichen Gedächtnis schon der fernen Vergangenheit angehörte. [3]
Andere, auf die wir trafen, teilten uns auf unsere Frage, ob sie zu einem Gespräch bereit wären, sichtlich gezeichnet und erschüttert mit, dass sie entweder noch nicht in der Lage seien, über das Erlebte zu sprechen, oder sich nicht erneut an die Geschehnisse erinnern wollten, um endlich mit dieser schmerzvollen Erfahrung abschließen zu können.1) Auch in den Gesprächen brachen Befragte immer wieder in Tränen aus, wenn sie uns Erinnerungsstücke zeigten oder davon berichteten, wie Angehörige oder PartnerInnen in den Monaten nach der Katastrophe in einer "zweiten Welle der Betroffenheit" an Herzinfarkten oder Schlaganfällen verstorben waren. [4]
In der skizzierten Situation bestanden so bereits vor jedem Gespräch, vor der Frage, ob die potenziell Befragten zu einem Gespräch bereit wären, forschungsethische Zweifel an unserem Tun, da wir nie wissen konnten, ob wir den Angefragten durch unsere Frage nach einem Gespräch oder durch das Unterlassen der Frage mehr schaden würden. [5]
Auch in den Gesprächen kamen uns immer wieder Zweifel, wie wir mit der Dankbarkeit und den Erwartungen der Befragten umgehen sollten. Wir sahen uns mit der Situation konfrontiert, dass entweder zu hohe Erwartungen mit Blick auf den Nutzen bzw. die Reichweite der Studie insbesondere in Richtung der Politik bestanden oder aber auf eine Erzählung vonseiten der Forschenden gehofft wurde, die den schrecklichen Erfahrungen und Verlusten irgendeinen Sinn verleihen könnte. Wie kann ein angemessener ethischer Umgang mit derartigen Erwartungen aussehen, vor allem wenn diese auch noch eher implizit denn explizit verfasst sind (BROWNE & PEEK 2014)? Wie können wir überhaupt darauf Einfluss nehmen, was die Ergebnisse – mögen sie auch methodisch einwandfrei erhoben sein – im politischen Raum und in der Auseinandersetzung um Entschädigungsansprüche und mit aus diesen entstandenen sozialen Konfliktlinien sowohl im Positiven erreichen als auch im Negativen "anrichten"? Wir können den Befragten in einem derart politisierten Feld nicht vollends transparent machen, was mit den erhobenen Forschungsergebnissen geschieht. Bedeutet das, auf eine derartige Forschung verzichten zu müssen, oder steht die Forschungsfreiheit oder sogar das Recht auf freie Meinungsäußerung am Ende doch über derartigen forschungsethischen Überlegungen? [6]
So verbrachten wir eine ganze Woche mit langen Tagen voller Erhebungen, die sich durch die beschriebenen Ambivalenzen sowie die damit verbundenen emotionalen Berg- und Talfahrten auszeichneten. Die Abende waren meist gefüllt damit, mit den Studierenden – für die dies vielfach die erste Felderfahrung war – die Tage und das Erlebte nachzubesprechen und sie in ihrer Verunsicherung aufzufangen. Die letzten Reflexionen – an den mittlerweile sehr spät gewordenen Abenden – drehten sich zumeist um die Frage, ob wir den Studierenden vielleicht zu viel zumuteten? Wie viel Schutz war notwendig und wo begann die Bevormundung? [7]
1.3 Szene 3: Westlicher Himalaya, Indien, Mai 2017
Wir standen am Fuße des Himalaya. Um uns herum Menschen, Massen an Menschen, barfuß, in Sandalen, mit Ausgehschuhen, Rollkoffern oder Plastiktüten. Schmächtige Träger trugen Kinder oder Ältere alleine in Körben den Berg hinauf, während die Mehrzahl auf Maultieren die schmalen steilen Wege hinaufgetrieben wurde. Während des gut 20 km langen Aufstiegs auf über 3.500m Höhe rezitierten die Menschen unentwegt heilige Verse, waren versunken ins Gebet, kannten nur ein Ziel: den heiligen Tempel von Kedarnath. Keine offensichtlichen Zeichen des noch gar nicht allzu lang zurückliegenden sogenannten Himalayan Tsunami (vgl. JOSHI 2016), währenddessen es Mitte Juni 2013 durch einen "verfrüht" einsetzenden Monsun zu Starkregenfällen und dadurch bedingter Schneeschmelze in vier Tälern in der Gegend zu Sturzfluten gekommen war, die ganze Dörfer weggerissen und bis zu 20.000 Todesopfer gefordert hatten. Über 70.000 Menschen hatten aus den schwer zugänglichen Tälern evakuiert werden gemusst, die Rettungsaktionen hatten bis zu 14 Tage gedauert; Überlebende der Sturzfluten waren erfroren oder verhungert. [8]
Da diese eine der heiligsten Regionen für Hindus ist – die Pilgerreise Char Dham zu den vier Tempeln in den vier von der Katastrophe betroffenen Tälern sollte jedeR Hindu einmal im Leben gemacht haben – war diese Katastrophe in Indien national sehr breit diskutiert worden, obwohl katastrophale Ereignisse dieser Größenordnung dort nicht so selten wie in anderen Weltregionen sind. War diese Pilgerreise früher eine entbehrungsreiche, jahrelange und mühselige Reise ohne Sicherheit auf Wiederkehr, stellt sie heute den zentralen Einkommenszweig für die lokale Bevölkerung sowie primär männliche Saisonarbeiter aus Nepal dar und ist mittlerweile – von entsprechenden Tourismusunternehmen straff organisiert – in gut zehn Tagen mit Pauschaltouren möglich. [9]
Wir – ausgestattet mit Trekkingkleidung und dem wissenschaftlichen Ziel, im Rahmen eines Forschungsprojektes die Vulnerabilität der lokalen Bevölkerung, die Katastrophenschutzstrukturen vor Ort sowie die Frage, wie sich der (PilgerInnen-) Tourismus generell seit 2013 entwickelt hat, zu erforschen – saßen am Wegesrand und knackten Erdnüsse, unfähig, auch nur eine Pilgerin/einen Pilger anzusprechen. Wir fragten uns: Wie sollte man ethisch in gänzlich anders strukturierten Epistemologien bzw. Rationalitäten forschen? Wie hätte man in diesem derart aufgeladenen religiösen Setting über Vulnerabilität, Verlust und Tod sprechen können, wenn doch das Sterben an diesem heiligen Ort sowohl die Toten als auch deren Familie auszeichnete und ehrte, es also einen ganz anderen Umgang mit dem Tod zu geben schien? Wie hätten wir als westliche Forschende darauf reagieren können, dass uns Rollen als PilgerInnen zugesprochen wurden, wo doch allein wissenschaftliche Neugier und Erkenntnisgewinn (DASTON 2003) für die eigene Anwesenheit an heiligen Orten ursächlich waren? Waren wir gar "research vultures" (DEL BEN, McLEISH & ELKIN 2006, S.129)? Wie kommuniziert man die wissenschaftliche "Erkenntnis", dass dieser PilgerInnentourismus die eigentliche Ursache der Katastrophe war und in Zukunft noch deutlich verlustreichere Ereignisse hervorrufen wird, so lange er die einzige wirtschaftliche Einkommensquelle für die ansässige Bevölkerung darstellt und es diese Kommunikation genau deshalb aus forschungsethischer Perspektive erforderte? Und wie damit umgehen, dass die als höchst problematisch definierten Strukturen des Tourismus durch die Forschenden selbst reproduziert wurden, da diese Forschung nur durch die touristische Infrastruktur überhaupt möglich war? Wie kann man Katastrophenforschung unter dem Aspekt der Schadensvermeidung in Regionen und mit bzw. über Menschen, die alles daransetzen, diese Zuschreibung als Katastrophenregion aus existenziell notwendigen sozioökonomischen Bedingungen zu überwinden, betreiben, ohne diese Zuschreibung permanent selbst zu reproduzieren und damit die Katastrophe diskursiv fortzuschreiben? Und: Wie religiös waren wir und durften wir an diesem Ort sein? [10]
1.4 Szene 4: Ansan, Südkorea, Juni 2017
Wir befanden uns gemeinsam mit ca. zehn anderen Personen in einem kleinen Raum im Gyeonggi-Kunstmuseum in der südkoreanischen Stadt Ansan. Für einen Augenblick war nur das Summen des Beamers zu hören – und mein2) Schlucken. Mein US-amerikanischer und südkoreanischer Kollege wussten beide ebenso wenig wie ich, was uns heute hier erwarten würde. Wir waren eingeladen worden von den sogenannten Victim Families der Fährkatastrophe der Sewol, ein Schiff, das im April 2014 vor der Küste Südkoreas gesunken war und über 300 Menschenleben, vor allem von SchülerInnen einer Schule in Ansan, gekostet hatte (SUH & KIM 2017). Wir waren hier, um zu berichten, was wir als westliche Wissenschaftler über den Fall dachten und welche Erkenntnisse es zu den Themen postkatastrophale Konflikte in Gemeinschaften sowie Gedenkorte von Katastrophen gab – Themen, die die Victim Families ganz praktisch umtrieben. [11]
