Volume 19, No. 3, Art. 31 – September 2018
Rezension:
Dirk vom Lehn
Thomas S. Eberle (Hrsg.) (2017). Fotografie und Gesellschaft. Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven. Bielefeld: transcript; ISBN 978-3-8376-2861-6; Euro 29.99
Zusammenfassung: Der Band "Fotografie und Gesellschaft", den Thomas S. EBERLE herausgeben hat, leistet einen wichtigen Beitrag zu laufenden Debatten über Visualität und visuelle Wahrnehmung. Mit enger Bindung an die an Alfred SCHÜTZ's Phänomenologie anschließende Wissenssoziologie wird in den 25 Kapiteln die Fotografie als soziales Phänomen analysiert. Die jeweiligen AutorInnen beschäftigen sich mit der Produktions- und Rezeptionsästhetik, indem sie sowohl das Fotografieren als auch die Betrachtung und den Umgang mit Fotografien analysieren. Zudem werden die Analysen dazu benutzt, über den Status von Bildern in ihrer Beziehung zur von SCHÜTZ sogenannten "Wirkwelt" zu reflektieren. Der Band zeichnet sich durch ein umfangreiches Spektrum an theoretischen und empirischen Analysen sowie durch zahlreiche qualitativ-hochwertige Fotografien aus, die nicht etwa nur illustrativen Zwecken dienen, sondern eine zentrale Bedeutung für die Analysen haben. "Fotografie und Gesellschaft" ist SoziologInnen zu empfehlen, die ein Interesse an Visualität und an der Analyse der visuellen Wahrnehmung haben. Erfahrung mit der Wissenssoziologie erleichtert es den Lesenden, den Analysen zu folgen, aber die Lektüre des Bandes kann auch dazu dienen, die Möglichkeiten der Wissenssoziologie kennenzulernen.
Keywords: Phänomenologie; Produktionsästhetik; Rezeptionsästhetik; visuelle Wahrnehmung; Visualität; Wissenssoziologie
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Fotografisches Handeln
3. Fotografien praktisch betrachten
4. Fotografien interpretieren
5. Fotografie theoretisch betrachtet
6. Reflexion
7. Abschließende Bemerkungen
In den vergangenen Jahren ist die sinnliche Wahrnehmung in den Fokus soziologischer Forschung gerückt (VANNINI, WASKUL & GOTTSCHALK 2012). Eine Reihe von Veröffentlichungen beschäftigt sich beispielsweise mit der visuellen Wahrnehmung und dem Sehen (z.B. GÖBEL & PRINZ 2015; LUCHT 2012; PRINZ 2014). Der hier zu besprechende, von Thomas S. EBERLE herausgegebene Band trägt hierzu bei und schließt an die zunehmenden Debatten über die Analyse von visuellen Daten in der soziologischen Forschung an, die u.a. in FQS veröffentlicht wurden (z.B. KNOBLAUCH, BAER, LAURIER, PETSCHKE & SCHNETTLER 2008). Dabei markiert EBERLE schon durch den Titel seines Bandes den spezifischen Ansatz, den die dort versammelten AutorInnen vertreten. Sie analysieren ausschließlich Fotografien und die Praxis des Fotografierens, nicht jedoch andere visuelle Daten wie beispielsweise Videoaufnahmen. Zudem zeigt EBERLE durch den Untertitel des Bandes an, dass die Analysen auf der phänomenologischen Wissenssoziologie beruhen. Der Fokus der Kapitel liegt mithin auf der (visuellen) Wissenssoziologie, wie sie in der Folge von SCHÜTZs (2003a, 2003b) und LUCKMANNs (1986) phänomenologischen Analysen entwickelt wurde (z.B. KNOBLAUCH 2010; RAAB 2008). EBERLEs Band ist jedoch nicht etwa nur mit der visuellen Wahrnehmung befasst, sondern auch mit der Praxis des Wahrnehmens, der Interpretation und mit dem wahrgenommenen Objekt selbst. Indem auf die Fotografie und das Wahrnehmen am Beispiel des Fotografierens fokussiert wird, wird eine sehr interessante Konstellation in den Mittelpunkt gerückt, die in den Kapiteln häufig als Triade zwischen FotografIn, BetrachterIn und Fotografie beschrieben wird; zuweilen befassen sich die in diesem Band versammelten Kapitel zudem mit der Beziehung zwischen dem fotografierten Objekt und der Fotografie. [1]
In seiner Einleitung beleuchtet EBERLE in unterschiedlicher Weise das Verhältnis von Fotografie und Gesellschaft (S.12). Er beginnt mit einer Analyse der sozio-historischen Deutung von Fotografie, wobei er mit der Erfindung der Fotografie beginnt und deren Entwicklung bis hin zur Nutzung von Smartphone-Kameras verfolgt. Die Entwicklung der digitalen Fotografie habe nicht nur dazu geführt, dass mehr fotografiert werde als früher, sondern auch dazu, dass Fotos heutzutage sehr schnell verbreitet würden (S.12-14). Zudem werde durch die hohe Qualität von digitalen Fotografien die Grenze zwischen Alltags- und Kunstfotografie verwischt (S.15-18). [2]
EBERLE argumentiert, dass trotz dieser wachsenden Bedeutung von Fotografien im Alltag Bilder in akademischen Texten von SoziologInnen immer noch mit Argwohn betrachtet würden. Die Gründung der International Visual Sociology Association (IVSA) mit ihrer Zeitschrift Visual Studies biete SoziologInnen, die die Bedeutung von Bildern erkannt hätten, zumindest eine Möglichkeit, ihre Artikel zu veröffentlichen. Obwohl die IVSA nun schon beinahe 40 Jahre besteht, habe sich ihr Argument für die Akzeptanz von Fotografien bei den Herausgebenden soziologischer Zeitschriften jedoch kaum durchgesetzt. So komme es, dass visuelle SoziologInnen eine eigene, von der allgemeinen Soziologie abgespaltene Gruppe bildeten. Diese Trennung zwischen allgemeiner Soziologie und visueller Soziologie könne vielleicht überwunden werden, wenn SoziologInnen Theorien und Ansätze hervorbrächten, die es erlauben würden, Fotografien als Daten zu behandeln. Dazu sei es jedoch notwendig, eine soziologische Theorie des Bildes zu entwickeln. [3]
Der vorliegende Band leistet hierzu einen wichtigen Beitrag, indem er an die von Alfred SCHÜTZ (2003a, 2003b) inspirierte phänomenologische Wissenssoziologie anknüpft. EBERLE erläutert die Beziehung zwischen Phänomenologie und Bildern in seiner Einleitung und situiert seinen Band dann in einer visuellen Wissenssoziologie (S.26-29). Indem er die visuelle Wissenssoziologie in Verbindung zur wissenssoziologischen Bildhermeneutik stellt, grenzt er die Analysemethoden, auf die Lesende dann später auch in den Kapiteln treffen, von der Semiotik ab, die die Sinnhaftigkeit ausschließlich im Bild selbst sucht. In der wissenssoziologischen Bildhermeneutik sieht EBERLE jedoch nur eine Methode, mittels der soziologisch mit Bildern umgegangen werden könne. Er argumentiert, dass in den kommenden Jahren, in denen Visualität immer mehr ins Zentrum des soziologischen Interesses vorstoße, neue Fragestellungen wie auch neue (Gesellschafts-) Theorien der Visualität entwickelt werden könnten (S.40). [4]
Im Folgenden gehe ich der Argumentation der in EBERLEs Band versammelten 25 Kapitel nach, indem ich kurz deren Inhalt referiere und in Beziehung zueinander stelle. Der Band ist in fünf Teile gegliedert, in denen nacheinander das Fotografieren (Teil 1), das Betrachten von Fotos (Teil 2), Auseinandersetzungen mit Fotos (Teil 3) und Beiträge zur Theorie der Fotografie (Teil 4) behandelt werden. Der Band endet mit einer Abschlussmeditation (Teil 5). Durchweg finden sich in allen Kapiteln hochwertige Fotografien, die nicht nur den Text illustrieren, sondern insbesondere auch die intellektuelle Reflexion über die von den AutorInnen behandelten Themen und Problemstellungen anregen. In dieser Rezension folge ich der Struktur des Buches und beginne mit dem fotografischen Handeln. [5]
