Volume 20, No. 2, Art. 23 – Mai 2019



Garfinkel folgen, heißt, die Soziologie vom Kopf auf die Füße zu stellen

Jörg Bergmann & Christian Meyer im Gespräch mit René Salomon & Hannes Krämer

Zusammenfassung: Jörg BERGMANN und Christian MEYER zählen mit zu den prominentesten Vertretern der Ethnomethodologie und Konversationsanalyse im deutschsprachigen Raum. In diesem Interview rekonstruieren beide ihren akademischen Werdegang hin zur Ethnomethodologie und bieten einen tiefen Einblick in die Theoriegeschichte der Ethnomethodologie in Deutschland sowie in Amerika. Dabei werden vielerlei Fragen nach den theoretischen Grundlagen und Verständnissen sowie Anwendungs- und Lehrmöglichkeiten diskutiert. Das Interview bietet neben diesem Blick auf die Wege und Umwege der bundesrepublikanischen Rezeptionsgeschichte der Ethnomethodologie zudem einen Zugang zu den theoriearchitektonischen Tiefen und Untiefen dieses von Harold GARFINKEL entwickelten Strangs der Soziologie.

Keywords: Ethnomethodologie; Garfinkel; Praxistheorie; Soziologiegeschichte; Sozialtheorie; Reflexivität; Indexikalität; qualitative Sozialforschung; Konversationsanalyse, Soziologie

Inhaltsverzeichnis

1. "'Methode und Messung' … war ja auch eigentlich ein gemeinsames Projekt"

2. Theorien und Ansätze mit größerer Wirklichkeitsnähe

3. Die Idee der Ethnomethodologie bildet sich zwischen den Begriffen ab

4. Nicht das Buch ist zentral, sondern Lehrer*innenfiguren

5. Ethnomethodologie lehren

6. Der gesellschaftstheoretische Anspruch der Studies

7. Motive und Lesarten

8. Reflexivität und Praxis

9. Ethnomethodologie im Verhältnis zu anderen Theorieangeboten

10. Zwischen Produktion und Rezeption steht kein interpretativer Prozess

11. Missverständnisse und Kritiken

12. Grenzen der Ethnomethodologie

13. Interpretativ heißt eben auch, dass die Interpretation in den Gegenständen ist

14. Ethnomethodologie und Macht

15. Forschungsaufenthalt in den 1970er Jahren an der UCLA

16. "Ich habe eher die Befürchtung, dass die Ethnomethodologie … ausstirbt"

Anmerkungen

Literatur

Zu den Autoren

Zitation

 

Über Jörg BERGMANN und Christian MEYER

Jörg R. BERGMANN, geb. 1946, studierte bis zum Diplom 1975 Psychologie, Soziologie, Philosophie und Sprachwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Thema seiner Diplomarbeit war die Begründung der Ethnomethodologie (EM) durch Harold GARFINKEL. Von 1976 bis 1978 war er als Forschungsstipendiat an der Universität Konstanz und an der University of California, Los Angeles (UCLA) tätig. In Konstanz promovierte er 1980 und habilitierte 1986 (bei Thomas LUCKMANN). Nach Vertretungsprofessuren und Heisenberg-Stipendium trat er 1990 seine erste Professur (Mikrosoziologie) an der Justus-Liebig-Universität Gießen an. 2001 wechselte er an die Universität Bielefeld und war dort bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für empirische Sozialforschung mit Schwerpunkt qualitative Methoden. [1]

Christian MEYER, geb. 1971, studierte von 1992 bis 1998 Ethnologie, Soziologie, Linguistik u.a. an den Universitäten Heidelberg, Montpellier und Mainz. 2003 promovierte er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum Dr. phil.; 2011 habilitierte er an der Universität Bielefeld. Von 2008 bis 2014 vertrat er Professuren an den Universitäten in Bielefeld, Halle-Wittenberg und Siegen und hatte ein Senior-Fellowship am Centre for Global Cooperation Research in Duisburg inne. 2014 wurde er Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. 2015 wechselte er an die Julius-Maximilians-Universität Würzburg auf die dortige Professur für spezielle Soziologie und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Seit 2016 ist er Inhaber der Professur für allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Universität Konstanz. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der (u.a. vergleichenden) Kultursoziologie, Sozialtheorie, Interaktionssoziologie und qualitativen Methoden. Christian MEYER hat 2011 in FQS bereits zusammen mit Thomas SCHEFFER den Bericht zur Tagung "Soziologische vs. ethnologische Ethnographie – Zur Belastbarkeit und Perspektive einer Unterscheidung" (SCHEFFER & MEYER 2011) veröffentlicht. [2]

Über das Interview

Das Interview fand am 22. April 2017 in Jörg BERGMANNs Haus in Lollar statt und ist Teil der von Dominik GERST, Hannes KRÄMER und René SALOMON herausgegebenen Schwerpunktausgabe "Harold Garfinkel and the Studies in Ethnomethodology".1) Zum Interview sind René SALOMON und Hannes KRÄMER angereist, wobei Hannes KRÄMER aufgrund eines Zugschadens erst zum Ende des Interviews dazu stoßen konnte. Das Interview wurde nach dem persönlichen Gespräch via E-Mail-Austausch mehrmals überarbeitet. Der vorliegende Text stellt die finale und im Mai 2019 durch Jörg BERGMANN und Christian MEYER autorisierte Fassung dar. Dem Interview ging eine Erläuterung des Interviewprojektes voran, wobei erwähnt wurde, dass Aaron CICOUREL2) leider die Teilnahme abgesagt hatte, woran sich das Gespräch direkt entfachte. [3]

1. "'Methode und Messung' … war ja auch eigentlich ein gemeinsames Projekt"

René SALOMON: Unser Ziel bei der Auswahl der Interviewten war es, Personen zu Wort kommen zu lassen, die in unterschiedlichen Bereichen oder mit unterschiedlichen Schwerpunkten ethnomethodologisch arbeiten, und auch die Erfahrungen der unterschiedlichen Generationen abzubilden. Es geht auch darum zu zeigen, wie vielschichtig und breit die EM genutzt wird. Deshalb wollten wir auch unbedingt Aaron CICOUREL dabeihaben, um noch einmal eine andere Perspektive hineinzubekommen.

Christian MEYER: Da gibt es doch auch einen Text von CICOUREL (2012) in der Festschrift von Jörg – das ist wenigstens ein bisschen was.

Jörg BERGMANN: Sonst hat er sich nicht viel dazu geäußert, es gab ja auch diese Konflikte mit GARFINKEL.3) [4]

René SALOMON: War das ein Konflikt nur zwischen den beiden, oder hat der sich später noch bei anderen Ethnomethodolog*innen und euch weitergetragen?

Jörg BERGMANN: Nein, das nicht. Aber es sortierte sich auch aus mit den Personen, die in die Staaten an bestimmte Universitäten gingen. Jürgen STREECK4) ist nach San Diego zu CICOUREL und Hugh MEHAN5) gegangen, Karin KNORR war auch bei CICOUREL, Thomas EBERLE6) war später bei Don ZIMMERMAN7) in Santa Barbara – und die hatten nicht so eine enge Verbindung zu GARFINKEL, das sieht man auch (KNORR-CETINA 2012; STREECK 2012). Während ich eben nach Los Angeles an die UCLA8) zu GARFINKEL ging. Es waren aber keine Feindschaften, nicht einmal eine Animosität.

Christian MEYER: Das Buch "Methode und Messung" (CICOUREL 1970 [1964]) war ja auch eigentlich ein gemeinsames Projekt von GARFINKEL und CICOUREL. [5]

Jörg BERGMANN: Eigentlich wollten die beiden – wie aus Briefen im GARFINKEL-Archiv9) hervorgeht – Ende der 1950er Jahre ein gemeinsames Buch machen, in dem CICOUREL den methodologischen Teil übernommen hatte. Worüber sie sich dann zerstritten haben, haben sie mir gegenüber nie deutlich gemacht.10) Aber es wird an verschiedenen Stellen erkennbar, dass zum Beispiel CICOUREL zwar auf GARFINKELs Texte angewiesen war und sie auch rezipiert und sich auf sie bezogen hat. Aber dann schreibt er, dass es ihm "nicht erlaubt war, direkt zu zitieren" (CICOUREL 1970 [1964], S.9). Es gab also schon auch Grenzziehungen. Und ich glaube – salopp ausgedrückt –, dass CICOUREL in den Augen GARFINKELs die EM zu sehr zugänglich gemacht, ich will nicht sagen trivialisiert hat, aber er hat sie zu sehr in den Mainstream der Soziologie hineingetrieben. Während bei GARFINKEL dann schon klar war: Nein, das ist ein alternatives Projekt, ich will es nicht in den Mainstream der Soziologie hineinschleusen. Das war eher CICOUREL – so ist meine Interpretation. [6]

Christian MEYER: Der Begriff "Cognitive Sociology" – so der Titel eines weiteren Buchs von CICOUREL (1973) – war auch keiner, der zu Ideen von GARFINKEL gepasst hätte. Von Kognition auszugehen ist natürlich nicht GARFINKEL-affin. Eher die Kritik an kognitionstheoretischen Ansätzen. [7]

Jörg BERGMANN: Aber der Punkt GARFINKEL und CICOUREL ist deshalb interessant, weil er an den Anfang zurückführt, und zwar den Anfang der EM in Deutschland. Für mich war die Rezeption der EM vor allem erst einmal medial vermittelt durch das Buch von HABERMAS11) "Zur Logik der Sozialwissenschaften" (HABERMAS 1970 [1967]). Das war eigentlich ein Literaturbericht, der ursprünglich 1967 erschien, dann vergriffen war und 1970 in der edition suhrkamp herauskam. In diesem Buch gibt es auch ein Kapitel über den phänomenologischen Ansatz, in dem GARFINKEL zwar erwähnt, aber nur über CICOUREL referiert wird. Ich weiß nicht, ob in dem Buch der Begriff EM überhaupt auftaucht, jedenfalls werden die Brechungsexperimente12) von GARFINKEL beschrieben, aber immer durch die Darstellungen, die sich bei CICOUREL finden. Das heißt, HABERMAS hat damals die Diskussionen der amerikanischen Soziologie aufgenommen und in seinem typischen Ja-aber-Stil diskutiert. Und so kam er von PARSONS13) zu MEAD14) und irgendwann eben auch zur Phänomenologie und SCHÜTZ15). Und da taucht dann CICOUREL auf. Interessant ist, dass zwischen Suhrkamp und HABERMAS eine enge Beziehung bestand – HABERMAS war ja Herausgeber einer Reihe16) – und die meisten der Bücher, die HABERMAS in seinen Literaturbericht aufgenommen hatte, sind innerhalb kürzester Zeit dann auf Deutsch bei Suhrkamp herausgekommen. Und es sind eben nicht die "Studies in Ethnomethodology" (GARFINKEL 1967; im Folgenden auch Studies), sondern es ist "Method and Measurement in Sociology" von Aaron CICOUREL 1970 auf Deutsch erschienen. Das ist deshalb interessant, weil es die Rezeption der EM ganz entscheidend mitbestimmt hat. Sie war eben lange Zeit wahrgenommen worden als ein methodenkritisch auf die Standardverfahren eingestellter Ansatz, der aber selbst substantiell nichts Besonderes liefert oder anbietet. So ist die Rezeption der EM erst einmal über CICOUREL verlaufen. Es wäre historisch interessant, in dem Suhrkamp-Archiv nachzuschauen, ob es damals Versuche gab, die Studies zu übersetzen. Das wäre ja der logische Schritt gewesen, nicht mit CICOUREL zu beginnen, der ja später kam, sondern zuerst GARFINKEL zu übersetzen. Es wäre für die Archäologie der EM interessant, herauszubekommen, ob GARFINKEL damals dagegen war oder ob es diesen Versuch überhaupt nicht gab. Also die Rezeption der EM in Deutschland lief erstmal über die "Logik der Sozialwissenschaften", dann über die sogenannte Labelling-Theorie17), bei der die EM am Rande ein bisschen mit erwähnt wird, und dann durch das Buch von CICOUREL. Und noch ein anderes Buch ist zu erwähnen – "The Coming Crisis of Western Sociology" von Alvin GOULDNER18) (1970), das Ernst von KARDORFF19) damals gerade übersetzt hatte (1974), ein Studienkollege von mir in München. Wir hatten zu der Zeit mit Übersetzungen z.T. unser Studium finanziert. In dem GOULDNER-Band gibt es ein Erving GOFFMAN-Kapitel20) und daran anschließend ein GARFINKEL-Kapitel unter der Überschrift "Sociology as a Happening". Und dies waren – wir haben nicht so viel amerikanische Soziologie gelesen – im Prinzip die ersten Quellen, über die wir damals mit der EM in Kontakt kamen – so 1968, 1969. [8]

Christian MEYER: Und Jürgen STREECK in Berlin hat mit Kollegen das zweite Buch von CICOUREL (1973) übersetzt in den 1970ern. Das war aber innerhalb der Linguistik, die sich CICOUREL auch angeschaut und angeeignet hat. Dies war also ein zweiter Weg, über den die EM nach Deutschland kam, eher als ein kognitionsorientierter, linguistischer Ansatz. Und in der Ethnologie, wo ich ja die EM herhabe, war ein dritter Weg über die Writing-Culture-Debatte21), über den GARFINKEL und auch CICOUREL angeeignet wurden – und zwar vor allem über eine Person innerhalb dieser Writing-Culture-Debatte: Stephen TYLER22). Der war in Mainz relativ präsent, weil er ein guter Freund eines dortigen Ethnologen namens Ivo STRECKER23) war, und der hat über Stephen TYLER unterrichtet und diesen verstanden und interpretiert als eine frühe Form der postmodernen Ethnologie (TYLER 1978). Da wurden starke Bezüge gesehen zur Postmoderne, also einer Abbildungstheorie-kritischen Haltung – welche die Auffassung kritisiert, dass Sprache der Abbildung von Realität dient, Beschreibungen Realitäten direkt abbilden usw. Da hat man sich über das sogenannte Repräsentationsproblem Gedanken gemacht – wie kann soziale Wirklichkeit beschrieben werden, wenn unsere Sprache doch ein soziales Kommunikationsmittel ist und kein Abbildungsinstrument (CLIFFORD & MARCUS 1986; MEYER 2009). Und CICOUREL und GARFINKEL galten eben als mögliche Wege, dieses Problem zu lösen – aber nur bei Stephen TYLER, nicht den anderen Vertreter*innen der Writing-Culture-Debatte. TYLER war aber, ähnlich wie GARFINKEL selbst, einer, der sich gescheut hat, konkrete Verweise in seinen Texten zu machen. Das heißt, da wird z.B. My Dog Rover und so etwas erwähnt, aber es wird nicht gesagt, woher das kommt.24) Das musste ich alles als Student in Kleinarbeit irgendwie herausfinden. So bin ich mit phänomenologischem und ethnomethodologischem Gedankengut vertraut gemacht worden, ohne zu wissen, dass der ganze Ansatz wirklich im eigentlichen Sinne EM ist. Vor allem die Indexikalität war ganz wichtig bei uns – also, dass beschreibende Sprache eben nicht dazu da ist, um in einer Eins-zu-eins-Semantik Wirklichkeiten abzubilden und über Prototypen-Semantiken zu operieren, sondern dass sie eher dazu da ist, um irgendwelche Welten zu evozieren – so hat TYLER das mit Bezug auf WITTGENSTEIN25) genannt –, d.h. auf indexikale Weise etwas unklares Soziales oder Kulturelles anwesend zu machen, wo alle immer nur in irgendeine Richtung Ahnungen haben, wenn man so will. Ich sage was und erzeuge bei dir irgendwelche Ahnungen, und in deiner Rezeption konkretisierst und füllst du das selbst mit konkreteren Inhalten. Dadurch wird Kommunikation möglich. Kommunikation basiert auf Unschärfe. Wie sagt Jörg, "Sinnungewissheit ist eine konstitutive Bedingung für Sinngewissheit" (BERGMANN 2000, S.128). Das war für uns der zentrale Gedanke. Und dass das ein ethnomethodologischer Gedanke ist, war mir zu dieser frühen Zeit noch nicht klar. [9]

2. Theorien und Ansätze mit größerer Wirklichkeitsnähe

René SALOMON: Wann war denn euer erster Kontakt mit den Studies?