Als ich einige Wochen zuvor die Einladung zu dem Workshop nach Südkorea erhalten hatte, war für mich unklar gewesen, was mich dort erwarten würde. Thema des wissenschaftlichen Workshops sollten Disaster Investigations sein, also die systematische Untersuchung von Katastrophenursachen, -verlaufsbedingungen und -folgen. Der Workshop hatte auf die Fährkatastrophe der Sewol fokussiert und neben genuin wissenschaftlichen Vorträgen zu verwandten Themen der Katastrophenforschung auch verschiedene Treffen mit Mitgliedern der offiziellen Untersuchungskommission sowie den Besuch mehrerer Erinnerungsstätten in Ansan beinhaltet. Spontan hatte sich bei Letzterem erstmals die Möglichkeit ergeben, VertreterInnen der Victim Families zu treffen und sich mit diesen auszutauschen. Das zunächst etwas beklemmende Treffen war irgendwann in ein entspannteres gemeinsames Abendessen mit Bier und Makgeolli – ein koreanischer Reiswein – übergegangen. [12]
Das ganze Land schien mit Blick auf diese Katastrophe gespalten. Überall fanden sich die Insignien der UnterstützerInnen der Victim Families oder zumindest derjenigen, die die damit verbundenen politischen Ziele teilten. Diesen standen andere gegenüber, die den Familien und ihren UnterstützerInnen vorwarfen, von der Katastrophe profitieren oder aber diese für gänzlich andere politische Anliegen instrumentalisieren zu wollen. Auch während des Workshops war immer deutlicher geworden, wie tief sich diese Katastrophe in den öffentlich-politischen Diskurs Südkoreas eingeschrieben hatte: Noch 2017 sorgte sie für politische Kontroversen und ein tief verbreitetes Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und ihren VertreterInnen, denen unterstellt wurde, durch mangelnde Kontrollen das Unglück erst ermöglicht zu haben. Es seien, so lautete der Vorwurf, keine geeigneten Rettungsmaßnahmen ergriffen und eine transparente Aufarbeitung der Katastrophe verhindert worden. Die Angehörigen der Opfer seien durch die Unterstellung unlauterer Motive im Streben um politische Anerkennung letztlich ein zweites Mal zu Opfern gemacht worden (SUH & KIM 2017). [13]
Nach Ende des Workshops war ich noch einige Tage im Land geblieben. Spontan hatte sich die Möglichkeit ergeben, zusammen mit dem US-amerikanischen und dem südkoreanischen Kollegen einem Treffen der Victim Families mit Parlamentsabgeordneten im südkoreanischen Parlament beizuwohnen. Nach dem Treffen hatten sich die Opferfamilien – vor allem vor dem Hintergrund aktueller Auseinandersetzungen über geeignete Formen der öffentlichen Erinnerung an die Katastrophe – sehr daran interessiert gezeigt, bei einem Gespräch in Ansan in einen intensiveren Austausch mit den anwesenden Wissenschaftlern aus dem Ausland zu kommen und mehr über den Umgang mit ähnlichen Fällen im Ausland zu erfahren. [14]
Bei diesen Treffen stellte ich mir immer wieder die Frage, in welcher Rolle ich eigentlich dort war: als Wissenschaftler, der Forschungsergebnisse präsentierte? Als wissenschaftlicher Berater? Als Instanz, von der eine wie auch immer geartete sinnstiftende Erzählung erwartet wurde? Als selbst auch irgendwie Daten erhebender Wissenschaftler? Vielleicht auch als symbolische Aufwertung des Anliegens der Opferfamilien gegenüber der Öffentlichkeit? [15]
Aus dieser unübersichtlichen Gemengelage resultierte eine ganze Reihe von forschungsethischen Herausforderungen. Wie konnte ich den eher impliziten Erwartungen der Opferfamilien gerecht werden? Was hätte der Grundsatz, Schaden zu vermeiden, unter den beschriebenen Bedingungen sinnvollerweise überhaupt bedeuten können? Den Opferfamilien war bereits großes Leid durch den Verlust ihrer Kinder zuteilgeworden und ein zweites Mal durch die gefühlt oder real ausbleibende politische Anerkennung ihrer Situation. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu postkatastrophalen Konflikten und der Individualisierung des Leids sind sehr häufig nicht erbaulich – im Gegenteil: Sie können ungemein desillusionierend und frustrierend sein. Sie vermitteln, dass durch die Katastrophe auch soziale Gemeinsamkeiten und Verbindungen zerstört werden, oder wie politische Institutionen mit Katastrophen umgehen und diese oft instrumentalisieren oder vergessen machen wollen (ERIKSON 1978; HEWITT 1983). Gleichzeitig können sie aber auch vor allzu großen Hoffnungen und Erwartungen sowie deren wahrscheinlicher Enttäuschung schützen. Aber half wissenschaftliches Wissen diesen Menschen praktisch weiter? [16]
Der politische Kampf der Opferfamilien und ihrer UnterstützerInnen um Aufklärung und Anerkennung hatte zum Zeitpunkt des Besuchs bereits mehr als drei Jahre angedauert. Die Motivlagen hatten sich dabei durchaus pluralisiert. So mischte sich die Forderung nach Aufklärung und Anerkennung mit deutlich weitreichenderen politischen Forderungen nach der Erneuerung politischer Institutionen sowie nach Rechtskodizes und personellen Konsequenzen. So wichtig eine detaillierte Aufarbeitung aus westlich-demokratischer Sichtweise – eine Perspektive, die auch von vielen SüdkoreanerInnen geteilt wurde – sein mochte, so sehr schien diese Aufarbeitung der Katastrophe auch zur Perpetuierung einer innenpolitischen Krise in Südkorea beizutragen, die in der Vergangenheit immer wieder auch gewaltsame Demonstrationen bedingt hatte (siehe bspw. die Ausstellung "The 4th wall – the state of emergency ll" [NOH 2017]). Welche Ergebnisse und Folgen hätte ich vor diesem Hintergrund guten Gewissens vertreten können? Welche (eigenen) politischen Implikationen verfolgte ich? Inwieweit war die erwartbare erneute Politisierung des Themas dazu geeignet, eine individuelle Bewältigung der schrecklichen Erfahrungen in einzelnen Opferfamilien zu ermöglichen? [17]
Die hier gewählten Szenen verweisen auf ganz konkrete Situationen und Interaktionen, in denen wir uns mit nicht zu antizipierenden forschungsethischen Fragestellungen konfrontiert sahen, die uns als Grundlage für die folgenden Überlegungen dienen. Dazu erläutern wir zunächst unser Verständnis sozialwissenschaftlicher Katastrophenforschung, da wir diese als Forschungsdisziplin und -feld definieren, die sich in besonderer Weise ethischen Fragestellungen zu stellen haben, weil in ihnen Gesellschaft von ihrem grundsätzlichen Scheitern her gedacht wird (CLAUSEN 2003). Sie rekurriert zentral auf Situationen extremen Leids, auf Sterben und Tod und damit auf existenzielle ethische Fragen. Dies bedingt u.E. die normative Notwendigkeit, mit der Forschung immer auch eine praktische Verbesserung im Sinne einer Verringerung dieses Leides (dualer Imperativ) anzustreben (JACOBSEN & LANDAU 2003). Sie ist somit immer auch normativ, gar politisch. Da ein derartiges Verständnis andere forschungsethische Fragen aufwirft als die z.B. eher pragmatisch orientierte US-amerikanische Katastrophenforschung, kontrastieren wir diese unterschiedlichen Verständnisse. Auf Basis der eingangs geschilderten Szenen arbeiten wir im Folgenden die unserer Meinung nach relevanten ethischen Fragen der Katastrophenforschung heraus, um diese im Kontext von standardisierten forschungsethischen Grundsätzen bzw. Richtlinien, wie diese von Institutional Review Boards (IRBs) vertreten werden, zu diskutieren. Mit Blick auf die viel diskutierten Grundsätze des dualen Imperativs, der informierten Einwilligung und des Prinzips der Schadensvermeidung zeigen wir Widersprüchlichkeiten der Anwendung dieser in der Forschungspraxis auf. Ausgehend von Überlegungen BUTLERs (2013 [2002]) schlagen wir eine reziproke Ethik der Vulnerabilität vor, die unseres Erachtens dazu geeignet ist, Katastrophenforschung jenseits von Standardisierungen ethisch zu fundieren. [18]
2. Was ist sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung und welche forschungsethischen Grundsätze impliziert sie?