Der erste Teil des Bandes, der sich mit dem "Fotografieren" beschäftigt, beginnt mit Nina BAUR und Patrik BUDENZ' Kapitel "Fotografisches Handeln. Subjektive Überformung von fotografischen Repräsentationen der Wirklichkeit". BAUR und BUDENZ zeigen, "dass Fotografien nie ‘objektive Wirklichkeit' repräsentieren und es auch gar nicht können, sondern dass das tatsächlich Geschehene in der Darstellung durch den Fotografen subjektiv überformt ist" (S.93). Diese Überformung sei nicht etwa ein neues Phänomen, das der heutzutage relativ einfachen Verfügbarkeit von Bildbearbeitungssoftware zugeschrieben werden könne, sondern eine Eigenschaft des Prozesses des Fotografierens. Eine Fotografie bilde die Welt nicht "objektiv" ab, sondern zeige sie stets so, wie sie von den Fotografierenden technisch festgehalten und durch spätere Techniken dargestellt werde. Dies gelte, wie BAUR und BUDENZ erläutern, nicht etwa nur für professionelle Fotografien, sondern in ähnlicher Weise auch für private Fotografien. In ihrem Kapitel beginnen BAUR und BUDENZ mit einem Blick zurück in die Geschichte, als das Fotografieren auf Grund der Notwendigkeit langer Belichtungszeiten noch ein langwieriger Prozess gewesen sei. Dies habe von den Fotografierenden verlangt, die Position und Postur des Fotografierten technisch zu fixieren. BAUR und BUDENZ ziehen an dieser Stelle eine Vielzahl von Fotografien heran, um den Einfluss verschiedener Techniken des Fotografierens und des Umgangs mit Fotografien auf die Interpretation durch RezipientInnen zu demonstrieren. Hier gehen sie auf die Wahl des Blickwinkels, die Brennweite des Objektivs, die Tiefenschärfe und die farbliche Gestaltung ein (S.76-84). Sie schließen ihr Kapitel mit einem Abschnitt über die Relevanz ihrer Befunde bezüglich des fotografischen Handelns für den sozialwissenschaftlichen Umgang mit Bildern. Dabei plädieren sie dafür, dass SozialwissenschaftlerInnen Bilder stets im Kontext ihrer Produktion interpretieren und ein Interesse an den Traditionen unterschiedlicher Bildmedien entwickeln sollten (S.93). [6]
In seinem Kapitel "Der Akt des Fotografierens. Eine phänomenologische und autoethnografische Analyse" geht Thomas S. EBERLE dem Prozess des Fotografierens aus seiner eigenen Perspektive als Fotograf nach, indem er sich insbesondere auf Alfred SCHÜTZs Phänomenologie stützt. Wie EBERLE selbst am Ende seines Beitrages feststellt, sind der Fotograf/die Fotografin und der Prozess des Fotografierens in der daraus resultierenden Fotografie für gewöhnlich nicht sichtbar. Er fragt deshalb, ob er als Alltagsmensch beim Fotografieren quasi den Alltag verlasse und einen besonderen Erlebnis- und Erkenntnisstil einnehme, um eine Fotografie zu erstellen. Auf Basis einer detaillierten Beschreibung seines Erlebnisses des Fotografierens macht er deutlich, dass dies nicht der Fall sei. Im Gegenteil, das Fotografieren ist für ihn eine praktische Tätigkeit, die es von ihm verlange, sehr sensibel für die um ihn herum ablaufenden Ereignisse zu sein, da es sonst leicht passieren könne, dass das Foto nicht gelinge, da jemand "durchs Bild" laufen oder sich die fotografierten Personen im "falschen Moment" bewegen würden. FotografInnen müssten also eine Einstellung einnehmen, die EBERLE als "Going-with-the-flow" beschreibt (S.107). Durch seine Analyse demonstriert er die Möglichkeiten der phänomenologischen Perspektive für das Verstehen einer praktischen Aktivität. Besonders interessant ist seine Erläuterung des Fotografierens als "leibliches Handeln" (S.108), das durch den "fotografischen Blick" (a.a.O.) geleitet werde: Er zeigt, wie bestimmte körperliche Handlungsformen beim Fotografieren zur Gewohnheit, also verinnerlicht und zunächst auch beibehalten würden, wenn sie aufgrund der Verwendung von neuer Technologie nicht mehr notwendig seien. So beschreibt EBERLE beispielsweise das Fotografieren mit seiner analogen Spiegelreflexkamera als eine Jagd nach dem nächsten Foto. Dieses Jagdverhalten habe er zunächst auch beibehalten, als er schon ein Smartphone zum Fotografieren verwendete. Bei der digitalen Fotografie schaute er sich dann nicht etwa gleich die Fotografien auf dem Bildschirm an, sondern machte sich stattdessen gleich auf die Jagd nach dem nächsten Bild (S.111). So weist EBERLE das Fotografieren als einen praktischen Prozess aus, der durch die Verwendung neuartiger Technologien beeinflusst und verändert werde. Aspekten solcher Veränderungen von Praktiken gehen nachfolgende Kapitel nach. [7]
In ihrem Kapitel "App-Fotografie. Zur Veralltäglichung interpretativer Konservierung" entwickeln Paul EISEWICHT und Tilo GRENZ das Konzept der "interpretativen Konservierung", das den interpretativen Weltzugang bei der App-basierten Alltagsfotografie bezeichnet (S.130). Ihr Kapitel ist äußerst informativ bezüglich der technischen Entwicklung und der Möglichkeiten, die den BenutzerInnen von Fotografie-Apps auf Smartphones heutzutage geboten werden. Nach der Darstellung der technischen Möglichkeiten schildern die Autoren das Fotografieren und die interpretative Konservierung aus der Perspektive von EISEWICHT, der während eines Urlaubs Fotos mit einer bestimmten App gemacht und dann "objektiviert" habe (S.129-130). Mit Objektivierung meinen die Autoren den Prozess, den FotografInnen durchlaufen, wenn sie eine App benutzen, um eine Fotografie beispielsweise mit Filtern zu modifizieren. Durch diese Modifikation des Bildes werde versucht, so EISEWICHT und GRENZ, die Kommunikation über die Objekte in anderen Kontexten zu beeinflussen. In diesem Sinn schließen die Autoren sehr schön an die vorangegangenen Kapitel an: Zum einen nehmen sie den zuvor von EBERLE dargestellten Prozess des Fotografierens auf und denken ihn hinsichtlich der App-Fotografie weiter. Zum anderen spezifizieren sie die von BAUR und BUDENZ beschriebenen Prozesse der Weiterverarbeitung von Fotografien, die heutzutage kein Labor benötigen, sondern direkt mit den Smartphones vorgenommen werden können. [8]
Michaela PFADENHAUER beschäftigt sich in ihrem Kapitel "Fotografieren (lassen) in der lebensweltanalytischen Ethnografie" mit dem Foto als "Wissensform" (S.133). Dabei ist sie daran interessiert, welchen Beitrag Fotografien als Daten zur Analyse ethnografischer Feldbeobachtungen leisten. Ihre Frage ist im Besonderen, welchen Mehrwert EthnografInnen durch die Verfügbarkeit von Fotografien gewinnen. In der Darstellung ihres Argumentes bezieht sich PFADENHAUER auf ein ethnografisches Forschungsprojekt, das sie in einem Pflegeheim durchgeführt hat. Neben Feldbeobachtungen hat sie dort auch selbst Situationen fotografiert. Zudem wurden ihr Fotografien gegeben, die andere Forschende und FeldakteurInnen gemacht hatten. Bei der Analyse ihres ethnografischen und fotografischen Materials stellte PFADENHAUER fest, dass ihr die Bilder vor allem dazu dienten, sich zu vergewissern, im Feld gewesen zu sein (S.139). Bei der Interpretation der Bilder sei es jedoch unabdinglich, den im Beobachtungsprotokoll festgehaltenen Kontext der Entstehung der Fotos mit in die Analyse einzubeziehen. Zudem könnten Fotografien verwendet werden, um weitere Information von FeldakteurInnen "hervorzulocken" (S.137). So verwendete PFADENHAUER die Fotoelizitation als Methode in einem Projekt zur Verwendung von in Plüschtieren implementierten Robotern – "social robotic" –, die in der Alten- und Demenzpflege eingesetzt werden. Dies erlaubte ihr, das von ihr beobachtete und protokollierte Geschehen besser zu verstehen (S.137-143). Am Ende ihres Kapitels resümiert PFADENHAUER, dass das "[F]otografieren im Feld [...] ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu den Gegenständen, die das Feld ausmachen, und ein Interagieren mit den 'Bewohnern' dieses Feldes [ist]" (S.143). Mithin gelte es für EthnografInnen, "das Foto als Bestandteil von Interaktion zu begreifen und dementsprechend zu analysieren, wie das für Äußerungen im Rahmen der hermeneutischen Interpretation gängige Praxis" sei (a.a.O.). So könnten Fotos zum Wissen der Ethnografin über das Feldgeschehen beitragen. [9]
