Volume 9, No. 1, Art. 56 – Januar 2008
Verstehende Soziale Arbeit. Zum Nutzen qualitativer Methoden für professionelle Praxis, Reflexion und Forschung1)
Bettina Völter
Zusammenfassung: Qualitative Methoden könnten eine wichtige Rolle spielen im Rahmen einer lebendigen, an den Subjekten und ihren Lebenswelten orientierten, emanzipatorischen sowie selbstreflexiven Sozialen Arbeit. Sie finden bereits in drei Bereichen der Sozialen Arbeit Anwendung: in der Sozialarbeitsforschung, im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit und bei der professionellen Selbstreflexion. Diese drei Bereiche überschneiden sich zwar, sind aber jeweils unterschiedliche Wissens- und Handlungssphären mit je eigenen Zielen. Entsprechend müssen qualitative Methoden den Erfordernissen der Wissenschaft, der sozialarbeiterischen Praxis und der Praxisreflexion angepasst werden. Werden qualitative Methoden in diesem Sinne erlernt und eingesetzt, entsteht sowohl im Studium als auch später in der beruflichen Praxis eine "ethnografische Kompetenz und Bildung", die wesentliche Elemente sozialarbeiterischer Professionalität beinhaltet. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Kenntnis und die Anwendung qualitativer Methoden von zentraler Bedeutung sind für den Erwerb von Grundkompetenzen professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit. So ist das, was auch mit dem Stichwort "Rekonstruktive Sozialpädagogik" bezeichnet wird, eher ein Konzept als nur eine unter anderen Methoden Sozialer Arbeit. Die Reformen im Zuge des "Bologna-Prozesses" erschweren jedoch an vielen Hochschulen die Implementierung dieses Ansatzes.
Keywords: qualitative Methoden, Theorie und Methoden Sozialer Arbeit, ethnografische Kompetenz, Bildung, Diagnose, Reflexion professioneller Praxis, rekonstruktive Sozialarbeitsforschung, Feldprotokolle, Gruppendiskussionen, biografisch-narrative Gesprächsführung
Inhaltsverzeichnis
1. Das Konzept der "Rekonstruktiven resp. Verstehenden Sozialen Arbeit"
1.1 Anwendungsbereiche qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit
1.2 Ethnografische Kompetenz und Bildung als Basis Sozialer Arbeit
2. Qualitative Methoden als wissenschaftliche Forschungsmethoden
3. Qualitative Methoden als Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit
3.1 Narrativ-biografische Gesprächsführung
3.2 Biografische Fallrekonstruktionen als Globalanalysen
3.3 Gruppenerzählungen und Gruppendiskussionen
4. Qualitative Methoden als Methoden der professionellen Selbstreflexion
4.1 Praxisprotokolle zur selbstreflexiven Begleitung von pädagogischen Prozessen
4.2 Praxisprotokolle zur Rekonstruktion von Eigentheorien
5. Resümee
1. Das Konzept der "Rekonstruktiven resp. Verstehenden Sozialen Arbeit"
1.1 Anwendungsbereiche qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit
Es gibt – insbesondere angestoßen durch die Arbeiten von Fritz SCHÜTZE und Gerhard RIEMANN (siehe beispielsweise SCHÜTZE 1993, 1994) – seit geraumer Zeit ein großes Interesse an und auch Erfahrung mit der Verbindung von Sozialer Arbeit und qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung (vgl. beispielsweise auch die von JAKOB & WENSIERSKI 1997 oder HANSES 2004 herausgegebenen Bände sowie die im Barbara Budrich Verlag herausgegebene Reihe "Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit"). Der folgende Beitrag versucht nicht mehr und nicht weniger, als in einem Überblick die Art und Weisen, in denen Grundhaltungen und Verfahren qualitativer Sozialforschung für die Soziale Arbeit bedeutsam geworden sind zu benennen, zu sortieren, sie konzeptionell weiter zu begründen und sie über zwei Grafiken sowie einige Beispiele anschaulich zu machen. In der Überschrift des Artikels wird vorgeschlagen, diese Denk- und Arbeitsrichtung auch "Verstehende Soziale Arbeit" (möglicherweise auch: "Rekonstruktive Soziale Arbeit" oder "Interpretative Soziale Arbeit") zu nennen. Diese Begriffe würden zum einen auf die theoretische und methodologische Fundierung dieser Herangehensweise in der "verstehenden" resp. "interpretativen Soziologie" hinweisen und auch auf die lange Tradition der nachvollziehenden Fallanalyse innerhalb der Sozialen Arbeit (vgl. SCHÜTZE 1993). Sie könnten zum zweiten zeigen, dass es dabei um mehr gehen kann als um eine spezifische Forschungsrichtung innerhalb der Sozialarbeitsforschung. Vielmehr könnte eine "Rekonstruktive resp. Verstehende Soziale Arbeit" den Status eines "Konzepts" im Rahmen Sozialer Arbeit beanspruchen.2) Der Begriff "Verstehende Soziale Arbeit" hätte schließlich den Vorteil, dass er leichter vermittelbar ist als der aktuell überwiegend verwendete Begriff der "Rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung" oder derjenige der "Rekonstruktiven Sozialpädagogik". "Verstehen" meint hier allerdings nicht die Akzeptanz jedweder Handlung Anderer, sondern meint ein forschendes Nachvollziehen der inneren Logik von Handlungen, Deutungen, Interaktions- und Lebenskontexten. Diese Verstehenspraxis sollte verbunden sein mit einer Praxis der grundlegenden Akzeptanz von Differenz (im Sinne von KLEVE 2003), des Dialogs mit und der Mitsprache von AdressatInnen sowie KollegInnen Sozialer Arbeit, um die Vereinnahmung fremder Lebenswelten und andere Machtwirkungen des "Verstehens" zu vermeiden (vgl. auch Abschnitt 3.2). [1]
Um zu zeigen, dass es sich bei der "Rekonstruktiven resp. Verstehenden Sozialen Arbeit" um mehr als um Methoden der Wissenschaft und Forschung oder auch um mehr als um eine Methode der Sozialen Arbeit (vgl. GALUSKE 2003) handelt, greife ich zunächst die von Fritz SCHÜTZE lancierte Idee der "ethnografischen Sichtweise" (SCHÜTZE 1994) auf und unterstreiche ihren Sinn und ihren Wert für die Soziale Arbeit. Insbesondere für eine Soziale Arbeit, die den Anspruch hat, nicht schnell zu erklären und zu definieren, sondern sich Raum zu nehmen, um besser zu verstehen, was der Fall ist3); die in ihre Arbeit sowohl gesellschaftliche Kontexte als auch die Biografien ihrer AdressatInnen konkret einbezieht. Eine Soziale Arbeit, die sich als Profession versteht, welche diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Selbstdarstellungen produktiv nutzt, um Menschen "ganzheitlich" wahrzunehmen und ihnen darüber hinaus ein Selbstverstehen und ein selbstverantwortliches Handeln zu erleichtern; und die schließlich nicht nur Expertin in Fremdreflexion sein will, sondern auch systematisch und methodisch kontrolliert die Selbstreflexion der eigenen professionellen Praxis betreibt. Es macht deshalb Sinn, den Begriff der "ethnografischen Sichtweise" allgemeiner als "ethnografische Kompetenz und Bildung" zu fassen und dabei zu verdeutlichen, dass die Erlangung von "ethnografischer Kompetenz und Bildung" eine ganz grundlegende Aufgabe des Studiums und der Weiterbildung von Menschen sein könnte, die in Feldern der Sozialen Arbeit tätig sind. [2]
Qualitative Methoden finden bereits in drei Bereichen der Sozialen Arbeit Anwendung: in der Forschung, in der Praxis der Sozialen Arbeit sowie bei der professionellen Selbstreflexion. Dies ist deshalb so wichtig, deutlich voneinander zu unterscheiden, da unter "qualitativen Erkenntnisverfahren" in der Regel ausschließlich Forschungsmethoden wie qualitative Interviews, Biografie- oder Narrationsanalyse oder teilnehmende Beobachtung verstanden werden. Das sind wissenschaftliche Forschungsmethoden, die Kollegen und Kolleginnen in der angewandten Sozialen Arbeit i.d.R. nicht direkt als Handlungsmethoden einsetzen können, weil der entsprechende zeitliche und organisatorische Rahmen sowie auch der Auftrag ein anderer ist als bei einer wissenschaftlichen Forschung. [3]
Die wissenschaftliche Forschung ist aber nicht der einzige Bereich, für den qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit relevant sind. Sie finden noch eine zweite Anwendung: Sie dienen, wie erwähnt, auch der sozialarbeiterischen Praxis. Qualitative Verfahren sind z.T. auch als Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit geeignet, – natürlich in kreativ abgewandelter und dem Rahmen angemessener Form. Sie werden dann nicht zur Forschung über die (zu Zwecken des Datenschutzes) anonymisierten AkteurInnen der Sozialen Arbeit und über deren soziale Welten angewandt, wie bei der wissenschaftlichen Forschung. Vielmehr sind sie Instrumente der Forschung mit den AdressatInnen Sozialer Arbeit. Sie werden z.B. dazu angewandt, mehr über deren Biografien, Familiengeschichten und deren Lebenswelten zu erfahren. Hier ist bewusst von "Forschung" die Rede, und zwar in einem weiten Sinne: nämlich "Forschung" verstanden als aktive Suche nach grundlegendem Verstehen von bisher Unverstandenem. Ein solches (gemeinsames) Forschen im Praxisalltag von SozialpädagogInnen und AdressatInnen Sozialer Arbeit ergibt sich aus den jeweiligen Aufgaben, die die Lebenspraxis und die Problemlagen der Betroffenen nahe legen, aber auch aus der Zusammenarbeit zwischen Professionellen und AdressatInnen. [4]
Qualitative Methoden können drittens auch für die professionelle Selbstreflexion und Projektentwicklung eingesetzt werden, d.h. es geht hier um qualitative Erkenntnisverfahren als Methoden der Selbstbeforschung. Hier forschen Fachkräfte der Sozialen Arbeit über die eigene professionelle Praxis. Auch dieses Forschen kann so angelegt sein, dass es in den Arbeitsalltag sinnvoll eingepasst und dort produktiv gemacht werden kann. In einem Schaubild lassen sich die drei Anwendungsbereiche qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit und ihr Zusammenhang so verdeutlichen:
Abbildung 1: Anwendungsbereiche qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit [5]
Dabei ist wichtig zu beachten, dass sich die drei in Kreisen symbolisierten Anwendungsbereiche teilweise überschneiden, also nicht als unabhängig voneinander existierende Bereiche ohne Berührungspunkte zu verstehen sind. So ist beispielsweise die Praxisforschung ein Bereich, in dem teilweise in Personalunion von ForscherIn und PraktikerIn sozialarbeiterisch gehandelt sowie parallel dazu darüber wissenschaftlich geforscht wird, wie etwa in dem gegen Ende des Artikels von mir kurz vorgestellten Gemeindeprojekt. [6]
1.2 Ethnografische Kompetenz und Bildung als Basis Sozialer Arbeit
