Volume 9, No. 1, Art. 3 – Januar 2008
Die Fallperspektive in der professionellen Praxis und ihrer reflexiven Selbstvergewisserung. Allgemeine Überlegungen und ein empirisches Beispiel aus der Familienmediation
Kai-Olaf Maiwald
Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird herausgearbeitet, dass die Ausbildung einer spezifischen Fallperspektive von zentraler Bedeutung für eine Profession ist. Um dies zu verdeutlichen, werden zunächst in einer Bedeutungsanalyse die Strukturelemente expliziert, die mit dem Begriff des "Falles" verbunden sind, und es wird dargelegt, wieso gerade für professionelles Handeln ein Fallbezug kennzeichnend ist. Anschließend wird anhand eines empirischen Beispiels aus der Familienmediation ex negativo gezeigt, dass eine Fallperspektive sowohl die berufliche Praxis in der Interaktion mit den Klienten wie auch die reflexive Selbstvergewisserung dieser Praxis strukturiert: ihr Fehlen lässt Interventionspraxis wie Reflexion prekär erscheinen.
Keywords: Fall, Fallperspektive, professionelles Handeln, Mediation
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung
2. Fallbegriff und professionelles Handeln
3. Familienmediation
4. Ein Fallbeispiel
5. Zusammenfassung und Ausblick
Manche Berufe bearbeiten "Fälle". Dies macht einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit aus. Zu ihren Anforderungen kann es beispielsweise gehören, einen Fall von schwerer Körperverletzung aufzuklären, einen Fall von Meningitis zu diagnostizieren und zu behandeln oder einen Fall strittiger Sorgerechtsregelung zu entscheiden. In diesem Beitrag werden derartige Fallbearbeitungen in einer professionssoziologischen Perspektive selbst wiederum als "Fälle" eines spezifischen Berufshandelns betrachtet. Er geht den Fragen nach, warum ein Bezug auf Fälle gerade für einen bestimmten Kreis von Berufen, die Professionen1), typisch ist, und welche Bedeutung er im professionellen Handeln hat. Dazu werden zunächst (Abschnitt 2) anhand einiger allgemeiner Überlegungen grundlegende Eigenschaften des Fallbezugs herausgearbeitet und im Anschluss wird die These entwickelt, dass die Ausbildung einer spezifischen Fallperspektive für eine Profession von entscheidender Bedeutung ist, da erst dadurch die berufliche Praxis und die Reflexion auf die (je eigene) berufliche Praxis strukturiert wird. Diese These wird dann (Abschnitt 4) anhand eines empirischen Beispiels aus der Familienmediation, einem in den letzten Jahren neu entstandenen beruflichen Feld, verdeutlicht. Es handelt sich dabei um eine Fallschilderung eines Familienmediators, die im Rahmen eines offenen Interviews zu seiner Berufsbiographie und Fragen der mediatorischen Praxis gegeben wurde. Der Beleg erfolgt dabei ex negativo, d.h., es wird gezeigt, was geschieht, wenn keine professionsspezifische Fallperspektive das berufliche Handeln strukturiert. Dem Fallbeispiel vorangestellt (Abschnitt 3) sind einige kurze Ausführungen zur Familienmediation. Die Ergebnisse der Interpretation werden abschließend (Abschnitt 5) zusammengefasst und es wird ein kurzer Ausblick auf weiterführende Analysen gegeben. [1]
2. Fallbegriff und professionelles Handeln
Dass die eingangs angeführten Typisierungen erster Ordnung (SCHÜTZ 1971) vor allem das Handeln von Juristen und Ärzten betreffen, lässt sich als ein erster Hinweis darauf verstehen, dass "Fälle" ein Spezifikum von Professionen sind. Es ist zumindest auffällig, dass die Verwendung dieses Ausdrucks einen relativ exklusiven Kreis von Berufen auszeichnet. So spricht etwa ein Mechaniker eben nicht von einem "Fall von Nockenwellenschaden", ein Ingenieur bezeichnet weder die Gesteinsformation noch den Tunnel, der in sie hineingegraben werden soll, als "Fall", und erst recht sieht ein Bäcker das Mehl und was er daraus macht nicht als einen solchen an. Um zu erkennen, dass der Fallbezug in der Tat eine strukturelle Affinität zum professionellen Handeln aufweist, muss man sich einige grundlegende Eigenschaften des Fallbegriffs vergegenwärtigen. Dies soll im Folgenden geschehen. Dabei wird nicht versucht, eine Ableitung aus der Professionalisierungstheorie vorzunehmen. Vielmehr soll weiterhin der Spur einer Begriffsrekonstruktion gefolgt werden, die auf übliche sprachliche Verwendungsformen des Fallbegriffs in berufspraktischen und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen rekurriert. Erst wenn ihre Implikationen ausreichend herausgearbeitet sind, wird zur theoretischen Kontextuierung an die Professionalisierungstheorie angeschlossen. Der Grund für dieses Vorgehen ist vor allem darin zu sehen, dass der Fallbegriff in der Professionalisierungstheorie in Gestalt des "Fallverstehens" eine zwar wichtige, aber – wie sich noch zeigen wird – gegenüber dem Fallbezug eingeschränkte und begrifflich missverständlich gefasste Rolle spielt. Hier verspricht eine Begriffsbestimmung, die an dem Alltagswissen zugängliche sprachliche Verwendungsweisen anknüpft, eine "Reparaturleistung". [2]
Ein Rekurs (auch) auf die Sozialwissenschaften ist dabei insofern nicht verwunderlich, da für sie ebenfalls ein Fallbezug kennzeichnend ist. Das gilt insbesondere für die einzelfallrekonstruktiven Verfahren, aber grundsätzlich auch für die Vorgehensweisen, die sich nur für eine größere Zahl von Fällen interessieren (in diesem Sinne auch RAGIN 1992). Auf sich anschließende Fragen nach weitergehenden Affinitäten zwischen den Professionen und den Sozialwissenschaften soll hier nicht eingegangen werden. Es soll ausreichen, beide Kontexte als Ressourcen für berufspraktische Verwendungsweisen des Fallbegriffs zu verwenden.2) [3]
Was ist also konstitutiv für einen Fallbezug? Überall dort, wo im hier gemeinten Sinn3) von "Fällen" gesprochen wird, geht es zunächst und trivialerweise um Personen oder Personengruppen.4) So heißt es etwa in einem Text zur "Fallkonstruktion" in der qualitativen Sozialforschung lapidar: "Der Einzelfall kann eine Person, eine Gruppe oder eine Organisation sein." (MERKENS 2000, S.294) Aber auch in der quantitativen Sozialforschung verweisen die in der Stichprobe enthaltenen "N" letztlich auf Personen (oder höher aggregierte Handlungsinstanzen) als Merkmalsträger. Und auch in interventionspraktischen Kontexten sind es zunächst Personen, die ein lebenspraktisches Problem haben (die etwa krank sind oder ihr Recht verletzt sehen), bzw. es ist eine Personengruppe (die Rechtsgemeinschaft), für die Personen mit ihren Handlungen (Rechtsbruch) ein Problem darstellen. Der in der Rede vom "Fall" enthaltene Bezug auf Personen ist manchmal derart in den Vordergrund gerückt, dass Fall und Person sprachlich eins zu sein scheinen, wie etwa in der abkürzenden Redeweise, in der Kriminalfälle z.B. als "Fall Weimar" bezeichnet werden. Am weitesten wird diese Identitätssetzung in einer Haltung getrieben, die in der qualitativen Sozialforschung durchaus verbreitet ist und Formulierungen wie "Der Fall antwortet in Zeile 125 des Interviews ..." erzeugt. [4]