Obwohl BOURDIEU in der Einleitung und in dem Kapitel von BAUR und BUDENZ zumindest Erwähnung findet, ist es Franz SCHULTHEIS, der BOURDIEU ins Zentrum seines Kapitels "Die Kamera im Dienste soziologischer Objektivierung" rückt. SCHULTHEIS ist unter anderem für seine Arbeiten über BOURDIEUs Forschung und Interviews mit BOURDIEU bekannt. BOURDIEU hatte SCHULTHEIS vor seinem Tod (2002) ein Archiv an Fotografien übergeben, die aus seinen Feldforschungsarbeiten in Algerien (1958-1961) stammten. Seither beschäftigt sich SCHULTHEIS unter anderem damit, diese Fotografien zu analysieren. Aus diesen Analysen sind bisher ein Buch und eine Ausstellung hervorgegangen. In seinem Kapitel zum vorliegenden Band präsentiert SCHULTHEIS erste Befunde aus seiner Analyse des Materials sowie mit Bezug auf ein Gespräch, das er mit BOURDIEU geführt hat. BOURDIEU habe seine Fotografie als "Dokumentarfotografie" (S.152) verstanden, die "immer die Situation des Umbruchs und ihre Widersprüche" sowie "das Aufeinandertreffen unvereinbarer gesellschaftliche Strukturen und Praktiken" (a.a.O.) in den Vordergrund zu stellen suche. Bei seiner ethnografischen Forschung habe das Fotografieren BOURDIEU geholfen, Zugang zum Feld zu erlangen (a.a.O.). Die daraus hervorgehenden Fotografien habe BOURDIEU genutzt, um die Komplexität des Feldes zu reduzieren (S.153) und überwältigende Eindrücke zu bewältigen (S.155). Dies habe er dadurch erreicht, dass er Fotografien dazu verwandte, Beobachtungen aufzuzeichnen und zu bewahren (S.153-154). Darüber hinaus habe BOURDIEU Fotografien auch dazu genutzt, Fragestellungen und Themen für seine Forschung zu generieren (S.156). Zudem sei er an der Fotografie selbst als Gegenstand interessiert gewesen, um mit ihrem Umgang und ihrer Analyse zu einer "allgemeinen ästhetischen Theorie" (BOURDIEU, zit. n. SCHULHEIS, S.157) zu gelangen. Fotografien hätten für BOURDIEU eine wichtige Rolle in der Publikation seiner Feldforschung gespielt. So habe BOURDIEU Fotografien in seine Artikel und Bücher eingefügt, um seine theoretischen Ideen bildlich zu illustrieren (S.157). SCHULTHEIS selbst hat BOURDIEUs Archiv zum Anlass genommen, um Orte von BOURDIEUs Feldforschung zu besuchen und dort dessen Theorien über den Fortbestand kolonialistischer Strukturen auch nach der Befreiung Algeriens zu überprüfen. Tatsächlich habe er BOURDIEUs Thesen bestätigt gefunden (S.158). Er plane, seine Analysen von BOURDIEUs Archiv fortzusetzen und hoffe dadurch nicht nur mehr über die Bedeutung von Fotografien in BOURDIEUs Soziologie zu herauszufinden, sondern auch einen Beitrag zur "Rehabilitation des Gebrauchs der Fotografie in der sozialwissenschaftlichen Forschung" (S.159) zu leisten. [10]
Mit dem Kapitel von SCHULTHEIS wendet sich der erste Teil dieses Buches der Fotografie und den FotografInnen zu. Diese Verschiebung des Fokus setzt auch Felix KELLER in dem Kapitel "Subversion des Lichts" fort, in dem er sich mit den Arbeiten des Fotografen Helmar LERSKI auseinandersetzt. LERSKI (1871-1956) war ein jüdischer Fotograf, der in Straßburg geboren wurde und Ende des 19. Jahrhunderts in die USA emigrierte, wo er verschiedenen Tätigkeiten nachging, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, während er Porträts in der lokalen Presse veröffentlichte (S.165). Später zog er nach Deutschland und arbeitete insbesondere in Berlin unter anderem als Kameramann. Wie KELLER zeigt, werden LERSKIs Fotografien zuweilen mit denen des Sozialfotografen August SANDER (1876-1964) kontrastiert, dessen Arbeiten als ein Versuch gewertet werden, Fotografie zu verwissenschaftlichen. So habe sich SANDER darum bemüht, das Soziale in Fotografien zu erfassen, indem er Menschen in ihrem sozialen Umfeld ablichtete. KELLER argumentiert, LERSKIs Fotografien seien jedoch nicht als Gegenpol zu dieser Verwissenschaftlichung zu verstehen, sondern als ein Versuch, die Fotografie selbst als Phänomen zu begreifen und beispielsweise ihre Beziehung zur Wirklichkeit zu hinterfragen. Anstelle eines Bemühens, das Soziale durch die Fotografie objektiv zu erfassen, habe LERSKI neuartige fotografische Techniken genutzt. Er habe dabei das Licht mit Spiegeln so reflektiert, dass das gleiche Modell in unterschiedlicher Art und Weise erschienen sei. In den Fotografien sei auf diese Weise die gleiche Person als "Melancholiker", "Held" oder "Schwächling" gezeigt worden (S.170). In diesem Sinne interpretiert KELLER LERSKIs Fotografie als "Erkenntniskritik, die mit dem Material der visuellen Repräsentation der damaligen Zeit arbeitete und die Bedingungen der Möglichkeit fotografischer Sichtbarkeit selbst aufzeigte" (S.173). Dies präsentiert, so KELLER (a.a.O.), nicht etwa nur eine "neue ästhetische Gestaltungsweise", sondern auch "eine noch nie gesehene fotografische Kritik soziologischer Fotografie". [11]
Mit Christoph MAEDERs Kapitel "Der Schweizer Fotograf Herbert Maeder. Ein Meister des Lichts und das 'immutable mobile' – Phänomen in der dokumentarischen Fotografie" schließt der erste Teil des Bandes. MAEDER setzt hier die Diskussion der Arbeit von FotografInnen aus soziologischer Perspektive fort. Zu diesem Zweck situiert er zunächst die fotografische Arbeit seines Vaters, Herbert MAEDER, biografisch und historisch. Anschließend geht er der These nach, dass "[d]ie dokumentarische Fotografie mit dem lichtempfindlichen Film […] datentechnisch gesprochen 'echte' und hochwertige 'immutable mobiles' in der Form authentischer Fotografien [produziert]. Die digitale Fotografie produziert das viel weniger" (S.189). Mit dem Terminus "immutable mobiles" bezieht er sich auf Bruno LATOURs soziologische Analyse der Arbeit von WissenschaftlerInnen. LATOUR, so MAEDER, habe diesen Terminus eingeführt, um zu erfassen, wie WissenschaftlerInnen Daten so erstellen, dass sie "als solide und brauchbare Repräsentationen der Wirklichkeit gelten können" (a.a.O.). Für seine Analyse vergleicht MAEDER die Fotografien seines Vaters mit einem "High Dynamic Range Image" (HDR), das 2012 den World Press Photo Award gewann. Auf Basis dieses Vergleiches argumentiert MAEDER, dass die Stabilität von wissenschaftlichen Daten, der dokumentarischen Fotografie, die mit "richtigem" Film gemacht wurde, "wesentlich umfassender, kontrollierter und nachhaltiger gegeben ist als in der heutigen digitalen Fotografie" (S.190). Dies liege darin begründet, so der Autor, dass, wie das HDR-Bild zeige, der digitalen Fotografie die physikalische Basis fehle. Tatsächlich mache die Verwendung von digitalen Kameras die dokumentarische Fotografie unmöglich, da "[d]as immutable mobile in der digitalen Fotografie [...] selber nur noch in einer Spiegelung von sich selbst erkenn- und sichtbar und seine Stabilität beim Hin- und Her-Bewegen unsicher, seine Verzerrbarkeit mittels Computertechnologie schon fast legendär [ist]" (a.a.O.). [12]
3. Fotografien praktisch betrachten