In der Mitte des Schaubilds stehen "ethnografische Kompetenz und Bildung". Damit sind der Kompetenzerwerb und die Bildung von SozialpädagogInnen im Studium gemeint sowie auch die lebenslange Bildung im Beruf, sei es als SozialarbeitsforscherInnen oder als KollegInnen in der beruflichen Praxis der Sozialen Arbeit. Der Begriff "ethnografische Kompetenz" mag in diesem Zusammenhang zunächst etwas verwirren, denn unter Ethnografie werden gemeinhin Beobachtungsverfahren und ihr Paradigma und gerade nicht Biografieanalysen verstanden, die jedoch im Rahmen des Konzepts "Rekonstruktiver resp. Verstehender Sozialer Arbeit" in der Tradition der Fallanalyse zentral sind. So definieren Stefan HIRSCHAUER und Klaus AMANN (1997) die Ethnografie als ein Programm, das ein beobachtendes und explizierendes, mithin befremdendes Verhältnis zur eigenen Kultur, zu gelebter und praktizierter Sozialität beinhaltet; sie grenzen sich explizit von der Biografieforschung ab, die sich auf "Personen" und deren "gelebte Sozialität" konzentriere (HIRSCHAUER & AMANN 1997, S.11). Da auch die "Verstehende Soziale Arbeit" den Anspruch hat, selbstverständlich gewordene, gelebte und praktizierte Sozialität zu be-fremden und zu explizieren, ob sie nun beobachtend oder textanalytisch auf der Basis von biografischen Selbstdarstellungen arbeitet, wird der Begriff "ethnografisch" hier so verwendet werden, wie ihn Fritz SCHÜTZE (1994) in die Sozialarbeitsforschung unter dem Stichwort "ethnografische Sichtweise" eingeführt hat. SCHÜTZE meint damit eine metatheoretische und metamethodologische Grundhaltung, die auf der Annahme basiert, dass es – bei genauem Hinsehen – selbst aufseiten der professionellen SozialarbeiterInnen eine prinzipielle Fremdheit gegenüber den Phänomenen der Sozialen Arbeit gibt:
"Die Problembestände der Sozialen Arbeit sind der Gesellschaft und den Fachkräften in der Sozialen Arbeit prinzipiell fremd, und auch die Betroffenen selbst durchschauen ihre Problemlagen kaum oder gar nicht. Deshalb ist in der Sozialen Arbeit und in den Erkundungs- und Forschungsprozessen des Sozialwesens eine methodische Fremdheitshaltung angebracht, die gleichwohl auf Verstehen abzielt" (SCHÜTZE 1994, S.189). [7]
SCHÜTZE weist darauf hin, dass in der Sozialen Arbeit laufend Personen, Problemlagen oder Themen auftauchen, die den Fachkräften zwar auf der Basis von Erfahrung, Routine und Fachwissen vertraut erscheinen mögen, die dies aufgrund ihrer Spezifizität, Komplexität und Veränderbarkeit im Rahmen persönlicher, milieuspezifischer, gesellschaftlicher Entwicklungen aber faktisch nicht sein können. Er plädiert dafür, immer wieder aufs Neue genau verstehen zu wollen, womit Soziale Arbeit es überhaupt und jeweils konkret zu tun hat. Mit "ethnografischer Sichtweise" meint Fritz SCHÜTZE die Einsozialisation in eine Haltung der Akzeptanz dieser grundlegenden Fremdheit. Des Weiteren sehen er und auch Gerhard RIEMANN die Notwendigkeit, scheinbar Selbstverständliches sich immer wieder bewusst fremd zu machen, so wie HIRSCHAUER und AMANN dies für die Ethnografie reklamieren, es also methodisch-künstlich zu "be-fremden", um Neues, Unerwartetes darin entdecken zu können. SCHÜTZE spricht in diesem Zusammenhang auch von "methodischer Fremdheitshaltung". Und schließlich wirbt er für das Einüben methodisch kontrollierten Verstehens auf dieser Basis. Sowohl die ethnografische Sichtweise, also die Perspektive, als auch die entsprechende Haltung und das Methodenwissen bezeichne ich hier als "ethnografische Kompetenz". [8]
Diese Kompetenz kann nun, so SCHÜTZE (1994, S.190), durch alle Verfahren der interpretativ-qualitativen Sozialforschung realisiert werden. Hier lässt sich sicher noch einmal unterscheiden: zwischen den Methoden und Verfahren, die eher die Kompetenz erfordern, soziales Handeln genau zu beobachten, sensuell wahrzunehmen und in Beobachtungsprotokollen dann gut festzuhalten, einerseits, und denjenigen Methoden und Verfahren, die eher eine hermeneutische, d.h. eine textanalytische Kompetenz erfordern, andererseits (vgl. auch SCHRÖDTER 2005). [9]
Nun zum Stichwort "Bildung" im Begriff der "ethnografischen Bildung". Zunächst zur Begriffswahl: "Bildung" als eine Form und Haltung spezifischer, fallbezogener, jedoch auch themenübergreifender und themenunspezifischer Wissensaneignung steht hier bewusst in Abgrenzung zu "Ausbildung" als einer mehr auf einen Zweck gerichteten und funktionaler ausgerichteten Art des Lernens. Meine These ist, dass in einem Beruf, der Menschen mit Hilfebedarf bzw. in Krisensituationen als PartnerInnen hat, eine Bildung und Bildungshaltung nicht nur angebracht, sondern notwendig und zu Zwecken weiterer Professionalisierung geboten ist, soll Hilfe umsichtig und nachhaltig gestaltet werden. [10]
Um dies weiter zu erörtern, greife ich die Bildungsidee des Philosophen Peter BIERI (2006) auf. Nach BIERI schließt Bildung die sieben folgenden Kompetenzen ein, die m.E. gerade für die Soziale Arbeit hochgradig relevant sind. Die ethnografische Herangehensweise und die entsprechenden qualitativ-rekonstruktiven Methoden sind eine der Möglichkeiten, Bildung in diesem Sinne zu fördern und umgekehrt bedarf ethnografische Kompetenz einer grundlegenden Bildung. So gibt es mindestens zwei Gründe, warum der Ansatz der "Verstehenden Sozialen Arbeit" eher ein Konzept Sozialer Arbeit (vergleichbar etwa der Systemischen Sozialen Arbeit) ist als eine unter anderen Methoden der Sozialen Arbeit, als welche er in der entsprechenden Einführungsliteratur erscheint (vgl. etwa bei Michael GALUSKE [2003] unter dem Stichwort "Rekonstruktive Sozialpädagogik"). "Rekonstruktive resp. Verstehende Soziale Arbeit" ist sowohl deshalb ein Konzept, weil sie einen breiten theoretischen Hintergrund aufweist und gleichzeitig eine Reihe von Methoden sowie Verfahren einschließt, also Theorie- und Handlungsorientierung anbietet. Und sie ist darüber hinaus auch deshalb mehr als eine Methode, weil sie zu einer Bildung beitragen kann, die der Professionalisierung der Sozialen Arbeit grundsätzlich dienlich ist.
Zur Bildung gehört nach Peter BIERI Neugier und Weltorientierung: d.h. sich dafür zu interessieren, "was der Fall ist" (BIERI 2006, S.3) und was es in der Welt alles gibt, sowie der Wunsch genauer zu verstehen, "warum es der Fall ist" (BIERI 2006, S.3). Hierfür sind die "methodische Fremdheitshaltung" (SCHÜTZE 1994, S.189) sowie die qualitativen Methoden ein sehr geeignetes Mittel, denn sie zielen auf das tiefer gehende Verstehen komplexer Zusammenhänge ab. Sich zu bilden kann jedoch nicht heißen, "außer Atem hinter allem herzulaufen" (BIERI 2006, S.3). Es gilt vielmehr, sich eine "grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren" zurechtzulegen und zu lernen, wie man am besten über was lernt: d.h. z.B. auch, einen Sinn für Verhältnisse/Proportionen und für Genauigkeit oder Grade des Wissens in unterschiedlichen Feldern des Wissens auszubilden. Letzteres heißt zum Beispiel im Bereich der Sozialen Arbeit zu wissen, dass es Gesetze, aber auch unterschiedliche Formen der Rechtsauslegung gibt oder zu wissen, dass es unterschiedliche Sozialisationstheorien gibt, die jeweils einen anderen Blick auf den Menschen und seine Entwicklung ermöglichen. Wenn Theorien über menschliches Handeln oder menschliches Aufwachsen im Rahmen von Biografieanalysen oder rekonstruktivem Fallverstehen in der sozialarbeiterischen Praxis als Heuristik herangezogen werden, dann stellt sich am empirischen Material bzw. an den Fallgeschichten von KlientInnen schnell heraus, welche theoretischen Modelle als Erklärung für die empirisch vorfindbaren Phänomene in einem Handlungsfeld dienen können, welche differenziert oder genauer formuliert werden müssen und welche gar nicht greifen (vgl. auch Abschnitt 2).
Zur Bildung gehören auch: Aufklärung über Wissensbildung: d.h. "Wissen zweiter Ordnung" und "gedankliche Unbestechlichkeit". Eine Kompetenz besteht, nach BIERI, darin zu fragen: Was wissen und verstehen wir wirklich von den Dingen, die ich und andere vordergründig glauben zu verstehen? Und reichen die Belege aus, die ich oder die anderen für meine/ihre Überzeugungen vorweisen können? Wenn in der mit quantitativen Methoden erarbeiteten Shell-Jugendstudie (Deutsche Shell Holding 2006) zu lesen ist, dass Medien bei Kindern und Familien aus der "Unterschicht" zur sozialen Benachteiligung beitragen, weil sie sich dem Medienkonsum ohne Bildungseffekt unterwerfen und sich gleichzeitig von Schule und Berufsausbildung abwenden, so könnten SozialpädagogInnen und -arbeiterInnen, die in ihrem Praxisalltag mit auffälligem Medienhandeln zu tun haben, z.B. fragen: Was führt dazu, dass Kinder Medien ohne Bildungseffekt konsumieren und sich gleichzeitig von Schule und Berufsausbildung abwenden? Ist der entscheidende Parameter wirklich die Schichtzugehörigkeit oder könnten auch andere Parameter, wie Beziehungen in der Familie, Arbeitszeiten der Eltern, Konflikte, Suchtpotenziale in der Familie, Unzufriedenheit oder Druck in der Schule usf. wesentliche(re) Hintergründe für einen hohen Medienkonsum ohne Bildungseffekt sein? Die Einsozialisation in die Praxis qualitativer Forschung und die Förderung der ethnografischen Sichtweise in der Praxis schult die Kompetenz, solche Fragen zu stellen. BIERI schreibt weiter, Wissen könne auch verhindern, dass man Opfer ist: "Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen …" (BIERI 2006, S.4). Die Vermittlung von Wissen an AdressatInnen Sozialer Arbeit, um ihnen z.B. unbewusste Einflüsse der Werbung oder politischer Interessengruppen bewusst zu machen, gehört zum beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit. Unterstützend dabei wirkt meist eine empirisch fundierte Kenntnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen und Wechselwirkungen. Diese kann durch eine grundsätzlich forschende (und ethnografische) Haltung zur Gesellschaft erlangt werden und (unter anderem!) auch über die Kenntnis qualitativ-empirischer Studien. KollegInnen aus der angewandten Sozialen Arbeit sollten Gelegenheit haben, an Ergebnisse aus der neueren empirischen Forschung zu gelangen; und es sollte optimalerweise einen Freiraum geben, diese (im Team) auf ihren Erkenntnisgewinn für die Praxis hin reflektieren zu können.