Die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung entstand – abgesehen von einzelnen Vorläufern (DOMBROWSKY 2008) – im Zweiten Weltkrieg im Kontext der United States Strategic Bombing Surveys, die der Analyse der Auswirkungen des Luftkrieges gewidmet waren (KNOWLES 2011). Nach dem Ende des Krieges erfuhr das Feld eine Fortschreibung in der Analyse von Zivilverteidigungsmaßnahmen im Kalten Krieg sowie eine Ausweitung auf Katastrophen, da strukturelle Ähnlichkeiten von Krieg und Katastrophe angenommen wurden (BOLIN & STANFORD 1998). Im Kern der Forschung stand die Vorstellung, dass Katastrophen als durch physische Gefahren verursachte seltene Unterbrechungen von Normalität seien. Daher wurde insbesondere das Verhalten von Menschen, Organisationen und Institutionen während dieser "non-routine problems" (KREPS & DRABEK 1996, S.129) sozialwissenschaftlich untersucht (BOLIN & STANFORD 1998; STEHRENBERGER 2014). Spätestens seit 1980 hat sich die Katastrophenforschung stärker pluralisiert, und sogenannte Naturkatastrophen wurden zunehmend auf ihre sozialen Ursachen zurückgeführt sowie auf ihre vielfältigen sozialen Auswirkungen hin untersucht (BLAIKIE, CANNON, DAVIS & WISNER 1994; O'KEEFE, WESTGATE & WISNER 1976). Entsprechend wurden verstärkt Betroffene von Katastrophen zu Forschungsobjekten sowie ihr vielfältiges Leiden und Vulnerabilitäten zu Themen der Forschung. Damit wurden auch zunehmend forschungsethische Fragen evoziert, obwohl es an die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung lange Zeit – wie in den übrigen Sozialwissenschaften auch – keine spezifische Erwartung mit Blick auf forschungsethische Standards gab. Sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung "proceeded on the assumption that research has very little potential for injuring the people and organizations that are studied" (TIERNEY 2002, S.354). [19]
2.1 Diskurse und Forschungstraditionen in den USA und in Deutschland
Trotz (oder gerade wegen) der beschriebenen Pluralisierung lassen sich zwischen der US-amerikanischen und der deutschen – ggf. europäischen – sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung unterschiedliche Diskurse und Forschungstraditionen ausmachen. In den USA zeigt sich über die 1980er Jahre hinaus bis heute ein enger Nexus zwischen einerseits einer ereigniszentrierten Katastrophenkonzeptionalisierung, bei der davon ausgegangen wird, dass Katastrophen plötzliche Ereignisse sind, die gesellschaftliche Normalität disruptiv unterbrechen ("non-routine problems", KREPS & DRABEK 1996, S.129), und andererseits funktionalistischen Ansätzen (BOLIN & STANFORD 1998), bei denen primär gesellschaftliche (Grund-) Funktionen, ihr Zusammenbruch in und ihre Restitution nach Katastrophen im Vordergrund stehen. Der theoretische Konservatismus dieses lange Zeit vorherrschenden "dominant consensus" (HEWITT 1983, S.4) hat zur Folge, dass bis heute ein Fokus auf empirische Studien vorliegt, die einen starken Anwendungsbezug haben: "Common in US studies are data-driven statistical models of limited phenomena or taxonomies and typologies of various aspects of disasters" (BOLIN & STANFORD 1998, S.30). VARLEY (1994) kritisiert daran anschließend, dass mit diesem theoretischen und methodischen Fokus eine Vernachlässigung gesellschaftstheoretischer Ansätze und allgemeinerer gesellschaftlicher und kultureller Prozesse einhergehe. [20]
Die deutsche sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung, im Kern als Katastrophensoziologie angelegt, war dagegen von Beginn an deutlich stärker gesellschaftstheoretisch orientiert und an Grundlagenforschung interessiert. Dies hängt auch damit zusammen, dass in Deutschland die Anzahl und der Umfang von Katastrophen im internationalen Vergleich eher begrenzt sind. Mit theoretischen Bezügen u.a. zur Figurationssoziologie, soziologischen Tauschtheorie und Konfliktsoziologie findet sich vor allem in der Anfangszeit eine dezidierte Kritik an der funktionalistischen Katastrophenforschung in den USA, die primär an der Wiederherstellung eines Status quo ante orientiert sei, nicht aber die gesellschaftlichen Ursachen und differenzierten Wirkungen von Katastrophen in den Blick nehme (CLAUSEN, CONLON, JÄGER & METREVELI 1978). Entsprechend sind für Lars CLAUSEN (2003), eine der zentralen Figuren der bundesdeutschen Katastrophenforschung, Katastrophen in der gesellschaftlichen Normalität angelegte radikale Veränderungen der sozialen Wirklichkeit. Sie sind extrem radikaler, extrem rapider und "magisierter" – neuer Erklärungsformen bedürftiger – sozialer Wandel, der nicht einfach endet, sondern sich in vielfältiger Form auch nach dem vermeintlichen Ende von Katastrophenereignissen weiter vollzieht. Daher waren Untersuchungen von Katastrophen in Deutschland stärker grundlagenforschungsorientiert, und Quick-Response-Untersuchungen stellten eine Ausnahme dar, wenn auch gegenwärtige Förderprogramme deutlich anwendungsorientierte Forschung einfordern. [21]
2.2 Forschungsethische Diskussionen in den USA und in Deutschland
Die Forschungskontexte in den USA und Deutschland unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der theoretischen und methodischen Zugänge, sondern auch hinsichtlich der resultierenden forschungsethischen Diskussionen sowie ihrer Institutionalisierungen. [22]
Ausgelöst durch mehrere wissenschaftliche Skandale, da Menschen körperliche Verletzungen zugefügt oder die Ergebnisse zu militärischen Zwecken missbraucht worden waren (VON UNGER & SIMON 2015), wurden in den USA Institutional Review Boards (IRBs) etabliert. Nicht zuletzt durch den Belmont-Report (NATIONAL COMMISSION FOR THE PROTECTION OF HUMAN SUBJECTS OF BIOMEDICAL AND BEHAVIORAL RESEARCH 1978) legitimiert, überprüfen IRBs seitdem, ob Studien möglicherweise unter der Anführung falscher Tatsachen durchgeführt oder Forschungssubjekte einem Risiko ausgesetzt werden und wägen die Risiken gegenüber dem potenziellen Nutzen bzw. Erkenntnisgewinn sehr genau ab. Besondere Verfahren für die Katastrophenforschung gab es lange Zeit nicht, allerdings hat sich die Bedeutung der IRBs für die Katastrophenforschung vor allem nach 9/11 deutlich gewandelt. Der Schutz der individuellen Integrität der Beforschten ebenso wie die der Forschenden wurde nochmals gestärkt:
"Over and above these there have been changes directly attributable to the events of 9/11 that have made all forms of disaster research more difficult. Most notable among the accelerated trends in the aftermath of 9/11 are the increasingly detailed requirements of university IRBs. The presumption is that disaster victims, similar to the survivors of 9/11, have experienced such emotional trauma as to make them fragile and in need of special protection from researchers" (STALLINGS 2007, S.79). [23]
Zugleich hat auch die US-Katastrophenforschung und hier insbesondere die Quick-Response-Forschung einen Aufschwung und zunehmende Anerkennung erfahren und damit auch neue Herausforderungen für die IRBs generiert: Prüfungsprozesse von IRBs sind meist sehr zeitintensiv und können die zeitnahe Datenerhebung nach einer Katastrophe erschweren (BROWNE & PEEK 2014). Da Katastrophen meist kaum vorhersehbar sind, ist es auch nicht möglich, frühzeitig das forschungsethische Prüfverfahren einzuleiten und/oder die Anträge so offen zu stellen, dass auch in situ Anpassungen möglich sind, um schnell auf unterschiedliche Entwicklungen reagieren zu können. Generische Forschungsprotokolle, wie sie bspw. vom Ethics Review Board von Médecins Sans Frontières (MSF) für medizinische Forschung im Kontext von Katastrophen und humanitären Notlagen eingesetzt werden (O'MATHÚNA 2012; SCHOPPER 2014), haben sich im Kontext der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung bisher nicht durchgesetzt. Auch ist es für IRBs oft schwierig, die konkrete Situation vor Ort forschungsethisch zu bewerten und daraus Schlussfolgerungen für Schadensvermeidung von Untersuchten und Forschenden zu ziehen und/oder abzuwägen, ob die Forschung vielleicht auch die notwendigen Hilfsmaßnahmen behindern könnte (HUNT et al. 2016). IRBs müssen darauf achten, ob es durch die Forschung zu (Re-) Traumatisierungen kommen kann oder darauf, dass die betroffenen Regionen und Menschen nicht von Forschenden "überrannt" werden und es zu einem "participant research burnout" (SAMHSA 2016, S.4) kommt. [24]