Aber eine Person ist kein Fall und entsprechend spricht, arbeitet oder schläft ein Fall nicht. Vielmehr – und damit kommen wir zu einem zweiten konstitutiven Element des Fallbegriffs – können diese Lebensäußerungen einer Person (oder höher aggregierten Handlungsinstanz) nur vor einem bestimmten thematischen und/oder interventionspraktischen Hintergrund für einen beobachtenden Dritten zum Fall werden. Aus einer Person wird erst im Hinblick auf ihre Krankheit, den Rechtsstreit, in dem sie sich befindet, ihre soziologisch interessante Berufstätigkeit o.ä. ein Fall. Sie repräsentiert dann einen allgemeinen, vom konkreten Fall unabhängig bestimmbaren Zusammenhang: man spricht von einem "Fall von X".5) Dieser allgemeine Zusammenhang (X), den ein Fall repräsentiert, kann dabei "kasuistischen" Charakter haben, ein Typus sein oder eine allgemeine Struktur, er kann skizzenhaft gefasst oder in einem differenzierten Konzept bzw. einer Theorie formuliert sein. Auch kann es sich um einen ganzen Komplex von relevanten Zusammenhängen handeln, es können verschiedene Krankheitsbilder oder gesetzliche Tatbestände eine Rolle spielen. Insbesondere in den Sozialwissenschaften verkörpert ein Fall in der Regel eine ganze Reihe von Zusammenhängen, die sich zudem auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus bewegen. Wichtig ist jedoch, dass es etwas Derartiges geben muss, sonst gibt es keinen "Fall". Auch für dieses Element lassen sich sprachliche Verwendungsweisen finden, die es als identisch mit dem Fallbegriff ausweisen. Es wird dabei so pointiert, dass die Person hinter dem allgemeinen Zusammenhang verschwindet, wie etwa in "Wir haben hier zwei Fälle von SARS, die auf die Isolierstation müssen". [5]
Im Grunde ist die in den vorhergehenden Absätzen verwendete Formulierung, eine Person stelle einen "Fall von X" dar, ungenau. Denn es muss erst ein drittes Element dazu kommen, damit man von einem "Fall" sprechen kann. Nicht eine Person als solche ist ein "Fall von X", sondern sie ist es nur im Hinblick auf bestimmte, für den Zusammenhang X relevante Lebensäußerungen. So sind es erst bestimmte Symptome, die aus Herrn Meier einen Fall von Meningitis machen, es sind beobachtete und/oder protokollierte Interaktionen, die die Familie Müller als Fall einer "double-bind"-Beziehungsstruktur ausweisen. Nur vermittels eines hermeneutischen Rekurses auf diese Lebensäußerungen ist die Frage, ob es sich jeweils faktisch um einen Fall von X oder von Y handelt, überhaupt bearbeitbar. Dabei kann die hermeneutische Ausdeutung "in actu", d.h. im Interaktionsfluss selbst (wie z.T. in der therapeutischen Interaktion) erfolgen. Die Äußerungen der Klienten werden dabei von dem "Fallbearbeiter" in der Interaktion gleichsam begleitend interpretiert. Von zentraler Bedeutung ist jedoch die Ausdeutung von "Texten" in einem weiteren Sinn, d.h. von Daten, in denen Lebensäußerungen gewissermaßen "geronnen" sind. Sie sind damit aus dem Interaktionsfluss herausgenommen und ermöglichen so eine handlungsentlastete, distanzierte, methodisch kontrollierte Interpretation. Derartige Texte stellen im medizinischen Kontext Symptomtexte in Gestalt von Beobachtungsnotizen, Röntgenbildern, Testergebnissen u.ä. dar. Im juristischen Kontext handelt es sich z.B. um Spurentexte, Klageschriften oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens protokollierte Einlassungen von Parteien. Die Sozialforschung kennt bekanntlich eine große Bandbreite von Daten, die von Transkriptionen oder Videoprotokollen sozialer Praxis über "gemachte" Texte wie Gesetzestexte, Fotoalben von Familien oder Kunstwerke bis zu dem Grenzfall hochgradig selektiver und aufbereiteter Daten in Form von Umfrageergebnissen reicht. Die konstitutive Bedeutung dieses dritten Elements wird daran deutlich, dass auch die Objektivationen in bestimmten sprachlichen Verwendungsweisen vereinseitigt als "Fall" erscheinen. So kann man etwa sagen "Wir haben hier einen Fall von Urkundenfälschung" und man hält die vermeintliche Urkunde hoch, oder man behauptet "das ist ein Fall von double-bind" und meint damit ein bestimmtes Interaktionstranskript. [6]
Der Fallbegriff verweist also auf eine triadische Relation, auf eine Beziehung zwischen drei Elementen, die abstrakt als "Lebenspraxis", "Text" und "Theorie" bezeichnet werden können.6) Die Elemente sind insofern relativ eigenständig, als sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Dafür sprechen die vorfindlichen Verwendungsweisen, die jeweils ein Element zum "Fall" erklären können. Gleichwohl macht der Fallbegriff nur Sinn, wenn eine Beziehung zwischen allen drei Elementen hergestellt wird. Von "Fällen" kann man nur dort sprechen, wo die Lebenspraxis einer Handlungsinstanz auf der Basis von Texten, die als gültige Ausdrucksgestalten dieser Lebenspraxis angesehen werden können, in einen Komplex allgemeiner, letztlich theoretisch formulierbarer Zusammenhänge eingerückt wird. Einen Fallbezug gibt es nur in dieser triadischen Relation. Auch das haben die angeführten sprachlichen Formen deutlich gemacht, denn der Charakter einer Vereinseitigung ist dabei offenkundig. Man kann von hier aus im übrigen – insbesondere für die Sozialwissenschaften – drei Grenzfälle forschungslogisch unzulässiger Vereinseitigungen ausmachen, d.h. solcher Vereinseitigungen eines Elements, die die anderen Elemente nicht mehr systematisch zu berücksichtigen trachten: Die Vereinseitigung 1. des "personalen" Elements in einer individualisierenden Betrachtung ohne allgemeinen Gehalt; die Vereinseitigung 2. des "Theorie"-Elements in einer reinen Subsumtion des Einzelfalles unter allgemeine Zusammenhänge, und schließlich 3. der Platonismus eines "il n’y a rien hors du texte" sensu DERRIDA, in dem Texte nicht als Ausdrucksgestalten einer Lebenspraxis interpretiert werden. Dazwischen bewegt sich die Sozialforschung in einer Vielzahl von Formen, bei denen die Elemente jeweils unterschiedlich gewichtet sein können. Das Spektrum reicht von der stärkeren Betonung des Elements der Lebenspraxis, wie z.B. häufig in der Biographieforschung7), bis zur stärkeren Betonung allgemeiner Zusammenhänge, wie z.B. in der Konversationsanalyse. Entscheidend ist jedoch, dass die Sozialwissenschaften – wie auch die klientenbezogenen Professionen – es immer mit dieser triadischen Relation zu tun haben.8) [7]
Allerdings ist allein mit der Feststellung einer Relation zwischen den drei genannten Elementen die Bedeutungsstruktur des Fallbegriffs noch nicht hinreichend klar gefasst. Rein äußerlich und formal betrachtet gibt es eine solche Relation auch z.B. in bürokratischen Kontexten. Auch hier gibt es beispielsweise mit dem "Antragsteller" eine Person, mit dem "Antragsschreiben" einen Text, und mit der Kategorie "Bauantrag" einen allgemeinen Zusammenhang, für den beides steht. Aber es ist nicht zufällig, dass hier nicht von einem "Fall" gesprochen wird. Es muss noch ein weiteres Moment hinzukommen. Der entscheidende Punkt ist in dem Fehlen formalisierbarer Kriterien zu sehen, die eine konkrete Konstellation allgemeinen Zusammenhängen subsumieren. Im bürokratischen Kontext gibt es demgegenüber klare Regeln, die festlegen, ob ein Schreiben einer bestimmten Person als "Bauantrag" zu gelten hat und ob er zu bewilligen ist oder nicht. Und – um ein anderes Beispiel zu verwenden – bei der ingenieuralen Wissensanwendung bestimmt die naturwissenschaftliche Wissensbasis, welche Messoperationen in welchen situativen Zusammenhängen durchzuführen sind und welche technische Lösung den Messergebnissen adäquat ist. Dabei wird der Gegenstand diesen Bestimmungen gleichsam "ohne Rest" subsumiert. Die Relevanzen des technisch bearbeiteten Gegenstandes werden ausschließlich von der naturwissenschaftlichen Wissensbasis her bestimmt, der Gegenstand erscheint rein "in terms" dieser Wissensbasis. Entsprechend ruht die gefundene Problemlösung allein auf diesen Wissensbeständen. [8]