Gebildet ist nach BIERI des Weiteren, wer ein historisches Bewusstsein über die Kontingenzen eigener Erfahrung hat: d.h. ein Bewusstsein über die historische Gewordenheit und Zufälligkeit unserer Kultur und die Fähigkeit, auch die eigene Lebensform, die eigenen kulturellen Selbstbilder aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten. "Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben" (BIERI 2006, S.10). Dazu gehört auch, sich die Geschichte der eigenen Sprache, ihrer Wörter, der selbst verwendeten Kategorien zu vergegenwärtigen. Übersetzt für die Soziale Arbeit bedeutet dies z.B.: interkulturelle Kompetenz oder – ein anderes Feld – eine selbstreflexive Haltung gegenüber Diagnosen. Beides kann über die Auseinandersetzung mit qualitativ erhobenem Fallmaterial geschult werden. Aber auch methodisch bewusst eingesetzte ethnografische Beobachtungen oder narrativ geführte Gespräche im Alltag der Sozialen Arbeit sensibilisieren für Kontingenzen der eigenen Erfahrung, der eigenen Wahrnehmung und des eigenen professionellen Wissens. So kann beispielsweise die Analyse eines Interviews mit einer Migrantin zeigen, dass es Grenzen des Verstehens und der Interpretation mittels der in Deutschland dominanten Erklärungen gibt und neue Wege des Verstehens gefunden werden müssen. Es setzt durch die Interpretationsarbeit sehr oft eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen, selbstverständlich und lieb gewordenen Deutungsmustern ein, die für die Praxis der Sozialen Arbeit hilfreich ist, weil sie dazu führt, dass in Zukunft genauer hingehört wird und die Subjekte als ExpertInnen ihrer Kultur und ihrer Lebensgeschichte wahrgenommen werden. Mit qualitativen Methoden arbeitet man, streng genommen, nicht subsumptionslogisch, d.h. Vorannahmen von einer Theorie ableitend und an Fällen überprüfend, sondern rekonstruktiv, d.h., die innere Logik und Struktur eines Einzelfalles verstehend. Der qualitativ-rekonstruktive Ansatz geht hypothesenbildend und dialogisch vor, ohne vorschnell einzelne Kategorien zur Erklärung des ganzen Falles heranzuziehen. D.h., dass Symptome und ihre Erklärungen, die bei AdressatInnen der Sozialen Arbeit diagnostiziert werden, durch eine qualitativ-rekonstruktive Herangehensweise i.d.R. außer Kraft gesetzt oder durch andere Lesarten ergänzt resp. differenziert werden. Professionelle Selbstreflexion mit qualitativen Methoden, lebensgeschichtliche Interviews oder narrativ geführte Gespräche mit Betroffenen könnten auch Geschichten der Entstehung von Diagnosen erheben und damit deren Wirksamkeit, Nachhaltigkeit und Relativität aufzeigen.
Zur Bildung gehört des Weiteren moralische Sensibilität: d.h. Respekt vor anderen Arten zu leben, ohne die eigene moralische Vision aufzugeben, Einfühlungsvermögen und soziale Fantasie: "Der Bildungsprozess besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebensformen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet; dass auch unsere moralische Identität kontingent ist, ein historischer Zufall ..." (BIERI 2006, S.8). Eine Bildung in diesem Punkt führt zu einer größeren Bereitschaft, sich empathisch, respektvoll und vertrauensbildend auf Lebenswelten einzulassen, die einen "von Hause aus" vielleicht sogar leiblich, moralisch oder ästhetisch abstoßen. Die Einsozialisation in eine konsequent ethnografische Haltung, die das Verstehen-Wollen des uns Fremden einschließt, könnte dies unterstützen. Wobei Verstehen hier nicht im Sinne des Vereinnahmens und Kolonialisierens anderer Lebensgeschichten und Lebenswelten gemeint ist, sondern immer verbunden sein muss mit einer Akzeptanz von Differenz (KLEVE 2003). Verstehen i.S. des Nachvollziehens und der Differenzakzeptanz beinhaltet beispielsweise durchaus die Akzeptanz der grundlegenden existenziellen Differenz sowie der Rollen-Differenz zwischen SozialarbeiterIn und AdressatIn Sozialer Arbeit und der jeweils damit verbundenen Aufträge und Aufgaben.
Bildung bedeutet auch, die eigene Erlebnisfähigkeit und sprachliche Artikuliertheit weiter auszuformen: d.h., es gilt im Bildungsprozess zu lernen, sich nuanciert auszudrücken und differenziert zu empfinden. Im Berufsalltag wird SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen oft die Fähigkeit zum Schreiben über Menschen (Berichte, Hilfepläne etc.) abverlangt. Sich hier differenziert ausdrücken zu können, gehört zu den Grundkompetenzen sozialarbeiterischen Handelns. Lernen angehende SozialarbeiterInnen Fallgeschichten sequenziell zu rekonstruieren sowie die Ergebnisse differenziert und wertschätzend darzustellen, trainieren sie ihren Schreibstil. Darstellungsmethoden wie die der sequenziellen Darstellung oder die bewusste Trennung von nacherzählendem Text und einem wertenden, urteilenden Text ermöglichen Lesenden, die Fallgeschichte sowie die Gefühle, Deutungen und Einschätzungen der SozialarbeiterInnen nachzuvollziehen, ohne dass beides als notwendige Einheit erscheint. Diese Darstellungskompetenz ist auch in der beruflichen Praxis hilfreich.
Zur Bildung gehören nach BIERI schließlich Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung: Selbsterkenntnis heißt, das eigene Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen sowie die eigenen Selbstbilder reflektieren und sich ggf. davon befreien zu können. Professionelle Selbstreflexion mit ethnografischen Methoden der Selbstbeforschung, wie der Methode des Schreibens und der Rekonstruktion von Praxisprotokollen oder der Interaktionsanalyse, sind im Studium der Sozialen Arbeit und über das gesamte Berufsleben hinweg hilfreich, um sich immer weiter zu professionalisieren.
Mit Bildung als Selbstbestimmung meint BIERI dagegen, dass man lernen kann, Gedanken, Wünsche und Gefühle nicht als unabwendbares Schicksal zu sehen, sondern als etwas, das in einem stetigen Prozess der biografischen Arbeit bearbeitet und verändert werden kann. Das heißt, Gebildete wären Menschen, die auch in ihrem Erleben und Wollen selbst bestimmt sind, unterscheiden können zwischen einer Beeinflussung, die sie von sich selbst entfremdet und einer anderen, die sie freier macht. Je bewusster SozialarbeiterInnen eine Kenntnis davon haben und dies für sich selbst praktizieren, desto größere Chancen haben sie wiederum, den AdressatInnen ihrer Arbeit eine selbstbestimmte Lebensweise zu vermitteln. Erfahrungen mit der Praxis von Biografieanalysen, die grundsätzlich das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum zum Thema haben, schärfen die Sensibilität für die Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. [11]
Ein Bildungsanspruch im hier ausgeführten Sinne ist m.E. grundlegend für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Schließlich geht es in diesen Arbeits- und Beziehungsverhältnissen darum, Lebensgeschichten und Problemkonstellationen sensibel nachzuvollziehen. Im Zeitalter der Globalisierung sind hier selbstverständlich auch "queere" Lebensweisen eingeschlossen, d.h. solche, die anders als gewöhnlich vorfindbare Lebensweisen sind, sowie auch transkulturell geprägte Biografien. Die Aufgabe von SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen ist i.d.R., unterstützend, orientierend sowie durchaus Differenzen oder Grenzen markierend und intervenierend zu handeln. Dabei sollten sie aber immer wieder bereit sein, sich selbst und professionelle Deutungen zu relativieren oder Stigmata und Festlegungen von AdressatInnen Sozialer Arbeit aufzuheben. Es geht in diesem Arbeitsfeld darum, umsichtig und kreativ nach Lösungen zu suchen und gerade dabei die Autonomie und die Eigeninitiative der Betroffenen zu fördern. Dazu ist ein Weitblick und ein profundes Interesse an den sozialen Kontexten (wie politischen und rechtlichen Veränderungen oder Diskursen) und ihren Wirkungen auf Lebensverläufe und Familiendynamiken hilfreich; ebenso die (selbst-)kritische Beschäftigung mit den Wirkungen von institutionalisierten Hilfekontexten. Bildung im oben aufgeführten Sinne sollte deshalb in den Studiengängen und in den Arbeitskontexten der Sozialen Arbeit stetig ermöglicht werden, gerade auch, wenn später unter Effizienzkriterien gearbeitet wird. [12]
Ethnografisch gebildetes Vorgehen in der Praxis der Sozialen Arbeit kann etwa diagnosekritisches Vorgehen sein. Ein Gedankenspiel: Eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern lebt in einer feuchten, viel zu kleinen Wohnung. Zwei der Kinder wurden als "hyperaktiv" diagnostiziert. Die in der Familie eingesetzte Familienhelferin kann der Frau dabei helfen, eine neue Wohnung zu finden und nach Möglichkeiten der Entlastung suchen. Die Familienhelferin könnte auch die Diagnose über die Kinder zur Basis ihrer Arbeit machen und auf dieser einen Hilfeplan entwickeln. Eine ethnografisch gebildete Familienhelferin würde allerdings, neben der praktisch zweckmäßigen direkten Unterstützung, auch gemeinsam mit der Frau danach "forschen", wie es eigentlich dazu kam, dass ihre Kinder als "hyperaktiv" gelten: Was sind die Quellen und wie ist die Geschichte dieser Diagnosestellung? Was denkt sie selbst als Professionelle, was denkt die Mutter und was denken die Kinder darüber?4) Sie kann in Gesprächen mit der Frau und den Kindern oder über Beobachtungen auch herausfinden, in welchen Situationen die Kinder welches Verhalten zeigen und was der Lebenskontext dazu beiträgt. Sie kann sich von der Frau und den Kindern schließlich deren Familiengeschichte oder Teile davon erzählen lassen. Sie bezieht die Betroffenen also in eine Forschung über sich und ihre Lebenssituation maßgeblich mit ein. Auf dieser Basis können gemeinsam subjektiv passende Ideen zur Veränderung entwickelt werden, an denen alle Familienmitglieder als kompetente Subjekte teilhaben. [13]