Jörg BERGMANN: Ich nehme an, das war ungefähr 1969/70. Der Hintergrund war sicherlich für mich der Eindruck des Unbehagens an der klassischen Soziologie und die Kritik an der positivistischen Sozialforschung. Man schaue sich die Studentenbewegung und die kritische Theorie an und ADORNOs26) Verdikt, dass die klassische Sozialforschung dort berechtigt sei, "wo die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse in der Tat auf die 'Reaktionsweise von Lurchen'27) heruntergebracht werden" (ADORNO 1972 [1957], S.202) – damit sind wir aufgewachsen, wir mussten durch diese Ausbildung durchgehen. Ich habe damals Psychologie studiert, und in der Psychologie war das noch sehr viel mehr die ganze Experimentaltechnik, die Statistik und die Methoden – das haben wir alles gemacht, aber mit großer Reserviertheit. Dazu muss auch der Hintergrund gesehen werden: Es gab ja keine qualitative Sozialforschung, das war völlig unbekannt in der Soziologie. In der Ethnologie gab es mit der Ethnografie vielleicht noch etwas, aber in der Soziologie war Sozialforschung: Interview, Inhaltsanalyse, Survey-Forschung – und das war es. Aber wenn man diese Vorbehalte hatte, was gab es eigentlich als Alternative dazu? Diese Kritik hat dann CICOUREL formuliert in "Methode und Messung in der Soziologie" (1970 [1964]), deswegen war dieses Buch ganz wichtig als Artikulation dieser Vorbehalte. Dazu kam, dass die herkömmliche Form der Theoriebildung mit großer Skepsis betrachtet wurde. Und als herkömmliche Form galten Globaltheorien – das war ein Einwand gegenüber ADORNO und der Frankfurter Schule, die mit solchen Theorien operiert haben. Aber wenn man sich praktisch politisch engagierte, konnte man mit diesen Globaltheorien eher wenig anfangen. So habe ich Theorien und Ansätze gesucht, die größere Wirklichkeitsnähe hatten. Klar war, dass mit Befragung gar nichts herauszukriegen ist, aber was konnte denn sonst gemacht werden? Also vor Ort forschen, keine Scheu vor Berührung haben – all das, ohne dass man einen Begriff von qualitativer Forschung hatte. Es war also schon ein Bedarf vorhanden, darüber nachzudenken, was es an Alternativen gibt. Hintergrund war natürlich auch, dass der symbolische Interaktionismus in Deutschland relativ unbekannt war und erst Anfang der 1970er Jahre mit dem Buch von KRAPPMANN28) über "Soziologische Dimensionen der Identität" (KRAPPMANN 1969; siehe auch BERGMANN & HILDENBRAND 2018) breiter rezipiert wurde. Damals gab es einen Band, der von STEINERT29) herausgegeben wurde, "Symbolische Interaktion" (1973), in dem sich auch die Teilübersetzung eines Artikels von GARFINKEL findet. Also, an diesen Ecken und Enden war schon spürbar: Da gibt es eventuell doch Alternativen. Und mit den "Studies in Ethnomethodology" habe ich dann ungefähr so 1969/70 Bekanntschaft gemacht. [10]

Christian MEYER: Bei mir war das sehr viel später, obwohl ich in meinem ersten Semester in Heidelberg in unserem Methodenkurs Auszüge aus CICOURELs "Methode und Messung" (1970 [1964]) gelesen habe. Ich weiß noch, dass ich den Begriff der EM über Werner PATZELT30) kennengelernt habe. Sein Buch "Grundlagen der Ethnomethodologie" (PATZELT 1987) stand bei uns in der Bibliothek. Ich habe versucht, das zu verstehen, aber bin damit nicht warm geworden. Irgendwie ist mir das fremd geblieben. Und wie gesagt, ich habe die EM eher über die TYLERsche Schule rezipiert. Irgendwann Anfang der 2000er habe ich mir schließlich die Studies besorgt und gelesen. Und das "Preface" war und ist nach wie vor für mich einer der wichtigsten Texte – vor allem die erste Hälfte, bevor es so ein bisschen technisch wird. Und auch das erste Kapitel, das GARFINKEL ja auch speziell für die Studies geschrieben hat, ist nach wie vor mein Lieblingskapitel – komischerweise, obwohl es ja eigentlich als das schwerfälligste gilt ...

Jörg BERGMANN: Ob er es geschrieben hat, weiß ich gar nicht ...

Christian MEYER: Ach so? [11]

Jörg BERGMANN: Ich glaube ja, dass viele der Texte von David SUDNOW31) sehr heftig redigiert wurden. Aus Briefen im GARFINKEL-Archiv geht hervor, dass SUDNOW auch auf Druck des Verlags die Texte GARFINKELs im Hinblick auf Lesbarkeit bearbeitet und z.T. das erste Kapitel neu geschrieben hat. SUDNOW hat damals eine sehr wichtige Rolle gespielt, weil er zwischen den Arbeitsgruppen um GOFFMAN in Berkeley und GARFINKEL in Los Angeles vermittelt hat. Er hat dann 1972 einen Band herausgegeben, "Studies in Social Interaction" (SUDNOW 1972), in dem auch ein GARFINKEL-Text und zwei Aufsätze von SACKS32) abgedruckt sind. Er war so ein bisschen der Propagandist der EM. [12]

Christian MEYER: Von dem "Über formale Strukturen praktischer Handlungen"-Text (GARFINKEL & SACKS 1976 ]1970]) weiß ich, dass GARFINKEL den immer wieder sehr stark von SACKS hat bearbeiten lassen. Das haben wir jetzt im Archiv herausgefunden. Auch mit Tonaufnahmen, wo er immer wieder sagt: "Harvey, was würdest du denn dazu sagen?" Er hat Harvey SACKS da ziemlich freie Hand gelassen. Das fand ich ganz interessant; insofern ist es plausibel, dass das vielleicht beim ersten Kapitel der Studies auch so war. Für mich war "What is Ethnomethodology" jedenfalls immer das zentrale Kapitel neben den Aufsätzen wie "Agnes", die relativ klar von der Botschaft her sind, da er dort das erste Mal sein sozialtheoretisches Programm zu klären versucht (GARFINKEL 1967). Wie du gesagt hast: Die Rezeption war erst einmal eine methodenorientierte bzw. als Methodenkritik, und das hat dann ein bisschen verhindert, dass das sozial- und gesellschaftstheoretische Programm, das GARFINKEL verfolgt hat, sichtbar wurde, gerade auch in Deutschland. Das fand ich eigentlich immer schade. [13]

3. Die Idee der Ethnomethodologie bildet sich zwischen den Begriffen ab

René SALOMON: Wo wir gerade beim Thema einflussreichstes oder interessantestes Kapitel sind: Gibt es für dich sowas auch, Jörg? Ein Kapitel, wo du sagen würdest: Das ist mein Lieblingskapitel, das finde ich am spannendsten, am interessantesten, oder das hat mich am meisten beeinflusst?

Jörg BERGMANN: Nein, das gibt es eigentlich nicht. Ich finde auch das erste Kapitel am weitreichendsten – sowohl mit diesen exemplarischen Hinweisen, was er alles gemacht hat, und dann auch mit dem Versuch so einer Art von nicht systematischer, aber organisierter Beschreibung der EM, mit den Verbindungen zwischen accountability, indexicality, accomplishment und all diesen Aspekten. Und wenn man das einmal verstanden hat, kann man auch die anderen Texte nicht nur verstehen, sondern auch besser aufschlüsseln. Und dann kann auch der "Agnes"-Text mit mehr Komplexitätszuschreibung gelesen werden. Den "Agnes"-Text kann man ja relativ einfach lesen, wie das manche Feminist*innen gemacht haben, aber er kann auch komplexer gelesen werden, und das geht eigentlich nur dann, wenn man das erste Kapitel richtig wahrgenommen hat. Es wäre etwa, worauf GARFINKEL selbst verweist, zu flach, die von Agnes eingesetzten Techniken zur Darstellung von Geschlecht im GOFFMANschen Sinn als impression management33) zu verstehen. Für Agnes geht es nicht um Selbstdarstellung, sondern um passing, also um Durchkommen in für sie unkalkulierbaren Situationen, in denen sie oft gar nicht weiß, auf welches Ziel hin sie sich orientieren und wie sich verhalten soll, wenn sie in einer Situation mit einem Entscheidungsproblem konfrontiert ist. Für mich war in diesem ersten Kapitel die Begriffsarchitektur am wichtigsten, an der entlang ich 1974 meine Diplomarbeit geschrieben habe (BERGMANN 1974). In diesen Geschirren von Begriffen, die GARFINKEL da verwendet, bildet sich die Idee der EM zwischen den Räumen ab. Nicht in den Begriffen selbst, sondern in den Räumen zwischen den Begriffen. Vieles darin bleibt auch nach mehrfachem Lesen dunkel. Das Verrückte daran ist, dass GARFINKEL ja gut schreiben kann, was an seinem frühen Text "Color Trouble" (GARFINKEL 1941)34) erkennbar ist – aber dann stellt sich die Frage, warum er so verquast und konnotativ schreibt. Und wahrscheinlich ist es schon so, dass er die Idee hatte, dass Gewissheit durch Ungewissheit entsteht. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem auf DERRIDA35) zurückgehenden Konzept der différance, das nicht nur das Unterscheiden von Sinn, sondern zugleich auch das Aufschieben von Sinn meint (DERRIDA 1976). Es ist einfach nicht möglich, endgültig an das Ende einer Sinngewissheit zu kommen, sie läuft immer vorne weg und muss fortwährend aufgeschoben werden. Man läuft ihr wie der Esel einer Karotte immer hinterher, ohne sie zu erreichen, bzw. man entscheidet sich, um überhaupt handeln zu können, for all practical purposes für eine Sinnversion, ohne andere Versionen deshalb gänzlich aufzugeben. Diese performative Qualität ist in dem Buch auch durch die Art der Textgestaltung selber realisiert: Dass man nie sicher sein kann, was eigentlich die EM ist, sondern der Leser/die Leserin immer so ein Stück weitergeführt wird. Und dass in der Performativität des Textes eigentlich die EM verborgen ist. Das muss man erst einmal mitmachen, und viele Leute weigern sich natürlich, weil sie den Text einfach so in einem normalen Sinn als ein Angebot von einem Argument auffassen. Und das ist der Text natürlich nicht – er muss gewissermaßen auch als performativ verstanden werden. Und wenn man das verstanden hat, kann man die anderen Texte komplexer lesen. Deswegen glaube ich schon, ist das erste Kapitel einerseits eigentlich un-ethnomethodologisch, weil es – zumindest halbherzig – Theorie betreibt, und auf der anderen Seite ist es aber ein wichtiger Schlüssel, mittels dessen ein Zugang zu den anderen Texten gefunden werden kann. [14]

René SALOMON: Die Texte zeigen einem durch ihre Schreibart, wie Sinnproduktion funktioniert – man bekommt beim Lesen live und in actu mit, wie man selbst Sinn produziert.

Jörg BERGMANN: Ja genau, das ist der Punkt.

Christian MEYER: Und vor allem vor diesem Hintergrund, dass er gegen abbildungstheoretische Sprachtheorien oder korrespondenztheoretische Wahrheitstheorien argumentiert (GARFINKEL 1952, S.92ff.). [15]

René SALOMON: Ihr seid ja zurzeit mit der deutschen Übersetzung der Studies beschäftigt. Wird dieser Punkt dabei mitberücksichtigt?

Christian MEYER: Ja. Also, wir haben das jedenfalls besprochen und wir hatten einen Workshop mit der Übersetzerin. Da muss sozusagen sehr künstlerisch operiert werden, und das ist wirklich nicht einfach. [16]

Jörg BERGMANN: Ich finde, diese performative Qualität des Buches, die geht halt bei CICOUREL – und übrigens auch in dem Buch von PATZELT (1987) – verloren. Das Interview ist als Methode halt problematisch, weil beim Interviewen Alltagskonzepte eine Rolle spielen und die einfach vorausgesetzt werden und so weiter – und das Ganze kann man auf Inhaltsanalyse anwenden. Das ist eingängig, aber ohne die Komplexität, die bei GARFINKEL enthalten ist. Deswegen meinte ich am Anfang: GARFINKEL hat den Eindruck gehabt, dass CICOUREL die EM unter Wert verkauft und zu billig weggibt. Das war mein Eindruck. [17]

Christian MEYER: Aber die Rezeption wurde natürlich durch diese Schreibweise von GARFINKEL erschwert. Er hätte ja auch erst einmal in einer eingeklammerten Weise – unter Nutzung dieser eher abbildungstheoretischen Idee von Sprache – einfach benennen können, was er vorhat. Aber das hat er nicht gemacht, sondern er hat das Höchste gefordert von den Leser*innen und gewissermaßen von sich selbst auch. Und das hat die Rezeption des Buches bis heute schwierig gemacht. [18]

René SALOMON: Gibt es Teile in dem Buch, bei denen ihr bis heute nicht sicher seid, was damit gemeint ist? Wo immer noch dunkle Stellen sind, wie ihr es eben genannt habt?

Christian MEYER: Auf jeden Fall. Ganze Teile würde ich jetzt nicht unbedingt sagen, aber immer wieder Sätze, die enigmatisch bleiben. Ich habe das Buch jetzt gerade wieder mit Studierenden ausführlich gelesen und die bringen einen ja auch wieder auf solche Sätze. Man kann das ja kaum so konzentriert lesen, dass man wirklich jeden Satz durchreflektiert rezipiert. [19]

Jörg BERGMANN: Ich glaube, dass das nicht in allen Texten der Fall ist. Einige Texte sind relativ luzide – also die "Rational Properties" (GARFINKEL 1967, Kap. 8) zum Beispiel, die ja sehr stark an SCHÜTZ angelehnt sind.

Christian MEYER: Aber es kommt schon immer einmal plötzlich auch ein Satz, wo die Bezüge unklar sind. [20]

Jörg BERGMANN: Ja, auch in dem "Preface" stehen Sätze, die nicht nur fast so lang sind wie ein ganzer Kapitelabschnitt, sondern mit den vielen Parenthesen und Inklusionen fast deutsch-konstruiert erscheinen. Das wurde ihm ja auch vorgeworfen, dass er irgendwie Deutsch gedacht und das wortwörtlich ins Englische übersetzt hat – und da kommt dann so ein Stil heraus. [21]

4. Nicht das Buch ist zentral, sondern Lehrer*innenfiguren

Christian MEYER: Was ich schon die ganze Zeit sagen wollte, ist, dass ich glaube, dass das Buch in der EM gar nicht so eine große Rolle spielt. Sondern für die EM ist zentral, dass es Lehrer*innenfiguren gibt, die einem die EM nahebringen, indem bei denen studiert und mit ihnen diese Haltung eingeübt wird. Und da muss ich schon sagen, das war für mich Jörg. Man lernt eigentlich EM im direkten Kontakt mit Personen, die einen inhaltlich anleiten und weiterbringen – nicht Autoritätsfiguren – sondern Personen, die ihr Wissen selbst von GARFINKEL oder von einer anderen Lehrer*innenfigur gelernt haben, die bei GARFINKEL war. Es ist eine sehr orale und Face-to-Face-orientierte Lehrsituation. Insofern kann ich sagen, dass ich die EM nicht unbedingt über dieses Buch gelernt habe – sondern das Buch ist immer wieder etwas, in das man hineinguckt, und noch einmal liest und sich inspirieren lässt, und in dem auch wahnsinnig viele noch nicht genutzte Themen behandelt werden wie die Machtthematik, die Gesellschafts- und Sozialstrukturthematik. GARFINKEL hat ja für alles Gedanken entwickelt, obwohl ihm immer vorgeworfen wird, die EM hätte sich damit nicht beschäftigt oder hätte da eine Leerstelle: Macht, Sozialstruktur etc. Das stimmt nicht; in dem Ansatz steckt sehr viel mehr. Dass die Themen, die in der EM bisher behandelt wurden, nur eine bestimmte Auswahl aus den Möglichkeiten sind, die das Buch bietet, liegt darin begründet, dass die Schüler*innen, die die EM weitergegeben haben, sich natürlich nur mit einem Ausschnitt beschäftigen konnten und dieser dann deren Spezialgebiete betraf. So sehe ich im Moment dieses Buch: Dass da ein Riesenuniversum an noch möglichen Themen ist, die wir noch angehen sollten, und dass das Buch auch einen sozialtheoretischen und gesellschaftstheoretischen Wert hat. [22]

René SALOMON: Es ist ja nur ein Text, und wenn EM eigentlich etwas ist, das von einer Lehrer*innenfigur gelehrt werden muss, wozu dient dann der Text? Kann das Buch überhaupt gelesen werden, ohne dass es gleichzeitig von jemandem, der GARFINKEL kannte oder der jemanden kannte, der ihn kannte, praktisch vermittelt wird? Oder entstehen dann solche Reduktionen, über die wir vorhin gesprochen haben?