Dies ist beim Fallbezug nicht so. Hier gibt es eine konstitutive Spannung zwischen den Elementen, die schon sprachlich in den Verwendungsweisen von "Fallverstehen", "Würdigung des Einzelfalles" oder "fallspezifischen Aspekten", die zu berücksichtigen seien, zum Ausdruck kommt. Impliziert ist dabei, dass der Fall im Allgemeinen nicht einfach aufgeht, sondern dass zur adäquaten Bearbeitung die Berücksichtigung von etwas Individuellem gehört. Impliziert ist die Annahme, dass eine spezifische Lebenspraxis (als Resultat eines spezifischen Bildungsprozesses) durch eine Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet ist, in der allgemeine Zusammenhänge nur in einer spezifischen Einbettung, Mischung und Modifikation gegeben sind. Die im Fallbezug implizierte triadische Relation ist damit immer eine dynamische, geradezu spannungshafte. Sie wird im Rahmen einer sukzessiven wechselseitigen Übersetzungsleistung hergestellt. Die juristische Hermeneutik etwa hat diesen Zusammenhang in der suggestiven klassischen Formel vom Hin- und Herwandern des Blicks zwischen dem Tatbestand der Rechtsnorm und den Eigenschaften des konkreten Sachverhalts (ENGISCH 1963) zum Ausdruck gebracht. Die Gesetzesnorm muss nicht allein im Hinblick auf ihr entsprechende konkrete Fallumstände ausgedeutet werden, es müssen umgekehrt auch immer die konkreten Sachverhaltsumstände im Hinblick auf die ihnen adäquaten gesetzlichen Tatbestände interpretiert werden. Und ganz ähnlich erschließt sich ein Fall im ärztlichen Handeln, indem die spontanen Problemschilderungen eines Patienten im Lichte möglicher Krankheitsbilder interpretiert werden, eine Interpretation, die dann zur diagnostischen Evozierung weiterer Texte (Problemschilderungen, Messergebnisse) führt, die wiederum sowohl im Lichte allgemeiner Zusammenhänge wie der konkreten Lebensumstände des Patienten ausgedeutet werden usf. [9]
Der Professionalisierungstheorie Ulrich OEVERMANNs (1996) zufolge – auf die in den letzten Passagen schon verschiedentlich zurückgegriffen wurde, um die in der Bedeutungsanalyse herausgearbeiteten Zusammenhänge zu präzisieren – ist der Hintergrund dieser immanenten Dynamik des Fallbezugs in einer für das professionelle Handeln zentralen Widersprüchlichkeit zu sehen, die damit zusammenhängt, dass sein Gegenstand und Ausgangspunkt eine lebenspraktische Krise darstellt, die unter Rekurs auf allgemeine Wissensbestände stellvertretend zu deuten und – im Fall klientenbezogener Professionen – zu bewältigen ist. Ausgangspunkt einer professionellen Fallbearbeitung ist in diesem Verständnis ein Problem, dessen Lösung der Klient nicht, wie bei einer technischen Problemstellung, delegieren kann. "Krise" heißt vielmehr, dass es sich um ein Problem handelt, das mit der Person des Klienten verbunden ist, das er selbst lösen muss. Gleichzeitig ist ihm genau das nicht möglich, und dieser Umstand führt zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Anders als bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen, bei denen es um technische Probleme geht, liegt die Definitionshoheit nicht auf Seiten des Klienten. Er – bzw. sein Leidensdruck – bestimmt zwar, dass es ein zu lösendes Problem gibt, um was für ein Problem es sich handelt, ist ihm vor allem aufgrund der fehlenden Distanz zum Problem jedoch strukturell verschlossen. Die Aufgabe des Professionsangehörigen ist vor diesem Hintergrund die stellvertretende Deutung und Krisenbewältigung.9) In dieser Einheit von Diagnose und Intervention geht es im oben skizzierten Sinne darum, der je spezifischen Problemlage des Klienten im Lichte der abstrakten Wissensbasis Ausdruck zu verleihen. [10]
Mit den hier vorgestellten Überlegungen zum Fallbegriff lässt sich also gut an die Professionalisierungstheorie anschließen. Sie führen aber auch zu einer partiellen Korrektur. Dazu muss man sich OEVERMANNs Konzeption der "obersten" Spannung im professionellen Handeln im Detail vergegenwärtigen. Sie wird an zentraler Stelle (OEVERMANN 1996, S.126f.; daraus alle Zitate in diesem Absatz) begrifflich als Gegensatz von "Fallverstehen" und erfahrungswissenschaftlichem "Erklären" bzw. von "Rekonstruktion" und "Subsumtion" gefasst. Es handele sich dabei jeweils um "polar zueinander stehende ... Operationen", die im professionalisierten Handeln praktisch zur Einheit gebracht werden müssen. Ihre jeweilige Vereinseitigung würde demgegenüber an den Anforderungen professionalisierten Handelns vorbeigehen. Eine "bloße Subsumtion unter explanatives Wissen" wie auch eine "Erklärung von Symptomen und die Erklärung einer Krankheit ausschließlich aus der Operation des Fallverstehens einer Lebensgeschichte und einer biographischen Konstellation heraus" erscheinen als unzulässig: "Kein vernünftiger Arzt würde auch nur auf die Idee solcher Vereinseitigungen in der Praxis kommen." Das Problematische dieser Konzeption zeigt sich vor allem darin, dass man sich die "Operationen" als eigenständige gar nicht vorstellen kann.10) Eine "bloße Subsumtion" wäre vielleicht eine bürokratische Phantasie von Therapie, aber keine wirkliche "Operation". Erst recht das "ausschließliche Fallverstehen": Worin sollte eine solche Operation ohne Bezüge auf allgemeine Zusammenhänge, die aus den Lebensäußerungen einer Person erst einen "Fall von X" machen können, bestehen? Die hier vorgetragenen Überlegungen legen demgegenüber nahe, die Inkommensurabilitäten im Fallbezug selbst zu verorten. Die handlungspraktische Vereinbarung spannungshafter Elemente ist selbst Teil des Fallbezugs. Der Rekurs auf ein fallunabhängig formuliertes, naturwissenschaftliches Erklärungsmodell einer Krankheit gehört (im Fall des therapeutischen Handelns) ebenso dazu wie von hier aus die Öffnung den individuellen und in diesem Sinne fallspezifischen Aspekten der konkreten Lebenspraxis gegenüber. Letzteres lässt sich weniger im Sinne einer "Tabula rasa"-förmigen Betrachtung der Individualität des Falles verstehen als im Sinne einer sachlich notwendigen Distanzierungsbewegung.11) [11]
Die bisherigen Überlegungen sollten deutlich machen, dass der Fallbezug strukturelle Affinitäten zum professionellen Handeln aufweist, sie sollten zeigen, wie er sich charakterisieren und professionalisierungstheoretisch begründen lässt. Diese allgemeinen Aspekte begründen aber noch keine berufliche Praxis. Trivialerweise gibt es nicht den Beruf der "Fallbearbeitung" schlechthin, vielmehr greift jede (klientenbezogene) Profession auf einen bestimmten Ausschnitt lebenspraktischer Problemlagen in einer bestimmten Weise zu. Mit anderen Worten: Der Fallbezug einer konkreten Profession konstituiert sich erst über eine spezifische Selektivität, eine besondere Perspektive. Erst dadurch kann sich eine dynamische Relation von "Lebenspraxis", "Text" und "Theorie" in der Praxis herstellen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Definition des Ausgangsproblems, auf das sich die Profession bezieht, und der Mittel seiner Bearbeitung. Dies sind die Kernbestände eines Relevanzsystems, das den Horizont der thematischen lebenspraktischen Probleme, Daten und Wissensbestände für die professionelle Praxis absteckt. Um in der professionellen Praxis stellvertretende Diagnosen im Hinblick auf mögliche Interventionschancen bzw. Interventionen vor dem Hintergrund diagnostischer Prozesse durchführen zu können, bedarf es einer grundsätzlichen Klarheit darüber, welcher Ausschnitt lebenspraktischer Problemlagen in welcher Weise betrachtet wird, welche Wissensbestände dafür relevant sind sowie welche Handlungen und Äußerungen vor diesem Hintergrund interpretationsbedürftig sind. Die je professionsspezifische "Fallperspektive" lässt sich damit auch als ein Diagnose-Interventions-Zusammenhang verstehen. [12]