Ein ethnografisches Vorgehen kann dazu beitragen, dass eine Familie nicht dauerhaft auf ihre Probleme und Grenzen festgelegt, sondern der Blick immer wieder auch für ihre Stärken und Möglichkeiten geöffnet wird, ohne dass dabei die strukturell verfestigten Schwierigkeiten aus dem Blick geraten. So können z.B. die im Hilfeprozess bereits hergestellten Diagnosen bewusst verflüssigt werden, auch wenn und vielleicht gerade dann, wenn sie sich als notwendig für die professionelle Verständigung erwiesen und auch für die Betroffenen zunächst entlastend gewirkt haben. Durch eine mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitete, ganzheitliche Sichtweise steigen die Chancen, sie hin zu einer gelingenden Lebensgestaltung zu motivieren.5) [14]
Im Hinblick auf das unten dargestellte zweite Schaubild lässt sich zusammenfassen: Diesen Verstehensprozess habe ich am Beispiel der Familie mit als "hyperaktiv" diagnostizierten Kindern jetzt für die Praxis dargestellt. Das Handlungsziel wäre hier, die Familie zur autonomen Gestaltung des eigenen Lebens zu animieren. In einer wissenschaftlichen Forschung über "Familienhilfe in Familien mit als hyperaktiv diagnostizierten Kindern" wäre dagegen ein mögliches Ziel, etwas über Interaktionsmuster in solchen Familien und die Struktur der Beziehung zur Familienhilfe herauszufinden sowie theoriehaltige Aussagen darüber zu formulieren. Aber nicht nur die Ziel-Bestimmungen der Forschung sind andere als die der Praxis, auch der Handlungsrahmen unterscheidet sich: Im Unterschied zur Familienhelferin könnten sich Forschende natürlich viel mehr Zeit für Interviews, Beobachtungen, Dokumentenanalysen nehmen. Und sie befänden sich außerdem in größerer Distanz zur Familie und wären befreit vom Handlungsdruck. [15]
Bei der professionellen Selbstreflexion über die Soziale Arbeit in dieser Familie wäre das Ziel noch einmal ein anderes: nämlich die Gestaltung eines sensiblen und kreativen sozial-pädagogischen Hilfeprozesses. Um dafür Ideen zu gewinnen, würden die SozialpädagogInnen/-arbeiterInnen sich zwar wie bei der wissenschaftlichen Forschung vom Handlungsdruck befreien, aber nur kurzzeitig. Im Unterschied zur Praxis könnten bei einer Selbstreflexion auch KollegInnen beteiligt sein, die nicht in der Familie arbeiten, u.U. auch WissenschaftlerInnen. Zur Veranschaulichung noch einmal ein Schaubild mit den Zielen der drei Anwendungsbereiche qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit:
Abbildung 2: Ziele der Anwendung qualitativer Methoden in der Sozialen Arbeit [16]
Die drei Kreise bilden also drei unterschiedliche Denk- und Handlungssphären ab, die sich – wie oben erwähnt – überschneiden, aber auch einen je eigenen Wissens- und Handlungstyp mit je eigenen Zielen ausmachen. Aufgrund dieser Differenz möchte ich die drei Bereiche: Qualitative Methoden als wissenschaftliche Forschungsmethoden (2.), Qualitative Methoden als Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit (3.) und Qualitative Methoden als Methoden der professionellen Selbstreflexion (4.) nun im Folgenden getrennt diskutieren. [17]
2. Qualitative Methoden als wissenschaftliche Forschungsmethoden
Qualitative Methoden als Forschungsmethoden sind in der Sozialen Arbeit in mindestens dreierlei Hinsicht interessant und aktuell: [18]
Zum einen können sie in den drei von Werner THOLE (2002, S.38) aufgefächerten Teilbereichen Praxisforschung, Professionsforschung und Disziplinforschung zur Erkenntnis- und Theoriebildung beitragen. Theoretische Inhalte entstehen dabei mithilfe interpretativer Verfahren im Wesentlichen auf vier unterschiedlichen Ebenen: Ebene 1: Qualitative Forschung kann Typen sozialen und biografischen Handelns herausarbeiten (wie etwa im Bereich der Multiple-Sklerose-Forschung Typen der Lebensgestaltung mit der Krankheit; GRIESEHOP 2003). Ebene 2: Sie kann Konzepte entwickeln (wie etwa das der interaktionellen Vermittlung von Generationserfahrungen; ROSENTHAL 1997). Und sie kann – Ebene 3 – gegenstandsorientierte Theoriebildung betreiben (z.B. Sozialisationstheorie weiterentwickeln; vgl. etwa BILDEN & DAUSIEN 2006). Schließlich kann sie – Ebene 4 – einen Beitrag zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen leisten (z.B. Aussagen zur Spezifik des Ost-West-Europäischen Migrationsfeldes machen; vgl. etwa BRECKNER 2005). [19]
Zum zweiten kann die Aneignung der Basistheorien der interpretativen Sozialforschung zu einem erweiterten Blick auf Themen und Problemlagen Sozialer Arbeit führen. Zu den Basistheorien gehören z.B. der Symbolische Interaktionismus, die Sozialphänomenologie, die Ethnomethodologie oder der Sozialkonstruktivismus. Diese soziologischen Ansätze arbeiten theoretische Grundpositionen zu Themen wie Interaktion, Identität, die Konstruktion von Wirklichkeit oder Normalität und Krise heraus, die ein wichtiges Grundlagenwissen für die Praxis Sozialer Arbeit darstellen. [20]
Drittens kann auch die Vermittlung und die Einsozialisation in die Prinzipien und Verfahren der qualitativen Sozialforschung während des Studiums ganz wesentliche Grundlagen für die spätere berufliche Praxis legen. Wissenschaftliche Forschung mit qualitativen Methoden kann bereits im Studium im Rahmen von größeren Seminararbeiten und vor allem in Qualifikationsarbeiten von Studierenden und PromovendInnen eingeübt werden. Qualitativ-rekonstruktive Forschungsprojekte während des Studiums ermöglichen nicht nur Kenntnisse über Lebenswelten und Lebensgeschichten zukünftiger KlientInnen. SCHÜTZE spricht beispielsweise auch von professionellen Kompetenzen und Abkürzungspraktiken, die im Verlauf von studentischen Forschungsarbeiten mit qualitativen Methoden erlernt werden (SCHÜTZE 1994). Studierende werden in die Grundprinzipien der qualitativen Herangehensweise, in die Prinzipien der "Offenheit" und der "Kommunikation" (HOFFMANN-RIEM 1980) eingeführt. Genauer gesagt, entwickeln Studierende in solchen Projekten des forschenden Lernens nach und nach ein Gefühl für konsequente Feld- und Prozessorientierung, sie lernen, zwischen eigenen und fremden Relevanzen zu unterscheiden, sie können sich Gesprächstechniken zur Förderung von Erinnerungsprozessen und zur Verbalisierung heikler Themenbereiche aneignen, das aufmerksame und aktive Zuhören sowie das sensible und erzählgenerierende Nachfragen trainieren. Sie lernen, unerwartete und abweichende Handlungen oder selbst erlebte Krisen im sozialen Feld als Möglichkeit zu verstehen, Alltägliches und eingespielte Routinen mit distanziertem Blick wahrzunehmen. Sie üben, Handlungen und Deutungen zu unterscheiden und im Rahmen von Kontexten zu verstehen. Und sie lernen schließlich die eigene Reflexivität als Erkenntnisquelle kennen. Auch Bettina DAUSIEN (2007) nennt als Lerneffekte einer gemeinsamen Praxis qualitativer Forschung im Studium unter anderem Reflexivität. Mit Reflexivität meint sie sowohl methodisch angeleitete, systematische Reflexionsverfahren als auch die Einübung in eine reflexive "Haltung". Darüber hinaus bezeichnet sie Vertrauen und Professionalität als weitere Lerneffekte: Bildung von Vertrauen in die Geltung, Qualität und Plausibilität von Interpretationen, die mit qualitativen Methoden erzeugt werden, Vertrauensbildung im Umgang mit Unsicherheit und offenen Prozessen sowie Bildung von Vertrauen in die eigenen Kompetenzen im Feld wissenschaftlicher Praxis: "Der Aufbau einer persönlichen, d.h. in die Logik der eigenen Biografie integrierten Denk-, Handlungs- und Urteilsfähigkeit, macht eine wesentliche Dimension des Studiums aus." (DAUSIEN 2007, S.14) [21]
Schließlich wird durch die Einsozialisation in qualitativ-rekonstruktive Methoden Professionalität erlangt, d.h. nach DAUSIEN die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und zur Triangulation, eine grundlegende Prozessorientierung und das Vermögen, mit Komplexität, offenen Prozessen und unabschließbaren Deutungsproblemen umzugehen. [22]
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Einsozialisation in qualitative Methoden im Verlauf des Studiums u.a. genau das fördert, was Michael GALUSKE (2003, S.41) als den "Kern methodischer Kompetenz innerhalb der Sozialen Arbeit" beschreibt: "Die Fähigkeit, eine Situation in ihrer Komplexität 'lesen' zu können, sich durch gezielte Beobachtung schnell und adäquat in Bezüge reflexiv 'einzudenken' ". [23]
Aber können eigentlich die bekanntermaßen aufwendigen Methoden der qualitativen Sozialforschung dann in der Praxis der Sozialen Arbeit eingesetzt werden, zumal der Arbeitsalltag zunehmend von Legitimationsdruck und Effizienzkriterien geprägt ist? Wo haben da lange Interviews, methodisch kontrollierte Beobachtungsverfahren sowie Methoden des (hermeneutischen) Verstehens Raum? So könnten KollegInnen aus der angewandten Sozialen Arbeit zu Recht kritisch fragen. Gleichzeitig steigt gerade in der Praxis das Interesse an Verfahren, die herausfinden, was die AdressatInnen erlebt haben, was sie wirklich wollen und was sie an Ressourcen mitbringen; dies vermutlich auch deshalb, weil nur auf dieser Basis erreicht werden kann, dass Menschen animiert werden, ihren Alltag selbst in die Hand zu nehmen und damit nicht dauerhaft zu NutzerInnen der Sozialen Arbeit zu werden. In Anlehnung an qualitative Verfahren können Handlungsmethoden entwickelt werden, die in der Praxis handhabbar sind. [24]
3. Qualitative Methoden als Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit
Der ethnografische Blick in der beruflichen Praxis bedeutet, die AdressatInnen der Sozialen Arbeit in ihren Alltagspraktiken, ihrem Gewordensein, ihren Wünschen und ihrem "Eigensinn" kennenzulernen und zu verstehen. Qualitative Verfahren können dafür genutzt werden. Wichtig ist dabei allerdings zweierlei: Erstens: Die qualitativen Forschungsmethoden können nicht "eins zu eins" in die Praxis übernommen werden, sondern müssen dem Handlungskontext der Sozialen Arbeit angepasst werden. Und zweitens: Qualitative Erkenntnisverfahren dürfen nicht zur Entmächtigung der Subjekte eingesetzt werden. So sollte die Arbeit der SozialarbeiterInnen nicht darin bestehen, lediglich "stellvertretend zu deuten", und schon gar nicht darin, mit besonders dafür geeigneten Methoden Erkenntnisse über ein Subjekt zu gewinnen, Diagnosen zu stellen und diese an ihm vorbei zu verwerten. Die Kompetenz besteht vielmehr besonders darin, "für die gemeinsame interaktive Erkenntnisbildung die Bedingungen zu schaffen" (RIEMANN 2000, S.323). Es geht also darum, mit den AdressatInnen zu arbeiten.6) [25]