In verschiedenen Institutionen wie z.B. dem National Institute of Environmental Health Science (NIESH) in den USA haben sich daher Arbeitsgruppen gebildet, die spezifische Empfehlungen für Prüfverfahren in der Katastrophenforschung entwickeln (PACKENHAM et al. 2017; vgl. auch MEZINKA, KAKUK, MIJALJICA, WALIGÓRA & O'MATHÚNA 2016). Im internationalen Kontext finden sich seit dem Tsunami 2004 vergleichbare interorganisationale Arbeitsgruppen wie die Working Group on Disaster Research and Ethics (SUMATHIPALA, JAFAREY, DE CASTRO, AHMAD & MARCER 2010). In den Empfehlungen des NIESH (PACKENHAM et al. 2017) wird gefordert, Katastrophenopfer neben den bereits in anderen forschungsethischen Richtlinien festgelegten Gruppen wie Kinder, Frauen oder Embryos als eigenständige vulnerable Gruppe zu definieren, für die die geltenden forschungsethischen Prüfkriterien wie Schadensvermeidung oder die Notwendigkeit der informierten Einwilligung unter den Bedingungen der Katastrophe auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Diese Ausweitung der Kategorisierung vulnerabler Gruppen wird von Anderen jedoch sehr kritisch gesehen: "Ethics review committees have come to define 'vulnerable' groups as the new 'untouchables' for whom researchers require a special permit to research" (VAN DEN HOONAARD 2018, S.306; siehe für Kanada auch HUNT et al. 2016). [25]
Eine entsprechende Forschung sollte nur durchgeführt werden, wenn damit ein offensichtlicher Gewinn für die von einer Katastrophe betroffenen Menschen einhergeht (O'MATHÚNA 2011). Auch die Forschenden sollten auf die besondere postkatastrophale Situation vorbereitet sein, insbesondere was eine mögliche Doppelrolle als Helfende und Forschende angeht. Zwar sollten sie während des Aufenthalts im Feld mögliche festgestellte Hilfsbedarfe an die entsprechenden Hilfsorganisationen kommunizieren, zugleich aber immer wieder die Unabhängigkeit von den Hilfsaktionen und Organisationen verdeutlichen (O'MATHÚNA 2010) sowohl bei der Kommunikation der informierten Einwilligung als auch z.B. durch klar erkennbare Kleidung im Feld (PACKENHAM et al. 2017). [26]
Über spezifische psychologische Bewertungsverfahren sollte die kognitive Fähigkeit der potenziellen StudienteilnehmerInnen getestet werden, um zu ermitteln, ob sie überhaupt in der Lage sind, einer informierten Einwilligung zuzustimmen. Die Möglichkeit, die Forschung in geschützten Räumen durchzuführen, kann gerade in postkatastrophalen Regionen erschwert sein, wenn die Menschen in Notunterkünften untergebracht sind – hier gilt ähnliches wie für die Forschung in Flüchtlingslagern (BLOCK, WARR, GIBBS & RIGGS 2013; KABRANIAN-MELKONIAN 2015; KRAUSE 2017; MACKENZIE, McDOWELL & PITTAWAY 2007). Den IRBs sollen daher ausführliche Lagebeschreibungen vorgelegt werden, um die Abschätzung möglicher Schäden für Forschende und Beforschte für die IRBs zu erleichtern, denen eine entsprechende Katastrophenforschungsexpertise meist fehlt. Wie in allen Forschungen sollte zudem die Rückspiegelung der Ergebnisse an das Feld eingeplant werden (PACKENHAM et al. 2017). [27]
Diese sehr differenzierten und begrenzenden Festschreibungen dessen, welche Katastrophenforschung forschungsethisch zugelassen wird sowie die Tatsache, dass diese ethischen Forderungen wie in anderen Bereichen auch aus der medizinischen, klinischen und psychologischen Katastrophenforschung heraus entwickelt wurden bzw. werden, hat unter einigen der etablierten US-amerikanischen KatastrophenforscherInnen dazu geführt, forschungsethische Fragen auf einfache Positionen zu reduzieren und davon auszugehen, dass eine bestimmte Forschung entweder nur ethisch gut oder schlecht sei. So argumentieren einige AutorInnen zulasten ambivalenter, dilemmatischer und differenzierter Positionen mehr oder weniger apodiktisch, dass sich sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung nicht von anderen forschungsethischen Fragen der Sozialwissenschaft unterscheide (STALLINGS 2007), Katastrophenforschung an sich gut und damit forschungsethisch einwandfrei sei (KENDRA 2018), Retraumatisierungen keine oder allenfalls eine statistisch zu vernachlässigende Relevanz hätten (ROSENSTEIN 2004), IRBs dem First Amendment der U.S. Constitution3) widersprächen (KENDRA & GREGORY 2015) und unnötige Forschungshürden für Forschende und Beforschte darstellen würden (TIERNEY 2002). [28]
Gleichzeitig finden sich aber auch andere Stimmen, die für eine Ausdehnung forschungsethischer Überlegungen über den engeren Kontext von Quick-Response-Forschung hinaus argumentieren, da forschungsethische Probleme oftmals erst in späteren Phasen aufträten und solche Dilemmata in der Regel durch IRBs nicht adressiert würden:
"[T]he ethical dilemmas that arise over longer-term fieldwork are not necessarily later-in-time versions of the same concerns that early-in-time researchers must attend to. Instead, ethical challenges are often different in kind, precisely because they are different in time. [...] the nature of long-term research, and especially research with people impacted by disaster, requires us to become alert to ethical problems as they arise, well beyond the IRB approval of our protocol" (BROWNE & PEEK 2014, S.89-90). [29]
Für den deutschen Kontext gibt es entsprechende forschungsethische Kriterien, Verfahren o.ä. nicht, ebenso wenig existiert ein Diskurs über forschungsethische Fragen (in) der Katastrophenforschung. Dies hat mehrere Gründe: Neben den theoretischen Traditionen und methodischen Implikationen finden sich in Deutschland kaum vergleichbare großskalige Ereignisse wie bspw. in den USA, sodass die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht institutionalisiert ist und es damit einhergehend aufgrund nicht existenter Förderstrukturen kaum Quick-Response-Forschung gibt. Anders als in den USA besteht in Deutschland aus den oben aufgeführten Gründen aber auch nicht die Notwendigkeit, sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung apodiktisch in ihrer ethischen Unbedenklichkeit darzustellen, sondern es gibt vielmehr die Möglichkeit forschungsethische Ambivalenzen und Dilemmata offen zu diskutieren und Aporien forschungsethischer Verkürzungen aufzuzeigen. [30]
Die folgenden Überlegungen dienen daher dazu, erste Impulse für eine entsprechende Ethikdiskussion in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung zu setzen, die skizzierten US-amerikanischen Debatten kritisch zu wenden und mit katastrophensoziologischen, gesellschaftstheoretisch fundierten Konzepten sowie den eigenen Forschungserfahrungen, wie in den oben genannten Szenen dargestellt, anzureichern. [31]
3. Kritische Analyse forschungsethischer Diskurse im Kontext der Katastrophenforschung
Entgegen anderer Auffassungen (siehe Abschnitt 2.2) gehen wir davon aus, dass innerhalb der Sozialwissenschaften der Katastrophenforschung im Kontext der Debatten um Forschungsethik ein besonderes Gewicht zukommen sollte, da sich in diesem Feld einerseits besondere Fragen im Angesicht von Verlusten, Tod und der Zerstörung von grundlegenden Ordnungs- und Sinnstrukturen stellen (BENIGHT & McFARLANE 2007; O'MATHÚNA 2010). Der Umgang mit vulnerablen Gruppen evoziert spezifische forschungsethische Fragestellungen im Sinne einer "ethics of vulnerability“ (KIRMAYER 2013, S.IX). Andererseits besteht eine starke explizite, teils auch implizite normative Anwendungserwartung des produzierten Wissens, die wiederum weitere forschungsethische Fragen impliziert (siehe dazu auch Abschnitt 2.2). [32]
Katastrophenforschung erfolgt meist unter speziellen Rahmenbedingungen: "Post-disaster research is, by definition, urgent and time is always compressed" (BROWNE & PEEK 2014, S.113; vgl. auch MEZINSKA et al. 2016; O'MATHÚNA 2012). Neben den zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen im Angesicht von "perishable data" (BROWNE & PEEK 2014, S.83) sind die finanziellen meist ebenso knapp bemessen. Dies kann dazu führen, dass sich die dem Feld inhärenten Ambivalenzen nochmals deutlich verschärfen, wenn unter der postkatastrophalen zeitlichen Dynamik zeitnah praxisorientierte Ergebnisse, die bestenfalls Menschenleben retten sollen, erwartet werden (O'MATHÚNA 2010). Entsprechend werden auch die Spielräume ethischen Handelns beeinflusst (vgl. die zuvor dargestellten Szenen in Indien und Südkorea). [33]
So stellt sich die Frage, ob es in der Katastrophenforschung so etwas wie eine ethische Pflicht zur Forschung gibt? Ist es gar unethisch, nicht zu Katastrophen zur forschen (KILPATRICK 2004)? Auch ist zu fragen, ob alle oder nur ausgewählte Katastrophen zu erforschen seien? Gibt es Katastrophen, die man aus ethischen Gründen nicht erforschen sollte? Ergibt sich hieraus die Notwendigkeit zu bestimmter Forschung, bspw. orientiert an konsequentialistischen oder gerechtigkeitstheoretischen Kriterien?4) Ist das Leid der Menschen im Elbe-Havel-Land genauso viel wert wie das der Menschen in Indien, oder verbietet sich aus ethischen Gründen bereits jede Opferkomparatistik? [34]
3.1 Dualer Imperativ und Komplizenschaft mit dem Feld