Die zentrale Bedeutung einer spezifischen Fallperspektive für das professionelle Handeln – sowohl für die berufliche Praxis im engeren Sinne wie auch für die Reflexion auf diese Praxis (hier verstanden als reflexive Selbstvergewisserung der je eigenen Praxis) – soll im Folgenden anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht werden. Dabei handelt es sich um eine Fallschilderung eines Familienmediators, die im Rahmen eines offenen Interviews gegeben wurde. Damit steht vom Datenmaterial her zwar der Aspekt der Reflexion im Vordergrund. Es ist aber gleichzeitig in zweierlei Hinsicht ein Schluss auf die Berufspraxis möglich: zum einen kann man aus der Schilderung im einzelnen auf die geschilderte Interaktion mit den Klienten schließen, zum anderen lässt sich die reflexive Selbstvergewisserung, die in der Schilderung zum Ausdruck kommt, selbst als Bestandteil professionellen Handelns verstehen. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass das professionelle Handeln sich nicht in der Interaktion mit den Klienten erschöpft, obwohl sie natürlich den herausgehobenen Ort dieser Praxis darstellt. Als Teil des professionellen Handelns müssen darüber hinaus auch Dinge gelten wie: der kollegiale Austausch, die Auseinandersetzung mit relevanten Forschungsergebnissen, die Diskussion professionspolitischer Fragen (wo sie sich nicht in reiner Interessenpolitik erschöpfen) und eben auch die reflexive Vergegenwärtigung der je eigenen beruflichen Praxis, gewissermaßen als "innerer kollegialer Austausch". Im Anschluss an die Professionalisierungstheorie OEVERMANNs kann man sagen, dass eine laufende reflexive Selbstkontrolle der eigenen Praxis im Hinblick auf einen zukünftig besseren Umgang mit spezifischen Praxisproblemen notwendig ist, weil das professionelle Handeln nie vollständig routinisierbar ist. Sie stellt damit nicht eine bloß ephemere Deutung dar, sondern ist selbst konstitutiver Bestandteil professionellen Handelns.12) [13]
Bei der Familienmediation handelt es sich nicht gerade um eine "klassische" Profession. Es ist noch nicht einmal ausgemacht, dass es sich dabei überhaupt um eine Profession handelt. Denn die Familienmediation ist eine noch sehr "junge" berufliche Tätigkeit. Sie versucht sich – in Deutschland etwa seit Ende der 1980er Jahre13) – im Feld der bestehenden Berufe mit einer neuen Form der Konfliktbearbeitung zu etablieren, die sich wie folgt kennzeichnen lässt: Mediation ist eine Vermittlung in Konflikten, bei der die Konfliktparteien von sich aus eine dritte Person (den Mediator) konsultieren, die dabei mitwirken soll, dass sie selbst eine einvernehmliche Lösung des Konfliktes finden. Wichtig ist dabei, dass der Mediator ein unparteiischer Dritter ist, der weder – wie ein Richter – ein Urteil fällt, noch – wie ein Schlichter – Angebote von Regelungsarrangements zur Verfügung stellt. Er verfügt auch nicht über die Erzwingungsgewalt für ein Urteil, die der Richter besitzt. Man muss sehen, dass dies eine allgemeine Definition der mediatorischen Konfliktbearbeitung ist, die die Familienmediation mit anderen Bereichen, wie der Umweltmediation oder der Wirtschaftsmediation, dem Anspruch nach teilt.14) Das spezifische Ausgangsproblem, dem sich die Familienmediation widmet, erschließt sich schon über ihre früher übliche Bezeichnung "Trennungs- und Scheidungsmediation": es geht im Wesentlichen um Konflikte über die Regelung der Scheidungsfolgen. [14]
Mit dem Angebot dieser Art der Konfliktbearbeitung, die auf eine irgendwie angeleitete, aber im wesentlichen "eigene" Konfliktlösung zielt, ist eine Kritik an der rechtlichen Form der Konfliktbearbeitung in diesem Problembereich, d.h. konkret am Scheidungsverfahren, verbunden. Die Familienmediation beansprucht der "Lebenswirklichkeit" des Konflikts eher gerecht zu werden als das Scheidungsverfahren, auch wenn sie nicht – wie eine Therapie – den lebenspraktischen Hintergrund des Konflikts, d.h. die Trennungskrise selbst, in den Mittelpunkt der Bearbeitung rückt. Es soll kein Kampf um Rechtsansprüche geführt werden, der vor dem Hintergrund der Trennungskrise eine ungute Eigendynamik entfalten kann, sondern es sollen die "wirklichen" Konflikte in einer kooperativen Auseinandersetzung einer Lösung zugeführt werden, die wiederum eine tragfähige Basis für die Nachscheidungsbeziehungen bieten kann. [15]
Was die Familienmediation zu einem interessanten Gegenstand für professionssoziologische Forschungen macht, ist nicht allein der Umstand, dass sie sich auf der organisationellen Ebene zu einer Profession zu entwickeln scheint.15) Vielmehr zeigen sich auch im Hinblick auf ihre Handlungsanforderungen Nähen: sie weisen zumindest professionalisierungsbedürftige Anteile auf. Dies kann hier nur mit einem Hinweis auf die paradigmatischen Fälle einer familienmediatorischen Bearbeitung stichwortartig umrissen werden. Meines Erachtens handelt es sich dabei um solche, bei denen 1. Kinder von der Scheidung betroffen sind, 2. die Ex-Gatten so weit in die Trennungskrise verstrickt sind, dass sie die Auflösung der Beziehung nicht selbst kooperativ regeln können, 3. aber vermittelt über ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Eltern-Kind-Beziehungen an einer kooperativen Regelung interessiert sind. Hier findet sich also eine lebenspraktische Krise, die die Beteiligten nicht selbst lösen können, aber selbst lösen wollen. Diese Orientierung begründet ein Arbeitsbündnis mit dem Mediator. Zu dessen vornehmlichen Aufgaben gehören die stellvertretende Sicherung der Kooperationsbasis, die sich schon in der Inanspruchnahme mediatorischer Hilfe manifestiert, und die stellvertetende Deutung der praktischen Kooperationsspielräume. [16]
Die Frage ist nun, ob die Familienmediation aufgrund dieser Nähe zu den Professionen auch faktisch Strukturen professionellen Handelns ausgebildet hat. Meines Erachtens ist eine solche faktische Professionalisierung in einer basalen Hinsicht erschwert: es fehlt eben eine genuine Fallperspektive im oben dargelegten Sinn. [17]
Dazu das folgende kleine Fallbeispiel, das hier nur abgekürzt interpretiert wird.16)
"K: Mhm (I: nich?) und des is eben nich der Fall. (I: ja) Ähm a, >n Beispiel. (2 sec.) Ich hatte ein Ehepaar, die kamen zu mir und sagten alles, was wir noch regeln müssen, is, wie wir mit dem Haus umgehen. (I: mhm) (2 sec.) Des war meine längste Mediation (I: mhm), die hat anderthalb Jahre gedauert. (I: mhm) Die hatten wirklich alles aus ausgearbeitet und (I: mhm) hatten des schon auf=m Papier stehen (I: mhm), zumindest so die die die Eckdaten. (3 sec.) Und aber des Haus wars und es war nicht nur des Haus, sondern des Haus war des letzte über übrig gebliebene Thema (I: mhm), an des se sich festgeklammert ha hatten. Hätten se das Haus auch noch mit erledigt gehabt, dann hätten se nix mehr zum Reden und Streiten gehabt miteinander. (I: mhm) Aber sie wollten weiter reden und streiten miteinander (I: mhm), deswegen haben se sich dieses Hauf, Haus aufgespart. (I: mhm) Und in dieser Mediation ham wir die ganze Trennungsgeschichte aufgearbeitet. (I: mhm) Wir ham die werden
I: Die, wie machen Sie des dann wie geht des dann vor sich?