Ich möchte drei qualitative Verfahren nennen, die sich als Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit eignen. Alle drei zeichnet aus, dass sie einerseits dem Prinzip der "situativen Offenheit" verpflichtet sind, andererseits aber auch methodisch strukturiert vorgehen (was bekanntlich allgemein als Anforderung an Methoden der Lebensweltorientierung gilt; vgl. THIERSCH 1993, S.24). Im Anschluss an jede Methode nenne ich ganz exemplarisch noch einmal Kompetenzen sozialarbeiterischer Professionalität, die die SozialpädagogInnen/-arbeiterInnen bei einem solchen Herangehen benötigen und einüben. [26]
3.1 Narrativ-biografische Gesprächsführung
Narrativ-biografische Gesprächsführung mit den AdressatInnen Sozialer Arbeit kann unterschiedlich und unterschiedlich lange gestaltet sein. Sie kann z.B. bei einem informellen Gespräch mit zeitlich beschränktem Rahmen angewendet werden, so z.B. beim Kochen in einer betreuten WG, wenn Jugendlichen von SozialarbeiterInnen eine narrative Nachfrage gestellt wird. Erzählgenerierend kann auch bei einem organisierten Ausflug nachgefragt werden, wo KlientInnen beim Wandern vielleicht zu längeren Sequenzen von Erzählungen motiviert werden können. Und schließlich kann ein Erstgespräch in der Beratung sogar als lebensgeschichtliches Interview gestaltet sein, wobei Hilfesuchende gebeten werden, ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen. Sicher fordern sensible und erfahrene Professionelle ihre KlientInnen – zumindest intuitiv – auch dann des Öfteren zum Erzählen auf, wenn sie selbst nicht in narrativ-biografischer Gesprächsführung trainiert wurden. Eine Schulung in diesen Gesprächstechniken macht diese alltagsweltliche Kompetenz jedoch bewusst und sie wird in der Praxis dann meist noch konsequenter und erfolgreicher eingesetzt, wie KollegInnen aus der Praxis berichten, die solche Gesprächsführungsseminare besucht haben. [27]
Wenn die Betroffenen zum Erzählen von selbst erlebten Situationen "animiert" werden, haben SozialpädagogInnen/-arbeiterInnen die Chance, mehr über deren persönliche Sicht zu erfahren. Sie lernen die Entstehungs- und Verlaufsgeschichte der aktuellen Probleme etwas besser kennen und erfahren, ob es ihren GesprächspartnerInnen schon einmal ähnlich ergangen ist, wie sie in eine schwierige Situation hineingeraten und auch wieder herausgekommen sind. "Verstehenwollen" tritt zunächst an die Stelle des "Handelnmüssens" (KÖTTIG 2007, S.84). Dabei können nicht nur die SozialarbeiterInnen neue Sichtweisen und auch Ressourcen ihrer KlientInnen entdecken, die für die weitere Zusammenarbeit hilfreich sind. Vielmehr werden – mit etwas Glück – gerade bei den ErzählerInnen Prozesse des Selbstverstehens angestoßen. Wenn sie über sich erzählen, erfahren sich die Betroffenen einmal als "ExpertInnen ihres Lebens" und nicht immer nur als Inkompetente und zu Beratende (RÄTZ-HEINISCH & KÖTTIG 2007). Sie machen die Erfahrung, wie es ist, aus ihrer Biografie zu erzählen, und sie bekommen dadurch zumindest die Chance, sich auch in Zukunft besser mitzuteilen. Und sie erleben, wenn es gut läuft, auch, dass man so oder so über sich sprechen kann und dies durchaus Rückwirkungen auf die eigene Lebensgestaltung hat (vgl. dazu die Überlegungen zu: "doing biography" von DAUSIEN & KELLE 2005; VÖLTER 2006). Insofern sind narrative Gespräche immer eine "sanfte Intervention" (LOCH & SCHULZE 2002). In ihrer Methode der Dialogischen Biografiearbeit empfehlen Michaela KÖTTIG und Regina RÄTZ-HEINISCH (2005) am Ende des Gesprächs in Dialog mit dem Gegenüber zu gehen, um zu evaluieren und gemeinsam Handlungsperspektiven zu entwickeln. In solchen Gesprächen zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn entsteht Nähe und gegenseitiges Vertrauen, was erfahrungsgemäß die wichtigste Basis für eine gute Zusammenarbeit darstellt. [28]
Als Grundkompetenzen sozialarbeiterischer Professionalität werden dabei benötigt: ein "biografisch-narratives Ohr" (VÖLZKE 1997), genaues, aktives Zuhören, ungewöhnliches Fragen und ganz wichtig: Pausen auszuhalten, Pausen, in denen das Gegenüber sich selbst lauschen und in einen inneren Dialog gehen kann (ANDERSON 1996, S.43 und 47). SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen schulen die Haltung der Offenheit, der Empathie, der Akzeptanz und der Selbstkongruenz in der professionellen Beziehung. Sie lernen, die Subjekte in ihrer persönlichen Eigenheit und Vielfalt ernst zu nehmen und nicht auf institutionell geronnene Deutungsmuster hereinzufallen. Sie trainieren "situative Intelligenz", das heißt, die Fähigkeit zu beobachten und zu erkennen, wann eine Situation potenzielle Veränderungschancen eröffnet (GALUSKE 2003, S.62). Und sie bilden sich nicht zuletzt selbst weiter, indem sie einen intimen Einblick in fremde Lebenswelten erhalten. [29]
3.2 Biografische Fallrekonstruktionen als Globalanalysen7)
Wenn SozialarbeiterInnen ein solches biografisches Gespräch geführt haben, können sie sich das Erzählte noch einmal in Ruhe vergegenwärtigen, ohne dass die ErzählerInnen dabei sind. Denn dies setzt in der Regel ihre pädagogische Kreativität frei, besonders dann, wenn sie die Chance haben, mit ihrem Team darüber zu sprechen. Hilfreich dafür ist ein Genogramm zu zeichnen, das das Team dann sequenziell auswertet, d.h. Schritt für Schritt von der ältesten Generation hin zur jüngsten, Generation für Generation, wobei die folgenden Generationen jeweils mit einem Blatt zugedeckt und noch nicht besprochen werden. Jede familiale Generation (Großeltern-, Eltern- und Kindergeneration) wird in die Familienkonstellation zum Zeitpunkt ihrer Geburt und in der Phase ihres Aufwachsens bis zur Gegenwart eingebettet. Dabei werden Fragen entwickelt und Hypothesen zu den jeweiligen Familienkonstellationen in der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Zeit gebildet.8) [30]
Hilfreich ist auch, wenn SozialarbeiterInnen sich Notizen über die Begegnungen und das, was ihnen aufgefallen ist, machen. Es macht Sinn, dass sie auch das Gespräch in der Reihenfolge des Ablaufs, also sequenziell, notieren, soweit sie es erinnern oder es aus ihren Mitschriften rekonstruieren können. In der Reihenfolge des Ablaufs deshalb, damit sie die thematischen Kontexte erkennen können, in denen etwas erzählt wurde. Denn die Bedeutung einer Aussage kann nur in ihrem Kontext verstanden werden. Das Gespräch sequenziell und möglichst unzensiert zu notieren hilft auch dabei, sich die Aufschichtung des gesamten Interaktionsverlaufs zu erschließen (KÖTTIG 2007, S.87f.):
"Dies könnte besonders deshalb gewinnbringend sein, weil Sozialarbeiter/innen im Rahmen ihrer Ausbildung sehr stark darin geschult werden, recht schnell 'Probleme' wahrzunehmen, 'Probleme' zu definieren sowie Überlegungen für weiterführende Hilfestellungen zu entwerfen. Die Einbeziehung des gesamten Handlungsablaufs in den Reflexionsprozess bietet hingegen die Chance, sowohl die schwierigen als auch die förderlichen Anteile der Interaktionen zu erkennen und die Mechanismen ihrer Erzeugung offen zu legen." [31]
Es eignen sich des Weiteren auch biografieanalytische, rekonstruktive Globalanalysen oder Memos für die professionelle Praxis. Dabei kann zum einen der Gesprächsverlauf auf die Frage hin rekonstruiert werden, wie sich die Betroffenen selbst dargestellt haben, was ausgespart wurde und welchen biografischen Sinn diese Selbstdarstellung, also diese Konstruktion der eigenen Geschichte, haben könnte. Daneben könnten aber auch die biografischen (d.h. objektiv nachprüfbaren) Lebensdaten in chronologischer Reihenfolge notiert und sequenziell ausgewertet werden. Hierbei lautet die Frage: Wann hat die Person was in welchem Kontext erlebt und was könnte das bedeuten? (Zur methodisch künstlich hergestellten Trennung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte vgl. ROSENTHAL 1995.) Auf dieser Basis können erste Ideen für die weitere Hilfeplanung resp. für Unterstützungsangebote entwickelt werden. Diese Ideen sollten dann als Fragen, Hypothesen, d.h. mögliche Deutungen unmittelbar in einen über mehrere Treffen andauernden Dialog und Reflexionsprozess mit den Betroffenen einfließen (vgl. auch KÖTTIG 2007, S.90), und zwar nicht erst nachdem dieses Wissen an andere, wie z.B. an andere KollegInnen oder Institutionen weitergegeben wurde oder bereits sozialpädagogische Empfehlungen (Gutachten) erstellt wurden; und nicht (besser) wissend, mit Ergebnissen konfrontierend oder diagnostizierend, sondern fragend und gemeinsam diskutierend. [32]
Hier zeigt sich, dass eine biografische Fallrekonstruktion, und mithin jede "Herstellung von Biografie(n)" (VÖLTER 2006), zur Gratwanderung werden kann: Auf der einen Seite kann sie eine die Subjekte emanzipierende biografische Reflexion anstoßen und ggf. im Prozess begleiten. Im Unterschied zur herkömmlichen Diagnostik, die die Tendenz hat, Fälle aufgrund einzelner Merkmale auf der Basis theoretischen und praktischen Vorwissens zu kategorisieren, werden bei biografischen Fallrekonstruktionen komplexe Wirkzusammenhänge in ihrem lebensgeschichtlichen (Entstehungs-) Zusammenhang verstanden. Dabei können z.B. alternative Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden, die bisher nicht im Blick der BiografInnen waren. In der narrativ orientierten rekonstruktiven Sozialarbeits- und Gesundheitsforschung wird deshalb aktuell zu Recht das große Potenzial hervorgehoben, dass die anwendungsorientierte Arbeit mit biografischen Fallrekonstruktionen für eine lebenswelt- und alltagsorientierte Soziale und Klinische Arbeit entfalten kann:
"Diese grundlegende paradigmatische Veränderung gegenüber den AdressatInnen gesundheitsbezogener Dienstleistungen löst die Forderung nach einer partizipativen und dialogischen Diagnostik (vgl. Staub-Bernasconi) ein, nach einer mäeutischen Haltung, nach einer Autonomisierung in einer entautonomisierenden sozialen Praxis des Gesundheitswesens (vgl. Hanses und Richter), nach einer gesellschaftlichen Dimensionierung des Psychischen (vgl. Schulze) und dem 'heilenden Erzählen' (Rosenthal). Sie leistet eine Kontextualisierung im Gegenzug zu einer 'entkontextualisierenden' und 'entpolitisierenden Diagnostik' (Becker)" (SCHULZE 2005, S.24). [33]