Eine wichtige Konstante scheint auf beiden Seiten des Atlantiks zu allen Zeiten der Wunsch oder gar die normative Strukturierung des Feldes zu sein, aus vergangenen Katastrophen nicht nur Wissen generieren, sondern im Sinne der Katastrophenrisikoreduktion für eine "bessere", katastrophenärmere Zukunft lernen zu wollen. Es scheint angesichts katastrophalen Leids fast unmöglich, nicht lernen zu wollen. Katastrophen, so SLOTERDIJK (1987, S.53), bedingen immer eine "Katastrophendidaktik": Das Katastrophale erscheint umso schrecklicher und sinnloser, wenn sich nicht aus ihm lernen und Vergleichbares in der Zukunft verhindern ließe. Und dafür braucht es entsprechende Forschung, deren ethische Legitimation – wenigstens im US-Kontext – grundlegend auf diesem Anspruch beruht. Gerade eine derartig konsequentialistische – fast schon teleologische – Forschungslegitimation impliziert weitreichende forschungsethische Fragen (KELMAN 2005). Und sie bedingt zugleich die Notwendigkeit, im Sinne des dualen Imperativs (JACOBSEN & LANDAU 2003) Wissen zu generieren, welches sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis relevant ist und hilft
"to satisfy the demands of our academic peers and to ensure that the knowledge and understanding our work generates are used to protect refugees and influence institutions like governments and the United Nations. How, then, do we address the dual imperative so that our work can be both academically rigorous and relevant to policy?" (S.186)5) [35]
Katastrophen sind hiernach ein primäres Betätigungsfeld institutionalisierter AkteurInnen bzw. des Staates oder gar von Staaten ("disaster diplomacy", COMFORT 2000, S.277), deren Anzahl national wie international begrenzt ist. Verschärfend kommt hinzu, dass Katastrophen als "'Real-Falsifikation' des menschlichen Mühens, die Probleme des Überlebens technisch und organisatorisch zu lösen" (DOMBROWSKY 1988, S.258), immer auch ein Versagen der gesellschaftlichen und administrativen Katastrophenschutzstrukturen beinhalteten. Ihre Untersuchung bedarf daher paradoxerweise zu einem gewissen Grad der Mitwirkung eben dieser Institutionen, die zuvor mit ihrem Schutzauftrag "scheiterten". Zur Erlangung notwendiger Feldzugänge ist daher fast immer auch eine gewisse "Komplizenschaft" mit den "herrschenden" AkteurInnen notwendig – dies gilt für eher anwendungsorientierte Forschung ebenso wie für Grundlagenforschung mit weitaus weniger normativen Zwängen der Produktion anwendungsorientierten Wissens. So sind die Zugänge einerseits notwendig, korrumpieren jedoch andererseits zwangsläufig. [36]
Wie auch andere Katastrophen zeichnete sich bspw. das Hochwasser in der Region Elbe-Havel-Land gleichzeitig durch eine Zunahme sozialer Kohäsion (unter bestimmten Personengruppen) und eine Vertiefung bestehender bzw. Entstehung neuer sozialer Konflikte aus: So scheint es bspw. keine gerechte Form der Gewährung von Hilfe zu geben, wenn einige Personen jahrelang für eine Hochwasserversicherung gezahlt haben, andere diese gar nicht erst bekamen oder sich nicht (mehr) leisten konnten oder wollten, aber häufig schneller finanzielle Hilfe und Unterstützung erhielten als die InhaberInnen von Versicherungspolicen. Angesichts dieser teils verdeckten, teils auch erst entstehenden Konfliktlinien ist es für von außen in das Feld tretende Forschende unmöglich, sich gänzlich neutral zu verhalten (BROWNE & PEEK 2014); vielmehr droht mit der Forschung immer die Verschärfung von Konflikten: So wurde im Beispiel des Elbe-Havel-Landes der Feldzugang vor allem in administrative Strukturen hinein durch Personen ermöglicht, die sich ihrerseits während des Forschungsprozesses um die Wiederwahl um politische Ämter bewarben und hierbei die Forschung bewusst oder unbewusst auch in ihrem Sinne instrumentalisierten. Damit ist ein weiteres forschungsethisches Problem der Katastrophenforschung benannt: Wenn Forschung gemäß dem dualen Imperativ nicht nur wissenschaftlich, sondern auch Policy-relevant sein soll, stellt sich umso mehr die Frage nach der Verwendung und Instrumentalisierung der Forschungsergebnisse, die ungleich höher als in anderen Forschungsfeldern scheint (KELMAN 2005). [37]
Die Anwendung des dualen Imperatives zeigt damit konkrete praktische Probleme: Wenn dieser Policy-Relevanz einfordert, impliziert dies die Frage, um wessen Policies es sich dabei handelt? Die der Wissenschaft? Die derjenigen, die den Diskurs bislang hegemonial strukturier(t)en? Die der DatengeberInnen? Wie die Beispiele aus der Berliner Flüchtlingsunterkunft, dem Elbe-Havel-Land, Indien und Südkorea zeigen, mögen die Forschungen zwar von Relevanz für eine Praxis sein und sicherlich auch Policies bedingen können, es stellt sich aber vielmehr die Frage, welche dies sind oder sein sollten, und um welchen Preis diese Veränderungen erkauft werden? [38]
3.2 Schadensvermeidung und informierte Einwilligung
Eng verwandt mit positivem Nutzen der Forschung für eine wie auch immer geartete Praxis ist das Prinzip der Vermeidung von forschungsinduzierten Schäden aufseiten der Beforschten. Potenzielle Schäden durch die Forschung können dabei neben physischen Schäden – die eher im Kontext medizinischer denn sozialwissenschaftlicher Forschung relevant werden – Retraumatisierungen, unrealistische Erwartungen, Manipulationen, Ausbeutung sowie Stigmatisierungen umfassen (MEZINSKA et al. 2016). Ebenso wie in der Flüchtlingsforschung scheinen die ethischen Diskurse in der Katastrophenforschung von der Vorstellung einer spezifischen "ethics of vulnerability" (KIRMAYER 2013, S.IX) geleitet, die es erfordere, geflüchtete oder von einer Katastrophe betroffene Menschen aufgrund ihrer marginalisierten Position besonders zu schützen. Andererseits impliziert und reproduziert diese bevormundende Vorstellung zugleich diese Opferrolle (LORENZ 2018; VAN DEN HOONAARD 2018) und blendet die allen gesellschaftlichen AkteurInnen eigene Agency aus (COLLOGAN, TUMA, DOLAN-SEWELL, BORJA & FLEISCHMAN 2004; FRÖHLICH 2018). Auch hängt die ganze Forschung, z.B. der Verlauf eines Interviews, stark von den Interviewten ab; ihnen kommt mitunter deutlich mehr Agency zu als den Interviewenden (DITTMER 2011). Gerade in Gesprächen über leidvolle Erfahrungen kann es durchaus der Fall sein, dass die leidgeprüften Interviewten viel besser mit herausfordernden Gesprächsthemen umgehen können als dieser spezifischen sozialen Wirklichkeit mitunter sehr ferne AkademikerInnen (O'MATHÚNA 2012; VON UNGER 2014). [39]
Dieser Widerspruch findet sich z.B. auch in der informierten Einwilligung, mit der auf der einen Ebene zwar genau dieser Opferrolle entgegen getreten und die Agency der Teilnehmenden, sich selbst für oder gegen die Teilnahme an der Forschung entscheiden zu können, betont werden soll. Zugleich wird damit jedoch allen Teilnehmenden pauschal Vulnerabilität zugeschrieben, unabhängig von ihrer tatsächlichen Positionierung im Sozialraum. Die informierte Einwilligung ist in ihrem Aushandlungs- und Entstehungsprozess daher selbst bereits ein Instrument, machtvolle und weniger machtvolle Positionen zu definieren, entsprechende Subjektvorstellungen festzuschreiben und damit die Prozesshaftigkeit von Identitätsbildungsprozessen außer Acht zu lassen. Kirsten BELL argumentiert entsprechend vor dem Hintergrund medizinischer Forschung:
"it [das Prinzip des informed consent] enacts a certain type of 'subject' – one that seems designed to promote even less ethical research. While we make and remake subjects constantly in our research – in our fieldwork and field notes, in our anecdotes and our published accounts – the particular subject 'materialized' [...] in the doctrine of informed consent is one we should emphatically reject" (2014, S.9). [40]
Besonders schwierig scheint die Anwendung der informierten Einwilligung in der Katastrophenforschung, wenn sie mit dem Ziel verbunden ist, möglichst umfassend bereits im Vorfeld potenzielle Schäden für Forschende und Beforschte auszuschließen und zwar in doppelter Hinsicht: Sämtliche gewählte Erhebungsformen in der eingangs dargestellten Forschung im Kontext des Elbehochwassers beruhten formal auf der informierten Einwilligung der Befragten. Da jedoch dieser Einwilligung eine informierende und damit potenziell Stress erzeugende oder traumatisierende Frage oder Erklärung vorausgehen muss (O'MATHÙNA 2010) – in unserem Fall implizierte z.B. bereits die Frage nach einer möglichen Teilnahme an der Studie zum Hochwasser die Erinnerung an die z.T. noch längst nicht überwundenen leidvollen Erfahrungen – kann Schadensminimierung bereits durch den Prozess der Erlangung einer informierten Einwilligung infrage gestellt sein. Es droht ein infiniter ethischer Regress, Retraumatisierungen auf diesem Wege zu vermeiden: Der Anspruch, sich ethisch zu verhalten, kann genau das Gegenteil evozieren: Retraumatisierungen können durch genau den Prozess hervorgebracht werden, der diese eigentlich verhindern sollte. [41]