Bei der Rezeption dieser faszinierenden Analysen des Fotografierens fragte ich mich, wie der Betrachter/die Betrachterin mit dem Produkt dieser Tätigkeit, also der Fotografie, umgeht. Dieser Frage wird im zweiten Teil des Bandes "Betrachten von Fotos" nachgegangen. Er beginnt mit Ronald HITZLERs Kapitel "Als schautest Du mich an. Das Foto als Präsenzvehikel". In seinem Beitrag reflektiert HITZLER, wie er sich zu Fotografien in seiner Wohnung hin orientiere. Mit Roland BARTHES argumentiert er, dass eines der Fotos, das seine langjährige, jedoch viel zu früh verstorbene Lebenspartnerin Anne HONER zeigt, wie "'eine Beglaubigung von Präsenz'" funktioniere (S.198). Immer wieder, wenn er in die Welt der Phantasie entkomme, "ist es – anhaltend – so für mich als schaute das in diesem Blick appräsentierte Subjekt mich aus unserer Vergangenheit heraus an" (S.198). HITZLER kontrastiert dieses erste Bild von Anne HONER mit einem zweiten Foto, das sie einige Jahre später nach einer schweren Hirnschädigung zeigt. Wieder habe er den Blick von HONER als den einer Als-ob-Anwesenden erlebt, dieses Mal jedoch der einer Person in einem anderen Bewusstseinszustand. Mit der Gegenüberstellung seiner Betrachtung und Wahrnehmung dieser beiden Fotografien bereitet HITZLER den Grund für seine Kritik an der Annahme, dass der Sinn von Fotos in den Objekten selbst zu finden sei. Vielmehr argumentiert er mit Bezug auf HUSSERLs Phänomenologie gegen die Abbild-Theorie, die häufig der Ethnografie und der dokumentarischen Fotografie anhafte. Vielmehr seien es die Betrachtenden, die aufgrund ihrer persönlichen Umstände Bilder mit Sinn versähen (S.201f.). Dies habe, so HITZLER hinsichtlich seines Zögerns, Fotos von Anne HONER im Wachkomazustand zu veröffentlichen, Konsequenzen für den Umgang mit Fotografien. Teile seiner Wohnung durch das Arrangement von Fotos, die Anne HONER vor und nach ihrer Hirnschädigung zeigen, zu einer Gedenkstätte geworden, an er die Vorstellung kreiere, dass sie präsent sei und ihn anschaue (S.210). [13]
Aida BOSCH setzt die Analyse der Betrachtung der Präsenzerfahrung in ihrem Kapitel "Präsenz des Bildes – Präsenz im Bild" fort. Im ersten Teil ihres Beitrags arbeitet sie anhand von Fotografien und einer Analyse soziologischer und existenz-philosophischer Schriften von GOFFMAN, SARTRE und LÉVINAS die Beziehung zwischen Präsenz, Sinn und Bedeutung heraus: "Nur was Bedeutung hat, mag diese auch nicht festgelegt, sondern mehrdeutig sein und Unbestimmtheitszonen haben, kann in der Wahrnehmung Präsenz erlangen. Was sich in der Wahrnehmung aufdrängt, kann dies nur tun, weil es von Bedeutung ist" (S.220). Auf Basis ihrer Analyse stellt BOSCH fest, dass Präsenz in der Regel "leibliche Anwesenheit" und eine "geistig-emotionale Durchdringung des Leibes" voraussetze (S.223). Von hier geht sie dazu über, nach der Präsenz des Bildes zu fragen: "Kann denn ein Bild, eine Fotografie, Präsenz vermitteln?", wenn doch schon das Leiblichkeitskriterium von Präsenz nicht gegeben sei (a.a.O.), eine Frage, mit der sie nahtlos an HITZLERs Argumentation anschließt. Mit Bezug auf verschiedene Fotografien geht BOSCH der Frage der "Präsenz im Bild" nach und kommt zu dem Schluss, dass Bilder eine Anwesenheit hätten, die keine leibliche sei (a.a.O.). Diese Präsenz im Bild gehe, so BOSCH, auf Spuren der Lebendigkeit zurück, die im Bild sichtbar würden. Dies könne beispielsweise dadurch erreicht werden, dass ein Porträt die Betrachter/innen "anblicke". Es gebe also bestimmte Bildeigenschaften – BOSCH spricht hier beispielsweise von "visuellen Verdichtungen einer besonderen Wahrnehmung" (S.225) –, die dazu führen könnten, dass Präsenzerfahrung vermittelt werde. Hier tritt, wenn wir uns wieder an HITZLERs Beitrag erinnern, ein Paradox zutage, das darin besteht, dass Fotografien immer Vergangenes zeigen, das durch den fotografischen Prozess quasi eingefroren wird. HITZLER schreibt von einer fotografierten und bereits verstorbenen Person; trotzdem erlebt er sie zuweilen als präsent. BOSCH schließt an dieser Stelle damit, dass die "Oszillation zwischen Lebendigkeit und Tod, zwischen Wärme und Kühle, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit" (S.226) die besonderen Möglichkeiten der Fotografie ausmache, die es erlaubten, von der "Präsenz einer guten Fotografie" zu sprechen (a.a.O.). [14]
HITZLER und BOSCH werfen in ihren Kapiteln die Frage auf, ob Fotografien Eigenschaften haben, die ihre Wahrnehmung, wie beispielsweise die Präsenzerfahrung, von der BOSCH spricht, ermöglichten. Im Unterschied zu BOSCH verneint HITZLER diese Möglichkeit und hebt vielmehr die situative Orientierung der Betrachtenden zur Fotografie für deren Erfahrung hervor. Dieser Frage geht auch Roswitha BRECKNER im Kapitel "Zwischen Leben und Bild. Zum biografischen Umgang mit Fotografien" nach. Wie BOSCH betrachtet auch BRECKNER Fotografien als Spuren. Anders als BOSCH (S.224), die von "visuellen Spuren von Präsenz" spricht, geht es BRECKNER darum, wie Fotografien, die in Fotoalben oder in den sozialen Netzwerken gezeigt werden, Spuren von Situationen und Beziehung darstellen. Während BOSCH argumentiert hatte, dass Fotografien, die Präsenz abbilden, gewisse Eigenschaften haben müssten, argumentiert BRECKNER, dass
"[d]er Sinn und die Bedeutung, die mit diesen Spuren verbunden werden, unhintergehbar an subjektive Akte der Betrachtung gebunden [sind], in denen ein Foto zwar auch in bereits bestehende narrative Zusammenhänge eingebettet wird, potentiell aber auch eine blitzartige Erkenntnis, ein punctum nicht zuletzt auch in Bezug auf sich selbst, auslösen kann" (S.237). [15]
Dies gelte vielleicht überraschender Weise auch für die Präsentation von Fotos in Alben, die ihre sequenzielle Ordnung – wenn überhaupt – nur teilweise zu erkennen gäben. BRECKNER vermutet, dass sich die "sprunghafte" Herstellung von Ordnungsprinzipien von Fotosammlungen durch die Verwendung neuer Medien noch verstärken wird (S.238). [16]
Die Interpretation von Fotografien, die in Fotoalben oder in sozialen Netzwerken gezeigt werden, verlangt von den Betrachtenden "visuelles Wissen". Diesem spezifischen Wissenstypus geht Bernt SCHNETTLER in seinem Kapitel "Digitale Alltagsfotografie und visuelles Wissen" nach. Dabei sensibilisiert er die Lesenden für die Bedeutung des "visuellen Wissens" im Alltag und zeigt, welchen Einfluss die mit Smartphones produzierte digitale Fotografie auf das visuelle Wissen habe (S.242). So fragt SCHNETTLER, "was sich beispielsweise an der Wissensvermittlung ändert, wenn derartige digitale Fotografien zur Kommunikation eingesetzt werden" (S.244). Diese Frage führt ihn zu einer Analyse der Kommunikationsmöglichkeiten, die sich für NutzerInnen von Smartphones im Vergleich zu NutzerInnen von analogen und digitalen Kameras eröffnen. Im Unterschied zu Kameras, so der Autor, würden Smartphones nur selten verliehen, was dazu führe, dass die auf dem Smartphone gespeicherten Fotografien persönliche Objekte seien, auf die die Besitzenden des Gerätes in unterschiedlichen Situationen zugreifen könnten. Dieser situative Zugriff beruhe darauf, dass Smartphones nicht nur das Fotografieren ermöglichten, sondern auch das Speichern, Archivieren und Zeigen von Fotos sowie deren Verbreitung über das Internet. Diese Beobachtung SCHNETTLERs steht in engem Zusammenhang mit den Analysen von HITZLER, BOSCH und BRECKNER. Auch dort finden sich vielfach Hinweise auf die Bedeutung der Betrachtungssituation für die Wahrnehmung von Fotos. Anhand vielfältiger Beispiele aus der Literatur und der eigenen Nutzung eines Smartphones illustriert SCHNETTLER dann die visuelle Wissenskommunikation mit dem Smartphone in unterschiedlichen Situationen (S.246-251). Er stellt heraus, dass Smartphone-Fotografie sehr häufig dazu verwendet werde, Ereignisse und Beobachtungen zu dokumentieren und mit anderen Personen oder zuweilen auch mit den Massenmedien zu teilen (S.248). Er endet mit einem Ausblick auf Forschungsprojekte, die sich im Rahmen der visuellen Wissenssoziologie mit der Smartphone-Fotografie beschäftigen. Dabei sollte bei der Smartphone-Fotografie, so SCHNETTLER, über semiotische Analysen von Fotografien hinausgegangen und diese sollten als kommunikatives Handeln betrachtet werden. [17]