K: Ähm ...
I: Also jetzt ganz konkret, wenn die kamen und ham gesagt also die, dann müssen wir wir wahrscheinlich, der eine hatte den Standpunkt, das Haus teiln wir soundso auf, der andere sagte es anders, (K: mhm) wie wie kam es denn dazu, dass das plötzlich diesen weiteren Horizont kriegte?
K: Ähm (atmet durch) da müsst ich muss ich jetzt mal mir des nochmal vors geistige Auge holen, wir hatten die Aufteilung des Hauses ja, ja ähm es war die Aufteilung des Hauses. Es war so, die Ehefrau war ausgezogen, der Ehemann mit den beiden Söhnen blieb im Haus. (I: mhm) Ähm und sie war damals ausgezogen und des Problem war äh für sie, dass die Kinder/ dass sie die Kinder zurückgelassen hat. Er ähm is so der/ der/ der/ der bodenständige Typ (I: mhm), der sagte also des Haus, des ham mer einmal gekauft, da ham mer uns krummgelegt dafür, dass wer des bezahlen können (I: mhm), des is noch zehn Jahre in der Finanzierung ähm, die Kinder gehen noch zur Schule, solang die da sind, ich geh da nicht raus. (I: mhm) Ja? Und sie wollte Geld für sich haben. (I: mhm) Und da war dann die äh die Diskussion ähm ging gleich in diese in die Abwägung der einzelnen Varianten. Und da kam eben sehr deutlich raus, dass es ihr damals große Schwierigkeiten bereitet hat zu gehen und die Kinder zurück zu lassen und dass sie sehr darunter leidet, dass sie in der Situation ähm oder dass sie dass sie empfindet als schlechte Mutter dazustehen. (I: mhm, mhm) Ja? Und ähm darüber kamen wir dann an einen an einen Punkt, dass er ihr vorwarf äh kurz gesagt faul zu sein. (I: mhm) Ja? (I: mhm)" [18]
Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Interview mit einem Mediator und Anwalt, den ich Thomas Kehrer genannt habe. Die Äußerungen fielen relativ spät im Interviewverlauf. Kehrer reagiert hier auf eine etwas umständliche Frage des Interviewers, in der eine Formulierung von ihm aufgegriffen und danach gefragt wird, wie er das denn macht, "dies Bearbeiten in der Familienmediation". Dabei formuliert der Interviewer eine Kritik an der Mediationsliteratur, die zum einen in dieser Hinsicht sehr blass sei – Kehrer bestätigt das mit einem "absolut" – und zum anderen fälschlich den Eindruck erwecke, als wären die Ex-Gatten ihrer eigenen Trennungsgeschichte gegenüber sehr distanziert. Auch dieses Urteil bestätigt Kehrer mit dem Beginn der vorliegenden Sequenz ("Mhm ... und des is eben nich der Fall"). Im Anschluss ("Ähm a, >n Beispiel") zeigt sich zunächst eine typische professionelle Argumentationsweise, die sich schon dadurch von der kritisierten Literatur absetzt, dass nicht eine blasse, sondern eine fallnahe, kasuistische Problemexposition angestrebt wird. Mit dieser Rahmung muss das folgende Beispiel eine Pointe im Hinblick auf das Thema "fehlende Distanz zur Trennungskrise als ein typisches Handlungsproblem in der Mediation" aufweisen. Wie sich im Folgenden zeigt, bleibt diese Pointe jedoch reichlich implizit. [19]
Betrachten wir zunächst die Passage bis "Eckdaten". Die Schilderung beginnt relativ fallnah mit einem Zitat, bewegt sich dann aber schnell in Richtung einer Folge sehr allgemeiner, sich widersprechender Deutungen, die schließlich in einer sehr voraussetzungsvollen psychologischen Diagnose münden. Die implizit eingerichtete Kontrastfigur lässt sich wie folgt charakterisieren: Die Mediation schien sehr leicht zu sein, stellte sich aber als ausgesprochen schwierig heraus. Für die anfängliche Unkompliziertheit steht die Selbstdarstellung des Paares als souverän seine Auflösung abwickelnd. Das Haus erscheint dabei als Restproblem, etwa im Sinne von "da ist nur noch eine Kleinigkeit". Kehrer wiederholt diese Einschätzung ("die hatten wirklich …"). Dass es sich gleichwohl um eine hochproblematische Mediation handelte, kommt implizit darin zum Ausdruck, dass sie anderthalb Jahre dauerte und seine längste Mediation war. Mediationen müssen nach gängiger Meinung eigentlich – schon angesichts des akuten Regelungsbedarfs – deutlich schneller vonstatten gehen. [20]
Die Folge von Deutungen – beginnend mit "und aber des Haus wars …" – sucht diesen Umstand zu erklären. Wichtig ist dabei, dass hier nicht die vergangenen prozessbegleitenden Deutungen geschildert werden, sondern ex post-Deutungen, die erklären sollen, warum es so lange gedauert hat. Es kommt ein aktuelles Deutungsproblem zum Ausdruck, das im Interview bearbeitet wird. Die Deutungen selbst haben von hier aus den Charakter eines Zusatzes zum vergangenen Mediationsprozess. Ein professioneller Anspruch auf Diagnosekompetenz kommt dabei darin zum Ausdruck, dass der Mediator gleichwohl meint, eine geschlossene Deutung geben zu müssen. Ihre Realisierung ist allerdings in verschiedener Hinsicht brüchig. Anfänglich wird "das Haus" verdinglicht als zentraler Faktor eingeführt, tritt in der Folge aber immer mehr zurück zugunsten einer Beziehungsdynamik, für die es als Regelungsgegenstand dann gar keine eigene Bedeutung mehr hat. Schließlich wird den Klienten die Beziehungsdynamik von der Wortwahl her sogar intentional zugeschrieben ("wollten", "aufgespart"). [21]
Dass die bisherige Darstellung nicht auf einer konturierten Falleinschätzung beruht, zeigt sich auch daran, dass Kehrer in seiner Darstellungsfigur die Perspektive der Klienten einfach übernimmt: Für sie schien es anfänglich einfach zu sein. Jedenfalls stellten sie sich in kontrafaktischer Weise als ausgesprochen kooperationsorientiert dar. Aber eben in kontrafaktischer Weise. Aus der Perspektive des beobachtenden Dritten – und für Kehrer letztlich auch, denn schließlich hat er sich die Eingangsäußerung als etwas Auffälliges gemerkt – ergibt sich ein erheblicher Klärungsbedarf. Ungeachtet ihrer Selbstdarstellung muss es faktisch ein Problem geben, sonst hätten sie ihn als Mediator ja nicht aufgesucht. Sprachlich ist dieses Problem mit dem "umgehen" zwar markiert, aber nicht expliziert. In Kehrers Darstellung ist nun aber kein Versuch einer Klärung erkennbar. Die nahe liegende Frage, was die Klienten denn zu ihm führe, warum sie ihn denn aufsuchen, wo sie doch alles schon so gut hinbekommen haben, wird von ihm offenbar nicht gestellt. Diese oder eine ähnliche Frage (sowie die Reaktion der Klienten darauf) taucht weder explizit in seiner Schilderung auf, noch lässt sich aus der nachfolgenden Darstellung erschließen, dass er etwas Ähnliches gefragt hat. Im Gegenteil: der Verlauf der Mediation spricht dafür, dass keine derartige Intervention stattfand.17) [22]