Jörg BERGMANN: Ich sehe das ganz ähnlich wie Christian, und auch GARFINKEL würde es vermutlich so sehen, dass man, wenn man EM betreiben und richtig verstehen will, dies bis zu einem gewissen Grad einüben muss. Es gibt sozusagen Anfänger*innen-Klavierspieler*innen und es gibt -Expert*innen, und so gibt es das sicherlich auch hier. BEETHOVENs Sonaten können rein kognitiv verstanden werden, aber vermutlich gelangt man zu einem ganz anderen Verständnis, wenn man anfängt, sie zu spielen und dann auch eine gewisse Perfektion entwickelt. Und diese Art von Kunstfertigkeit – nicht von Kunst –, von Professionalität, die etwas damit zu tun hat, dass man etwas gut tun und durch Übung dabei besser werden kann: Das ist schon eine Vorstellung, die sich in der EM und in der KA findet. Und die gegenüber anderen wissenschaftlichen Zugängen, für die alles im Text bleibt, erst einmal fremdartig und abstoßend ist. Das steckt wohl hinter dem Vorwurf der Geheimniskrämerei. [23]

René SALOMON: Das heißt, es ist ein anderes Verständnis?

Jörg BERGMANN: Ich glaube, ein Verständnis von der EM, so wie sie sich als wissenschaftlicher Zugang selbst versteht oder positioniert, kann eigentlich doch erst gewonnen werden, wenn angefangen wurde, damit zu arbeiten. Und da ist das Buch – um das Bild von WITTGENSTEIN (1922, §6.54) zu verwenden – wie eine Leiter: Man klettert hinauf und wenn man oben ist, braucht man die Leiter nicht mehr. Dann kann man sie auch umwerfen oder stehen lassen, weil sie für andere vielleicht von Nutzen ist. Ich habe dann auch eher weniger mit dem Text selbst gearbeitet. Heute gucke ich immer wieder mal hinein, dann erscheinen mir wieder Sätze völlig dunkel, und andere wieder hell, und es wandert auch, ändert sich. Und die Version der EM, die in den Lehrbüchern steht, das ist für mich ein in der herkömmlichen oder konventionellen Theoriesprache formuliertes Programm der EM. Ob das die EM selbst ist, da habe ich meine Zweifel, weil sie eben gerade nicht nur eine Textproduktion sein will und klarmacht: Leute, ihr könnt zwar etwas untersuchen und darüber Texte schreiben, aber es bleibt immer ein Rest, der in dem Text nicht auftaucht oder nicht vorkommt. Ihr müsst also irgendwie versuchen, das auf andere Art und Weise zu vermitteln; reflektiert oder beschreibt, dass da Praktiken sind, die nicht in dem Text aufgehen, die in ihm nicht vorkommen. Oder wählt andere Formen der Darstellung, experimentiert damit. Diese Weigerung, sich einfach auf die abbildungstheoretischen Prämissen herkömmlicher Theorien einzulassen, das ist in der EM verankert und ein wesentliches Element. Und das geht verloren, wenn nur gesagt wird: "Ja, die EM beschäftigt sich mit den Methoden, die wir im Alltag anwenden, um Sinn zu erzielen", und das ergibt dann eine schöne Definition. Aber damit geht dieses Moment verloren, dass es nicht mit den sinngenerierenden Methoden getan ist, sondern es kommt hinzu, dass es nicht möglich ist, diesen Sinn endgültig festzustellen und festzuhalten. Und warum ist es nicht möglich? Da kommt dann die Indexikalität ins Spiel und das accomplishment, und das verweist wiederum darauf, dass Handelnde immer auch account-Produzent*innen sind. Und schon ist diese Art von Nichtfestgelegtheit erreicht, die die EM als ein wichtiges Element ihrer Theoriekonstruktion hat. Dass weder im Alltag noch in der Theorie der Sinn, der produziert wird, abbildungsmäßig festgelegt werden kann. [24]

Christian MEYER: Genau, Theorie wird eben als etwas Praktisches gesehen. Man praktiziert Theorie. Und das Praktizieren von Theorie kann sich natürlich nicht in einer Beschreibung irgendwelcher Strukturen einer Theorie erschöpfen, sondern sie muss praktiziert und gemeinsam vollzogen werden. Deswegen kann ein Buch nur eine Hilfestellung und ein Steinbruch sein. Ich glaube aber schon, dass das Buch eines ist, in dem jede*r etwas finden kann, egal auf welchem Stand der Erkenntnis man sich befindet. Ich weiß nicht, ob das bewusst so gemacht worden ist oder in welcher Form es dem Autor zugeschrieben werden kann, aber als Anfänger*in findet man bestimmte Dinge und liest das auf einer ersten Ebene, und je tiefer man einsteigt, findet man immer wieder etwas Neues. Und das finde ich eigentlich ganz interessant. Ich glaube nicht, dass man es, wenn man auf der höchsten Stufe ist – um in dem Bild zu bleiben – dann weglegt, sondern auch dann findet man wieder etwas. Das hat natürlich etwas Quasi-Religiöses, dass immer wieder doch etwas gefunden wird: Je nach dem Erleuchtungsstand, auf dem man ist, finden sich wieder Sätze, die einem neue Ideen bringen. [25]

5. Ethnomethodologie lehren

René SALOMON: Was heißt das konkret für die Lehre?

Jörg BERGMANN: Für die Lehre heißt das konkret, dass die Studierenden dazu gebracht werden, die Erfahrung zu machen, dass etwas nicht mehr mit den normalen Beschreibungsinstrumenten zu schaffen ist. Und das ist erst einmal eine große Irritationserfahrung, weil natürlich unser Alltagsverstand genau so konstruiert ist, dass er uns gewissermaßen gegenüber dem Absurden abdichtet, gegenüber dem, dass wir plötzlich irgendwo dastehen und keinen Sinn mehr hinkriegen. Das darf nicht passieren, weil dann bricht die Welt zusammen. Und diese Erfahrung wollte GARFINKEL mit seinen Brechungsexperimenten und Demonstrationsexperimenten verdeutlichen, bei denen er die Leute einfach in Irritationen hineinlaufen und sie nicht mehr daraus frei lässt. Ich habe in Bielefeld meinen Studierenden gesagt: Stellt euch in der Öffentlichkeit irgendwo hin, aber so, dass ihr nicht auf etwas wartet oder als Wartende wahrgenommen werdet. Sie waren also in einer Halle, vor einem Buchladen oder in einem Restaurant mit der Aufgabe konfrontiert zu stehen, aber nicht zu warten – das wurde dann videografiert. Das war etwas, was sie total irritiert hat, sie aber spannend fanden und sich fragten: Wie realisiere ich eigentlich, wenn ich warte, das doing waiting, und wie vermeide ich, dass ich wahrgenommen werde als jemand, der wartet. Mit anderen Worten: Es sind kleine Versuche, um die Studierenden spüren zu lassen, dass Sinnproduktion eine Praxis ist, die man nicht völlig auf einer abbildungstheoretischen Ebene hinkriegt, sondern dass immer ein nicht-explizierbarer Rest bleibt. Die Studierenden sollen etwa bewusst erfahren, dass wir im alltäglichen Handeln viele Entscheidungen in die Zukunft verlagern und dabei fortwährend von Maximen wie "Bis auf Weiteres" oder "Und so weiter" ausgehen – dies ist die Temporalität der Sinnproduktion, die bei GARFINKEL eine so große Rolle spielt. Diese operative Qualität des Alltags, die uns normalerweise selbstverständlich ist, müssen die Studierenden am eigenen Leib erfahren, indem solche kleinen Experimente oder kleinen Untersuchungen – kleine studies – mit ihnen gemacht werden. [26]

Christian MEYER: Genau das sollten die Studierenden ja am eigenen Leib erfahren, und dafür hat sich GARFINKEL immer wieder Experimente ausgedacht. Und genau so ist dieser Text auch zu verstehen: Beim Lesen sollte man am eigenen Leib die eigene Sozialität enthüllen. Und auch gleichzeitig die Kontingenzen, die damit verbunden sind, dass wir diese Sozialität besitzen und dass es keine Beobachter*innen von außen geben kann, sondern wir immer nur mit sozialen Mitteln und Methoden wieder uns selbst und unsere Lebenswelt beobachten können. GARFINKEL ist der Soziologe, der diesen Gedanken am konsequentesten und auch radikalsten umgesetzt hat: d.h. also die Idee, dass wir nicht der Illusion verfallen sollten, wir könnten die soziale Welt von außen beobachten und von dort aus beschreiben, sondern dass wir immer zwangsläufig Teil dieses ganzen Prozesses sind und bleiben. Mit anderen Worten also, dass die ordinary society eben immortal ist, und das gilt auch für die Soziolog*innen selbst.36) Das war GARFINKELs Grundanliegen von Anfang an. Dazu hat er sich schon in einem Briefwechsel mit SCHÜTZ ausgetauscht. Was machen wir? Wie lösen wir dieses Problem, dass die Soziolog*innen selbst Teil der sozialen Welt sind? [27]

6. Der gesellschaftstheoretische Anspruch der Studies

René SALOMON: Seht ihr an dieser Stelle auch einen gesellschaftstheoretischen Anspruch? Im Prinzip könnte mit LUHMANN37) gesagt werden: Beobachtung ist immer Beobachtung innerhalb der Gesellschaft, es gibt keine Beobachtung von außerhalb der Gesellschaft.

Christian MEYER: Ja, LUHMANN wäre sicher der Zweite, der das sehr konsequent umgesetzt hat. Auf jeden Fall sehe ich in GARFINKELs Studies auch einen gesellschaftstheoretischen Anspruch. Immer, wenn es um soziale Struktur geht, beschäftigt GARFINKEL sich mit Gesellschaftstheorie. Wobei er natürlich nie diese Reifikation von Gesellschaft unterschreiben würde – there is no such thing as society. Aber Gesellschaft als etwas Praktisches, sich permanent in Praxis Befindliches – die Sozialstruktur einer Gesellschaft ist natürlich die Struktur, die die Gesellschaftsmitglieder – also die Personen, die sich als Mitglieder verstehen – dieser Reifikation zuschreiben, die sie selbst vollziehen. Das wäre die Idee von GARFINKEL. Wie siehst du das, Jörg? [28]

Jörg BERGMANN: Ich kann mit dem Begriff der Gesellschaftstheorie mit Bezug auf die EM nicht so viel anfangen. Und ich hätte auch gewisse Zweifel oder Schwierigkeiten, ihn mit GARFINKEL zusammenzubringen, wenn also von dieser LUHMANNschen Trias Interaktion, Organisation, Gesellschaft ausgegangen wird. Dazu liegt GARFINKEL irgendwie schief, da kann er nicht untergebracht werden. Es gibt ethnomethodologische Arbeiten im Organisationsbereich; es gibt sie auf der Interaktionsebene. Und jetzt kann überlegt werden: Gibt es auch auf der Gesellschaftsebene ethnomethodologische Elemente? Und da würde ich sagen, dass es Elemente, aber keine Theorieansprüche in Bezug auf die Ebene der Gesellschaftstheorie gibt. Es wäre zu überlegen, ob so etwas konstruiert werden kann oder ob dazu etwas Anderes gebraucht wird, und ob das dann in Richtung Praxistheorie oder so geht. Das habe ich nicht verfolgt, aber könnte ich mir vorstellen. Ich glaube aber, dass in dem Buch selbst kein Anspruch auf Gesellschaftstheorie zu erkennen ist. [29]

Christian MEYER: Ich glaube schon, dass es da einen gewissen Ansatz gibt.

Jörg BERGMANN: Wo siehst du das?

Christian MEYER: In der Idee, dass gesagt wird: Ein Gesellschaftsbegriff darf nicht der Begriff der Soziolog*innen sein, sondern der Gesellschaftsbegriff muss sich auf den Begriff beziehen, den sich die Mitglieder selbst von Gesellschaft machen, auf deren common sense knowledge of social structures (GARFINKEL 1967), also ihre Alltagsauffassung von Gesellschaft.38) Da kommt dann die GARFINKELsche Variante der dokumentarischen Methode der Interpretation ins Spiel: Wie sehen Akteur*innen bestimmte Exemplare, bestimmte tokens, als typische Exemplare einer allgemein existierenden Strukturbedingung, also dessen, wie sie die normale, vertraute Gesellschaft verstehen. Wenn z.B. Clara IMMERWAHR39), die Frau von Fritz HABER40), bei den Experimenten zu ihrer Promotion in Chemie in den 1890er Jahren ein Reagenzglas zerbrochen hat, dann wurde das von ihren männlichen Kollegen als typisches Dokument dafür interpretiert, dass Frauen für die Wissenschaft ungeeignet sind. Wenn ihnen selbst eines zu Bruch ging, dann lag das an situativen Kontingenzen und war Zufall; es war jedenfalls auf keinen Fall ein typisches Exemplar für eine allgemeine Struktur (CHARLES 2005). So perpetuiert sich soziale Ungleichheit über die Interpretation von sozialem Geschehen als typisch oder eben zufällig. Ein Gesellschaftsbegriff kann mit GARFINKEL nur als "Akteursbegriff" und nie als "Beobachterbegriff" verstanden werden. [30]

Jörg BERGMANN: Wenn du das schon als Gesellschaftstheorie oder als gesellschaftstheoretisches Element bezeichnest, kann man das so sehen.

Christian MEYER: Ich meine schon, dass hier ein ethnomethodologisches Begriffsangebot für den Begriff der Sozialstruktur vorliegt, der sich auch mit GARFINKELs Weiterentwicklung von PARSONs' Begriff der common culture (1951) zur reflexivity verbindet, die besagt, dass die Mitglieder das, was sie als Kontext für ihr Tun begreifen und das es verstehbar macht, in Wahrheit selbst mit diesem Tun zugleich hervorbringen und accountable machen. Ein solcher Begriff betrachtet deswegen Gesellschaft nicht als objektive Tatsache von außen, wie DURKHEIM41) es wollte42), sondern so wie GARFINKEL es formulierte, from within.43) Ein solcher Begriff nimmt ernst, dass Soziolog*innen selbst auch Teil der Gesellschaft sind und sie nicht wie ein Ding von außen analysieren. [31]

Jörg BERGMANN: Es gibt ja auch Versuche von einigen englischen Kolleg*innen, die angefangen haben, die EM auf Fragen der Sozialstruktur und andere makrosoziologische Themen zu beziehen.44) Da müsste nochmal zurückgeblickt werden. Als ich die EM zum ersten Mal wahrgenommen hatte, war jedenfalls das Geschehen um 1968 der Hintergrund dafür. Als gravierender Mangel der gängigen funktionalistischen Theorien, aber auch der kritischen Theorie, wurde damals empfunden, dass in diesen theoretischen Bestimmungen und Beschreibungen die Handelnden und ihre Alltagspraxis nicht mehr vorkamen. Die Praxistheorie von Karl MARX45) war ein Anlass, sich damit auseinanderzusetzen, wie an die praktischen Tätigkeiten der Menschen heranzukommen ist und darüber nicht nur abgehoben theoretisch geschrieben und nachgedacht wird. Es wurde schon überlegt, welche Art von Theorie gibt es da? Man hat sich Georg LUKÁCS46) angeschaut, Karl KORSCH47) gelesen – die marxistischen Theorien, die es zum Thema Praxis gab – auch Jean-Paul SARTRE48) und die Existenzialist*innen, deren Arbeiten in diese Richtung gingen. Und auf diesem Weg stieß man eben auch auf die EM. Wobei die EM dann wieder weggelegt wurde, weil in ihr hauptsächlich nur Methodenkritik gesehen wurde. Oder sie wurde als exotisierende Soziologie des Alltags wahrgenommen, aber nicht als etwas, was darüber hinausgeht. [32]

René SALOMON: Das war bei dir aber anders, Jörg. Sind die Studies ein politisches Buch für dich?