Im Kapitel "Slowest Motion. Das Foto im Film" analysiert Jörg METELMANN aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Michael HANEKEs Film "Code inconnu" (S.258-260). Er geht dabei der Frage der Bildwahrnehmung und -erfahrung nach, mit der sich zuvor schon HITZLER und BOSCH beschäftigt hatten. METELMANN geht jedoch noch einen Schritt weiter. Er fragt nicht nur, ob Bilder eine bestimmte Erfahrung vermitteln könnten, sondern auch, ob Bilder zu Verhaltensänderungen bei ihren BetrachterInnen führten. Indem er analysiert, wie Fotografien in HANEKEs Film eingebaut wurden, richtet er den Blick der Lesenden wiederum auf die Frage der Betrachtungssituation, die so bedeutsam auch für die vorangegangene Kapitel in diesem Teil ist (S.259-260). Die Bilderfahrung sei sehr stark von der Situation abhängig, in der wir Bilder betrachteten (S.261). HANEKEs Film interpretiert der Autor in diesem Zusammenhang als ein Mittel, das die Rezipierenden irritiere und dadurch zu einer Reflexion über ihre Interpretation von Bildern aufrufe. [18]
METELMANNs exzellentes Kapitel bildet das Ende des zweiten Teils des Bandes. Bis hierher sind die Lesenden mit theoretischen, methodischen und empirischen Fragestellungen konfrontiert worden, die sich mit den Praxen des Fotografierens und der Betrachtung von Fotografien beschäftigen. Teil 3 widmet sich unter dem Titel "Auseinandersetzung mit Fotos" weiter der Interpretation von Fotografien. Im ersten Kapitel dieses Teils "Bilder des Unsichtbaren. Hermeneutik und Wahrnehmung" von Hans-Georg SOEFFNER geht es wiederum um die Frage der Wahrnehmung von Bildern und damit auch um die Wahrnehmung selbst, die schon zuvor in den Texten von BOSCH, BRECKNER und HITZLER behandelt wurde. SOEFFNERs Herangehen an diese Frage ist jedoch grundsätzlich anders ausgerichtet. Er ist an GUMBRECHTs Argument vom "Scheitern der Hermeneutik" interessiert und daran, dass es eine unmittelbare Wahrnehmung der Welt geben könne (S.287). SOEFFNER beginnt seinen Beitrag mit der Feststellung, dass AkteurInnen im Laufe ihrer Sozialisation bestimmte, alltägliche Wahrnehmungsmodi lernten und verinnerlichten. Dadurch würden Wahrnehmungsarten zu Routinen, die auch bei der Betrachtung von Fotografien nicht hinterfragt würden. Nach SOEFFNER haben Fotografien ein "strukturelles Appräsentationspotential" (S.270), das darin bestehe, dass Betrachtende die Rückseiten des Gezeigten unterstellten und das nicht-gezeigte Material auffüllten (a.a.O.). Seine These ist, dass sich dieses Potenzial "[p]rinzipiell in jeder Fotografie und bei jeder Bildserie rekonstruieren [lässt]" (S.270). Um das Appräsentationsmaterial zu eruieren, wendet sich SOEFFNER der visuellen Kunst zu, die sich dazu eigne, Routinen der Kunstwahrnehmung zu irritieren und Betrachtende zu einer Reflexion über ihre Wahrnehmungsroutinen anzuregen. Er benutzt die Technik der "sequentiellen Gruppierung von Bildern", "die sich, einander teilweise zitierend, sprachfrei – appräsentativ – selbst fortzuspinnen und zu kommentieren scheinen" (a.a.O.). Sein Arrangement von Bildern besteht aus Fotografien von Hiroshi SUGIMOTO, Caspar David FRIEDERICH, Gustave LE GRAY und Gerhard RICHTER. Durch die Gruppierung der Bilder will er bestimmte "Appräsentationsmechanismen" (S.271) sichtbar machen. Am Ende seiner faszinierenden Analysen, die die fotografische und fotografierte Zeit sowie den fotografischen und fotografierten Raum in den Blick nehmen, legt SOEFFNER dar, dass GUMBRECHTs Argument bezüglich der Möglichkeit einer unmittelbaren Wahrnehmung gescheitert sei (S.287). Die Annahme, dass wir die Aspekte der Welt unmittelbar wahrnehmen, werde im Alltag lediglich nicht hinterfragt. Mittelbarkeit sei jedoch unvermeidbar, da Wahrnehmung stets beispielsweise von Erinnerung durchdrungen sei, so SOEFFNER mit Bezug auf Henri BERGSON. Daher sei "eine rein präsentische Wahrnehmung nicht so rein präsentisch, wie sie uns erscheint" (S.288). [19]
SOEFFNERs Kapitel leitet mittels einer detaillierten, hermeneutischen Analyse vom Betrachten von Fotos zu dem Phänomen des Fotos selbst. Jo REICHERTZ und Sylvia Marlene WILZ setzen in ihrem Kapitel "Der amerikanische Held in Zeiten moderner Technik. Oder: Das Wunder vom Hudson" die hermeneutische Bildanalyse an einem bekannten Foto aus der Presse fort. Das Foto zeigt den Piloten Chesley B. SULLENBERGER, der im Januar 2009 zum "Held vom Hudson" wurde: SULLENBERGER hatte seine Crew und Passagiere gerettet, indem er sein Flugzeug auf dem Hudson River in New York landete, nachdem es mit einem Schwarm von Wildgänsen kollidiert war (S.299-300). Bei ihrer Analyse der Fotografie des Piloten gehen REICHERTZ und WILZ der These nach, dass es "die auf dem Foto gezeigte Handlung von der mit dem Foto gezeigten Handlung des Zeigens zu unterscheiden [gilt]" (S.294). Nach einer Erläuterung des Verfahrens der hermeneutischen Wissenssoziologie (S.295-296) wenden sie sich der Interpretation des Fotos zu. Sie beginnen mit der auf dem Foto gezeigten Handlung und bieten hierfür unterschiedliche Lesarten an (S.296-297). Ebenso gehen sie vor, als sie die Handlung des Zeigens analysieren und damit zur kommunikativen Funktion des Fotos übergehen. Ihre Interpretation führt am Ende zu dem Argument, dass das Foto einen alten amerikanischen Mythos wiederbelebe: Eine durch äußere Umstände entstandene missliche Situation sei durch einen Helden, der mit Können, Mut, Entschlusskraft, Augenmaß, Menschlichkeit und Zuversicht agiert habe, zum Besseren gewendet worden. "Letztlich kommt es (so die frohe Botschaft des Fotografen) doch auf den einzelnen Menschen an – und nicht auf die Technik" (S.302). [20]
Angelika POFERL und Reiner KELLER befassen sich in ihrem Kapitel "Die Wahrheit der Bilder" mit der Rolle von Fotos und Bildern in der Kommunikation. Dabei verfolgen sie zum einen die These, dass es "einen visuellen Diskurs oder Bilddiskurs nicht gibt" (S.305) und "dass Bilder [...] zwar nicht 'für sich' sprechen, aber dennoch 'Wahrheit' in Form eines bildgestifteten Sinnzusammenhangs produzieren" (a.a.O.). Im ersten Teil ihres Beitrags kritisieren POFERL und KELLER das Argument, dass die Bedeutung von Bildern ihnen selbst verhaftet sei, sodass sie für sich selbst sprächen und keine verbalen Verweise benötigten. Dem setzen die Autoren entgegen, dass die Interpretation von Bildern stets zu einer Versprachlichung führe (S.309). "Ein Bild, eine Fotografie ist zunächst ein Diskursfragment, eine singuläre Äußerung, die nur in Kontexten diskursiver Strukturierung auf ihren Aussagewert und ihre formativen Elemente hin gelesen, interpretiert und rekonstruiert werden kann" (a.a.O.). So sei es möglich, dass die gleichen Fotografien in unterschiedlichen Texten verwendet werden könnten. Was Bilder oder Texte aussagen, ergebe sich im Zusammenhang einer diskursiven Strukturierung (a.a.O.). Obwohl im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs weitgehend akzeptiert sei, dass Bilder diskursiv kontextualisiert werden müssten, um Bedeutung zu erlangen, halte sich, so POFERL und KELLER, das in den Bildern selbst "Wahrheit" stecke (S.309-314). Sie lehnen dieses Argument ab und plädieren für einen Mittelweg, den sie anhand einer konkreten Fotografie, die ein "verhungerndes kleines Mädchen mit Geier" zeigt, veranschaulichen. Ihrem Vorschlag zufolge ist "jede fotografische Aufnahme ein Dokument der Inszenierung, der Überformung von Realität allein durch die Auswahl, Hervorhebung und Einstellung" (S.310). Anhand ihrer Analyse der Fotografie stellen POFERL und KELLER fest, dass sich erstens die Materialität und Widerständigkeit des abgebildeten Gegenstandes Betrachtenden aufdränge und dass das Bild zweitens ein Zeichen für die Verwundbarkeit, Endlichkeit und Fragilität menschlicher Existenz sei (S.312-313). Es seien diese objektivierenden Charakteristika von Fotografien, in denen sich die Wahrheit der Bilder widerspiegele. "Das Bild selbst produziert keine Worte, und doch sind wir auf das Bild (wie auf die Erfahrbarkeit alles Gegenständlichen) angewiesen, um seine Anschauung in Worte fassen zu können" (S.314). [21]