Auf der anderen Seite muss sich gerade eine solchermaßen praxisorientierte Biografieforschung immer auch die Frage gefallen lassen, inwieweit ihre Art und Weise der "Herstellung" von Biografien ein potenziell machtvoller Akt der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist. Diese Frage gilt es, selbst-reflexiv in die eigene Praxis einzubeziehen. So wird nicht umsonst in der Biografieforschung diskutiert, dass die direkte Konfrontation von KlientInnen mit einer abgeschlossenen Fallanalyse oder gar ihrer "Fallstruktur", also mit der unter den Bedingungen der Wissenschaft hergestellten Ko-Konstruktion der Biografie, eine machtvolle und stark befremdende Wirkung haben kann. Ohne Einbettung in einen therapeutischen oder begleitenden Prozess nach dem Interview besteht die Gefahr, dass sie zu massiv wirkt und mithin nur als "schlechte therapeutische Intervention". In der Regel sind ForscherInnen aber zu so einer Beratung nicht befähigt, haben keine Ressourcen und – selbst wenn sie ausgebildete SozialarbeiterInnen sind – im Rahmen der Forschung auch keinen Auftrag (LOCH & SCHULZE 2002, S.573; vgl. auch HILDENBRAND 1999; MIETHE 2003). Aber auch im Rahmen einer sozialpädagogischen Beratung kann die Arbeit am Einzelfall, sofern sie das Ziel hat, dessen "Lebensgesetzlichkeit" (HAUPERT 2006) herauszuarbeiten und dieses Wissen für die Arbeit mit dem/der AdressatIn Sozialer Arbeit nutzbar zu machen, zu Machteffekten führen. So könnte z.B. die Festlegung des/der KlientIn auf ihre verborgene, aber als "wahr" erkannte Struktur stattfinden. Wenn dabei das Wissen des/der (hermeneutisch) deutenden BeraterIn als höher wertig oder "wahrer" eingeschätzt wird als das Alltagswissen des/der Betroffenen, entsteht zusätzlich eine Hierarchie des Wissens. Dies wäre auch dann der Fall, wenn biografische Interviews mit KlientInnen, die den Modus des (Sich-An-) Vertrauens etablieren, systematisch von ForscherInnen oder Professionellen ausgewertet würden, die sie dann als Wissen über die Betroffenen in erster Linie den sie betreuenden und mit Verfügungsmacht ausgestatteten Institutionen (etwa einem sozialpädagogischen Team oder dem Jugendamt) zur Verfügung stellen, ohne dass die BiografInnen selbst MitinitiatorInnen, AutorInnen und TeilnehmerInnen der Ergebnisfindung und dieser Verhandlungen über ihren "Fall" sind. [34]
Für die Erarbeitung von biografischen Fallrekonstruktionen sowie für einen konsequent dialogischen und demokratischen Umgang damit ist ein Verstehen von sozialen bzw. biografischen Phänomenen notwendig. Diese sollten unter Einbezug ihrer sozial-historischen Zusammenhänge und ihrer Geschichte rekonstruiert werden. Hilfreich ist auch die Fähigkeit zur Durchführung von Problem- und Ressourcenanalysen. Ferner ist notwendig, sich hermeneutische Kompetenz anzueignen, Sprache sensibel zu verwenden und Ideen so rückzumelden, dass sie als hilfreich angenommen werden können. Eine Basiskompetenz ist insbesondere auch die Toleranz, unterschiedliche Perspektiven auf eine Lebensgeschichte zuzulassen und die eigene professionelle Rekonstruktionsarbeit als eine unter möglichen Konstruktionen zu relativieren. [35]
3.3 Gruppenerzählungen und Gruppendiskussionen
Gruppenerzählungen und -diskussionen (in Anlehnung an BOHNSACK 2000) mit erzählgenerierendem Eingangsimpuls eignen sich meiner Erfahrung nach z.B. für die Vor- und Nachbereitung von Gruppenreisen (VÖLTER 2007; VÖLTER & KÜSTER 2008). Sie können in ihrem Verlauf sowohl Gruppenerzählungen über singuläre, erlebte Situationen als auch Gruppenargumentationen beinhalten. [36]
Die begleitenden SozialpädagogInnen können beispielsweise eine Jugendgruppe vor der Reise auffordern, von der Zeit zu erzählen, als zum ersten Mal die Idee zu verreisen auftauchte. Ein erzählgenerierender Eingangsimpuls wäre hier z.B.: "Könnt Ihr mir bitte von von der Zeit erzählen, als die Idee mit der Reise auftauchte, und dann bis heute weitererzählen!"9) Dieses gemeinsame Erzählen hilft den TeilnehmerInnen, sich auf die Situation einzustellen, Ängste, Fantasien, Vorannahmen, gegenseitige Erwartungen und Wünsche an den Aufenthalt zu formulieren, Gruppenkonflikte und Gruppenthemen auszusprechen und miteinander zu verhandeln. [37]
Nach Rückkehr von der Reise kann man sich dann die Reise von den Vorbereitungen bis zum heutigen Zeitpunkt erzählen lassen. Ein erzählgenerierender Eingangsimpuls wäre z.B.: "Könnt Ihr mir bitte von der Zeit der Vorbereitungen auf die Reise, die Reise selbst erzählen und bis heute weiter erzählen!" Nach der Reise hilft die Gruppenerzählung und -diskussion, das Erlebte sehr konkret zu erinnern, sich auch bereits vergessene Erlebnisse in Erinnerung zu rufen und einen neuen Blick darauf einzunehmen. Das Erlebte kann gemeinsam verarbeitet und die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Gruppe oder Einzelner im Gespräch können herausgearbeitet werden. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn Passagen der Gruppenerzählung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal mit Berichten oder Praxisprotokollen von anderen TeilnehmerInnen der Reise (z.B. von AustauschpartnerInnen vor Ort) kontrastiert werden. In solchen Kontrastierungen kann es den Beteiligten im gelungenen Fall "wie Schuppen von den Augen" fallen, dass ihre Sichtweise nicht die einzig mögliche und gültige ist. Ein Beispiel: Eine Gruppe von Studierenden und ihre pädagogische Leitung, die zu einem Projektaufenthalt in Brasilien gewesen waren, erzählten nach ihrer Rückkehr die Szene des ersten Besuchs in einem Straßenrestaurant unmittelbar nach ihrer Ankunft. Die Studierenden erzählten zunächst, sich in Redebeiträgen abwechselnd und ergänzend, von ihren Ängsten, von der Fremdheit und dann auch von ihrer Abscheu vor dem vielen Fleisch, das die sie empfangende brasilianische Projektleiterin in einem Straßenrestaurant nach der Ankunft für sie bestellt hatte. Ein erster Kulturschock. Die deutsche Projektleiterin war dagegen nach ihrer Erinnerung mit der Frage beschäftigt gewesen, wer denn nun eigentlich würde zahlen müssen, was schließlich sie übernahm. Die Studierenden fühlten sich nicht dafür verantwortlich, da sie das Essen ja nicht bestellt hatten. In der Gruppe wurden später diese Passagen der Gruppenerzählung, in der bereits sehr unterschiedliche Perspektiven (die der Studierenden und die der deutschen Projektleiterin) deutlich geworden waren, mit dem Auszug aus dem Praxisforschungstagebuch der brasilianischen Projektleiterin über dieses Erlebnis kontrastiert. Die brasilianische Projektleiterin hatte ihrerseits die Intention gehabt, die deutsche Gruppe mit diesem Essen in Brasilien zu begrüßen und ihnen eine erste Begegnung mit der Kultur zu ermöglichen. Da sie bereits die lange Reise zum Abholen der Gruppe auf eigene Kosten unternommen hatte, unterstellte sie, dass die Kosten für das von ihr bestellte Essen von der deutschen Gruppe übernommen werden würden. Sie nahm wahr, dass nur wenig gegessen und das bestellte Essen verschmäht wurde. Gleichzeitig beobachtete sie, dass eine der deutschen Studentinnen einen "räudigen Hund" mit großer Hingabe mit dem Essen fütterte. Sie sah dies als Hinweis auf Überfluss: in Deutschland würden sogar Hunde "gehätschelt", während in Brasilien noch nicht einmal Straßenkinder von der Gesellschaft mit Essen versorgt würden. Nach einer ersten Phase, in der ein Teil der deutschen Gruppe beschämt über das eigene, als unsensibel wahrgenommene Verhalten war, diskutierte die Gruppe bei der Auswertung der unterschiedlichen Texte die wechselseitigen Bilder, die die Beziehung im Projekt zwischen Deutschen und BrasilianerInnen bestimmten und behinderten, und die auch Erwartungen und Enttäuschungen produzierten. In der Folge ging es darum, wie das eigene Handeln verändert werden könnte, um fixierende Bilder abzubauen. [38]
In der Nachbesprechung von Gruppenerzählungen kann es, wie an diesem Beispiel skizziert, immer auch um allgemeine Themen gehen wie Fremdheit gegenüber einer anderen Kultur, Kommunikation, Rollenverteilung, Rollenzuschreibungen und Verantwortungsübernahme in der Gruppe. Diese Themen in der Gruppe zu besprechen hilft zu erkennen, wo es in der Begegnung und Zusammenarbeit zu Irritationen kommt und welcher Veränderungen es bedürfte, um sich gegenseitig wertzuschätzen, aufeinander einzustimmen und miteinander in guten Austausch zu kommen. [39]
Auch in selbstläufigen Gruppengesprächen, z.B. in der Offenen Jugendarbeit, können die betreuenden Professionellen erzählgenerierende Nachfragen stellen (KÖTTIG 2007, S.86):
"Die erzählgenerierende Haltung in Gesprächen führt dazu, dass die Jugendlichen auch die Gruppenkommunikation als einen Raum erleben, der weniger durch einen bewertenden als vielmehr durch einen respektvollen und von Interesse gekennzeichneten Umgang getragen wird. Die Jugendlichen können so nicht nur die Betreuenden, sondern auch andere Gruppenangehörige als 'interessierte Gegenüber' kennenlernen, sie erfahren voneinander und lernen, sich auf die anderen einzulassen." [40]
Professionelle Kompetenzen, die dabei von den SozialarbeiterInnen/-pädagogInnen eingeübt werden, sind: Gesprächsführung in Gruppen, Sich-Einlassen auf unterschiedliche Perspektiven, Anstoßen von Prozessen der Selbstreflexion in Gruppen sowie prozessorientiertes pädagogisches Arbeiten. [41]
4. Qualitative Methoden als Methoden der professionellen Selbstreflexion
4.1 Praxisprotokolle zur selbstreflexiven Begleitung von pädagogischen Prozessen