Diese Struktur – eine brüchige Darstellung, in der die Position des Mediators im Verfahren unterbelichtet ist – zeigt sich auch in den folgenden Passagen. Zunächst wird in dem anschließenden Satz ("Und in dieser Mediation …") mit dem "wir" ein weiterer professioneller Anspruch erhoben: die Inanspruchnahme eines Arbeitsbündnisses. Dieses Arbeitsbündnis ging jedoch, anders als in der Mediation beansprucht, darauf aus, die Trennungsgeschichte aufzuarbeiten, d.h. eine tendenziell therapeutische Bearbeitung der Trennungskrise durchzuführen. Es stellt sich damit noch deutlicher die Frage, worin Kehrers Position in der Kooperationsbeziehung mit den Klienten besteht. Was berechtigt es, von "wir" zu sprechen? Und wie kam es zu der "therapeutischen Wende" in der Mediation? Kehrer will fortfahren, aber der Interviewer unterbricht ihn. Offenbar befürchtet er eine weitere "Globaldeutung" und fragt deshalb eine konkretere Schilderung nach. Kehrers erste Reaktion ("… muss ich jetzt mal mir des noch mal vors geistige Auge holen …") bestätigt die Hypothese, dass die Deutung dem faktischen Mediationsverlauf äußerlich war. Die konkrete Fallgestalt hat ihm in seiner Darstellung nicht vor Augen gestanden. Anschließend werden dann verschiedene Fallmerkmale und Deutungen versammelt, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte. Interessant für die vorliegende Fragestellung ist vor allem die Passage beginnend mit "und da war dann die äh die Diskussion …", da hier versucht wird, den konkreten Prozessverlauf zu schildern. Äußerlich betrachtet geht dabei alles sehr geordnet und stringent zu, entsprechend einer Form "und dann war x", "dabei kam heraus, dass y", "darüber kamen wir zu z". Die Schilderung geht in dieser Weise über den vorgelegten Ausschnitt noch einige Zeilen weiter. Schaut man sich die Formulierungen jedoch im Detail an, erscheinen sie wiederum als brüchig. Die Darstellung ist nur die Hülse einer Prozessverlaufsschilderung. Die einzelnen Elemente hängen nicht miteinander zusammen. Ein entscheidender Punkt ist dabei die unklare Position des Mediators. Dieser Zusammenhang lässt sich sehr gut am Beispiel des letzten Satzes verdeutlichen. [23]
Mit "darüber kamen wir an einen Punkt" wird hier eine Entwicklung im Arbeitsbündnis ("wir") der Mediation markiert.18) Der "Punkt" bezeichnet eine Transformationsstelle (z.B. einen Perspektivenwechsel oder eine Entscheidung), das "darüber" verweist auf eine vorhergehende Phase, die in irgendeiner Weise darauf hin führte. Von der Sequenzstelle her muss es dabei um die Verhandlung der Aufteilungsalternativen gehen, bei der das Problem, das die Frau mit ihrem Auszug ohne die Kinder hatte, zum Vorschein kam. Es ist nur vollkommen unklar, worin eine entsprechende Entwicklungsdynamik bestehen könnte. Man hat keinerlei Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen der Diskussion der Lösungsalternativen oder ihrem Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein, und dem dann referierten Vorwurf, dass sie faul sei. Unklar ist auch, worin die unterstellte Transformation der Mediationsbeziehung eigentlich bestand. Worin könnte sie bestehen? Prinzipiell stehen drei alternative Lesarten zur Verfügung, die sich aus der möglichen unterschiedlichen Gewichtung der Satzteile ergeben: Es könnte neu sein, 1. dass er ihr einen Vorwurf gemacht hat, 2. dass er einen Vorwurf äußerte, oder 3. dass er ihr diesen Vorwurf machte. Von Kehrer ist keine dieser Möglichkeiten ausgewiesen, auch die vorhergehende "Phase" favorisiert keine. Mit ihrem Problem, "als schlechte Mutter dazustehen", hat der Vorwurf inhaltlich jedenfalls nichts zu tun. Was aus der Perspektive des analysierenden Dritten an dieser Äußerung neu ist, ist der Umstand, dass das Paar sich möglicherweise jetzt zu streiten beginnt. Von daher liegt eine gewisse Wahrscheinlichkeit auf der zweiten Lesart, nach der das Bemerkenswerte der Vorwurf als Vorwurf ist, d.h. als Ausdruck manifesten Streits. Die Transformation bestünde dementsprechend darin, dass die Ex-Gatten von diesem Zeitpunkt an – wie von Kehrer mit der zugeschrieben Intention, "reden und streiten“ zu wollen, angesprochen – ihren Beziehungs- bzw. Trennungskonflikt ausagieren. [24]
Die nächste Frage, die sich stellt, ist, warum er auch in diesem Zusammenhang von "wir" spricht. Schließlich betrifft der Vorwurf nur die Paarauseinandersetzung. Man könnte seine Äußerung entsprechend der bisherigen Interpretation so paraphrasieren: "Wir kamen dann an einen Punkt, dass sie sich gestritten haben". Man muss das "wir" wörtlich nehmen und als Ausdruck einer kollektiven Praxis verstehen. Nur ist diese Praxis offenbar keine, die faktisch über die Logik eines Arbeitsbündnisses gestiftet ist. Dennoch fühlt sich Kehrer als Teil der sich vollziehenden Paarauseinandersetzung, die er gleichwohl nicht stellvertretend deutet und dirigiert. Er ist mit anderen Worten Teil einer Praxis, die gleichzeitig ohne ihn abläuft. Das dyadische Ausagieren der Trennungskrise betrifft ihn nur, aber gleichzeitig wird die Entwicklung im Stil des professionellen Arbeitsbündnisses umgedeutet: einem Vorgang, der bloß "passiert", wird die Form einer strukturierten und kontrollierten Ablaufgestalt zugeordnet. [25]
5. Zusammenfassung und Ausblick