Gleichzeitig entbindet die informierte Einwilligung die Befragenden nicht von einer ethischen Reflexion, wann vielleicht trotz deren Vorliegen Befragungen und Gespräche zum Wohle der Befragten abgebrochen werden müss(t)en (BROWNE & PEEK 2014). So mussten wir bspw. auch Interviews im Kontext der Studie in der Berliner Notunterkunft beenden, weil eine dolmetschende Person mit eigener Fluchterfahrung zu sehr von der Gesamtsituation der Untersuchung in Mitleidenschaft gezogen worden war. Einige ForscherInnen (bspw. DILGER 2017) betonen daher, dass die informierte Einwilligung in bestimmten Kontexten sogar hinderlich oder gar schädlich sein kann. Sie ist damit eine unter bestimmten Umständen vielleicht notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung ethischen Forschens (O'MATHÚNA 2011). [42]
Ein weiterer uns wichtig erscheinender Aspekt ist, dass Katastrophenopfer nicht nur an der Erinnerung, sondern vielfach auch am Unverständnis eines sozialen Umfeldes bzw. der Gesellschaft für ihre Situation leiden (PRIMUS 2015). Diese Menschen also nicht nach ihren Erfahrungen, ihrem Leiden und ihrer Situation zu fragen, kann scheinbar genauso eine Perpetuierung ihres Leidens sein, wie dies zu tun. Hinsichtlich des möglichen Nutzens und der Schädigung durch die Teilnahme an Forschungen nach Katastrophen gibt es, wie bereits dargestellt, unterschiedliche Forschungsergebnisse und forschungsethische Auffassungen (NEWMAN & KALOUPEK 2004). Teilweise wird auch darauf verwiesen, dass es Schädigungen durch Forschung geben kann, in der Regel aber nur ein geringer Prozentsatz der Befragten betroffen ist (BOSCARINO et al. 2004; GALEA et al. 2005). Daneben scheint es hinsichtlich des Nutzens für die Teilnehmenden zu wenig Forschung zu geben (O'MATHÚNA 2010, 2012), auch wenn sich zeigt, dass sogar eine kurzzeitige negative Beeinträchtigung später als sinnhaft und bereichernd erlebt werden kann (NEWMAN & KALOUPEK 2004). Für den Anthropologen Gerald SIDER (2010, o.P.) ergibt sich daraus die Unmöglichkeit, Schäden grundsätzlich zu vermeiden: "There is no way at all we can do no harm, [...] because to live morally in an unequal world we have to – have to – hurt someone. The only question that matters is who and why." [43]
Und was ist mit der informierten Einwilligung und mit (Re-) Traumatisierungen aufseiten der Forschenden (O'MATHÚNA 2010)? Gerade die Forschung in Kontexten extremen Leids, gar des zum Teil die eigene Vorstellung übersteigenden Todes Hunderttausender oder "unvorstellbarer" Grausamkeiten bei Genoziden fordert die Forschenden in besonderer Weise heraus. So kam in unserem Falle – um beim Beispiel der Forschung zum Elbehochwasser zu bleiben, gleiches gilt jedoch auch für die Forschung in der Notunterkunft mit den geflüchteten Menschen – verschärfend hinzu, dass die Untersuchung mit Studierenden eines Lehrforschungsseminars durchgeführt wurde. Diese wählten das Seminar – im Rahmen eines formalisierten Curriculums – frei, wurden von uns umfassend über die Katastrophe, die Situation vor Ort und mögliche Befragungssituationen aufgeklärt und entschieden sich auf dieser Basis "informiert" zur Teilnahme. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass sie vor diesem Seminar nur eine vage Vorstellung der emotionalen Herausforderungen hatten und diese ihnen auch nur ansatzweise vermittelt werden konnten. Hieraus entsteht die paradoxe Situation, dass die Zustimmung zu einer zumindest potenziell schädigenden oder traumatisierenden Forschungserfahrung auch aufseiten der Forschenden bestehen sollte, aber eine sinnvolle Einwilligung zur Durchführung der Forschung eigentlich bereits vergleichbare – ebenfalls potenziell schädigende oder traumatisierende – Erfahrungen voraussetzt (SIRY, ALI KHAN & ZUSS 2011). Sind damit das "An-die-Grenze-gehen" oder sogar darüber hinaus nicht notwendige Voraussetzungen wohlinformierter Entscheidungen? Und was bedeutet dies im ethischen Sinne für diejenigen, die bereits über dieses Wissen verfügen?6) Aber auch für die Beforschten, die in bestimmten Kontexten der Katastrophenforschung die Erfahrung machen, dass Forschende mit den ihnen anvertrauten Erfahrungen emotional nicht umgehen können (O'MATHÚNA 2012)? [44]
Kriteriell lässt sich dies unseres Erachtens nicht a priori lösen, vor allem weil die zugrundeliegenden subjekt- und gesellschaftstheoretischen Prämissen problematisch scheinen und insbesondere der informierten Einwilligung die Vorstellung eines spezifisch definierten Subjektes innewohnt, die kaum transparent gemacht wird: Dem Konstrukt der informierten Einwilligung ist die Annahme inhärent, dass die Beforschten "aufgeklärt" werden müssten, dass sie vulnerabel und daher zu schützen seien und nur durch die ForscherInnen ermächtigt werden könnten, sich gegen eine Teilnahme an einer Forschung auszusprechen (BELL 2014). Impliziert ist damit auch die Vorstellung eines selbstbestimmten Individuums, welches autonom in der Lage ist zu entscheiden, welche Handlungen als "gut" anzusehen sind – für das eigene wie das fremde "Wohl" (HORNBACHER 2017; KRAUSE 2016). Dass hingegen "meine eigene Selbstreflexion unweigerlich in eine gesellschaftliche Welt eingebettet ist, in der Optionen oftmals so angelegt sind, dass sie die von ihnen scheinbar bezweckten sozialen Wirkungen zunichte macht" (BUTLER 2013 [2002], S.9), wird kaum reflektiert. [45]
So begrenzt die Reichweite der erwähnten Prinzipien im Einzelnen bereits scheint, umso mehr drohen Aporien der Forschungsethik, wenn man die drei von uns diskutierten Grundsätze des dualen Imperativs, der Schadensvermeidung und der informierten Einwilligung kohärent – und nicht nur im formellen Sinne – zu verwirklichen sucht.7) [46]
3.3 Aporien der Forschungsethik
Insgesamt scheint der Mainstream in einigen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern – insbesondere in der Flüchtlingsforschung, teilweise aber auch in der Katastrophenforschung – einerseits von einer verkürzten konsequentialistischen Ethik geprägt (PHILLIPS 2014), die vor allem das wirkungsorientierte Schadensvermeidungsprinzip, den praktischen Nutzen sowie eine formelle informierte Einwilligung der Befragten über andere deontologische oder tugendethische Kriterien stellt (PRESIDENTIAL COMMISSION FOR THE STUDY OF BIOETHICAL ISSUES 2011). Andererseits begrenzt sich die forschungsethische Betrachtung in erster Linie auf die "research proposal stage" (BROWNE & PEEK 2014, S.83) und vernachlässigt die dynamisch-prozessuale Entwicklung von forschungsethischen Problemen. [47]
Diese Tendenz findet sich auf der Ebene von IRBs bzw. der Forderung nach einer stärkeren Institutionalisierung von ethischen Standards in der Flüchtlingsforschung wieder (KRAUSE 2017), die sich mehr einer prozeduralen Ethik verpflichtet sehen – also der formalen Rechtfertigung und Einhaltung schriftlicher Kriterien insbesondere im Vorfeld einer Studie – als einer praktischen Ethik (BROWNE & PEEK 2014). Eine eher praktische Ethik orientiert sich zwar an allgemeingültigen Regeln des sozialen Umgangs (Menschenrechte, Grundgesetz, Datenschutzrichtlinien usw.), bleibt aber offen für kontextspezifische Anpassungen oder spontane Entscheidungen (GUILLEMIN & GILLAM 2004; TOMKINSON 2015). Sie ist daher eher geeignet, ethische Dilemmata und Ambivalenzen zuzulassen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die institutionalisierten forschungsethischen Diskurse mittlerweile derart verfestigt haben, dass sie primär selbstreferenziell und institutionell gebunden als Sprachspiele vor allem um sich selbst kreisen und nur noch dem rechtlich-moralischen Schutz der Forschenden, ihrer AuftraggeberInnen sowie Institutionen dienen und nur noch sekundär dem Schutz der Beforschten (HORNBACHER 2017). Es besteht hier die Gefahr, ethisches Handeln über die Standardisierung und Formalisierung in ethischer Absicht in unethischer Weise zu überformen, wie dies bspw. auch BROWNE und PEEK (2014, S.91) als "ethics-as-IRB" kritisieren. Ohne weiter darauf eingehen zu können, sehen wir auch in der oft vertretenen Forderung nach einem partizipativen Vorgehen zur Auflösung der beschriebenen forschungsethischen Herausforderungen (KRAUSE 2017) kein Allheilmittel, wenn nicht die bestehenden gesellschaftlichen (Macht-) Strukturen reflektiert werden (siehe dazu ausführlicher VOSS et al. 2018). [48]