Jörg BERGMANN: Ja damals war es eins. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch als politisches Buch beschreiben würde, aber damals war ja der Politikbegriff auch viel weiter gefasst. Bei Walter BENJAMIN49) heißt es an einer Stelle: "Im Glashaus zu leben ist eine revolutionäre Tugend par excellence" (1980 [1929], S.298). Und in diesem Sinn war für uns 1968 das Private politisch. Auch die Praxis des eigenen Lebens und Tuns war eine, die als politisch begriffen und gestaltet wurde – etwa durch das Zusammenleben in einer Kommune, gemeinsame Erziehung der Kinder etc. Insofern war die Aussicht, mittels der EM auf eine andere Art und Weise über die Alltagspraxis sprechen zu können, schon attraktiv. Dahinter stand ja die Hoffnung, eine Sprache zu finden, die es möglich macht, die Praxis, die wir als politische begriffen hatten, auch wissenschaftlich zu beschreiben. Aber das war nur ein unartikuliertes, sehr vages Motiv im Hintergrund dafür, sich damit intensiver auseinanderzusetzen. Daneben war ein zweites Motiv, dass ich damals Theaterwissenschaft studierte und mit einer Gruppe von Kommiliton*innen eine Art von politischem Straßentheater machte und Happenings durchführte. Deshalb hatte GOULDNERs (1974 [1970]) Beschreibung der EM als Happening elektrisierend auf mich gewirkt. Als Hintergrund war für uns natürlich auch die sogenannte Situationistische Internationale von Bedeutung, in deren Aktionen und Happenings sich politische und theatrale Motive vermischten. Und als GOFFMANs Buch "The Presentation of Self in Everyday Life" unter dem irreführenden Titel "Wir alle spielen Theater" (1969 [1959]) auf Deutsch erschien, dehnte sich die Theatersemantik ganz in unserem Sinn über das Reservat der Bühne hinaus in den Bereich des Alltags aus. [33]

7. Motive und Lesarten

René SALOMON: Bleiben wir dabei – was waren konkret eure Motive, dieses Buch dann auch ganz zu lesen? Also nicht nur einen Aufsatz, sondern zu sagen: Ich tue mir das jetzt an und lese das ganze Buch – trotz seiner Schwerfälligkeit.

Christian MEYER: Das Motiv war nachzuvollziehen, was GARFINKEL mit diesem Buch wollte, was seine Ideen waren. Es ist bei mir jedenfalls ein reflexiver Zugang über das Werk. Ich habe das wirklich lesen wollen, um zu wissen, wie er dieses Buch aufbauen wollte, vor dem Hintergrund dessen, dass ich schon in der Praxis EM gelernt hatte. Und bei mir war das Interesse ganz klar nicht politisch, sondern erkenntnistheoretisch. Für mich war die EM eine Lösung für die Krise der ethnografischen Repräsentation oder auch der qualitativ-soziologischen Repräsentationsfrage, eine Lösung avant la lettre, wenn man so will. Bevor die Krise entstanden ist, hatte GARFINKEL diese schon gesehen und eine Lösung vorgeschlagen, die ich eben sehr plausibel fand. [34]

Jörg BERGMANN: Für mich gab es da verschiedene Motive. Das Politische hatte ich gerade angedeutet. Dann die Kritik der bürgerlichen Wissenschaft, die damals einfach ein enorm wichtiges Thema für uns Studierende war. In der Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Linguistik – also in diesen Instituten tummelte ich mich –, da war die Kritik an der bürgerlichen Wissenschaft ein ganz zentrales Motiv. Und wenn man mit diesem kritischen Hintergrund an der Universität bleiben und sich nicht einfach der herkömmlichen Wissenschaft anschließen und dennoch vorankommen wollte, war es notwendig, sich irgendetwas anderes einfallen zu lassen. Da waren die Studies schon eine Herausforderung und Möglichkeit am Horizont. Man hat es noch nicht verstanden, aber geahnt, dass da irgendetwas enthalten sein könnte, was unsere Art von Praxis artikulationsfähig und vor dem Hintergrund der Vorbehalte, die gegenüber der herkömmlichen Sozialforschung herrschten, mögliche Alternativen sichtbar machte. Außerdem kam ich ja aus der Psychologie, und da spielte Anfang der 1970er Jahre die Labelling-Theorie und die Kritik der Psychiatrie eine wichtige Rolle. Wenn man sich die damals gängigen Kriminalitäts- und Devianztheorien anschaut, wird man blass. Das war ziemlich furchtbar. Die herkömmliche Psychiatrie wurde wegen ihrer rigiden Normalitätsvorstellungen und ihrer organizistischen Krankheitstheorien kritisiert – die Labelling-Theorie machte ein großes Thema aus der These, dass abweichendes Verhalten zu verstehen ist als das Ergebnis von Kaskaden von Zuschreibungsprozessen. Es wurde postuliert, dass es psychische Krankheiten nicht gibt – psychische Krankheit ist vielmehr ein Etikett für jemanden, der sich nicht so vernünftig verhält, wie die anderen das erwarten. Zwar hat der Labelling-Ansatz für eine Relativierung des Normalitätsbegriffs gesorgt, doch theoretisch wie methodologisch stand er auf sehr schwachen Beinen, wie gerade auch ethnomethodologische Autor*innen kritisiert haben. In dem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass Fritz SACK50), der einer der ganz frühen Vertreter des Etikettierungsansatzes in der deutschsprachigen Kriminologie war, zusammen mit Elmar WEINGARTEN51) und Jim SCHENKEIN52) den wichtigen Band "Ethnomethodologie: Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns" (WEINGARTEN, SACK & SCHENKEIN 1976) bei Suhrkamp herausgegeben hat. Es war für mich also ein Gewebe von Motiven: politisch, psychologisch, theaterwissenschaftlich, performativ und praxisorientiert. Vor diesem Hintergrund hatte ich angefangen, mich mit GARFINKELs Studies zu beschäftigen. Eigentlich hat keiner in dieser Zeit das Buch tatsächlich gelesen – auch die Professor*innen und Assistent*innen nicht, mit denen ich damals zu tun hatte. Die hatten zwar von EM gehört oder gelesen, aber zumeist nur über die oberflächliche Rezeption durch CICOUREL oder GOULDNER. Es gab noch die Bände der ARBEITSGRUPPE BIELEFELDER SOZIOLOGEN (1973), in denen die EM neben anderen US-amerikanischen Ansätzen vorgestellt wurde, wobei jedoch die ohnehin schon unzugängliche EM noch unzugänglicher präsentiert wurde. Öfter ausgetauscht habe ich mich mit Stephan WOLFF53), der sich damals in München im Zug seiner soziologischen Doktorarbeit ebenfalls mit der EM befasste (WOLFF 1976). Doch letztlich habe ich mich ziemlich allein durch die Studies gequält, und meine Diplomarbeit ist nichts anderes als das Dokument dieser Verstehensarbeit, weshalb ich auch nie den Impuls hatte, sie zu veröffentlichen. [35]

René SALOMON: Ich habe den Eindruck, dass die Studies eines der Bücher ist, die nur wenige ganz gelesen haben.

Jörg BERGMANN: Ja, vielleicht ist es ein Buch, das nicht von A bis Z gelesen werden kann. Vielleicht ist es ganz sinnvoll, auch einmal damit aufzuhören, zu scheitern, herumzublättern. Und dann liest man vielleicht den Artikel über Agnes: Wie, das ist eine intersexed person? Was ist denn das? Dann fängt man da an zu lesen und fragt sich: Was hat das wiederum mit accountability zu tun? Vielleicht ist es so ein Buch, in dem man sich bewegen und mit Geduld lernen muss, sich darin zu bewegen. Viele halten die Frustration, die das Buch ja einfach liefert, nicht aus. Andere kämpfen sich durch, ziehen Verbindungen, können dann plötzlich mit ethnomethodologischen Kategorien besser hantieren und sehen, dass sich die abstrakte Begrifflichkeit unter dem Licht von Experimenten oder empirischen Sachen, die GARFINKEL gemacht hat, klärt. So muss sich das vielleicht vorgestellt werden.

Christian MEYER: Es ist auf jeden Fall kein Buch, das sich linear liest.

Jörg BERGMANN: Nein, das geht nicht. [36]

8. Reflexivität und Praxis

René SALOMON: Gibt es denn einen Unterschied zwischen dem ersten Rezeptionsverständnis und heutigen Lesarten? Deine Diplomarbeit, Jörg, wird ja ständig erwähnt, was auch ein Hinweis darauf ist, dass es im deutschsprachigen Raum kein Einführungsbuch zur EM gab ...

Christian MEYER: Naja, bis auf die Studienbriefe (BERGMANN 1988).

René SALOMON: Heute allerdings ist die EM Bestandteil aller gängigen Einführungswerke. Da hat sich offensichtlich etwas in der Rezeption verschoben. Hat sich eure eigene Rezeption geändert, und wie ist die Entwicklung von damals zu heute?

Jörg BERGMANN: Dafür ist sicher nicht nur GARFINKEL allein die Ursache – insgesamt ist die Soziologie heute, wenn man an Niklas LUHMANN, aber auch an Pierre BOURDIEU54) und an andere denkt, einfach selbstreflexiver geworden. Und daran hat GARFINKEL sicherlich einen Anteil. Die frühere Soziologie war eine schwerfällige Angelegenheit, ist dahingestapft und hat sich wenig Gedanken darüber gemacht, wie sehr die Gesellschaft in ihr selbst vorkommt. Das war einfach kein Reflexionsmoment für die Soziologie. Vielleicht noch bei Theodor W. ADORNO, aber da war sie ja irgendwie folgenlos, weil sie sich ins Abstrakte geflüchtet hat. Aber die Einsicht, dass wir, wenn wir mit soziologischen Begriffen operieren, selbst immer Teil dessen sind, was wir beschreiben und beobachten, das ist tatsächlich erst durch GARFINKEL und dann eben später auch bei LUHMANN und anderen wahrgenommen worden. Insofern ist das Buch natürlich ein bisschen veraltet, weil die Art von Selbstreflexion in der Soziologie durch diese anderen Linien, die ich erwähnt habe, geläufiger geworden ist. Ich würde nicht sagen, dass sie dauerhaft Fuß gefasst hat, aber insgesamt ist der provokative Stachel, den die EM damals gegenüber der positivistisch aufgestellten Soziologie darstellte, ein bisschen abgestumpft. Er ist nicht ganz abgestumpft, weil es nach wie vor ja diese Art von handfester abbildungstheoretisch orientierter Soziologie gibt. Aber GARFINKEL ist mit seiner Kritik an dieser Art von abbildungstheoretisch aufgestellter Soziologie nicht mehr allein auf weiter Flur. [37]

Christian MEYER: Wobei natürlich der BOURDIEUsche Reflexivitätsbegriff immer die Gefahr bringt, den ethnomethodologischen Reflexivitätsbegriff extrem zu verflachen.55) BOURDIEU folgend würde man sagen, dass man einfach nur pro forma ein Kapitel in jeder Studie braucht, in dem die eigene Positionalität im Feld nochmals reflektiert wird – und damit ist der Reflexivität Genüge getan. Und da war der Reflexivitätsbegriff bei GARFINKEL sehr viel tiefgreifender. Für die EM sind gerade Fälle des scheinbaren Wegfalls von individueller Reflexivität, etwa beim taken for granted in der natürlichen Einstellung, soziologisch gesehen immer Fälle von sozialer Reflexivität – fungierender Reflexivität, wie auch mit HUSSERL56) gesagt werden könnte. Diese totale Reflexivität ist alltagspraktisch zwar uninteressant, soziologisch dagegen von größter Bedeutung. GARFINKEL hat das Ganze also sozial interpretiert und nicht individuell. Und er sieht die Soziologie nicht als einen Sonderfall oder als etwas außerhalb der Gesellschaft Stehendes, sondern er hat auch hier wieder gezeigt: Die Soziologie hat ebenfalls ihre Reflexivität; die ist vielleicht nur ein bisschen professionalisierter und systematisierter, aber unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Reflexivität der sozialen Welt. Da sehe ich eigentlich gar nicht, dass es veraltet ist, sondern eher die Gefahr, dass die sehr viel radikaleren Formen von Begriffsbildung gar nicht mehr weiter bedacht werden, weil eben Leute wie BOURDIEU das innerhalb der Soziologie total vereinfacht popularisiert haben. Von daher würde ich nicht sagen, dass es ein veraltetes Buch ist. Im Gegenteil, im Moment befinden wir uns in der soziologischen Theoriebildung in einer Situation, in der sein Wert erst jetzt richtig erkannt werden kann. Mein Gefühl ist, dass es jetzt so weit ist. Deswegen passt mir das auch gut, dass die Übersetzung jetzt kommt, da die Zeit jetzt reif ist, um den Wert des Buches zu erkennen, und weil die Wegbereitung durch die Popularisierungselemente bei BOURDIEU, LUHMANN etc. stattgefunden hat. Dieser Brückenschlag hatte bisher gefehlt. Das wird ja zum Beispiel in dem Purdue-Symposium (HILL & STONES CRITTENDEN 1968) sichtbar: Der Sprung von den Studies zu der etablierten Mainstream-Soziologie war einfach viel zu groß. Und diese ganze Wegstrecke zwischen den beiden wurde jetzt durchschritten und es ist, glaube ich, die Zeit da, dass es überhaupt verstanden werden kann, in einer breiteren soziologischen Öffentlichkeit. [38]

René SALOMON: Und umfasst das noch mehr als den Reflexivitätsgedanken? Gibt es noch weitere Aspekte an diesem Buch, von denen ihr sagen würdet, dass sie hochaktuell und für die heutige Soziologie relevant sind, dass die Soziologie hier etwas lernen kann – etwas, das vielleicht sogar immer noch etwas Revolutionäres hat, so wie damals?

Christian MEYER: Auf jeden Fall – diese erkenntnistheoretischen Elemente reduzieren sich ja nicht auf Reflexivität. Auch der Indexikalitäts-Gedanke zählt dazu – also die Kritik an abbildungstheoretischen Ideen mit gleichzeitigen Lösungsvorschlägen, wie trotzdem empirisch gearbeitet werden kann, ohne abbildungstheoretisch zu werden. Und da hat mich im Übrigen auch stark die KA geprägt, aus mehreren Gründen: erstens, dass mit Transkripten von realen Situationen umgegangen wird, bei denen die sozial Handelnden selbst vor epistemologischen Herausforderungen stehen. Zweitens kommen in der Empirie auch die Beforschten zu Wort. Und das Dritte ist natürlich eine noch sehr viel radikalere Form der Praxistheorie – dass wirklich alles von den Praktiken her gedacht wird, und dabei Praktiken nicht aus irgendwelchen anderen Variablen heraus erklärt werden, sondern immer die Praxis selbst als der Ursprungsort alles Sozialen verortet oder positioniert wird. Das hat GARFINKEL meines Erachtens am konsequentesten gemacht. Also nicht Praktiken aus Strukturen oder aus Individuen und ihren Intentionen abzuleiten, sondern den Ursprungsort bei und in der Praxis selbst zu verorten, und dabei die Praxis als etwas Prekäres, Fragiles, Kreatives und Reflexives zu verstehen, und nicht als eine Routine. Der Routinebegriff von Praxis ist ja durch die Hintertür wieder ein strukturalistischer Praxisbegriff – bei BOURDIEU zum Beispiel. Stattdessen ist soziales Tun, wie es bei GARFINKEL heißt, immer wieder zu verstehen als "another first time" (GARFINKEL 1967, S.9) oder "each next first time" (GARFINKEL 2002, S.30). Also jedes neue Mal, wo wir Routinen anwenden können, ist es trotzdem immer auch ein erstes Mal – und dies kann wieder scheitern und erfordert wieder Reflexivität, Kreativität und auch Wechselseitigkeit – also Interaktivität –, sodass Intersubjektivität nur prozedural hergestellt werden kann, in der Wechselseitigkeit der Leute. Da sehe ich schon eine große sozialtheoretische Aktualität der EM heute. [39]

9. Ethnomethodologie im Verhältnis zu anderen Theorieangeboten

Jörg BERGMANN: Na, ich sehe das ein bisschen anders. Das mit der Verengung des Reflexivitätsbegriffs bei BOURDIEU leuchtet mir schon ein. Auf der anderen Seite muss festgehalten werden, dass zum Beispiel bei LUHMANN mit der Wende zur Autopoiesis schon erkannt worden ist, dass Reflexivität nicht nur ein Verhältnis von Forscher*in-Beforschten ist, sondern im Gegenstand selbst vorkommt. Und damit kann in der Soziologie nicht mehr einfach gesagt werden "hier ist die Wirklichkeit und ich beschreibe die Wirklichkeit", vielmehr sind beide Seiten ineinander vermittelt. GARFINKEL hat gewissermaßen nicht mehr das alleinige Copyright auf den Reflexivitätsbegriff, sondern die Idee ist mit der Systemtheorie in viele Köpfe eingewandert. Die Soziologie ist dadurch schon ein bisschen cleverer geworden. Auf der anderen Seite würde ich dir auch zustimmen, Christian: Wenn man GARFINKEL folgt, steht man eben vor der Notwendigkeit, die Soziologie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Momentan steht sie auf dem Kopf, weil sie nach wie vor ihre Begriffe selbstherrlich konstruiert, aber eigentlich müsste ganz anders vorgegangen werden. Das heißt, es wäre gerade keine graduelle Entwicklung, sondern ein Paradigmenwechsel notwendig, was GARFINKEL immer klar war. Deswegen betont er auch immer, "die EM ist eine Alternative, und ihr müsst euch darüber im Klaren sein, ihr könnt nicht einfach Soziologie weitermachen und ein bisschen EM – das ist es nicht". Das war auch der Einwand gegenüber CICOUREL. Es läuft schon auf etwas ganz Anderes hinaus. Das ging ja bis hin zu Überlegungen, neben der Soziologie ein eigenes Fach zu gründen. Also, insofern schon radikal und nicht eingelöst. Ich glaube heutzutage kann – wie soll ich sagen – mehr sophisticated Soziologie studiert werden, als es noch vor 40 Jahren der Fall war. Den Gedanken, dass die Gesellschaft als ein Gegenstand da ist, den ich beschreibe, diesen einfachen Gedanken denkt doch heute in der Soziologie kein Soziologiestudent und keine Soziologiestudentin mehr – hoffe ich jedenfalls. [40]

Christian MEYER: Wobei die Systemtheorie trotz allem auch ein hermetisches Unternehmen ist. Auch da ist es so, dass ein eigener Jargon bedient wird, ähnlich wie in der EM – vielleicht ein bisschen weniger. Es hat sich dadurch ein bisschen mehr generalisiert, aber es bleibt dabei, dass dieses Selbstverständnis, dass die Soziologie Teil ihres Gegenstands ist, nicht in die allgemeine Soziologie ausgestrahlt hat. Eine solche Haltung bleibt die Ausnahme. [41]

Jörg BERGMANN: Hast du den Eindruck? Hat die Systemtheorie nicht in andere Theorien hinein ausgestrahlt?