Die AutorInnen in diesem dritten Teil des Bandes fokussieren immer wieder die Fotografie als Phänomen und analysieren die Beziehung dieses Phänomens zur sozialen Welt. Diese Analyselinie wird auch im vierten Beitrag dieses Teils "Ist ein Foto 'nur ein Foto'. Die Fotografie als Medium des Gedächtnisses in der Verarbeitung von Traumata" fortgesetzt. Anna Lisa TOTA untersucht die Beziehung zwischen Fotografie und Gedächtnis anhand von Fotos traumatischer Ereignisse (S.317). In TOTAs Kapitel wird das Argument fortgeführt, dass die Bedeutung von Fotografien weder allein in den Bildern selbst enthalten sei noch allein von den Betrachtenden konstruiert werde. Sie zeigt zudem, dass auch das Gedächtnis Ereignisse nur partiell wahrnehme (S.318). Trotzdem würden Gedächtnis und Fotografie häufig so interpretiert, als ob sie eine Ganzheit erfassten. Daher spricht TOTA mit Bezug auf die Beziehung von Erinnerung, Fotografie und Realität von einer "Synekdoche" (S.320). Anschließend verfolgt sie ihren Punkt, indem sie die fotografische Darstellung von Traumata inspiziert. Durch ihre Analyse zeigt sie, dass Bilder stets als "realistischer" angesehen würden als verbale Beschreibungen (S.328), sodass Fotos beispielsweise der Ausgangspunkt für die kollektive Verarbeitung von Traumata werden könnten; hier geht TOTA der Verarbeitung von Traumata in Familien (S.322-323) und von nationalen Traumata (S.324-327) nach. So gebe das Foto von Willy BRANDs Kniefall in Warschau Betrachtenden einen Ausgangspunkt zur Reflexion darüber, wie heutzutage über den Holocaust nachdacht werde und wie BRANDs Bitte um Vergebung auf heutige Betrachtende wirke (S.328). [22]
TOTAs Beitrag bietet Gründe für die Reflexion über die Beziehung zwischen Bild und Realität. Diese Reflexion setzen Oliver BIDLO und Norbert SCHRÖER im nachfolgenden Kapitel "Techno-Imagination. Vilém FLUSSERs Anregungen zur kreativen Interpretation von Technobildern" fort. Die Autoren stellen kurz FLUSSERs Theorie der Techno-Bilder vor, derzufolge Bilder die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern transformieren (S.332-334). Ausgehend hiervon analysieren BIDLO und SCHRÖER eine Fotografie, die den sterbenden Aidskranken David KIRBY zeigt. Diese Fotografie wurde zunächst als Kunstwerk interpretiert, bevor sie von der Modefirma Benetton als Werbebild verwendet wurde. In ihrer Untersuchung greifen die Autoren auf die bildhermeneutische Wissenssoziologie zurück, die Jo REICHERTZ in den 1990er Jahren entwickelt und in die wissenssoziologischen Debatten eingeführt hat. BIDLO und SCHRÖER argumentieren, dass REICHERTZ die bildhermeneutische Wissenssoziologie als Alternative zur objektiven Hermeneutik, die von einer Strukturgleichheit von Text und Bild ausgehe, konzipiert habe (S.335). Ihrer Analyse zufolge ist auch REICHERTZ' Methode inadäquat, um Bilder zu interpretieren, da es wie bei der objektiven Hermeneutik darum gehe, Bilder in Texte zu transformieren. Eine Lösung für dieses Problem bieten BIDLO und SCHRÖER nicht an. Sie schlagen jedoch mit Bezug auf eine Idee von Ronald KURT vor, mit der Möglichkeit zu experimentieren, Bildinterpretationen durch Bilder darzustellen. Eine solche Interpretationsweise würde die Soziologie vor neue Herausforderungen stellen (S.339). [23]
Der Bezug auf FLUSSERs Theorie der Techno-Bilder ist ein guter Ausgangspunkt für Klaus NEUMANN-BRAUNs Beitrag "Selfies. Oder: kein fotografisches Selbstportrait ohne den Anderen". NEUMANN-BRAUN führt in das Thema Selfies und die laufende akademische Diskussion über dieses soziale Phänomen ein (S.343-344). Anschließend zeigt er, dass diese besondere Art der Fotografie nicht etwa nur die fotografierte Person abbilde, sondern immer auch so angelegt sei, dass sie für kommunikative Zwecke verwendet werden könne (S.344): Selfies würden zumeist nicht gemacht, um sie zu archivieren, sondern um sie anderen Personen zu zeigen. So würden Selfies beispielsweise in sozialen Netzwerken geteilt, was zu unterschiedlichen Anschlusskommunikationen führe. Sehr häufig komme es zu einer Art Peer Review der Selfies, also Kommentaren und Bewertungen der Bilder in den Kommentarbereichen der Netzwerke (S.345). Mittlerweile habe sich das Format von Selfies so weiterentwickelt, dass deutlich werde, wie AkteurInnen sie benutzen, um sich "in der Arena glokaler Netzaufmerksamkeit um Akzeptanz [zu] bemühen und marktkonformen Inszenierungsstrategien [zu] folgen" (S.346). Sie objektivierten sich selbst vor der Kamera, um von Anderen, also den potenziellen Betrachtenden des Bildes, in bestimmter Weise gesehen zu werden. [24]
Das Im-Blick-haben der Betrachtenden ist von besonderer Bedeutung für die Werbefotografie, die Manfred PRISCHING in seinem Beitrag "Die Sichtbarmachung des Soziologischen" untersucht. PRISCHING geht es darum, unterschiedliche soziologische Herangehensweisen an Werbefotografien zu entwickeln. Nach einer kurzen Einführung in die akademische Diskussion über die Beziehung zwischen Werbefotografie und Gesellschaft stellt er drei Möglichkeiten der systematischen Inspektion von Werbefotografien vor: Erstens könnten sich SoziologInnen mit der Protosoziologie derjenigen beschäftigen, die Werbefotos machen und veröffentlichen. Wie interpretieren diese Professionellen die Gesellschaft, um über Fotos Gesellschaftsmitglieder anzusprechen, und wie benutzen sie Feedback, dass sie durch Marktanalysen bekommen, um die Kommunikation mit dem Publikum über Fotos fortzusetzen? (S.352-354) Zweitens könnten SoziologInnen unterschiedliche Theorien und Methoden verwenden, um den Inhalt von Bildern zu beleuchten (S.355-358). Drittens können Werbefotografien als "offene Kunstwerke" verstanden werden, die als künstlerische Werbebilder aufgefasst und mit Methoden der Sozial- und Kulturwissenschaften inspiziert werden könnten (S.359-361). Im letzten Teil fügt PRISCHING noch eine vierte Herangehensweise an Werbefotos an, nämlich die Verwendung von Werbefotografien in öffentlichen Vorträgen "zur Illustration soziologischer Botschaften" (S.361). Je nachdem, welcher Zugang zu den Fotografien gewählt werde, kämen die Deutenden zu unterschiedlichen Schlüssen. "Es wird Kollisionen, aber auch Wechselwirkungen zwischen den geschilderten Ansätzen geben: Im besten Fall werden sie einander bereichern" (S.362). [25]
5. Fotografie theoretisch betrachtet