In den von uns gewählten Beispielen sahen wir uns vielfach Betroffenen von Katastrophen gegenüber, die – ganz im Sinne des dualen Imperativs – Praxis- und Policy-Relevanz einforderten, und zwar gerade aus ihrer spezifischen Perspektive. Mehr noch: Die Motivation zur Teilnahme an der Forschung speiste sich oft gerade aus diesem Moment und dem Wunsch nach Veränderungen. Besonders deutlich traten diese Wünsche uns bei den Forschungen in der Berliner Notunterkunft, im Elbe-Havel-Land und in Südkorea entgegen, wo in allen Fällen konkrete Hilfe gestützt durch unsere wissenschaftlichen Untersuchungen eingefordert wurde. Diese Wünsche nach praktischen, die unmittelbare Situation betreffenden Veränderungen und Anonymität/informierte Einwilligung stehen hier bisweilen in einem unlösbaren Spannungsverhältnis (GOODHAND 2000; VON UNGER 2014). Wie anonym und abstrakt kann praktische Veränderung sein? Auch ist Relevanz allein nicht identisch mit spezifischen Policies und erst recht nicht mit deren Wirkungen. Und gerade mit Blick auf Letztere ergeben sich in stark politisierten praktischen Aushandlungen des gesellschaftlichen wie politisch-institutionellen Umgangs mit Betroffenen von Katastrophen sowie angemessenen Anerkennungs-, Hilfs- und Unterstützungsformen forschungsethische Fragen. Das Beispiel Südkoreas zeigt hier sehr deutlich, dass konkrete Wirkungen zugunsten der einzelnen Betroffenen auf einer gesellschaftlichen Ebene entgegengesetzte Effekte haben können, die sich zudem im Forschungsprozess verschieben können. [49]
Die Gefahr einer Instrumentalisierung der Ergebnisse ist generell sehr hoch, und in welcher Form und wie die Forschung praktisch wirkt oder überhaupt wirken kann, lässt sich bei Datenerhebung in der Regel nicht vorhersagen. Uns war im Kontext der Feldzugänge im Elbe-Havel-Land bspw. nicht bewusst, inwieweit unsere Forschung zu einem späteren Zeitpunkt politisch genutzt werden könnte. Auch glauben wir rückblickend nicht, dass eine derartige Abschätzung aufgrund der Prozesshaftigkeit katastrophalen Wandels (CLAUSEN 2003) vorgenommen werden kann. Die potenziellen Wirkungskontexte verändern sich beständig, Gestaltungsräume öffnen und schließen sich, ebenso wie sich AkteurInnenkonstellationen, Diskursformationen und Machtverhältnisse verschieben. Entsprechend lässt sich die Verwendung und Wirkung von Daten sowie Ergebnissen – vor allem im Kontext des dualen Imperativs – auch nicht im Sinne einer umfassenden informierten Einwilligung thematisieren und zusichern. [50]
Damit sind noch nicht einmal Fälle wie die skizzierte Studie in Südkorea angesprochen, bei der vielfältige Rollen eingenommen wurden und der Autor als wissenschaftlicher Berater einen Austausch begann, in dessen Zuge aber auch wissenschaftliche Daten anfielen, die Eingang in die weitere Forschungsarbeit – und diesen Aufsatz – fanden, ohne, dass eine explizite informierte Einwilligung vorlag. [51]
Die Wirkung von Forschung oder ihr Ausbleiben bei allzu großen Erwartungen an die praktische Relevanz (BROWNE & PEEK 2014) können daher – gerade, wenn es sich um heterogene und fragmentierte Betroffenengruppen handelt – sehr unterschiedlich ausfallen und auch potenziell schädigen, womit eine Verletzung des Schadensvermeidungsgrundsatzes angesprochen ist. Gerade im Elbe-Havel-Land zeigte sich für uns, dass unsere Forschung aufgrund der diskursiven Ausblendung des langanhaltenden Leidens der Betroffenen in gewisser Weise ethisch geboten war. Gleichzeitig ermöglichte die Forschung aber auch – aus unserer Sicht – unrealistische Erwartungen, die am Ende nur sehr bedingt von uns und anderen gesellschaftlichen Gruppen erfüllt werden konnten mit der Folge, dass mit Enttäuschungen auch Schädigungen drohten. Es gibt auch hier unserer Meinung nach keine einfachen Antworten darauf, wie ein ethisches kurz- und langfristiges "Erwartungsmanagement" aussehen kann. [52]
Die Feldforschung im Himalaya macht die Aporien so deutlich wie kein anderer der erwähnten Fälle: Das Einholen einer informierten Einwilligung war aufgrund von Übersetzungsproblemen – sowohl auf der linguistischen Ebene über drei bis vier Sprachen hinweg als auch aufgrund verschiedener Epistemologien unseres wissenschaftlich-rationalen und des religiösen Weltbildes der PilgerInnen – bei ehrlicher Betrachtung unethischer als ihr Verzicht. Eine vollständig transparente Aufklärung über unsere Rolle als WissenschaftlerInnen bedeutete selbst eine eklatante Missachtung dieser heiligen Region, in der nicht-religiöse Absichten mit der Entweihung des Heiligtums gleichgesetzt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die erlangt wurden, würden bei der Umsetzung in anwendungsorientiertes Wissen kaum der vulnerablen Bevölkerung oder den "Katastrophenopfern" dienen, wenn diese dadurch ihre Existenzgrundlage verlieren – unbenommen davon, dass es zum Zeitpunkt der Erhebung keinerlei Interesse vonseiten der Praxis an den Ergebnissen gab. Ob und inwieweit die Katastrophenopfer oder ihre Familien überhaupt als vulnerabel anzusehen und damit in der Logik der Ethikkommissionen besonders schützenswert sind, ist zu hinterfragen, wenn Vulnerabilität als westlich geprägtes soziales Konstrukt verstanden wird und man mit der externen Zuschreibung von Vulnerabilität möglicherweise diese erst hervorbringt (LORENZ 2018). Schadensvermeidung, informierte Einwilligung und dualer Imperativ schließen sich hier somit aus. [53]
4. Eine reziproke Ethik der Vulnerabilität als Heuristik für eine sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung
Um sich angemessen mit forschungsethischen Fragen auseinandersetzen zu können, braucht es unseres Erachtens zunächst ein gesellschaftstheoretisches Verständnis dafür, wie Gesellschaften und das ethisch-soziale Zusammenleben in ihnen strukturiert sind (z.B. BLOCK et al. 2013). Die Frage danach, wie in der Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten ein Ausbeutungs- oder Abhängigkeitsverhältnis vermieden werden kann, ist nur unter Einbezug der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Subjektkonstitutionsprozesse und Machtverhältnisse zu beantworten. Diese übersetzen sich auch in spezifische Datenerhebungssituationen – sowohl in Krisen- und Katastrophenkontexten (ALLDEN et al. 2009) als auch allgemein in den Sozialwissenschaften:
"lt is the investigator who starts the game and who sets up its rules: it is most often she who, unilaterally and without any preliminary negotiations, assigns to the interview its objectives and uses, and on occasion these may be poorly specified – at least for the respondent. This asymmetry is underlined by a social asymmetry which occurs every time the investigator occupies a higher place in the social hierarchy of different types of capital, especially cultural capital" (BOURDIEU 1996, S.19). [54]
BOURDIEU verweist in diesem Zitat ähnlich wie SIDER (2010) auf die Tatsache, dass Menschen in Gesellschaften verschiedene soziale Positionen einnehmen, die sie mit unterschiedlichem sozialen, kulturellen, ökonomischen oder symbolischen Kapital ausstatten. Er geht dabei davon aus, dass die Forschenden eine anerkanntere gesellschaftliche Position einnehmen und damit auch mit entsprechender Macht ausgestattet sind, die jeweiligen herrschenden Normen zu definieren, jedoch auch reziprok von ihnen definiert werden. Nur wenn diese Normen auch von den weniger privilegierten Positionen anerkannt werden, können sich gesellschaftliche Positionen derart reproduzieren. [55]
Gesellschaftliche Normen, an denen sich eine Forschungsethik orientiert, sind damit selbst als soziale Konstruktionen und Konventionen zu denken, die eingebettet sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse. Sie werden von "machtvollen" AkteurInnen durchgesetzt und dienen immer auch der Positionierung im Sozialraum, bestenfalls der Aushandlung, im schlechtesten Fall der Aufrechterhaltung bestehender gesellschaftlicher Ungleichheit. Auch die der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung zugrunde liegenden Konzepte von "Katastrophe", "Schaden" oder "Vulnerabilität" sind soziale Konstrukte, Produkte von Aushandlungsprozessen in machtvollen Feldern, die nicht losgelöst von ihren sozio-kulturellen Entstehungsbedingungen gedacht werden können (LORENZ 2018; VOSS 2008), die wiederum forschungsethisch zu reflektieren sind (O'MATHÚNA 2010). [56]