Christian MEYER: Bielefeld war natürlich der Ort, wo es nicht so war. Das ist völlig klar. Aber wenn man deutschlandweit an den anderen Universitäten guckt, dann sind da andere Orientierungen wichtiger. Natürlich muss auch die LUCKMANN-Schule57) erwähnt werden, in der ja ebenfalls der SCHÜTZsche Gedanke existiert, dass auch Forscher*innen Teil der Common-Sense-Welt sind. Deswegen hat GARFINKEL an SCHÜTZ in den Briefen58) adressiert, dass sein großes Projekt sei, "professional and lay sociology" zu betreiben, zu verstehen und zu explizieren. Daher könnte noch LUCKMANN erwähnt werden, bei dem dieses Reflexivitätsmoment eine Rolle spielt. Aber natürlich nicht an solch prominenter Stelle. [42]

Jörg BERGMANN: Ja, ich hoffe, dass irgendwann einmal ein Theoriehistoriker oder eine Theoriehistorikerin eine Arbeit über das (Nicht-) Verhältnis von GARFINKEL und LUCKMANN schreibt. Für beide war ja Alfred SCHÜTZ der zentrale Ausgangs- und Bezugspunkt. LUCKMANN selbst hat meines Erachtens sehr viel weniger als GARFINKEL mit seiner Theorie irgendeine Revolution in der Soziologie verbunden. Er war eher DURKHEIMianisch aufgestellt. Ich habe aber noch zwei andere Punkte, weshalb die EM oder die Studies momentan wieder interessant sein könnten. Das ist erstens, dass sich jetzt mit den Ereignissen in England (Brexit) oder den USA (TRUMP59)) herausstellt, dass die ganze Umfrageforschung eigentlich nichts taugt, da kann auch Kaffeesatzleserei betrieben werden. Die Umfrageforschenden lagen mit ihren Vorhersagen sowas von falsch und müssten sich als Konsequenz aus ihrem Versagen eigentlich etwas ganz anderes einfallen lassen – aber da sie nicht wissen was, machen sie so weiter wie bisher. Vielleicht bauen sie noch einen kleinen Algorithmus hier und einen Parameter dort ein und hoffen, dass es etwas bringt. Und das Zweite ist die sehr viel stärkere Auflösung traditioneller sozialstruktureller Verbände, der Rückgang der Bindung an Kirchen, Parteien, Vereine und so weiter. Das heißt, heute können nicht mehr einfach nur herkömmliche Sozialstrukturanalysen gemacht, sondern es muss sehr viel komplexer vorgegangen werden: Wie werden Wahlentscheidungen, politische Präferenzen, soziale Aggregationen untersucht, wenn die Menschen immer weniger dauerhafte Verbindungen eingehen? Das Leben wird sehr viel volatiler, als es früher der Fall war. Und wie ist da heranzukommen? Es muss eben geschaut werden, welche Praktiken die Leute dafür entwickeln, sich zu entscheiden. Eigentlich sind das zwei gesellschaftliche Vorgänge, die für mich darauf hinweisen, dass die Soziologie auf traditionellen theoretischen wie empirischen Wegen, die bisher beschritten wurden, um gesellschaftliche Vorgänge zu beschreiben, stecken geblieben ist. Es wird begonnen, mit Hilfskonstruktionen zu arbeiten, aber eigentlich müsste soziologisch sehr viel radikaler gesagt werden: Okay, nochmal von vorne das Ganze. Lasst uns auf reset gehen, und wir versuchen etwas ganz Anderes. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass mit der EM – wenn die Soziologie lernfähig ist, was ich aber bezweifle – vielleicht etwas Anderes in die Wege geleitet werden kann. [43]

10. Zwischen Produktion und Rezeption steht kein interpretativer Prozess

René SALOMON: Christian, gibt es für dich weitere Punkte, die das Buch bietet, von denen die heutige Soziologie lernen kann?

Christian MEYER: Für mich war die EM eine interessante Lösung für die Frage bzw. für die Paradoxie, die in der Hermeneutik umschrieben wird als "um etwas verstehen zu können, muss schon verstanden worden sein, was man versteht ". Das ist ja eigentlich sehr merkwürdig. Wenn die Zeitlichkeit mit hineingenommen wird, bedeutet das: Wie ist es möglich, dass immer wieder nur singuläre, individuelle Exemplare von etwas auftreten, aber diese dennoch in ihrer Abstraktion und Vergleichbarkeit verstanden werden? Im Pragmatismus und der pragmatistischen Semiotik wird es Type-Token-Problem genannt (PEIRCE 1931-1958). Bei PLATON60) (1973) ist die Amnesietheorie die Antwort, also die Idee, dass wir bei der Geburt vergessen haben, dass wir schon alles wissen, und uns dann wieder nach und nach daran erinnern, wenn wir damit konfrontiert werden – ein sehr schönes Paradox eigentlich. Auch Edmund HUSSERL sagt, die Typen kommen logisch vor den Exemplaren. Er fasst Typen als präprädikativ und der Wahrnehmung vorgängig (HUSSERL 1939). Und deswegen verstehen wir die Welt: Weil wir die Typen kennen, bevor wir alle einzelnen möglichen Exemplare des Typs kennen. Gleichzeitig gibt es aber, wenn man jetzt nicht einer idealistischen Philosophie anhängt, kein Idealbild des Typus. Praxistheoretisch gedacht, haben wir es immer wieder nur mit neuen, einzigartigen Exemplaren zu tun. Und die Typisierung – wo kommt die her, wie kriegen wir die eigentlich zustande? Da hat für mich die EM mit der accountability eine sehr schöne Antwort geliefert. Und vor allem Harvey SACKS hat sich mit dieser Frage intensiv befasst: Wir haben alle immer nur mit kleinen Ausschnitten zu tun, und ich weiß nicht, mit welchen Ausschnitten der kulturellen Möglichkeiten hattest du – als mein Interaktionspartner – eigentlich zu tun? Welches Wissen kann ich bei dir voraussetzen? Also muss es irgendeinen Apparat geben, so nennt es SACKS (1984), der es uns ermöglicht, diese Typisierung zu vollziehen. Wir sind eben keine induktiven Wesen, sondern die Typisierung kommt vorher. In der EM ist dieses Problem schon als eine Grundfrage eingebaut. Und die accountability ist ein Versuch der Beantwortung: Dass wir permanent selbst die Typen herstellen, mit denen wir dann wiederum Exemplare verstehbar machen, indem wir in jede Produktion von Exemplaren immer einen Typisierungshinweis mit einbauen. [44]

Jörg BERGMANN: Ich zögere immer ein bisschen, die EM als eine hermeneutische Variante anzusehen.

Christian MEYER: Nein, da hast du vollkommen recht. Die EM gibt im Gegenteil auf der Basis der Phänomenologie eine andere Antwort als die Hermeneutik: nämlich, dass zwischen Produktion und Rezeption gerade kein interpretativer Prozess – kein Akt eines vermittelnden Dritten, als Makler wirkenden Deutungsvorgangs – geschaltet ist. Wenn wir uns in einer gemeinsamen Praxis befinden und uns die Methoden, mit denen unser Wir etwas tut, präreflexiv vertraut sind, und zwar auf verkörperte Weise vertraut, dann interpretieren wir nicht, sondern handeln, wir befinden uns in einem Tun. Die Typisierungsthese kommt ja von HUSSERL. In der Hermeneutik hat allenfalls GADAMER61) in diese Richtung gedacht, der ja sowohl bei HUSSERL als auch bei HEIDEGGER62) studiert und den hermeneutischen Zirkel im Anschluss an DILTHEY63) entsprechend reformuliert hat (GADAMER 1990 [1960]). [45]

11. Missverständnisse und Kritiken

René SALOMON: Was ist das größte Missverständnis innerhalb der Soziologie bezüglich der EM? Oder auch: Welcher Aspekt wird am seltensten verstanden?

Christian MEYER: Das größte Missverständnis ist, wie bereits erwähnt, dass die EM eine Methode oder eine Methodenkritik sei. Ich höre bis heute immer wieder, auch von sehr EM-affinen Leuten, dass die EM keine sozialtheoretische Ambition habe und sich in der Methodik und Methodenkritik erschöpfe. Das ist, finde ich, genau umgedreht: Die sozialtheoretische und auch erkenntnistheoretische Ambition ist das Hauptinteresse gewesen. Und daraus folgen bestimmte Konsequenzen für die Methode, die natürlich sehr fundamental und wahrscheinlich für manche Leute auch schwer zu akzeptieren sind. Deswegen wird die EM vielleicht darauf reduziert. Aber es ist in keiner Weise so, dass sie sich darin erschöpfen würde. [46]

Jörg BERGMANN: Ein weiteres Missverständnis ist, dass GARFINKELs Demonstrationen eine eigene ethnomethodologische Methode seien. Das ist ein gravierendes Missverständnis, das sich aber unheimlich hartnäckig hält. Und schließlich das Missverständnis, sie hätte gar keine Methode – was ja durchaus zutreffend ist; es gibt keine genuin ethnomethodologische Methode. Es gibt Methoden, die aus einem Gegenstand herausgearbeitet werden, und die dann passend für diesen Gegenstand sind – das ist GARFINKELs unique adequacy requirement (GARFINKEL & WIEDER 1992). Die Methode ist eben nicht im Vornhinein festgelegt. Das berührt sich im Übrigen mit der Kritik der bürgerlichen Wissenschaft. ADORNO hat das immer als die Methodenvoreingenommenheit der empirischen Sozialforschung kritisiert, und dieses ADORNOsche Motiv entdecke ich auch in der EM. Aber dass die EM entweder keine Methode hat oder aber eine Methode ist, das ist sicherlich ein Missverständnis. Ein anderes Missverständnis ist auch, dass die EM so ganz theorieabstinent sei – das richtet sich aber eher gegen die KA. Sie hat sicher nicht den Theorieanspruch der Systemtheorie, aber wenn man GARFINKEL liest, seine voluminösen Auseinandersetzungen mit PARSONS, wird klar, dass da eine Menge an Theorie enthalten ist. Er versteckt es halt ein bisschen – nicht nur ein bisschen, sondern ziemlich stark. Und schließlich die Kritik, dass die EM eher etwas Sektenartiges ist. Über den Grund dafür haben wir schon geredet: Will man EM nicht auf so eine platte Weise verstehen, muss man auch die Praxis des ethnomethodologischen Arbeitens mitbekommen. Und das haben die Ethnomethodolog*innen vielleicht am Anfang zu stark betont, dass man gewissermaßen hineinsozialisiert und – bösartig gesagt – getauft und in die Rituale eingeführt werden muss. Das erweckt natürlich den Anschein einer Sekte. Aber ich glaube, das ist ein lang anhaltendes Missverständnis gegenüber der EM, dass sie ein geschlossener Zirkel mit einer eigenen Sprache sei. [47]

12. Grenzen der Ethnomethodologie

René SALOMON: Gab es denn in der ganzen Zeit eine Kritik, von der einer von euch sagen würde, dass sie euer Verständnis der EM noch einmal geändert oder verschoben hat?

Jörg BERGMANN: Kritik nicht direkt, aber für mich ist ein etwas anderes Verständnis durch die Systemtheorie gekommen, die ich vorher gar nicht so richtig wahrgenommen hatte. Ich hatte sie zunächst vor allem über Alois HAHN64) rezipiert, das war nicht die reine Lehre, sondern eine kultursoziologisch gebrochene Systemtheorie. Aber auch die Auseinandersetzung mit den Systemtheoretiker*innen in Bielefeld, und vor allem auch mit der eher moderaten Systemtheoretikerin Bettina HEINTZ65), hat mich schon dazu provoziert, über die EM noch ein bisschen anders nachzudenken. Ich habe jedenfalls erkannt, dass es Felder in der Soziologie gibt, zu denen ich als Ethnomethodologe wenig sagen kann, sage ich mal vorsichtig. Wo man sich fragen kann – wie im Falle der politischen oder Industriesoziologie – was würde ich dazu als Ethnomethodologe eigentlich sagen? Das hat mich schon, ich will nicht sagen irritiert, aber provoziert. Und es gibt es sicherlich auch Herausforderungen, bei denen erkennbar wird: Okay, die EM ist nicht das A und O – es gibt gesellschaftliche Bereiche, um die die EM einen Bogen macht. Und die Frage, wie ethnomethodologisch Zugang zu diesen Bereichen zu bekommen ist, die ist mir in Bielefeld sehr viel deutlicher geworden als vorher. Auch Sozialstruktur ist für mich einer von diesen offenen Bereichen, bei dem ich gewisse Schwierigkeiten habe, die EM hineinzudenken. Wenn du "Rückkehr nach Reims" (ERIBON66) 2016) liest, gibt es Beschreibungen von gesellschaftlichen Teilbereichen – ob das nun der dörfliche Zusammenhang, die Arbeiter*innenkultur oder die Stadt-Land-Beziehung ist – für die bei jedem Schritt gefragt werden könnte: Wie würden Ethnomethodolog*innen das beschreiben? Wie würdest du die Veränderungen der Arbeiter*innenschaft, ihrer Wahrnehmungen und Lebensstile beschreiben? Es müsste bei jedem Punkt wirklich tief überlegt werden, wie da ethnomethodologisch heranzukommen ist. Ich sehe schon deutlich, dass es gesellschaftliche Bereiche und Themen für die Soziologie gibt, zu denen die EM nicht so leicht Zugang bekommt, wie beispielsweise zum Thema Geschlechtsidentität. Die kann man relativ einfach im Alltag an Praktiken festmachen. Aber was ist mit Stadt-Land-Unterschieden? Kann ethnomethodologisch etwas zu den Veränderungen der Mittelschicht in der gegenwärtigen Gesellschaft gesagt werden? Generell tut sich die EM mit der Untersuchung historischer Entwicklungen eher schwer. [48]

Christian MEYER: Aber das gilt nur dann, wenn du diese Strukturen als objektive Strukturen fasst, die den Akteur*innen selbst undurchsichtig sind, wenn also eine Latenztheorie sozialer Strukturen zugrunde gelegt wird. Wenn hingegen davon ausgegangen wird, dass die Akteur*innen selbst permanent Phänomene, mit denen sie zu tun haben, interpretieren – nicht hermeneutisch, sondern praktisch interpretieren –, vor dem Hintergrund eigener, oft impliziter und präreflexiver Strukturannahmen, dann ist der Weg zu einer ethnomethodologischen Idee davon schon ein bisschen angebahnt. [49]

Jörg BERGMANN: Das verbleibt für mich zu stark in der Rekonstruktion von Alltagstheorien oder Alltagswissen, die es dann über Stadt-Land etc. gibt. Aber wie kommst du an die Praktiken des Stadt-Land-Unterschieds etc.? Das heißt, es müsste sehr viel genauer überlegt werden, wo reproduzieren sich diese Unterschiede. Nicht bloß in dem Wissen und in den Vorstellungen und den Vorurteilen der Leute – die können natürlich relativ leicht identifiziert werden – aber es müsste eben geschaut werden, in welchen Praktiken drückt sich das aus? Wohin fahren die Menschen zum Einkaufen? Wie kaufen sie ein? Wie entscheiden sie, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken und so. Das ist ja ein sehr verwobenes, milieuartiges Phänomen mit einer Pluralität von Praktiken. Prinzipiell kann das schon ethnomethodologisch identifiziert werden, aber wie willst du das eigentlich erforschen? Um es zu untersuchen, müsstest du mit einer Riesenmannschaft dort einfallen, und das geht einfach nicht. [50]