Der vierte Teil des Bandes versammelt fünf Kapitel, die sich mit der Theorie der Fotografie beschäftigen. Den Anfang macht Hubert KNOBLAUCH mit "Sehen als kommunikatives Handeln und die Fotografie". Mit seinem Kapitel trägt KNOBLAUCH zu dem von ihm (2016) entwickelten kommunikativen Konstruktivismus bei. Nach einer Analyse soziologischer und phänomenologischer Literatur, die sich mit dem Sehen beschäftigt, inspiziert der Autor ein Videofragment, das einen Mann zeigt, der eine Treppe hinaufsteigt und sich dann, als er das Treppenpodest erreicht, dort orientiert, indem er seine Blicke nach links und rechts richtet, bevor er weitergeht (S.370-374). Durch die Analyse dieses Fragmentes zeigt KNOBLAUCH, wie das Sehen durch körperliche Handlungen sichtbar gemacht wird. Menschen sähen nicht nur mit ihren Augen, sondern sie wendeten auch ihre Köpfe und Körper, was es anderen AkteurInnen erlaube zu sehen, was andere sehen. Das "sichtbare Sehen [fungiert] wie eine Form der Deixis: Der sehende Körper 'zeigt' sich als sehend" (S.376). Dies gelte auch für AkteurInnen, die sich unbeobachtet fühlen. KNOBLAUCH inspiziert an dieser Stelle Aufnahmen von einem Einbrecher, der gefilmt wurde, offenbar ohne dass er sich dessen gewahr war. Auf Basis der Analyse dieser Videoaufnahmen argumentiert er, dass die "Fotografie als Form des kommunikativen Handelns" aufgefasst werden könne (S.376-378). Fotografien könnten zudem als "technische Vorrichtungen" wie beispielsweise Fotoapparate oder Beamer den Körper erweitern. Dabei sei der Körper nicht nur eine "Außenseite" des Handelns, sondern auch ein Medium der Vermittlung zu anderen Handelnden, das Bedeutung schaffe, indem es wirke – dessen Sinn die Instrumentalität also immer schon enthalte (S.377). KNOBLAUCH betrachtet die Fotografie also als eine solche technische Vorrichtung, die zur Stabilisierung von Gesellschaft beitrage (a.a.O.). Die Fotografie leiste diesen Beitrag nicht etwa durch die materalisierte Objektivierung, sondern dadurch, dass das Fotografieren als "apparativ erweitertes Sehen" als kommunikatives Handeln zu verstehen sei (S.378). [26]
Im anschließenden Kapitel "Fotografie und Phänomenologie. Zur Methodologie einer wissenssoziologischen Konstellationsanalyse" legt Jürgen RAAB den Fokus vom Sehen und Fotografieren auf die Fotografie selbst. Seine zentrale These ist, "dass die Frage nach der sozialen Bedeutung einer Fotografie unauflöslich mit der Frage nach der im visuellen Handeln hergestellten, das Einzelbild konstituierenden Sichtbarkeitsordnung verbunden bleibt" (S.383). Mit diesem Argument entfernt sich RAAB von gängigen Debatten, die sich mit der Beziehung zwischen Bild und Kontext beschäftigen und plädiert dafür, die Fotografie selbst ins Zentrum der Untersuchung zu stellen. Dazu schlägt er die wissenssoziologisch-hermeneutische Konstellationsanalyse der Fotografie vor, die "sich die Aufgabe [stellt], die Kohärenz- und Prägnanzbildungen in fotografischen Einzelbildern methodisch kontrolliert zu rekonstruieren" (S.387). Die Untersuchung involviert drei Ebenen- die Sichtbarkeitsordnung im Einzelbild, der unmittelbare und mittelbare Bildkontext sowie das Sozialmilieu und der Handlungskontext –, die nicht etwa nacheinander abzuarbeiten seien, sondern sich wechselseitig befruchteten. Durch die detaillierte Analyse werde die Form von Fotografien und ihre Einbettung in den kommunikativen Kontext rekonstruiert. Zudem gehe sie der kulturellen Umwelt und der sozialem Situation der Fotografen nach. RAAB beendet seinen Beitrag mit einem Blick auf den Einfluss der Digitalfotografie auf die Interpretation von Fotografien. Ihm zufolge können die digitalen Bildbearbeitungstechniken im Extremfall zu einer "bildnerischen Technik wie dem Zeichnen oder Malen mutieren" (S.391). [27]
Wie die Rezeption von Fotografien konzipiert werden kann, fragt Jochen DREHER im anschließenden Beitrag "Versuch über eine Rezeptionsästhetik der Fotografie. Konstruktion und Konstitution des fotografischen Bildes". Für ihn kann "eine Rezeptionsästhetik der Fotografie nicht unabhängig von einer Produktionsästhetik verstanden werden " (S.395). Im Mittelpunkt seines Kapitels, das sich stark an Alfred SCHÜTZs (2013) "Schriften zur Literatur" orientiert, steht der Vergleich der Rezeptionsästhetik von vier unterschiedlichen Typen von Fotografien: "Knipserbilder", "Kunstfotografie", "abstrakte Fotografie" und "ikonische Fotografie" (S.400-407). Unabhängig vom Fotografietypus ergebe sich der Sinn von Fotografien aus "der triadischen Beziehung zwischen Intention des Fotografen als Autor, der Fotografie als ästhetischem Produkt dieser Intention sowie dem Rezipienten (S.397). DREHER argumentiert, dass sich die Fotografietypen und die mit ihnen verbundene Sinnhaftigkeit hinsichtlich der Konfiguration dieser Triade unterschieden. Mittels Schnappschüssen werde unabhängig vom Fotografen/von der Fotografin das Zufällige mit in die Fotografie aufgenommen (S.401-402). Der Betrachter bzw. die Betrachterin hingegen "kann 'intendierend' einen hohen Zeitaufwand in den Interpretationsprozess fließen lassen, der sich markant von jenem unterscheidet, der für die Schnappschussaufnahme benötigt wird" (S.402). Die Kunstfotografie werde insbesondere von "der kompositorischen Leistung des 'Bildautors'" (S.403) beeinflusst. Die Interpretation durch die RezipientInnen basiere darauf, "den außeralltäglichen, ästhetischen Erkenntnisstil" (a.a.O.) zu übernehmen, mit der sie an die Sinnsetzung des Fotografen bzw. der Fotografin anknüpften. Ähnlich verhalte es sich mit der abstrakten Fotografie, die DREHER als eine "spezifische Form der Kunstfotografie" charakterisiert (S.404). Dieser Typus der Fotografie impliziere "eine erhebliche ästhetische Modifikation des Alltagslebens oder aber auch eine vollständige Distanzierung vom Alltäglichen" (S.405). RezipientInnen abstrakter Fotografie fragten, "wovon im fotografischen Kunstwerk abstrahiert" werde (a.a.O.) und seien stark an der symbolischen Wirkung der Fotografie beteiligt. Hierbei könne der/die FotografIn die Sinngebung durch Beschriftungen beeinflussen (a.a.O.). Bezüglich der ikonischen Fotografie sei der historische Kontext ihrer Entstehung von besonderer Bedeutung für deren Sinnhaftigkeit. Die Rezeptionsästhetik dieses Fotografietypus setze voraus, dass die RezipientInnen den sozio-historischen Kontext der Fotografie kennen. Auf das Wissen über diesen Kontext habe der/die FotografIn jedoch keinerlei Einfluss. DREHER schließt sein Kapitel damit, dass "[j]e nach Typus [...] vom Fotografen unterschiedliche Abstufungen der Intentionalität in die Fotografie als objektiviertes Kunstprodukt eingebracht [werden]" (S.408). Um die Sinngebung von Fotografien zu verstehen, sei eine reine Rezeptionsästhetik daher nicht ausreichend. Vielmehr müsse zum Nachvollziehen der Sinngebung durch die RezipientInnen die gestalterische Leistung der FotografInnen mit einbezogen werden. [28]
Ilja SRUBAR nähert sich in seinem Kapitel "Typus, Zeichen und Bildpräsenz" der Frage nach der Sinnhaftigkeit der Fotografie aus der Perspektive von HUSSERLs Phänomenologie an. Konkret stellt er die Fragen: "wie kann uns die Fotografie als sinnhaft gelten" und "wie können Bilder schlechthin als sinnhaft gelten?" (S.411). Nach einer eingehenden Analyse von HUSSERLs phänomenologischer Betrachtung der sinnhaften Präsenz der Welt und der Konstitution ihrer Geltung wendet sich SRUBAR (S.412-414) dem Problem der Bildpräsenz zu. Hier bezieht er sich auf ein Bild mit dem Titel "Jungfrau und Einhorn", an dem er dem Problem der Präsenz des Bildes nachgeht. In seiner Analyse der Situation der Bild- Betrachtenden weist der Autor dann auf Alfred SCHÜTZs (2003a, 2003b) Konzept der Wirkwelt hin, die sich grundsätzlich von der Welt, die im Bild dargestellt wird, unterscheide. Zum einen stehe die Welt des Bildes zeitlich betrachtet still, und zum anderen könnten BetrachterInnen nicht in die Welt des Bildes hineinwirken (S.416-417). Dadurch ergibt sich, so SRUBAR, in Hinblick auf das Phänomen der Bildpräsenz eine Paradoxie. Einerseits beruhe ihre Wirkung auf Typisierungen, die im Alltag der Betrachtenden verankert seien. Andererseits basiere die Kunsthaftigkeit der Werke darauf, dass sie in ihrer Präsenz Außeralltäglichkeit mitführten (S.417). In diesem Sinne begreift er Bildpräsenz "als ein Resultat der Kommunikation zwischen Bild und Betrachter", die auch die FotografInnen in den Kommunikationsvorgang einschließe (S.418). Häufig sei das Resultat