Der Mediator Kehrer schilderte diesen Fall, um zu verdeutlichen, dass Paare, die in die Mediation kommen, anders als in der Literatur häufig unterstellt, kein distanziertes Verhältnis zu ihrer Trennungsgeschichte aufweisen. Dies gelingt ihm insofern, als die Mediation, von der er berichtet, sukzessive zur Artikulation von Beziehungskonflikten führte, die hinter der Auseinandersetzung über die Scheidungsfolgen standen. Die Pointe der Fallschilderung lässt sich charakterisieren: "Selbst in einem Fall wie diesem, der anfangs ganz leicht und begrenzt zu sein schien, kamen solche Konflikte zum Ausdruck, und gerade diese Mediation dauerte sehr lange." Die Schilderung selbst aber konnte ihrem eigenen, professionellen Anspruch nicht genügen. Betrachtet man zunächst den Aspekt der reflexiven Selbstvergewisserung der eigenen beruflichen Praxis, die darin zum Ausdruck kommt, dann zeigt sich, dass die angestrebte konsistente Deutung des Falles sich auflöst in eine Sukzession sich widersprechender Deutungen, und der Anspruch der Schilderung eines strukturierten Fallverlaufs reduziert sich auf die formale Hülse einer solchen Dynamik. Der Mediator hat jenseits der Pointe, für die sie stehen soll, keinen Zugriff auf die Fallgestalt. Eine lebendige Darstellung des Fallverlaufs findet nicht statt. Das zentrale Problem ist, dass die Deutung erst nachträglich, durch die Interviewsituation induziert, einsetzt. Kehrer kann offenbar nicht an damalige, die Interaktion begleitende und strukturierende Diagnosen anknüpfen. Schon die Pointe selbst lebt davon, dass die Selbstdarstellung der Klienten bloß übernommen und nicht ausdeutet wird. Der "Spur", die der Mediator selbst gesehen hat, d.h. der Eröffnung der Mediationsinteraktion durch dieses Paar, die er als auffällig erinnert, ist er nicht nachgegangen. [26]
Dies verweist auf die in der Darstellung enthaltene Ebene der faktischen Interaktion mit den Klienten. Der entscheidende Punkt ist in dieser Hinsicht, dass der Mediator keinen "Ort" in dieser Beziehung hat. Zwar wird in der Darstellung durchgängig das "wir" eines Arbeitsbündnisses aufrechterhalten, eine eigene Aktivität in der Auseinandersetzung ist jedoch nicht zu erkennen. Der Verlauf der Mediation erscheint vielmehr als eine rein dyadische Angelegenheit. Aus der Verhandlung der Strittigkeiten über die Regelung der Scheidungsfolgen wird ein Ausagieren von Beziehungskonflikten, in das der Mediator nur insofern eingewoben erscheint, als er unterstellbar räumlich anwesend ist. Er nimmt jedoch keine Position in der Beziehung ein, er ist kein Gegenüber der Klienten. So gesehen verfügt Kehrer in einer basalen Hinsicht über keine Interventionschance. Von hier aus ist dann auch nicht verwunderlich, dass die Mediation so lange gedauert hat, denn es steht nicht in seiner – professionellen – Macht, den Mediationsverlauf zu strukturieren und damit auch abzukürzen. [27]
An dieser Stelle muss auf ein mögliches Missverständnis hingewiesen werden: Dass Kehrer als Mediator die Interaktion nicht strukturiert hat, dass sich der Verlauf vor ihm gewissermaßen bloß ereignete, heißt nicht, dass er faktisch nichts getan hat. Natürlich wird er eine Menge getan und gesagt haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er nur stumm dabei gesessen hat. Das Entscheidende ist, dass diese Handlungen jedoch nicht im Rahmen einer professionellen Rolle erfolgten. Er handelte nicht als jemand, dessen professionelle Hilfe gesucht und der für seine Intervention bezahlt wird. In dieser Hinsicht war er im Interview jedoch adressiert. In welcher Weise er dann jenseits einer solchen Rolle agiert hat – ob als hilfsbereiter Mitmensch, als Agent sozialer Kontrolle, oder was auch immer –, darüber kann man vom gewählten Textausschnitt her nichts sagen. [28]
Begründen lässt sich allerdings, dass in dieser Fallschilderung weder ein Zugriff auf den Fall in der beruflichen Praxis noch ein Zugriff auf die berufliche Praxis in ihrer reflexiven Vergegenwärtigung erkennbar ist. Kurz: Die Interpretation der Sequenz zeigt, dass hier gar keine Fallbearbeitung geschildert wird bzw. was sie zum Ausdruck bringt, ist eine prekäre Fallbearbeitung. In Abschnitt 2 wurde davon gesprochen, dass für einen Fallbezug eine triadische Relationierung von "Lebenspraxis", "Text" und "Theorie" kennzeichnend ist. Im vorliegenden Fall stellt sich, obwohl angestrebt, eine solche Relation nicht her. Es scheint, als wären die Verknüpfung der Elemente und damit die Elemente selbst unklar: Welche Äußerungen bzw. Handlungen ergeben im Hinblick auf welche lebenspraktische Konstellation einen Fall von welchem Zusammenhang? Der Grund dafür: Es fehlt ein Diagnose-Interventions-Zusammenhang, der die Interaktion mit den Klienten strukturiert, indem er sowohl stellvertretende Diagnosen der Klientenäußerungen generiert wie diese in Interventionen praktisch werden lässt. Genau das ist es, was eine professionsspezifische Fallperspektive zu leisten vermag. Und genau darauf verweist der Fall ex negativo. Er verdeutlicht auch, dass ihr Fehlen sowohl die professionelle Praxis im engeren Sinn wie ihre reflexive Vergegenwärtigung betrifft. Es handelt sich um zwei Seiten derselben Sache: den professionellen Zugriff auf ein spezifisches lebenspraktisches Problem. Wenn der praktische Zugriff prekär ist, dann ist es auch der reflexive Zugriff, und umgekehrt. [29]
Geht man davon aus, dass die Struktur, die in diesem Fallbeispiel aufscheint, nicht auf den Mediator Kehrer beschränkt ist, also nicht als Resultat einer defizitären Berufsausbildung oder irgendwelcher persönlichkeitsstruktureller Eigenschaften zu verstehen ist, sondern die Familienmediation insgesamt kennzeichnet – eine Annahme, die ich an dieser Stelle nicht begründen kann, sondern als begründet unterstellen muss19) –, dann erhebt sich die Frage, aus welchen Gründen die Familienmediation (bislang) keine genuine Fallperspektive ausgebildet hat. Um diese Frage nach den Ursachen eines prekären Fallbezugs zu bearbeiten, sind weiterführende – sozialwissenschaftliche Fallanalysen erforderlich, die sich neben der konkreten Berufspraxis und ihrer reflexiven Selbstvergewisserung vor allem der Struktur des zu bearbeitenden Ausgangsproblems, der organisatorischen Einbettung des Berufshandelns sowie dem beruflichen Selbstverständnis der Akteure widmen müssen. [30]
Ich danke Jörg M. KASTL und Andreas WERNET für wertvolle Anmerkungen zu diesem Beitrag.