Qualitative Verfahren können schließlich bei der professionellen Selbstreflexion Anwendung finden. Gerhard RIEMANN (2004, 2005) hat die Idee der "Be-fremdung der eigenen Praxis" mit qualitativ-rekonstruktiven Methoden im Zusammenhang der Begleitung von studentischen Praktika in seinen Ausbildungskontexten praktisch eingeführt und methodisch verfeinert. Er schlägt vor, von den (angehenden) Professionellen ethnografische Feldprotokolle bzw. Praxistagebücher oder Praxisprotokolle schreiben zu lassen, die dann gemeinsam ausgewertet werden.10) Als Ertrag einer solchen Arbeitsweise betont RIEMANN zum einen, dass sich Studierende dabei sozialwissenschaftlich-fallanalytische Kompetenzen aneignen, dass zum andern selbstkritische professionelle Diskurse über die eigenen Praxis geführt werden und dass des Weiteren Beiträge zur empirischen Erkundung professioneller Handlungsfelder entstehen. [42]
Auch Cornelia GIEBELER (2007) berichtet darüber, wie und warum sie Studierende im Auslandspraktikum in das Schreiben von Feldforschungstagebüchern einführt. Sie hebt die Entlastungsfunktion des Tagebuchschreibens während des Feld- und Praxisaufenthalts hervor: Die Analyse der intimen, erfahrungsgesättigten Berichte in den Tagebuchauszügen ermöglicht nach der Rückkehr nach Deutschland auch die Rekonstruktion des Arbeitsfeldes und seiner Institutionen im Ausland sowie der dort angetroffenen fremden Lebenswelten. Die Analyse hätte darüber hinaus auch einen Selbstreflexionsprozess zur Folge, der durch die Rückmeldungen einer studentischen Bezugsgruppe vertieft wird, die die Texte intensiv liest und bespricht. [43]
Insofern können Praxisprotokolle für alle drei im Schaubild gefassten Anwendungsbereiche nützlich sein: Sie können Grundlage einer Professions- und Praxisforschung sein. Sie sind darüber hinaus auch als Handlungsmethoden einsetzbar, insofern als sie eine unmittelbare Entlastungsfunktion für (sozial-)pädagogische AkteurInnen in einem Handlungsfeld haben, und schließlich dienen sie – wie erwähnt – als Methoden der professionellen Selbstreflexion. [44]
Für diesen letzten Anwendungsbereich möchte ich den von RIEMANN und GIEBELER genannten Aspekten zwei weitere hinzufügen: Feld- oder Praxisprotokolle eignen sich, so meine These, zum einen auch zur (selbst-) reflexiven Begleitung eines pädagogischen Prozesses sowie zum zweiten zur Rekonstruktion und Reflexion unserer im Alltag entstandenen oder professionellen Eigentheorien, die diesen Prozess ganz maßgeblich mit steuern. [45]
Zur Veranschaulichung werden im Folgenden zunächst Auszüge aus zwei ethnografischen Praxisprotokollen zitiert. Die Praxisprotokolle entstanden während eines Aufenthalts von Studierenden und ihrer pädagogischen Leitung in einem brasilianischen Dorf. Dort haben die Theaterpädagogin Marion KÜSTER, die Erzieherin Geralda ARAÚJO und ich das sozio-kulturelle Projekt "Luz que Anda" initiiert. Dieses hat zum Ziel, mittels biografie-, lebenswelt- und sozialraumorientierter Theater- und Gemeindearbeit bürgerschaftliches Engagement in einer ländlichen Kommune anzuregen und damit zur Veränderung des Ortes beizutragen (vgl. ausführlicher: VÖLTER 2007 sowie VÖLTER und KÜSTER 2008). [46]
In beiden Praxisprotokollen geht es darum, wie nach dem etwas unruhigen Beginn der Theaterstunde, die für die Kinder des Dorfes angeboten wurde, plötzlich ein physisch ausgetragener Kampf zwischen zwei Mädchen begann.
Auszug aus Praxisprotokoll 1 (Michaela):
" ... Begonnen hatte die Stunde recht gut. Wir hatten uns wie immer im Kreis begrüßt ('Bom dia' – 'Guten Morgen!'). Danach begrüßten wir uns im Gehen in unterschiedlichen Stimmungen. Doch auf einmal hatten sich Celina und Paula in den Haaren, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie zerrten und hauten einander mit unglaublicher Kraft und Aggression. Es war gar nicht so leicht, die beiden Neunjährigen auseinander zu bekommen. Ich nahm Celina und Susanne versuchte zwischen die beiden zu gehen, anschließend nahm Susanne die beiden an die Hand und wartete solange bis die beiden sich beruhigt hatten. Beide Kinder hatten feuchte Augen und als Susanne sie losließ setzte sich Paula auf die Bank und fing an zu weinen. Zusammengekauert schluchzte sie vor sich hin und reagierte erstmal nicht auf uns. Celina dagegen schluckte ihren Ärger runter, sie scheint darin geübt zu sein. Wahrscheinlich hatte sie morgens selber ein paar verpasst bekommen, Paula vielleicht auch, denn diese Aggressionen waren sehr erschreckend. Thais (eine brasilianische Pädagogin, die am Projekt beteiligt ist, BV) meinte, dass vielleicht auch rassistische Hintergründe eine Rolle spielen. Paula ist sehr dunkelhäutig und hat sehr krauses Haar, Celina dagegen ist relativ hell und hat glattes Haar (was alle hier total toll finden, 'Strumpf-Frauen') aber auch unterschiedliche regionale Herkunft kann zu diskriminierenden Handlungen führen. Thais erzählte mir weiter, dass es in Brasilien viel Rassismus gibt, was ich nicht verstehen kann, da doch alle Brasilianer sind und nicht wie in Deutschland, wo Menschen aus vielen unterschiedliche Nationen zusammenleben. ..."
Auszug aus Praxisprotokoll 2 (Susanne):
"... So, der Zank war in vollem Gang. Michaela stürzte sich dazwischen auf der einen Seite. Kerstin kam zu Hilfe von der anderen Seite. Die Mädchen hatten sich blitzschnell in den Haaren, sie zogen nicht …, sie zerrten an den Haaren, dass es auch beim Zuschauen schmerzte. Sie boxten nacheinander u. wickelten sich mit den Armen gut aneinander, so dass es richtig Mühe u. Kraft bedeutete für Michaela, die ich besonders wahrnahm, die beiden zu trennen.
Ich war beim Zugreifen zögerlich, unentschieden. Ich wollte sie eigentlich absondern und alle 'draufschauen' lassen, aber sie gaben unter unser aller körperlichen Drängen nun auf.
Die Gruppe der Kinder stand kommentarlos, wie mir heute scheint, in unserem Rücken. ..."
(Im Verlauf der Stunde wird Celina sich weiter beteiligen und eine Theaterszene nutzen, um mit Kreide auf den Boden "Paula ist eine Hexe" zu schreiben, worauf Paula zu weinen anfängt und Celina von den Pädagoginnen nach Hause geschickt wird, Anmerkung BV). [47]
Im Projekt "Luz que Anda" werden diese Praxisprotokolle zur ausführlichen Praxisreflexion nach der Beendigung eines jeden Aufenthalts in Brasilien genutzt. Dabei orientieren wir uns an den von RIEMANN (2005) und ROSENTHAL (2005) vorgeschlagenen Verfahren: Einzelne Protokolle werden Sequenz für Sequenz besprochen, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist und wie es überhaupt zu der beschriebenen Handlungssituation gekommen ist. Es geht darum zu reflektieren, wie gehandelt wurde und wie in einer ähnlichen Situation noch hätte gehandelt werden können. Dabei tragen wir Ideen und Orientierungen für den nächsten Aufenthalt zusammen. An diesen Protokollen ließen sich z.B. einige Kernprobleme der Theater- und Gemeindearbeit herausarbeiten: Uns wurde beispielsweise bewusst, wie oft wir in den Theaterstunden mit den Lebenskontexten der Kinder zu tun haben, ohne diese in der Handlungssituation genauer verstehen zu können. Deutlich wurde auch, dass es einzelnen Kinder immer wieder gelingt, eine negative Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder um Aufmerksamkeit zu rivalisieren, und dass die PädagogInnen darauf achten müssen, dass andere Kinder dabei nicht aus dem Feld ihrer Wahrnehmung geraten. Als eines der pädagogischen Dilemmata der Arbeit mit den Kindern wurde benannt, dass gerade durch die Aufenthalte der deutschen ProjektteilnehmerInnen bei vielen der Kinder ein starkes Bedürfnis nach individueller Zuwendung geweckt wird. Darauf kann die Gruppe im Rahmen der Theater- und Gemeindearbeit nur sehr begrenzt eingehen. Das Projekt will vielmehr dazu beitragen, die Beziehungen im Dorf untereinander so zu stärken, dass wechselseitige Hilfe und Unterstützung von Einzelnen vor Ort noch besser möglich wird. [48]
4.2 Praxisprotokolle zur Rekonstruktion von Eigentheorien
Anhand der zitierten Praxisprotokolle lässt sich noch auf ein wesentliches, allgemeines Moment hinweisen: Immer wieder zeigt sich nämlich, wie Theorie und Praxis im professionellen Handeln zusammenfließen. Denn pädagogische Praxis besteht aus einem nicht voneinander trennbaren Dreischritt von Wahrnehmen, Deuten und Handeln bzw. Intervenieren. Jeder dieser Schritte ist perspektivengebunden und theoriegetränkt. [49]
Das sehen wir im Projekt beispielsweise daran, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsimpulse in der gleichen Erlebnissituation gibt. (Wir lassen auch deshalb von allen Beteiligten Feldprotokolle über dieselben gemeinsam erlebten Situationen schreiben und spielen diese später im Rollenspiel nach, was noch einmal eine andere Ebene der Auswertung ermöglicht; vgl. VÖLTER & KÜSTER 2008) [50]
Für die oben beschriebene Situation zeigte sich: Die eine Pädagogin nahm vor allem die kämpfenden und sich dann beruhigenden Mädchen wahr, die andere hatte auch ein Augenmerk auf die darum stehende Gruppe; die eine deutete die häusliche Gewalt als Ursache für die Aggression der Kinder, die andere führte den Rassismus an. Zwei Pädagoginnen intervenierten sofort, indem sie physisch eingriffen, eine andere Pädagogin überlegte zunächst, die Kinder als BeobachterInnen der Szene zu nutzen, um damit den Kampf zu beenden. [51]
Gerade in der interkulturellen Arbeit lässt sich besonders gut zeigen, dass Wahrnehmungen, Deutungen und Interventionen abhängig sind von Kontexten, und zwar diskursiven, gesellschaftlichen, biografischen, situativen und professionellen Rahmen und Hintergründen. Das Spannende ist, dass diese in der pädagogischen Situation blitzschnell bzw. im Tun miteinander zu vereinbaren sind. Dieses Tun, die Handlungssituation und ihr Ergebnis im Handlungsverlauf können auf der Basis von Feldprotokollen im Detail rekonstruiert werden. Diese Arbeit ermöglicht, an der eigenen und der fremden Praxis zu lernen. [52]