Eine Forschungsethik im Kontext sozialwissenschaftlicher Katastrophenforschung muss – wie Forschung insgesamt – also zunächst nach den sozio-kulturellen Bedingungen von Gesellschaft und ihren Subjekten fragen: "Was soll ich tun?"8) setzt ja bereits – folgt man BUTLERs (2013 [2002]) Ansatz der Subjektbildung – ein "Ich" voraus, welche die Möglichkeit des "Tuns" hat. Das heißt, dass Voraussetzung allen ethischen Handelns ist, dass ein Subjekt existiert und zur Selbstreflexion befähigt ist. Dieses Subjekt ist bedingt durch bestehende soziale Normen und bringt diese in einem iterativen Prozess zugleich performativ selbst hervor. Die auch der informierten Einwilligung innewohnende Vorstellung, man könne Rechenschaft über sich, die eigene Arbeit, die Verwendung der Daten etc. ablegen – und damit die jeweilige Positionierung im Feld beschreiben –, bezeichnet BUTLER selbst als Gewalt, als "ethische Gewalt" (S.10), da ein Subjekt sich nie bis zum Ende selbst erklären könne.9) Rechenschaft über sich selbst kann nur gegenüber einem "Du" abgelegt werden, und dies innerhalb eines sozial ausgehandelten Rahmens, der die Bedingungen für dieses "Du" definiert. Wer dieses "Du" ist, bleibt im Kontext von institutionalisierten forschungsethischen Standards unbestimmt, am wenigsten sind es wohl die Beforschten selbst, vielmehr Forschungsinstitutionen, IRBs, wissenschaftliche Standards des Globalen Nordens u.ä., vor denen Forschende Rechenschaft ablegen. [57]
Wie ein ethisch "gutes" Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten auszusehen hat, kann daher keineswegs abstrakt, pauschal oder gar kulturübergreifend festgelegt werden (vgl. bspw. die forschungsethischen Aporien des Beispiels aus Indien). Hieraus ergibt sich unseres Erachtens die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit einer anderen Form der ethischen Begegnung. BOURDIEU (1996) kommt bei seinen methodischen Reflexionen, wie mit der von ihm oben beschriebenen symbolischen Gewalt in Forschungssituationen umzugehen sei, zu einem ähnlichen Schluss wie LEVINAS (1999), der die (gegenseitige) Anerkennung der Vulnerabilität der "Anderen" überhaupt als ethische Bedingung des Mensch-Seins und von Humanität ansieht (vgl. auch ROTH 2018 in diesem Themenschwerpunkt). [58]
Diese Idee von Reziprozität ist allerdings etwas grundsätzlich anderes als die Annahme, Katastrophenopfer seien per se eine besonders vulnerable Gruppe, wie sie der "Ethik der Vulnerabilität" zugrunde liegt, und forschungsethische Standards hätten sich an Aspekten von Vulnerabilität zu orientieren. Eine derartige auf Vulnerabilität fokussierte Vorstellung würde die Forschungsobjekte in problematischer Weise homogenisieren und essentialisieren. Aber gerade die letztgenannte Vorstellung findet sich in vielen forschungsethischen Standards oder bei IRBs anglophoner Länder, wo ursprünglich die Idee von Vulnerabilität darin bestand, die "'asymmetrical power relationship' between the medical researcher and the research subject" (VAN DEN HOONAARD 2018, S.307) anzuerkennen, um entsprechend forschungsethisch hierauf reagieren zu können. Neben der Behauptung, dass vergleichbare Machtbeziehungen in den Sozialwissenschaften nicht existierten (SLEAT 2013), hat ein derartiges Verständnis noch weitreichendere forschungsethische Implikationen: Gerade in der wissenschaftlichen Konstruktion hilfloser Vulnerabler, an denen sich die Forschungsethik zu orientieren ausgibt, zeigt sich eine wissenschaftliche Distanzierung, die von vornherein jegliche authentische Anerkennung und Reziprozität von Forschenden und Beforschten unterminiert. Selbst in der Anerkennung einer "shifting vulnerability", wie sie BROWNE und PEEK (2014, S.94) in ihren forschungsethischen Überlegungen vorschlagen, löst sich das grundsätzlich asymmetrische Machtverhältnis zwischen Forschenden und ihren Forschungssubjekten nicht auf. Ohne ein "Du" übersetzt sich die von BUTLER (2013 [2002]) beschriebene ethische Gewalt in epistemische Gewalt (SPIVAK 2008), die den Beforschten nicht nur Gewalt zuteilwerden lässt, sondern zugleich auch epistemische Engführungen mit Blick auf die wissenschaftlichen Ergebnisse bedingt (GARBE 2013). [59]
Dagegen geht mit der reziproken Anerkennung einer universellen Vulnerabilität – gerade auch in vermeintlich oder real mit Blick auf die Machtverteilung zwischen Forschenden und Beforschten konstruierten Forschungskontexten – die Möglichkeit, sich ethisch begegnen zu können, einher. Die Kritik, dass ein derartig universeller Vulnerabilitätsbegriff nur eine "little specific guidance for disaster research ethics" (O'MATHÚNA 2010, S.69) verspreche, teilen wir grundsätzlich – gleiches gilt auch für die Anwendungstauglichkeit des Paradigmas generell. Unsere Argumentation zielt vielmehr auf die Ermöglichung, sich überhaupt ethisch begegnen zu können und nicht auf spezifische ethische Standards, wobei wir dies nicht als eine Besonderheit sozialwissenschaftlicher Katastrophenforschung erachten. BOURDIEU (1996) nennt das eine "spiritual exercise", d.h. die Einnahme einer
"welcoming disposition, which leads one to share the problem of the respondent, the capacity to take her and understand her just as she is, in her distinctive necessity, is a sort of intellectual love: a gaze which consents to necessity in the manner of the ,intellectual love of God', that is to say, of the natural order, which Spinoza held to be the supreme form of knowledge" (S.24). [60]
Und nur hier kann unseres Erachtens eine sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung forschungsethisch ansetzen: in der Sensibilisierung von Forschenden für die Anerkennung der reziproken Vulnerabilität und gleichzeitigen relativen Machtposition aller AkteurInnen im Feld. [61]
Wir danken Andrej SBRISNY für die Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts sowie allen an unserer Forschung Beteiligten.
1) Unsere Auswertungen der quantitativen Befragung (REITER, WENZEL, DITTMER, LORENZ & VOSS 2017) ergaben, dass wir von einem Dunkelfeld "Traumatisierter" von ca. 30% ausgehen müssen. <zurück>
2) Im Gegensatz zu den Szenen 1 bis 3 wurde diese Forschung von Daniel F. LORENZ allein durchgeführt. <zurück>
3) Das First Amendment der U.S. Constitution sichert BürgerInnen u.a. das Recht der freien Meinungsäußerung sowie der Pressefreiheit zu. <zurück>
4) So wird bspw. ein "first-world bias" (RENNIE & MUPENDA 2008, S.2) bei bestimmten Forschungsthemen der Katastrophenforschung angemahnt und kritisiert, dass dem globalen Süden mitunter deutlich weniger Aufmerksamkeit der Forschung widerfahre und dies forschungsethisch zu reflektieren sei (O'MATHÚNA 2009). <zurück>
5) Hier sei kurz darauf verwiesen, dass dieser Anspruch in der sozial-ökologischen Forschung und auch in der Katastrophenforschung unter dem Ansatz der Transdisziplinarität weiterentwickelt wurde, der idealtypisch die gemeinsame Entwicklung von Forschungsdesign und Fragestellung vorsieht. Ähnliches gilt auch für die Partizipations- und Aktionsforschung (siehe dazu VOSS, DITTMER & REITER 2018). <zurück>
6) Im Nachhinein glauben wir, dass die Forschung für die Studierenden ganz sicher sehr herausfordernd und prägend war, sie die gemachten Erfahrungen jedoch zu schätzen wissen. <zurück>
7) Theoretisch wären auch lexikografische Ordnungen der Grundsätze/Imperative denkbar; vgl. bspw. RAWLS‘ (1971) Ordnung der Gerechtigkeitsgrundsätze. Unseres Erachtens werden damit jedoch die skizzierten grundlegenden Probleme nicht beseitigt. <zurück>
8) Auch bei KANT (1920 [1800]) ist die Frage "Was soll ich tun?" mit anderen epistemologischen bzw. anthropologisch-philosophischen Fragen (Was ist der Mensch?) verbunden. <zurück>
9) BUTLER (2013 [2002]) argumentiert mit ADORNO (und letztlich HEGEL), dass Ethikdiskussionen erst dann auftauchen, wenn es keine kollektiv geteilten Vorstellungen von ethischen Prinzipien mehr gibt. Sie warnt generell davor, dass der Rückgriff auf Ethik repressive Züge anzunehmen droht, wenn sie dazu dienen, den Anschein von Allgemeinverbindlichkeit aufrechtzuerhalten. Dies erscheint uns im Kontext der gegenwärtigen Diskussionen um Forschungsstandards ein durchaus bedenkenswerter Gedanke. <zurück>
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Dr. Cordula DITTMER ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung, Friedens- und Konfliktforschung, Transdisziplinarität, postkoloniale Theorie und Flucht/Fluchtursachen.
Kontakt:
Dr. Cordula Dittmer
Katastrophenforschungsstelle (KFS)
Freie Universität Berlin
Carl-Heinrich-Becker-Weg 6-10
12165 Berlin
Tel.: +49 (0)30 838 71038
Fax: +49 (0)30 838 471038
E-Mail: cordula.dittmer@fu-berlin.de
URL: http://www.fu-berlin.de/polsoz/kfs
Daniel F. LORENZ ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung, der Forschung zu sozialer Vulnerabilität und Resilienz sowie dem Themenfeld Katastrophenschutz, Flucht und Flüchtlingsbetreuung.
Kontakt:
Daniel F. Lorenz
Katastrophenforschungsstelle (KFS)
Freie Universität Berlin
Carl-Heinrich-Becker-Weg 6-10
12165 Berlin
Tel.: +49 (0)30 838 72612
Fax: +49 (0)30 838 472612
E-Mail: daniel.lorenz@fu-berlin.de
URL: http://www.fu-berlin.de/polsoz/kfs
Dittmer, Cordula & Lorenz, Daniel F. (2018). Forschen im Kontext von Vulnerabilität und extremem Leid – Ethische Fragen der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung [61 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 19(3), Art. 20, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-19.3.3116.