Christian MEYER: Klar, der Anspruch der Soziologie muss sein zu erklären, warum ich abends immer wieder in das gleiche Gebäude zum Übernachten gehe, immer wieder die gleichen Menschen aufsuche, abends mit einer bestimmten Person im gleichen Bett schlafe, die gleichen Kinder füttere und küsse usw., wie es COLLINS67), der sich ja auch auf die EM bezieht – leider zu wenig, aber immerhin – ausgedrückt hat.68) Da wäre meines Erachtens die ethnomethodologische Position, dass die Menschen eben durch ihre Handlungen ihre praktischen Interpretationen ihrer vertrauten Welt zum Ausdruck bringen und so soziale Strukturen immer wieder neu und für alle sichtbar hervorbringen, die auch anders sein könnten, würden sie plötzlich damit aufhören. Das konsequent praxistheoretisch zu erforschen, impliziert natürlich methodologische Herausforderungen. Theoretisch aber, glaube ich, ist dieser Weg schon da, wenn Praktiken grundsätzlich als interpretativ im phänomenologischen Sinne begriffen werden. [51]

Jörg BERGMANN: Ja, aber das erinnert mich sehr an Ulrich OEVERMANN69). Er argumentiert und analysiert sehr voraussetzungsreich, schleust unter der Hand theoretische Konzepte ein, kontert Nachfragen mit "dafür habe ich leider keine Zeit", redet dann aber acht Stunden, und am Ende hat er immer noch nicht seine Hintergrundannahmen expliziert, was aber notwendig wäre, um sein Argument stichhaltig zu machen. [52]

Christian MEYER: Aber OEVERMANN ist auch einer von denen, die latenztheoretisch argumentieren mit seiner objektiven bzw. strukturalen Hermeneutik. Die EM versucht im Unterschied dazu, alles aus den Praktiken heraus zu erklären, die tatsächlich auch materiell vollzogen werden. Da sind soziale Strukturen nur in und als Praktiken da und damit immer manifest. Praktiken interpretieren ihre Situation praktisch, als Teil der von den Akteur*innen unterstellten Sozialstruktur und common culture. Das sind interpretative Praktiken, mit denen die Leute ihre Welt verstehen, und aus denen heraus dann andere Praktiken, aber auch Handlungen und so weiter resultieren. Ich will also gerade nicht einem interpretativen Mentalismus das Wort reden – ganz im Gegenteil – ich wende mich nur dagegen, Sozialstruktur immer nur latenztheoretisch zu fassen. An der Stelle sehe ich auch tatsächlich eine Verwandtschaft der EM mit der Systemtheorie, weil LUHMANN ja auch gegen Latenztheorien argumentiert hat, besonders deutlich in seiner Abschiedsvorlesung (1993). GARFINKEL kritisiert an den Latenztheorien ja übrigens auch, dass sie genau mit den gleichen Methoden operieren wie die Laiensoziologie, und da hat er selbst schon einen anderen Anspruch. In "Parsons Primer" (GARFINKEL 1962) nennt er das ironisch das ad hoc Parsons-Verfahren70). Es besteht darin, dass z.B. konkrete Situationen mit einem Schema beobachtet werden, das die unterstellte Akteurstheorie sozialer Struktur nahelegt und das dann weiteres Handeln implizit anleitet. Aus diesem Grund sind Akteurstheorien auch essenzielle Bestandteile der Phänomene selbst, was ja die Bedingung der Möglichkeit für reflexivity und accountability ist. GARFINKELs Ansicht nach soll die EM die Ressourcen der Laiensoziologie, die die professionelle Soziologie seiner Zeit auch verwendet, zum Gegenstand machen und gerade nicht selbst verwenden. Aber klar, wie das jetzt methodisch umgesetzt wird, ist noch einmal eine andere Frage, aber ich will nur sagen, dass ich glaube, dass der theoretische Weg schon da ist. [53]

13. Interpretativ heißt eben auch, dass die Interpretation in den Gegenständen ist

Jörg BERGMANN: Ich will jetzt auch nicht einer DURKHEIMschen Soziologie das Wort reden. Aber interpretativ würde für mich schon weiter gehen. Interpretativ heißt eben nicht nur Alltagstheorien und Common-Sense-Vorstellungen, sondern auch, dass die Interpretation in den Gegenständen ist – also das Gegenständliche, das unsere Sozialwelt auch ausmacht und das mit den "Studies of Work" (BERGMANN 2005) in den Blick der EM gekommen ist (GARFINKEL 1986). Wenn ein Labor untersucht wird oder Geschlechtsidentität, sind das relativ kleine und isolierbare Bereiche. Aber was ich im Auge habe, ist, dass Leute eben auch zusammenleben und in ihrem Zusammenleben die Praxis des Sich-Kleidens, die Praxis der Wohnungsgestaltung, der Nachbarschaftsbeziehungen etc. vollziehen – das heißt, die Lebenspraxis ist ein dicht verwobenes Netz von vielschichtigen Praktiken, an die ethnomethodologisch sehr schwer heranzukommen ist, weil immer nur die interpretativen Praktiken auf einem relativ kleinen Feld untersucht werden können. Und deswegen ist es zwar nur ein methodologisches, aber ein großes Problem.

Christian MEYER: Okay, ein großes methodologisches Problem – natürlich – das sehe ich schon. Wie bei BORGES71) (1982) und der Landkarte, die so groß und detailliert werden soll wie ihre Vorlage.72) [54]

René SALOMON: Christian, welche Kritik hat dein Verständnis der EM verschoben?

Christian MEYER: Für mich ist ein Kritikpunkt, dass die relativ kompromisslose Haltung in Bezug auf eine verstehbare Darstellung der EM, die die Ethnomethodolog*innen lange Zeit hatten, die Verstehbarkeit und die Verbreitung des Ansatzes behindert hat. Ich bin schon dafür, dass Übersetzbarkeiten hergestellt werden und würde auch verlangen, dass die EM das jetzt verstärkt versucht. Und ich glaube, wir haben jetzt ein etabliertes begriffliches und theoretisches Instrumentarium, um die EM verstehbarer zu machen, und zwar vor allem durch die postmodernen Philosoph*innen. Also DERRIDA und auch andere haben ganz klar sehr viele Formulierungen fest etabliert, mit deren Hilfe die EM nochmal in einer anderen Sprache dargestellt werden kann, die, glaube ich, verstehbarer ist, als es damals der Fall war. Von daher könnte durchaus versucht werden, die EM vor diesem Hintergrund nochmals zu positionieren. Und GARFINKEL hat sich ja auch in anderen Theorieuniversen bewegt. Einerseits war er sehr stark bei SCHÜTZ, aber er hat auch auf Spieltheorie und Informationstheorie seiner Zeit reagiert. Diese Theorieverhältnisse sind jetzt nicht mehr so relevant, und die werden auch nicht mehr so verstanden, glaube ich. Das wäre ein Punkt, wo ich sagen würde, da hast du Recht, Jörg, dass das Buch in einem gewissen Sinne ein bisschen veraltet ist, weil bestimmte Sparring-Partner, die er sich ausgesucht hatte und für relevant hielt, heute nicht mehr präsent sind. Und das ist eben z.B. die Spieltheorie – na gut, Spieltheorie ist schon noch in gewissen Kreisen präsent, aber das sind andere Diskussionszusammenhänge, die da eine Rolle spielen (DIEKMANN 2009). Das könnte jetzt also in einer anderen Theoriesprache gewissermaßen reformuliert werden. Wobei ich mir das im Moment noch nicht zutrauen würde, aber vielleicht irgendwann einmal. [55]

14. Ethnomethodologie und Macht

René SALOMON: Würdet ihr sagen, dass das Thema Macht eines ist, welches mit den Studies bearbeitbar ist – steckt auch das in den Studies?

Christian MEYER: Ja, das steckt im ersten Kapitel. Ich habe ja früher viel über Rhetorik und Persuasion gearbeitet, und da ist einiges bei GARFINKEL zu finden. Und ich habe immer gedacht: Okay, Ethnomethoden sind zwar einerseits allgemein bekannte Weisen, wie man etwas tut, aber dennoch ist es so, dass nicht immer Einigkeit herrscht, welche Ethnomethoden in einer Situation plausibel und angemessen sind bzw. Sinn machen. Sondern Ethnomethoden müssen auch gewissermaßen persuasiv sein. Sie ziehen die Beteiligten auch an, und man steigt aus bestimmten Gründen in eine Ethnomethode praktisch mit ein, die nicht rein auf Intelligibilität oder auf Interpretierbarkeit setzt. Die Praxis zieht einen mit hinein, sie ist persuasiv. Gerade weil es ja nicht so ist, dass immer klar ist, was gemacht wird, sondern weil das Soziale ein fragiles Gebilde ist. Deswegen glaube ich, dass die Persuasivität von Ethnomethoden und Praktiken eine Rolle spielen kann. Für mich ist das ein Ansatzpunkt, aber er ist noch völlig unausgearbeitet. GARFINKEL (1967) hat sich im ersten Kapitel eindeutig auf Kenneth BURKE73) (1950) bezogen, aber das ist noch gar nicht rekonstruiert. Ich weiß nicht, wieviel du dazu sagen kannst, Jörg? Aber auch der Verweis ist ja gar nicht explizit, sondern implizit. Dennoch ist es klar, dass es um Motivvokabularien geht und um Persuasion und auch Rhetorik und Metaphorik. Solche persuasiven Elemente spielen eine Rolle. Und das wäre ein Weg, den man versuchen könnte zu gehen. [56]

Jörg BERGMANN: Agnes musste alle in ihrer Umgebung überzeugen, dass sie eine Frau ist – ganz klar. Dazu hat sie nicht nur sprachliche, persuasive Techniken eingesetzt, sondern eine ganze Reihe anderer Techniken, um ganz sicher zu gehen, dass sie als Frau wahrgenommen wird. [57]

Christian MEYER: Ja, und das darf nicht zu semiotisch verstanden werden, dass da irgendwie ein A und ein B direkt in informationaler Korrelation stehen – A wird verstanden und B reagiert darauf –, sondern es ist schon so, dass wir uns immer auch wechselseitig verführen. Agnes ist eine Verführerin. [58]

Jörg BERGMANN: Absolut, sie hat auch GARFINKEL verführt. Das wird an dem in den Studies abgedruckten "Appendix" sichtbar, aus dem hervorgeht, dass Agnes auch GARFINKEL hinters Licht geführt hat. Die hermaphroditische Ausprägung ihrer Geschlechtsmerkmale war keine angeborene Anomalität, sondern Ergebnis der heimlichen – und GARFINKEL und den Psychiatern gegenüber zunächst verschwiegenen – Einnahme von Hormonpillen ihrer Mutter. [59]

René SALOMON: Gibt es eigentlich irgendetwas, von dem ihr sagen würdet, das fehlt in den Studies? Also etwas, damit es besser verstanden wird. Oder gibt es etwas, das GARFINKEL gar nicht bedacht hat, was aber eigentlich inhaltlich hineingehört – etwa ein spezifischer Aufsatz?

Jörg BERGMANN: Ich hatte nach meiner Rückkehr aus den Staaten Anfang der 1980er Jahre vor, die Studies zu übersetzen, und hatte auch bereits mit GARFINKEL an den Übersetzungen gesessen und Übersetzungsfragen diskutiert. Der Band sollte in der von Bernhard WALDENFELS74) und Richard GRATHOFF75) herausgegeben Reihe "Übergänge" erscheinen, in der auch der SCHÜTZ-GURWITSCH-Briefwechsel publiziert ist.76) Eigentlich ein passender und wunderbarer Publikationsort, doch aus einer Reihe von Gründen ist letztlich nichts daraus geworden. Ich komme darauf, weil ich nicht einfach die "Studies in Ethnomethodology", sondern eine andere Zusammensetzung übersetzen wollte. Ich wollte nicht alle Aufsätze aus den Studies übernehmen, dafür aber sowohl den frühen "Psychiatry"-Text (GARFINKEL 1956) als auch den späteren "Pulsar"-Text (GARFINKEL, LYNCH & LIVINGSTON 1981) aufnehmen. GARFINKEL war mit dieser Idee auch einverstanden. Naja, woran es gescheitert ist, ist eine eigene Geschichte für sich. [60]

Christian MEYER: Aber skeptisch gegenüber der Übersetzbarkeit der Texte war er nicht? Das war weniger das Problem?

Jörg BERGMANN: Nein, ich hatte bei der Übersetzung seiner Begrifflichkeit immer auch den phänomenologischen Hintergrund im Auge, weshalb ich etwa sein Konzept von accomplishment, accomplished objectivity, accomplished facticity etc. – in Anlehnung an HUSSERL – als Vollzug, Vollzugswirklichkeit etc. übersetzt habe. Das hat ihm gefallen. Vielleicht hatte GARFINKEL gewisse Vorbehalte gegenüber GRATHOFF, weil GRATHOFF mit GOFFMAN ja relativ eng war und er auch in der "Frame Analysis" (GOFFMAN 1974) dankend erwähnt wird als derjenige, der ihm die Phänomenologie vermittelt hätte. Ich glaube, zwischen GARFINKEL und GOFFMAN, die ja zunächst befreundet waren, entwickelte sich im Lauf der Jahre eine gewisse Konkurrenz – zum einen, weil etliche GOFFMAN-Schüler – SACKS, SCHEGLOFF77), SUDNOW, TURNER78) – zu GARFINKEL abgewandert sind, und zum anderen, weil GOFFMAN es als einen schlimmen Fehler ansah, mit dem Konzept der EM eine Schule zu gründen. Er selbst hat ja alles getan, um aus seiner Art, Soziologie zu betreiben, keine Schule werden zu lassen.79) Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass GARFINKEL eine furchtbare Angst hatte, dass aus der EM etwas gemacht wird, was nicht seinen Vorstellungen entsprach – er hat ja sogar einmal mit dem Gedanken gespielt, den Namen Ethnomethodologie aufzugeben und stattdessen von Neo-Praxeologie zu sprechen. [61]

15. Forschungsaufenthalt in den 1970er Jahren an der UCLA

René SALOMON: Jörg, du hast diese Diskussion ja hautnah mitbekommen – wir hatten vorhin rekonstruiert, dass du das Buch das erste Mal um 1970 in der Hand hattest, 1977 bist du dann zu GARFINKEL gegangen. Wie ist es eigentlich dazu gekommen?

Jörg BERGMANN: Die Diplomarbeit habe ich 1974 geschrieben, ein Jahr später bin ich nach Konstanz gegangen, wo ich CICOUREL, SCHEGLOFF, STRAUSS80) und GOFFMAN auf einer von Richard GRATHOFF organisierten Tagung kennengelernt habe. Ich hatte dann dank Bernhard WALDENFELS, bei dem ich in München Phänomenologie studiert hatte, ein Stipendium bekommen, und im Rahmen des Stipendiums bin ich mit den Daten, die ich für meine Dissertation in der Psychiatrie gesammelt hatte, an die UCLA gegangen. Ich habe vorher mit GARFINKEL korrespondiert, doch in Los Angeles hat mir dann vor allem Melvin POLLNER81) geholfen, Fuß zu fassen. [62]

Christian MEYER: Wie kamst du mit ihm in Kontakt?

Jörg BERGMANN: Ganz einfach brieflich.

Christian MEYER: Du hast ihn einfach angeschrieben und er hat dann geantwortet?

Jörg BERGMANN: Ich habe – Jahrzehnte vor E-Mail und Internet – alle Namen, die mir unterkamen, angeschrieben, so etwa Autor*innen aus den Sammelbänden von Jack DOUGLAS (1970) oder Roy TURNER (1974). Zu meiner Überraschung – vielleicht war ich ja für viele der erste internationale Kontakt – haben auch fast alle brav zurückgeschrieben und mir ihre Papers geschickt – die sind jetzt alle in den Kisten82). [63]

René SALOMON: Ein dreiviertel Jahr warst du dort, richtig?