1) Es gibt in der Soziologie eine ganze Reihe zum Teil sehr unterschiedlicher Professionskonzepte (vgl. dazu MAIWALD 1997, 2004; MIEG & PFADENHAUER 2003). Die nachfolgenden Überlegungen verorten sich im Zusammenhang der von Ulrich OEVERMANN (1996) begründeten Professionalisierungstheorie als einer Variante von Konzeptionen, die gegenüber der professionellen Organisationsform Aspekte professionellen Handelns in den Vordergrund rücken. Andere Varianten dieser insbesondere im deutschsprachigen Raum prominenten Perspektive auf die Professionen werden etwa in den Arbeiten von Rudolf STICHWEH (1992, 1994) und Fritz SCHÜTZE (1992, 1996, 2000) vertreten. An diesem Publikationsort erübrigt es sich, die einzelnen Ansätze detailliert darzustellen und voreinander abzugrenzen. Einige zentrale Elemente der Professionalisierungstheorie OEVERMANNs werden im Verlauf der Abhandlung eingeführt. <zurück>
2) OEVERMANN hat eine Strukturhomologie von Objektiver Hermeneutik und professionellem Handeln herauszuarbeiten versucht (OEVERMANN 2000, S.151ff.). <zurück>
3) Es soll hier nicht jede Verwendungsweise von "Fall" (etwa: "der freie Fall", "der Fall der Mauer", "etwas ist der Fall", "auf jeden Fall") eruiert werden, sondern nur die, die auf einen beruflichen Fallbezug verweisen. Auch soll der Frage der Etymologie der interessierenden Verwendungsweisen nicht weiter nachgegangen werden. <zurück>
4) Die Ausnahme sind veterinärmedizinische Kontexte ("Es wurde ein weiterer Fall von Schweinepest festgestellt"), die aber offenkundig von humanmedizinischen abgeleitet sind. <zurück>
5) Dazu im Kontext der Sozialwissenschaften, bei denen der hypothetische Schluss auf einen allgemeinen Zusammenhang im Vordergrund steht: "When researchers speak of a 'case' rather than a circumstance, instance, or event, they invest the study of a particular social setting with some sense of generality. An 'instance' is just that and goes no further. A 'case' implies a family; it alleges that the particular is a case of something else. Implicit in the idea of the case is a claim." (WALTON 1992, S.121) <zurück>
6) Die Elemente sind hier in der Theoriesprache der Objektiven Hermeneutik formuliert. Wie die bisherigen Überlegungen vielleicht deutlich gemacht haben, ist dies auf der elementaren Ebene, auf der sie sich hier bewegen, nicht weiter erheblich. Die Relation lässt sich auch in anderen Theoriesprachen bzw. weitgehend vortheoretisch formulieren. <zurück>
7) Die Person wird generell dort stärker zum fallbestimmenden Element, wo der Zusammenhang, für den ihre Lebensäußerungen stehen soll, noch unbestimmt ist, und wo der Blick nicht von vornherein auf allgemeine Regeln gerichtet ist. <zurück>
8) Es erscheint von hier aus als lohnend, eine Methodologie insbesondere der qualitativen Sozialforschung ausgehend von einer Analyse des Fallbegriffs zu entwerfen. Gleichwohl nimmt der Fallbegriff einen ausgesprochen geringen Stellenwert im methodologischen Diskurs ein. In der Regel werden spezifische methodische Fragen der Fallkonstruktion oder -rekonstruktion auf der Basis eines impliziten Fallverständnisses erörtert. Der Band von RAGIN und BECKER (1992) stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar (vgl. auch FLICK 2000, S.180; WERNET 2006, S.180ff.). <zurück>
9) Dabei ist der Klient allerdings – denn es bleibt ja weiterhin sein Problem – in umfassender Weise mit eingebunden, er ist mitverantwortlich für Erfolg oder Misserfolg. Kurz: die Interaktion zwischen Professionellem und Klienten hat die Form eines Arbeitsbündnisses. <zurück>
10) Es ergibt sich aus der Darstellung (und in der Sache) eine Reihe weiterer offener Fragen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, etwa: Inwieweit und in welchen Kontexten sind "Subsumtion" und "wissenschaftliches Erklären" tatsächlich synonym verwendbar? Geht die Wissensbasis ärztlichen Handelns tatsächlich im naturwissenschaftlichen Erklärungsmodell auf oder gibt es nicht auch immer "kasuistische" Anteile, die auf sinnstrukturelle Aspekte somatischer Prozesse abheben? Hier nur so viel: Meines Erachtens hat die Brüchigkeit der Konzeption an dieser Stelle vor allem mit einer Spannung zwischen der Berücksichtigung naturwissenschaftlicher und sinnstrukturierter Zusammenhänge zu tun, die für den Fallbezug gerade des therapeutischen Handelns kennzeichnend ist und sich in dieser Form etwa für das rechtspflegerische Handeln nicht stellt. Zudem wird man davon ausgehen können, dass sich diese Spannung wie auch der Fallbezug selbst auf verschiedenen Ebenen anders darstellt: 1. der Ebene medizinischer Forschung, 2. der Ebene der organisatorischen Arbeitsteilung von "Disziplin" und "Profession" im Sinne STICHWEHs (1994, S.310ff.), 3. der Ebene der Interaktion zwischen Arzt und Patienten. Auf jeden Fall muss man diese Ebenen in der Analyse unterscheiden. <zurück>
11) Nicht im Sinne einer Kritik an den Gehalten der Erklärungsmodelle – obwohl es auch das geben kann, ja in gewisser Hinsicht auch muss (Innovation aus der interventionspraktischen Bearbeitung heraus) –, sondern im Sinne eines Offenhaltens ihrer Anwendbarkeit auf den Fall. <zurück>
12) Eine detailliertere methodologische und professionalisierungstheoretische Begründung der Verwendung von Interviews zur Rekonstruktion beruflicher Praxis findet sich in MAIWALD (2003b). <zurück>
13) Vgl. zur Entwicklungsgeschichte der Mediation in Deutschland PROKSCH (1998). <zurück>
14) Einen Überblick über die verschiedenen Bereiche der Mediation geben z.B. BREIDENBACH (1995) und BREIDENBACH und HENSSLER (1997). <zurück>
15) Vgl. MAIWALD (2003a, 2004). <zurück>
16) Eine detailliertere sequenzanalytische Interpretation findet sich in MAIWALD (2003b). <zurück>
17) Dass er die Frage – und die Reaktion der Klienten darauf! – schlicht vergessen haben sollte, ist angesichts der zentralen Bedeutung dieses Ereignisses für einen Klärungsprozess und damit für die Mediation insgesamt unwahrscheinlich. Auch wäre dann der Verlauf der Mediation ein anderer. <zurück>
18) Das zeigen andere Verwendungsbeispiele: So könnte es in dem Bericht einer Forschungsgruppe heißen: "Wir haben unsere Forschungshypothese mit verschiedenen Methoden des Typs x untersucht, aber mit geringem Erfolg; darüber kamen wir dann an einen Punkt, dass wir versuchten, eine adäquatere Methode zu entwickeln". Oder ein Ehepaar könnte erzählen: "Wir fingen an, uns nur noch wechselseitig Vorwürfe über die Erziehung unseres Kindes zu machen; darüber kamen wir dann an einen Punkt, dass wir gar nicht mehr miteinander sprechen konnten." <zurück>
19) Vgl. dazu meine Überlegungen in MAIWALD (2004). <zurück>
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Kai-Olaf MAIWALD ist Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main, und Privatdozent an der Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Paar- und Familiensoziologie, Professionssoziologie, hermeneutische Sozialforschung, Biographieforschung, Geschlechtersoziologie, Rechtssoziologie.
Kontakt:
PD Dr. Kai-Olaf Maiwald
Institut für Sozialforschung
Frankfurt a. M.
Senckenberganlage 26
D-60325 Frankfurt a. M.
Tel.: 0049 (0)69 75618333
Fax: 0049 (0)69 749907
E-Mail: K.Maiwald@em.uni-frankfurt.de
URL: http://www.ifs.uni-frankfurt.de/
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