von Bildinterpretationen, d.h. der Rekonstruktion der Regelhaftigkeit von Bildern, daher ein Text, der den Sinn von Bildern sequenziell herstelle, was jedoch in einigem Kontrast zur monothetischen Simultaneität der Bildpräsenz stehe (S.418-419). Hier lässt sich eine Verbindung zu BIDLO und SCHRÖERs Kapitel herstellen, die vorschlagen, Bildinterpretationen bildlich darzustellen. SRUBAR geht es jedoch nicht um den Prozess der Interpretation und Analyse, sondern um eine phänomenologische Betrachtung der Bildpräsenz. Um dieser auf den Grund zu gehen, schlägt er vor, sich Karl MANNHEIMs dokumentarischer Analyse und BOURDIEUs Konzept des kollektiven Habitus zu zuwenden. Mithilfe dieser Konzepte könne die Regelhaftigkeit von Bildern nachvollzogen werden (S.420). Was im Bild sichtbar werde, sei demzufolge kein Zufallsprodukt. Vielmehr entstehe es aus der "Regelhaftigkeit, die den Darstellern per Habitus auferlegt ist und deren Konvention das Bildthema, die Formierung des Blicks, des Körpers etc. bestimmt" (a.a.O.). Ergebnis von SRUBARs phänomenologischer Untersuchung ist schlussendlich, dass die Bildpräsenz stets von deren Analyse, die zumeist durch Vertextung vollzogen werde, zu unterscheiden sei (S.421). [29]
Von SRUBARs Betrachtung der Bildpräsenz wechselt das Thema dieses vierten Teils ein letztes Mal die Perspektive hin zu Achim BROSZIEWSKIs Kapitel "Lichtspiel der Fotografie als Phänomenologie des Blicks". In seinem Beitrag verwendet BROSZIEWSKI die systemtheoretische Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation, um seine These zu verfolgen, dass die "Fotografie [...] als Phänomenologie des Blicks und des Blickens [kommuniziert]" (S.425). Auf LUHMANNs Systemtheorie und die darin formulierte Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation aufbauend argumentiert BROSZIEWSKI, dass Wahrnehmung subjektiv und kognitiv prozessiert werde. Kommunikation könne selbst nicht wahrnehmen. Sie beruhe auf Wahrnehmung und nehme auf sie Bezug. Um die Frage nach dem Standpunkt, den die Fotografie einnimmt, um zu kommunizieren, zu beantworten, beschreibt BROSZIEWSKI eine "Triade von Blickpositionen" (S.433): die "Blickposition der FotografInnen", die "Blickposition der BetrachterInnen" und den "Blick der fotografierten Objekte". FotografInnen wählten erstens selbst Lichtverhältnisse und Ausschnitte von Fotografien aus (S.431). BetrachterInnen müssten zweitens die Vorauswahl der FotografInnen hinnehmen, könnten aber bei der Betrachtung der Fotografie selbst einen Fokus wählen (a.a.O.), wobei ihre Fokussierung durch Eigenschaften der Fotografie, d.h. durch Hell-Dunkeldifferenzen gelenkt werde(S.432). Mit dem "Blick der fotografierten Objekte" bezeichnet BROSZIEWSKI drittens die Sichtbarmachung der Differenz von blickenden und nicht-blickenden Objekten in der Fotografie und ihrem Objektarrangement (a.a.O.). Diese Triade von Blickpositionen bringe eine kommunikative Phänomenologie des Blickens hervor, sodass "wir einen großen Teil dessen, was wir über das Sehen wissen, durch die Fotografie wissen" (S.433). [30]
Der Band endet mit dem fünften Teil, der "Abschlussmeditation". Hier bieten der Fotograf Bernard LANGEROCK und der Phänomenologe Hermann SCHMITZ "Momentaufnahmen der Reflexion". Im Unterschied zu den vorangegangenen Kapiteln werden hier nicht Bilder durch Texte interpretiert, sondern Texte von SCHMITZ durch Bilder kommentiert. Jedem Bild ist ein kurzes Zitat aus einem Band, den LANGEROCK und SCHMITZ (2014) gemeinsam veröffentlicht haben, gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung von Bildern und Zitaten lädt die Lesenden ein, sich (nochmals) mit den gelesenen Texten in anderer Art und Weise auseinanderzusetzen. [31]
Der von Thomas S. EBERLE editierte Band "Fotografie und Gesellschaft" steuert bedeutende Beiträge zu den gegenwärtigen Debatten zur Soziologie und Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung bei. Die in ihm versammelten Kapitel bieten phänomenologische Herangehensweisen zur Analyse der Beziehung zwischen Bild, AutorIn und Betrachtenden sowie dem abgebildeten Objekt an. Sie schließen theoretische, phänomenologische Auseinandersetzungen genauso ein wie konkrete empirische Analysen von Bildern. Dabei setzen sich die AutorInnen sowohl von Positionen ab, die vom "Tod des Autors" (BARTHES 2000 [1967]) sprechen und die Interpretation vollständig in die Hand der RezipientInnen von Bildern legen als auch von semiotischen Positionen, die den Sinn von Bildern ausschließlich in den Bildern selbst vermuten. Dies wird unter anderem durch Kapitel geleistet, in denen das Fotografieren in den Vordergrund der Analyse gestellt wird (Teil 1). Jochen DREHERs hervorragendes Kapitel zur Rezeptionsästhetik zeigt zudem die Verbindung von Rezeptions- und Produktionsästhetik auf. [32]
In Bezug auf die Rezeption habe ich Analysen von Situationen vermisst, in denen Personen gemeinsam Fotografien betrachten. Zwar sprechen beispielsweise HITZLER, BOSCH, BRECKNER und auch SCHNETTLER von der Situiertheit der Betrachtung, doch untersuchen sie nicht weiter, wie Fotografien oder andere Bilder in Interaktion zwischen Menschen interpretiert und mit Sinn versehen werden. Ich denke hier beispielsweise an Diskussionen von Fotografien in Familien, bei Diashows, wie das Angela KEPPLER (1994) in ihren "Tischgesprächen" vorgeführt hat, oder in Foto- und Kunst-Ausstellungen, wo BesucherInnen in Interaktion miteinander Bilder interpretieren (VOM LEHN 2006, 2010). Analysen dieser Art würden unser Verständnis des Sehens und Blickens in konkreten (sozialen) Situationen ermöglichen, was zu einer Reflexion über der vielen Kapiteln zugrunde liegenden Triade von AutorIn-Bild-RezipientIn hätte führen können. Zudem wäre es interessant gewesen, einen Beitrag zu lesen, der konkrete Situationen analysiert, in denen FotografIn und fotografierte Person(en) in und durch ihre Interaktion miteinander ein Foto machen. Eine solche Untersuchung könnte weitere wertvolle Befunde bezüglich der Produktionsästhetik liefern. [33]
"Fotografie und Gesellschaft" ist SoziologInnen zu empfehlen, die sich für Visualität als soziales Phänomen im weitesten Sinne interessieren. Der Band bietet wissenssoziologisch vorgebildeten Lesenden wichtige theoretische und empirische Einsichten zu fotografischen Praktiken und der Analyse von Bildern sowie zu einer Theorie des Bildes und der visuellen Wahrnehmung. SoziologInnen, die sich für das Visuelle interessieren, werden um "Fotografie und Gesellschaft" nicht herumkommen. Erfahrung mit der Wissenssoziologie erleichtert es den Lesenden, den Analysen zu folgen, aber die Lektüre des Bandes kann auch dazu dienen, die Möglichkeiten der Wissenssoziologie kennenzulernen. Allein schon aufgrund der sehr schönen Gestaltung des Bandes ist es eine Freude, ihn aus dem Regal zu nehmen. Ich jedenfalls werde ihn in Reichweite in mein Regal stellen. [34]
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Dirk VOM LEHN ist Reader in Organisational Sociology an der King's Business School, King's College London und Mitglied der Work, Interaction & Technology Research Group. Seine jüngste Veröffentlichung ist "Ethnomethodologische Interaktionsanalyse. Videodaten analysieren und die Organisation von Handlungen darstellen” (Belz, 2018).
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Dr. Dirk vom Lehn
Reader in Organisational Sociology
King's Business School
King's College London
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Tel.: +44 2078484314
E-Mail: dirk.vom_lehn@kcl.ac.uk
URL: https://dirkvl.info
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