Jörg BERGMANN: Ja – ich glaube, ich bin im August, September 1977 in die Staaten. Ich wollte eigentlich länger bleiben, habe mich aber von dort aus auf die durch GRATHOFFs Weggang frei gewordene Assistent*innenstelle bei Thomas LUCKMANN in Konstanz beworben. LUCKMANN hat mich genommen, obwohl ich noch gar nicht promoviert war – ich glaube, der Grund war, dass er KA lernen wollte. EM hat ihn überhaupt nicht interessiert – das steht ja auch in der Festschrift (AYAẞ & MEYER 2012) – das war für ihn eher ein Konkurrenzunternehmen und Sektierertum. Aber an KA hatte er großes Interesse, auch weil er SACKS und SCHEGLOFF kennengelernt hatte. [64]

Christian MEYER: Den hat er ja aktiv angeschrieben, da habe ich die Briefe gesehen in Los Angeles. "Dear Dr. Sacks, kann ich Sie einmal einladen ...". Der war richtig interessiert. Und das relativ früh, der Brief war von 1971. Das fand ich auch sehr interessant. [65]

Jörg BERGMANN: Ja, LUCKMANN war sehr stark daran interessiert, die Sprachsoziologie in diese Richtung zu bringen. Darauf bezog sich dann eine meiner ersten Aufgaben, als ich 1977/1978 bei ihm anfing. Es gibt dieses René KÖNIG83)-Handbuch, in dem LUCKMANN (1969) den Artikel "Soziologie der Sprache" verfasst hatte. Dieses Handbuch sollte in einer Neuauflage herauskommen, und LUCKMANN hatte mir die Aufgabe gegeben, den Artikel zu modernisieren. Er hat zu mir gesagt: "Also, ich möchte das und das und das drinnen haben" – Dell HYMES'84) "Ethnographie der Kommunikation" (1977), SACKS und die KA, das alles gab es ja Anfang der 1960er Jahre noch nicht. Im Prinzip hörte der frühere Handbuchartikel mit der Soziolinguistik von Basil BERNSTEIN85) auf. [66]

Hannes KRÄMER: Kommen wir aber noch einmal auf deine Zeit in den USA zurück: Also warst du offiziell bei Melvin POLLNER?

Jörg BERGMANN: Ich war im Department of Sociology and Anthropology, und das war insofern ein glücklicher Moment, als zu diesem Zeitpunkt für ein halbes Jahr alle Ethnomethodolog*innen und Konversationsanalytiker*innen in Los Angeles anwesend waren. Ich habe mir mit Michael LYNCH86) und Eric LIVINGSTON87) ein Büro geteilt, Lehrveranstaltungen bei Emanuel SCHEGLOFF, Melvin POLLNER und dem Anthropologen Michael MOERMAN88) besucht, und viel mit Anita POMERANTZ89) und Gail JEFFERSON90) gearbeitet, die im Süden von Los Angeles, an der UC Irvine, an der SACKS Professor war, ein Seminar veranstaltete. SACKS war kurz vorher bei einem Unfall gestorben. Und das war natürlich spürbar. Ich erinnere mich auch, dass Gail JEFFERSON an der UCLA ein Transkriptions-Seminar veranstaltete, an dem zeitweise auch GARFINKEL teilnahm. Als ich dann im März 1978 zurück nach Deutschland ging, verließen auch andere – wie etwa Gail JEFFERSON, Michael LYNCH oder Anita POMERANTZ – die UCLA. [67]

Christian MEYER: Und SUDNOW?

Jörg BERGMANN: SUDNOW war damals schon an der Ostküste. Er hatte eigene Interessen und sich auch außerakademischen Vorhaben – etwa seiner Klavierschule – zugewandt. Ich habe SUDNOW nie getroffen. Er hatte mit GARFINKEL einige Projekte wie etwa die Lecturing-Studie91) aber ich bin ihm an der Westküste nie begegnet. [68]

Christian MEYER: Die Rolle von SUDNOW für GARFINKEL ist überhaupt sehr interessant: Was du vorhin zur Entstehung des ersten Kapitels gesagt hast, und wenn du das Purdue-Symposium (HILL & STONES CRITTENDEN 1968) liest, da ist er auch sehr prominent mit dabei. Schon spannend.

Jörg BERGMANN: Er war ja so etwas wie ein Fürsprecher der EM; so hat er etwa früh eine Ausgabe des Berkeley Journal of Sociology (SUDNOW 1963) ediert, in dem sich die ersten Veröffentlichungen von SACKS und SCHEGLOFF finden. [69]

Hannes KRÄMER: Wie haben sich denn GARFINKELs Seminare gestaltet?

Jörg BERGMANN: Der Punkt war, dass GARFINKEL im Umgang manchmal schwierig war, aber immer interessiert an seinen Student*innen. Am Ende der Seminare hat er uns – die Seminare waren ja klein, da nahmen vielleicht sieben, acht Student*innen teil – immer zu sich nach Hause in Pacific Palisades eingeladen. Wenn ich LUCKMANN und GARFINKEL im Hinblick auf ihren persönlichen Stil vergleiche, so könnte der Unterschied kaum größer sein. GARFINKEL kannte nichts anderes als shop talk. Er hat die ganze Zeit auch außerhalb der Universität nur in seiner Ethno-Welt gelebt, während bei LUCKMANN außerhalb der Universität nicht über Wissenschaft geredet werden durfte. Da ist man Kegeln gegangen oder Ski gefahren oder hat Poker gespielt, aber Wissenschaft war kein Thema. Dass GARFINKEL und LUCKMANN so unterschiedlich waren, hat die Sache für mich, der ich ja mit beiden zu tun hatte, nicht ganz einfach gemacht. [70]

René SALOMON: Was hat sich denn von dem, was übermittelt und gelehrt wurde, geändert im Vergleich zu dem, was du jetzt lehrst. Gibt es da einen großen Unterschied?

Jörg BERGMANN: Also ich glaube schon, dass die Situation in der Soziologie jetzt einfach theorieoffener – multiparadigmatisch – ist. Damals hat GARFINKEL nicht irgendwie Soziologie unterrichtet, sondern er hat nur über seine Sachen geredet. Er hatte gerade angefangen, diese Studies of Work-Sachen mit LYNCH zu machen, der zu der Zeit dabei war, seine laboratory study als Dissertation fertigzustellen (LYNCH 1985), und mit Eric LIVINGSTON Mathematik-Studien (LIVINGSTON 1986). Aber das war gerade im Entstehen, und GARFINKELs Seminar bestand darin, dass er anfing, die Entwicklung der EM hin zu den Studies of Work darzustellen. In diesem Zusammenhang stellte er sehr hohe Anforderungen an seine Student*innen – sie mussten von der Materie, die sie untersuchten, tatsächlich ein Insider-Wissen haben. Eric LIVINGSTON konnte nur über mathematicians' work arbeiten, weil er eine Ausbildung in Mathematik hatte, und Stacy BURNS92), die über lawyers' work arbeiten wollte und später Soziologieprofessorin geworden ist, musste dafür zuerst Jura in Harvard studieren. Sie mussten sozusagen zum Phänomen selbst werden. [71]

Christian MEYER: Das ist übrigens ein Punkt, den ich auch noch erwähnen wollte, dieses zum Phänomen selbst werden (MEHAN & WOOD 1975). Das habe ich an der EM immer bewundert und halte ich für ein zugkräftiges Argument: Dass GARFINKEL von seinen Studierenden und Doktorand*innen verlangt hat, dass sie going native betreiben, dass sie wirklich das Phänomen werden. In der Ethnologie war das eher eine mit Abwehr besetzte Angst. Man darf das auf keinen Fall, going native – früher wurde das boshaft verkaffern genannt – also man darf auf keinen Fall so werden wie die Einheimischen und in deren Kultur aufgehen, weil dann die wissenschaftliche Distanz verloren geht. Und an GARFINKEL hat mich immer fasziniert, dass er eben genau dieses Argument – das ich für ein absurdes Argument halte – auch nicht anerkannt hat und gesagt hat: "Hey, die Leute selbst sind reflexiv, sie sind Beobachter und Interpreten ihrer Situation, das sind keine Ameisen, die da herumlaufen" – also das SCHÜTZsche Argument. Nur wenn du eine Ameise bist, hast du keine Beobachtungskompetenz mehr für die eigene Gesellschaft, also ist es gar keine Gefahr, dass die Distanz verloren geht, wenn man zu einem Mitglied der untersuchten Kollektivität wird. Im Gegenteil: Als Forscher*in musst du Teil der Gesellschaft werden, um überhaupt die ganzen Bedeutungskonzeptionen und -konstitutionen mitzubekommen und zu verstehen. Und was ich vorhin angesprochen habe: Das alte hermeneutische Problem, dass du die Dinge schon verstanden haben musst, bevor du verstehst. Das passiert ja dadurch, dass du Teil der normalen Lebenswelt wirst, diese Lebenswelt kennst und intuitiv die Bedeutungen siehst und die Praktiken mitmachen kannst. Also gab es interessanterweise in der Soziologie diese sehr viel radikalere Variante der teilnehmenden Beobachtung als in der Ethnologie, die sich eigentlich genau mit diesem Thema beschäftigen sollte. Das fand ich immer sehr überzeugend. [72]

Jörg BERGMANN: In den Seminaren waren, wie gesagt, nur wenige Teilnehmer*innen, und die hat GARFINKEL der Reihe nach zu sich in die Sprechstunde bestellt, um mit jedem/jeder Einzelnen zu besprechen, was gemacht werden musste, um zu den credit points zu kommen. Das Gespräch mit mir und mit den anderen drehte sich immer um die Frage: "Was kannst du denn gut? Worin bist du gut? Was ist deine Kompetenz?" Das war nicht nur beruflich gemeint. Das führte dann dazu, dass jemand sagte: "Ich kann gut Reifen wechseln" oder "Ich repariere zu Hause alles, egal was anfällt", und hat dann ein Paper über Do-It-Yourself geschrieben. Wieder ein Anderer hat über Lastwagenfahren geschrieben, weil er als Job neben dem Studium für große Obstfirmen Lastwagen gefahren ist, das konnte er gut und hat es zum Thema seiner Arbeit gemacht. Das war ein zentraler Punkt von GARFINKEL: Die Praktiken mussten schon beherrscht werden, man musste Teil des Phänomens sein, um sie beschreiben zu können. Das war hochspannend, was die einzelnen jeweils gut konnten und dann auch untersuchten. [73]

Christian MEYER: Genau, die Idee des inside ist auch immer wieder in den unveröffentlichten Schriften und auch in den Studies zu finden: "The discovery of culture from the inside, describing the phenomenon from the within" (GARFINKEL 1967, S.76). Und das ist ja eben das Grundproblem, womit sich die EM beschäftigt, weil die Soziologie genau dieses Problem hat, dass sie ihren eigenen Gegenstand immer nur from the inside beschreiben kann, aber so tut, als könnte sie das Phänomen from the outside beschreiben, was nicht möglich ist. Und deswegen wurde sie eine, wie du sagst, Alternative zu der existierenden Soziologie. [74]

Hannes KRÄMER: Hältst du das auch heute noch für eine gute Art, mit der Lehre der EM umzugehen – die Studierenden zu fragen, was könnt ihr eigentlich besonders gut?

Christian MEYER: Vor allem: Expliziert, was ihr besonders gut könnt. Das steht ja auch in den Studies, schon im "Preface" und in Kapitel 1: The artful and skillful practices. Immer wieder wird es betont, und es hat mich fasziniert, dass er plötzlich mit der artfulness ankommt. Also, dass es kunstvolle Formen sind, dass eine Ästhetik eine Rolle spielt. So habe ich auch die Transkripte in der KA immer verstanden, dass das eigentlich ein Versuch ist, die Kunstförmigkeit unseres Alltags zu konservieren und analysierbar zu machen.93) Ich finde großartig, dass das Kreativitätsmoment in der EM so wichtig ist, anders als vorhin schon gesagt in den Routinetheorien, die es ja auch gibt. Artfulness, skillfulness – da ist eben in gewisser Weise doch schon so ein kreativer und ästhetischer Überschuss mitgedacht. [75]

René SALOMON: Ist das etwas ganz Anderes als die Idee einer Routine oder einer Habitualisierung?

Christian MEYER: Ja – es ist natürlich schon so, dass man sich auf bestehende Dinge beruft, allein schon, um die Dinge für andere interpretierbar zu machen, muss man natürlich in einer gewissen Weise anknüpfen an das, was man schon weiß und schon kennt. Aber es ist eben doch so, dass es dieses Neuigkeitsmoment als reflexives Moment immer auch gibt, und je nachdem, wie die Situation sich weiterentwickelt, dann darauf reagiert werden muss – vom Subjekt her gedacht. Wir haben ja vorhin darüber gesprochen, dass die EM nicht vom Subjekt her denkt, sondern von der Situation her oder von der Praxis her. Aber aus der Subjektperspektive beschrieben, würde ich das schon so sehen, ja. [76]

Jörg BERGMANN: Nehmen wir mal das Beispiel eines Chirurgen. Der lernt zwar, wo er bei einer Gallenblasenoperation schneiden muss, und er weiß, dass im Bauchraum der Harnleiter und das Blutgefäß so und der Gallengang so verläuft, und dass es 25 Konstellationen gibt, wie die liegen können, das lernt er im Lehrbuch. Aber wenn er die Operation durchführt und sich mit seinen Instrumenten im Bauchraum bewegt, dann ist das another first time through, dann muss er jedes Mal neu schauen, was passiert. Das ist, glaube ich, bei GARFINKEL die artfulness. Die Kompetenz ist so eine doppelte Kompetenz: einmal die systematische des Lehrbuchwissens, aber dann die Kompetenz, dieses Wissen auch auf die Einmaligkeit einer Situation zu beziehen.94) Jahre später, da war ich schon im Ruhestand, ist mir die Idee gekommen, dass GARFINKELs Devise durchaus auch praktisch wertvoll sein kann. Ich hatte zusammen mit anderen aus unserem Dorf damit begonnen, mit Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan zu arbeiten. Für Flüchtlinge bedeutet ja die Situation hier in Deutschland zunächst status stripping und die Erfahrung von Inkompetenz – sie beherrschen die Sprache nicht, die kulturellen Praktiken sind ihnen fremd, sie kommen mit der Bürokratie nicht zurecht etc. Da habe ich mich an GARFINKEL erinnert und bin dazu übergegangen, mit den Flüchtlingen systematischer darüber zu sprechen, was sie gut können und worin sie kompetent sind. Weil die Arbeit zur praktischen Unterstützung der Flüchtlinge so vielfältig und drängend war, habe ich das nicht weiter systematisch verfolgen können. Aber als einer der Flüchtlinge sagte, er sei gut darin, Andere zum Lachen zu bringen, dachte ich, dass das ein guter Ansatzpunkt wäre für eine ethnomethodologisch inspirierte, hybride refugee study. [77]

16. "Ich habe eher die Befürchtung, dass die Ethnomethodologie … ausstirbt"

Hannes KRÄMER: Seht ihr auch neue Entwicklungen theoretischer Art innerhalb der EM?

Christian MEYER: Ich habe eher die Befürchtung, dass die EM in Amerika ausstirbt. Ich weiß nicht, liege ich da richtig? In der Soziologie gibt es sie kaum noch. In der Linguistik ist die KA zwar sehr verbreitet, aber sie vergisst ihre ethnomethodologischen Wurzeln – genauso wie in Deutschland – und bezieht sich mittlerweile sehr viel stärker auf GOFFMAN als auf GARFINKEL. Das finde ich eine ziemliche Tristesse. Aber ich glaube, wie gesagt, dass jetzt der Zeitpunkt ist, an dem es zu einer Renaissance der EM innerhalb der Soziologie kommen kann. [78]

Jörg BERGMANN: Aber neue Entwicklungen sehe ich eigentlich auch nicht.

Christian MEYER: Okay, bei LATOUR95) ist ein starker Bezug angelegt, bei BOLTANSKI96) ist ein Bezug angelegt; die Science and Technology Studies (STS) sind insgesamt ein Bereich neben der Linguistik, in dem die EM eine wichtige Rolle spielt. Und vielleicht noch Eric LAURIER97), der sie in die Geografie exportiert mit seiner Sozialraumgeografie. Da gibt es Exporte in andere Disziplinen hinein. [79]

Jörg BERGMANN: Es könnte ja auch gesagt werden, es ist doch in Ordnung, warum muss die EM als Theorie weiterentwickelt werden? Ihre Adaption in anderen Disziplinen ist die Weiterentwicklung. Es gibt dann eben Ethnomethodologien, die – wie die KA in der Linguistik – in unterschiedlichen Untersuchungsbereichen entstehen und neue Entwicklungen auslösen und befördern. Das ist das, was GARFINKEL (2002) als hybrid studies bezeichnet hat. Aber eigentlich bräuchte es schon auch theoretische Formulierungsversuche, sonst verschwindet die EM und stirbt an ihrem Erfolg. Wir sehen ja mittlerweile doch, ob jetzt in der IT-Forschung, der Pädagogik oder der Medizinsoziologie, dass sie ein kreatives Potenzial hat und mit ihr etwas angefangen werden kann. [80]

René SALOMON: Gibt es für euch neben GARFINKEL noch andere Theoretiker*innen oder Theorierichtungen, die ähnlich oder gleich prägend für eure soziologische Laufbahn waren? Wurde neben den Studies noch etwas Anderes gelesen?