Die Relevanz solcher Selbstbeforschung mit qualitativen Methoden liegt also darin, dass SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen den ihrer Wahrnehmung, Deutung und Intervention zugrunde liegenden Eigentheorien auf die Spur kommen und erkennen können, welche Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsvariante sich in einer Situation durchgesetzt hat und welche Alternativen es gäbe. U.a. Heiko KLEVE (2006) plädiert angesichts der oft geäußerten Einschätzung, Theorie sei für die Praxis oft unbrauchbar, dafür, von den "Theorien der Praxis" auszugehen. Das hieße hier: auszugehen von der sozialen Situation, in der sich unterschiedliche Eigentheorien und Handlungsoptionen zu einer gemeinsam praktizierten Handlung vereinbaren. Und auszugehen von den Fragen, die diese Praxis uns aufgibt: Welche Handlungsoption setzt sich als dominante durch, warum, und mit welchen Folgen? Welche theoretische Annahme über das Geschehen wird dadurch gestärkt? Wie ist das Handeln der Kinder und der PädagogInnen in diesem Kontext zu verstehen? Und wie wollen wir als PädagogInnen in ähnlichen Handlungssituationen in Zukunft damit umgehen? Welche persönlichen und professionellen Grundannahmen müssten wir verändern, um etwas anderes – miteinander – tun zu können? Und was ist aus dieser singulären Handlungssituation Allgemeines für unsere Arbeit vor Ort sowie für unsere Arbeit als PädagogInnen abzulesen? [53]
So kann die "Be-fremdung der eigenen Praxis" auch dazu verführen, einen von tiefem praktischen Interesse geleiteten Zugang zu gegenstandsorientierter Theorie zu finden, z.B. einen Zugang zu Theorien über Aggression in der Kindheit oder zu kindlicher Verarbeitung erfahrener Gewalt in Familie und Gesellschaft oder auch zu Gruppenprozessen in der interkulturellen Arbeit. [54]
Wenn es stimmt, dass wie JAKOB und WENSIERSKI (1997, S.11) schreiben, methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit heute zum einen "zum sozialen Ort des Verstehens und der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Klienten" dient und zum anderen ein sozialer "Ort der Selbstreflexion und der Selbstkontrolle des professionellen Sozialarbeiters" ist, dann, meine ich, sollten ethnografische Feldprotokolle und ihre Reflexion zum Kernstück der Methodenausbildung in der Sozialen Arbeit und in der Pädagogik gehören. [55]
Qualitative Erkenntnisverfahren sind für Theorie und Methoden Sozialer Arbeit in drei Feldern relevant: erstens als Methoden der wissenschaftlichen Forschung, damit verbunden ist das Ziel der Theoriebildung. Zweitens sind qualitative Erkenntnisverfahren relevant als Basis für Handlungsmethoden Sozialer Arbeit. Ziel dabei ist, die Betroffenen zu einer autonomen Lebensgestaltung anzuregen. Drittens sind qualitative Erkenntnisverfahren relevant als Methoden der professionellen Selbstbefragung und als bewusst geschürtes Selbstmisstrauen gegenüber den eigenen theoriehaltigen Beobachtungen, Deutungen und Interventionen. Ziel ist hier die Entwicklung und Begleitung eines pädagogischen Prozesses sowie die eigene Professionalisierung. [56]
Sich qualitative Verfahren anzueignen, erfordert Zeit, innere Bereitschaft, sich auf neue Denkweisen einzulassen, Wiederholung und v.a. hohe Eigenaktivität der Studierenden. Letzteres passt zu der Maxime des "Bologna-Prozesses", dass Studierende in Zukunft im Wesentlichen selbst organisiert lernen, wobei Lehrende nunmehr zu "LernbegleiterInnen" werden sollten. Allerdings hat die dadurch ausgelöste Modularisierung von Studiengängen der Sozialen Arbeit an vielen Hochschulen zur Folge, dass die qualifizierte und gewinnbringende Arbeit mit qualitativen Methoden sehr erschwert wird. Denn sie erfordert inhaltlich aufeinander aufbauende und als solche erkennbare Veranstaltungszyklen, deren einzelne Seminare oft recht zeitintensiv sind und von hoher Eigenmotivation begleitet sein müssen. Diese Art von Lehr- und Lernlogik ist nur schwer in die semesterweise Aufgliederung von modularisierten Lehrveranstaltungen mit semesterweisen Prüfungen einzubringen. [57]
Erfahrungsgemäß gelingt es Studierenden aber nur über "forschendes Lernen" – d.h. über eigene Erfahrungen im Praxisfeld der Sozialen Arbeit, die unter Anleitung dokumentiert und in Seminaren gemeinsam reflektiert werden, sowie durch intensive Analysearbeit an selbst erhobenem empirischem Material – sich ethnografische Kompetenz und die entsprechende Bildung anzueignen. Hiermit erlangen die Studierenden eine grundlegende Basis für lebenslanges Weiterlernen als Garant für eine forschende, neugierige und selbstreflexive Haltung. Und diese ist m.E. die beste Medizin gegen Gleichgültigkeit und Gefühle der Überforderung im beruflichen Alltag. [58]
1) Ich danke Gerhard RIEMANN, Thomas SCHÄFER, Michaela KÖTTIG, Roswitha BRECKNER und Andreas HANSES für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und ihre hilfreichen Anmerkungen. <zurück>
2) Konzept verstanden als ein an einen theoretischen Hintergrund gebundener "Ansatz", dessen Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren/Techniken in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht sind und der eine Handlungsorientierung beinhaltet (GEISSLER & HEGE 1995, S.23). <zurück>
3) Was der Fall ist, ist natürlich jeweils eine empirische Frage. Diese gilt es sowohl in der Sozialarbeitsforschung als auch in der beruflichen Praxis der Sozialen Arbeit immer wieder neu am je konkreten Fall zu untersuchen. Wichtig ist zu betonen, dass der "Fall" nicht immer ein/e Einzelne/r, eine Lebensgeschichte oder Biografie sein muss. Wir können auch eine Interaktion zwischen KlientInnen und Professionellen, einen Hilfekontext oder die Familie oder die Gang von Jugendlichen im Stadtteil oder eine Organisation als Fallebene bestimmen und untersuchen (vgl. dazu auch und ausführlicher KÖTTIG 2007, S.81f.). <zurück>
4) Vgl. Andreas HANSES' Vorschlag, der klassischen Haltung der Diagnose die konkreten Erfahrungen der Subjekte entgegenzusetzen und so an einer "Standpunktepistemologie der unterdrückten Wissensarten" zu arbeiten (HANSES 2006). <zurück>
5) Hier stimmt die ethnografische Sichtweise bzw. die Rekonstruktive Sozialpädagogik überein mit dem Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung: "Lebensweltorientierung verlangt ein Handeln, das im erzieherischen Umgang, in der Beratung, in der Begleitung und in der Kooperation orientiert ist an der Eigensinnigkeit der Problemsicht der AdressatInnen im Lebensfeld, am ganzheitlichen Zusammenhang von Problemverständnis und Lösungsressourcen, an den in der Lebenswelt verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen. Solches Handeln ist offen, situativ orientiert. In den heutigen offenen, brüchigen Strukturen der Lebenswelt zählen generelle Muster weniger als die je individuelle Situation, in der gemeinsame Lösungen miteinander ausgehandelt werden müssen. Lebensweltorientiertes Handeln gründet auf der Fähigkeit, zu prüfen, was jeweils der Fall ist" (THIERSCH 1993, S.22). Diese Übereinstimmung macht die ethnografische Sichtweise besonders anschlussfähig an aktuelle Methodendiskussionen innerhalb der Sozialen Arbeit. Beide Ansätze basieren auf ähnlichen Grundlagentheorien, wie z.B. auf den Arbeiten des Symbolischen Interaktionismus und der Sozialphänomenologie. Wobei Fritz SCHÜTZE (1994) ja aufgezeigt hat, dass es eine eigenständige Tradition der ethnografischen Haltung in der Sozialen Arbeit gibt, die bis in deren Anfänge zurückverfolgt werden kann (siehe die von Mary RICHMOND eingeführte Fallanalyse, vgl. SCHÜTZE 1993, S.193-195).
6) Dazu bedarf es deren Einverständnis. Auch sollten die eigenen (professionellen) Handlungsmotive immer reflektiert werden. So dürfen z.B. narrativ geführte Gespräche aus ethischen Gründen nicht zu kriminalistischen Zwecken missbraucht werden (VÖLZKE 1997, S.276). <zurück>
7) Damit sind relativ schnell zu erstellende Fallanalysen gemeint, die nach denselben Prinzipien wie ausführliche Fallrekonstruktionen erarbeitet werden, aber einen noch vorläufigen Charakter haben (ROSENTHAL 2005). <zurück>
8) In der Regel, d.h. in der systemischen Praxis, werden Genogrammanalysen nicht sequenziell vorgenommen (vgl. BURNHAM 1995, S.47-69; VON SCHLIPPE & SCHWEITZER 2002, S.130-134). Das hat den Nachteil, dass weniger auf die einzelnen, auch historisch-gesellschaftlich zu verortenden familialen Generationen geachtet wird. Damit hängt zusammen, dass Überlegungen zur Entstehungsgeschichte familialer Beziehungen in deren sozial-historischen Kontexten tendenziell vernachlässigt werden. Auch Themen und Problemstellungen sowie Überlegungen zur intra-generationellen Beziehung oder zur psychosozialen Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder in einer historisch-gesellschaftlichen Zeit kommen u.U. zu kurz. Ein Blick auf das gesamte Genogramm ohne sequenzielles Vorgehen hat oft zur Konsequenz, dass mögliche, und gerade auch neue, ungewöhnliche und auch gesellschafts- bzw. milieukritische Hypothesen übersehen werden (vgl. VÖLTER 2003). <zurück>
9) Die begleitenden PädagogInnen können sich aber auch als Teil der Gruppe ansehen und an der Gruppendiskussion teilnehmen, die sie dann von KollegInnen moderieren lassen. Das hat den Vorteil, dass alle Beteiligten an der Reise und mithin alle Perspektiven zu Wort kommen. Wichtig ist nur, dass es immer unbefangene AußenbeobachterInnen gibt, die das Gespräch moderieren und im Nachklang auch mit der Gruppe reflektieren können. <zurück>
10) Eine andere Methode ist, sich gegenseitig über die eigenen Praxiserfahrungen narrativ zu interviewen. <zurück>
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Bettina VÖLTER, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaften, Soziologie, Geschichte und Theaterwissenschaften in Erlangen, Paris und Berlin; System. Familientherapeutin (SG). Professorin für Theorie und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt "Rekonstruktive Soziale Arbeit" an der Alice Salomon Hochschule in Berlin.
Arbeitsgebiete: Interpretative Sozialforschung, Biografieforschung, Familie und Generationenbeziehungen, systemisches und sozialraumorientiertes Arbeiten.
Aktuelle Forschungsthemen: "Medienbiografien, Medienhandeln und Medien-Diskurse in Familien und in der Familienberatung" sowie "Partizipatives Theater, Biografisches Arbeiten und Ethnografie in der transkulturellen Gemeinwesenarbeit".
Kontakt:
Prof. Dr. Bettina Völter
Alice Salomon Hochschule Berlin
Alice-Salomon-Platz 5
D-12627 Berlin
Tel.: 0049 (0)30 99245-407
E-Mail: bettina.voelter@tu-berlin.de, voelter@asfh-berlin.de
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