Jörg BERGMANN: Ja, für mich war Georg SIMMEL98) wichtig. Ich habe auch immer bedauert, dass SIMMEL in der amerikanischen Rezeption so kurz gekommen ist; angefangen bei PARSONS, aber über PARSONS dann natürlich hinaus, bis GARFINKEL. Es gab in den Staaten nur eine sehr magere Rezeption von SIMMEL, und wenn, dann diese uninspirierte Form der Rezeption etwa bei Kurt WOLFF99) (1950). Während ich an SIMMELs dialektischem Denkstil und dem Konzept der Sozialformen sehr viel an Beschreibungen von Praktiken wiedererkenne, die mir später geholfen haben, die EM – jedenfalls in der Version, wie ich sie wahrnehme – zu verstehen. Damit lassen sich dann auch Konzepte entwickeln und Phänomene untersuchen, die in der klassischen EM nicht bekannt sind. Man kann zum Beispiel zu den kommunikativen Praktiken kommen, die wir als Gattungen beschrieben haben, etwa den Klatsch (BERGMANN 1987). Das war in der EM als solcher erst einmal gar nicht angelegt, doch man kann auf diesem Weg Zugang finden zu komplexen Formen von Sozialität, deren theoretischer Hintergrund sowohl SIMMEL als auch GARFINKEL ist. Ich habe die Arbeiten dieser beiden Soziologen lange Zeit nicht direkt aufeinander beziehen können, es lief eher parallel nebeneinander her und hat, so hoffe ich, meine Wahrnehmung der EM wie umgekehrt von SIMMEL bereichert. Und später habe ich diese Verbindung ja auch expliziter formuliert (BERGMANN 2011). Aber es ist eigentlich bedauerlich, dass nicht von jemandem, der sich theoriemäßig besser auskennt als ich, diese Querverbindungen ausführlicher verfolgt worden sind. Diese Querverbindungen sind sicherlich nicht bei GARFINKEL direkt zu finden. Ich habe GARFINKEL ja gefragt, ob er deutsch spricht, und er konnte vermutlich auch einigermaßen mühsam deutsche Texte lesen. Im Briefwechsel mit SCHÜTZ hatte er angeboten, den "Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt" zu übersetzen (SCHÜTZ 1932), aber das hätte er sicherlich nicht selbst gemacht, sondern wahrscheinlich zusammen mit Egon BITTNER100), der ja aus Deutschland kam und mit dem er einen engen Kontakt hatte. [81]

Christian MEYER: Bei mir war es schon vorwiegend SCHÜTZ. Gut, früher war vielleicht auch noch George Herbert MEAD relevant für mich, bei dem ich immer das Gefühl hatte, dass er sehr einseitig rezipiert worden ist in der deutschen Soziologie, unter anderem auch durch eine schlechte Übersetzung: Der pragmatistische Hintergrund, der ja doch sehr viele Parallelen aufweist mit der Phänomenologie, ist nicht so richtig deutlich geworden. Aber SCHÜTZ war und ist nach wie vor für mich sehr relevant, ihn habe ich auch schon sehr früh im Studium gelesen. Natürlich ist er auch ergänzungsbedürftig durch körpersoziologische oder leibphänomenologische Aspekte – da arbeite ich sehr viel mit MERLEAU-PONTY101). Und dann waren für mich in den 1990er Jahren beim Studium die Poststrukturalist*innen wichtig – das waren die Referenzautor*innen meiner Student*innengeneration. FOUCAULT102) und DERRIDA, LYOTARD103), DELEUZE104) und GUATTARI105), postmoderne Autoren also auch. Und BARTHES106), BAUDRILLARD107), RICŒUR108), VIRILIO109), BATAILLE110) und wie sie alle heißen. Diese Autoren waren der Kontext, in dem ich akademisch sozialisiert wurde – das war das spannende Theorieangebot. Für mich haben sie aber letztlich auch eine Unbefriedigtheit zurückgelassen. Was mache ich jetzt wissenschaftlich, methodologisch und thematisch? Eine anything goes-Haltung – nicht im stringenten FEYERABENDschen111) Sinne (FEYERABEND 1976 [1975]) –, sondern in dem popularisierten Sinne: Kann ich jetzt alles machen, alles denken, ist alles egal? Ist Wissenschaft nur noch Kunst? An dieser Stelle hat für mich dann die EM eine Lösung zur Verfügung gestellt, wie ich – trotz dieser Zweifel, Einschränkungen und Vorläufigkeiten – empirisch und begrifflich arbeiten kann, ohne in den naiven Realismus zurückzukehren; fast, als wäre die EM eine Reaktion avant la lettre auf die postmodernen Verwirrtheiten. In der Soziologie wurde die Postmoderne später und anders rezipiert als in der Ethnologie, weil in der Soziologie LUHMANN so relevant war und er viele theoretische Momente der Postmoderne schon vorweggenommen und in einer Weise formuliert hatte, die dann bearbeitet werden konnte. Das Interessante ist wirklich, dass GARFINKEL für mich eine Lösung für diese konstruktivistische Pluralität und Gleichgültigkeit präsentiert hat. [82]

Jörg BERGMANN: Wie würdest du denn das Studies-Buch heute mit einem Seminar lesen? Du würdest das ja nicht – vorhin haben wir darüber geredet – von der ersten bis zur letzten Seite lesen.

Christian MEYER: Das habe ich gerade letztes Semester unterrichtet. Ich habe mit dem "Preface" angefangen. Ich habe es eben ausprobiert. Man erhält ja immer nur wenig Rückmeldung und weiß nicht, was die Studierenden dann letztlich daraus gelernt haben. Das war in einem Master-Kurs. In einem Bachelor-Kurs hatte ich auch EM angeboten – in einem Klassiker-Seminar –, da habe ich mit dem Text "Some Sociological Concepts and Methods for Psychiatrists" (GARFINKEL 1956) angefangen, den haben die Studierenden überhaupt nicht verstanden, während ich gedacht hatte, er sei sehr einfach aufbereitet. Da bin ich auch gescheitert. Und einführend natürlich deine Texte, Jörg, und den "Agnes"-Text (GARFINKEL 1967, Kap. 5), den "Jurors"-Text (Kap. 4), den "Clinical Documents"-Text (Kap. 6), also die eher empirischen Texte, die kann man schon versuchen zu lesen. Aber einen richtigen Weg habe ich dafür noch nicht gefunden. Ich denke, es muss sehr kleinschrittig und systematisch aufgebaut werden. Allerdings ist mir aufgefallen, dass Krisenexperimente sehr en vogue sind wegen der pranks. Mir war das völlig neu – Youtube ist voller prank-Videos. Da werden Leute hereingelegt und dann wird es aufgelöst, indem gesagt wird: "It's a prank, it's a prank!" Jemand duscht am Strand und eine zweite Person schüttet von oben permanent Shampoo auf den Kopf; Versuche, das abzuspülen scheitern und es schäumt und schäumt und dann: "It's a prank, it's a prank!" Im Moment passiert da eine Re-Definition solcher Handlungen, ein Außerkraftsetzen impliziter sozialer Erwartbarkeiten durch die permanente Beobachtbarkeit und Dokumentierbarkeit alles Sozialen durch neue Medien. Und das wäre ein Punkt, den sollten wir versuchen zu verstehen. Was passiert da gerade, warum sind diese pranks so hip? Was fasziniert die Leute daran? Und bei mir im Seminar wollten alle pranks machen. Ich habe gesagt: Ok, ihr dürft Krisenexperimente machen, aber macht die vor dem Hintergrund der Theoriebildung von GARFINKEL, sonst bringt das nichts. Das ist nicht einfach nur ein Joke, dahinter steckt ein wirkliches sozialtheoretisches Interesse. Und dann sind sie schon wieder eher gescheitert. [83]

Jörg BERGMANN: Die Frage ist, ob man sich langsam heranschleicht und den Komplexitätsgrad sukzessive steigert, um die Studierenden erst am Schluss auf die Theorie loszulassen. Oder ob sie am Anfang einer Schockerfahrung ausgesetzt werden, das erste Kapitel oder die Einleitung lesen sollen und keinen Satz verstehen, nicht einmal einen Satz entflechten können, weil er in sich so verquirlt ist. Das ist die Frage, wie das am besten gemacht wird. [84]

Hannes KRÄMER: Glaubst du, dass die Übersetzung dazu beitragen wird, den Zugang zu erleichtern?

Christian MEYER: Wenn du eine gute Übersetzung dieses Buches machen willst, musst du sie ja im Deutschen genauso unverständlich machen. Vor der Herausforderung steht die Übersetzerin, Brigitte LUCHESI112) jetzt. Zum Beispiel für "in doing sociology" (GARFINKEL 1967, S.vii) hatte sie "beim Betreiben von Soziologie" vorgeschlagen, aber Anne RAWLS113) hat Einspruch erhoben und gesagt: Es geht nicht um das Betreiben von Soziologie, sondern um Soziologie-Machen, so müsste das eigentlich übersetzt werden, durchaus in einer kindlichen Sprache. Und dann hast du wieder das Problem, dass wenn du es in dieser Form übersetzt, es entweder unverständlich oder stilistisch unangenehm wird. [85]

René SALOMON: Eine letzte Frage – würdet ihr sagen, dass die seit zehn Jahren anhaltende Modernität dessen, was jetzt unter Praxistheorie gefasst wird, mit dazu beiträgt, dass es zu einer neuen Offenheit gegenüber der EM kommt oder gekommen ist?

Christian MEYER: Ich glaube schon, dass die EM mit ihrem Begriff der Praxis ein neues Interesse weckt und einen theoretischen Kontext bietet, innerhalb dessen Praxis verstanden werden kann. Viele Dinge sind bei GARFINKEL konsequenter durchdacht als in anderen praxistheoretischen Ansätzen – insofern könnte die Praxistheorie als Wegbereiterin dienen. GARFINKEL spricht ja permanent von Praktiken, practical circumstances und so weiter. Praxis ist wirklich ein sehr prominenter Begriff bei ihm. Die Gefahr ist natürlich, dass es dann in einer anderen Weise aufgefasst wird. Aber das ist wohl das Schicksal von allen Texten. Wir hatten letztens eine Tagung in Konstanz, bei der es vielen Teilnehmenden überhaupt nicht bewusst war, dass Praxis eine Rolle spielt für die EM. Ich weiß nicht, wie das verstanden wird – ich glaube, es ist einfach sehr viel Unwissen da. [86]

Jörg BERGMANN: Da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen. Ich habe ja ziemlich viel über EM geschrieben, aber irgendwie ist dabei nicht so richtig herübergekommen, welche zentrale Rolle Praxis und Praktiken in der EM spielen.

Christian MEYER: Das kann man jetzt jedenfalls anbieten als einen Weg, über den man die EM heute begreifen kann. Es ist ja nicht der Einzige.

René SALOMON & Hannes KRÄMER: Jörg, Christian – vielen Dank für dieses spannende Gespräch. [87]

Anmerkungen

1) Zum Interviewschwerpunkt vgl. die Einleitung in dieser FQS-Ausgabe (GERST, KRÄMER & SALOMON 2019). <zurück>

2) Aaron Victor CICOUREL (*1928), Soziologe, hatte an der University of California, San Diego zunächst am Soziologie-Institut eine Forschungsprofessur für Kognitionswissenschaft und ab 1989 bis zu seiner Emeritierung eine Professur an der Medizinschule inne. Er ist ein Schüler von SCHÜTZ, wurde stark von GOFFMAN und GARFINKEL beeinflusst und hatte eine erhebliche Wirkung auf die Entwicklung der Ethnomethodologie, von der er sich schließlich abgewendet hat hin zum Programm einer kognitiven Soziologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind alltägliches Denken, Sprechen und Handeln, qualitative Methoden und Mikrosoziologie (CICOUREL 1970 [1964]). Siehe für einen Einblick in CICOURELs Denken auch das Interview mit CICOUREL von Andreas WITZEL und Günter MEY (2004). <zurück>

3) Siehe das Interview mit KNORR-CETINA in dieser FQS-Ausgabe (KNORR-CETINA, KRÄMER & SALOMON 2019). <zurück>

4) Siehe das Interview mit Jürgen STREECK in dieser FQS-Ausgabe (STREECK, KRÄMER & SALOMON 2019). <zurück>

5) Hugh MEHAN (*1941) war Professor für Soziologie an der University of California, San Diego und dort Direktor des Center for Research on Educational Equity, Access and Teaching Excellence. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Ethnomethodologie (EM), Bildungssoziologie und Interaktionen in Schulkontexten (vgl. MEHAN & WOOD 1975). <zurück>

6) Thomas S. EBERLE (*1950), Soziologe, war bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität St. Gallen. Er ist seit 2003 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von FQS und war von 2007 bis 2011 Vize-Präsident der European Sociological Association. Seine Forschungsinteressen beziehen sich auf die phänomenologische Wissenssoziologie, qualitative Sozialforschung, EM, Organisationssoziologie, Kultursoziologie und Kommunikationssoziologie (vgl. EBERLE 2000). <zurück>

7) Don ZIMMERMAN, Soziologe und einer der frühen Vertreter der EM. Er ist Professor an der University of California, Santa Barbara. Sein zusammen mit Candace WEST verfasster Artikel "Doing Gender" ist in die Geschichte der Gender Studies und der Soziologie der Geschlechter eingegangen (vgl. WEST & ZIMMERMAN 1987). <zurück>

8) Die UCLA war die Wirkungsstätte nicht nur von Harold GARFINKEL, sondern auch von vielen seiner Schüler*innen und gilt daher als das Epizentrum der ethnomethodologischen Bewegung. <zurück>

9) Mit dem GARFINKEL-Archiv ist der umfangreiche Nachlass von GARFINKEL gemeint, der sich in Boston befindet und von Anne Warfield RAWLS verwaltet wird. <zurück>

10) Es gibt ein Interview, in dem CICOUREL detailliert über seinen Konflikt mit GARFINKEL berichtet (MUNTANYOLA-SAURA 2015). <zurück>

11) Jürgen HABERMAS (*1929), Philosoph und Soziologe, gilt als einer der meistzitierten deutschen Philosophen und ist der bekannteste Vertreter der Nachfolgegeneration der Kritischen Theorie. Er war Forschungsassistent bei Max HORKHEIMER und Theodor W. ADORNO und hatte von 1964 bis 1971 den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main inne. Danach war er bis 1981 Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, um anschließend wieder zur Goethe-Universität zu wechseln, wo er bis 1994 Philosophieprofessor war. Er ist unter anderem bekannt für seine kritischen Auseinandersetzungen mit der LUHMANNschen Systemtheorie, seine Beiträge im Positivismusstreit und seine Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. HABERMAS 1981). <zurück>

12) Diese Brechungsexperimente werden auch Krisenexperimente genannt. <zurück>

13) Talcott PARSONS (1902-1979) war der 39. Präsident der American Sociological Association und von 1944 bis 1973 Professor für Soziologie an der Harvard University. Er ist einer der einflussreichsten Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts und bestimmte die soziologische Diskussion und Theorieentwicklung in einem bis dahin und seitdem unerreichten Ausmaß. Er entwickelte über seine voluntaristische Handlungstheorie den Strukturfunktionalismus, der in seiner soziologischen Systemtheorie kumuliert. Insbesondere seine Beschäftigung mit anderen Disziplinen und den soziologischen Klassikern war für die (vor allem amerikanische) Soziologie wegweisend. Sein Werk stellt einen wichtigen Baustein und zugleich Abgrenzungsfolie für die Arbeiten von Soziologen wie Harold GARFINKEL, Erving GOFFMAN, George Caspar HOMMANS oder auch Niklas LUHMANN dar (vgl. PARSONS 1937, 1951; PARSONS & SHILS 1951). <zurück>

14) George Herbert MEAD (1863-1931), Philosoph und Psychologe, ist ein wichtiger Vertreter des amerikanischen Pragmatismus und gilt neben Herbert BLUMER als wichtigste Referenzfigur des symbolischen Interaktionismus sowie als Begründer der Sozialpsychologie. Von 1894 bis zu seinem Tod war er Professor in Chicago (vgl. MEAD 1934). <zurück>

15) Alfred SCHÜTZ (1899-1959), Gründungsvater der phänomenologischen Soziologie, war Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der New School for Social Researchin New York (1956-1959). Seine Arbeitsschwerpunkte umfassten die Alltagswelt, Erfahrung, Intersubjektivität, Sozialtheorie und Methodologie der Sozialwissenschaften (vgl. SCHÜTZ 1932). <zurück>

16) Suhrkamp Reihe "Theorie", hrsg. von Hans BLUMENBERG, Jürgen HABERMAS, Dieter HENRICH und Jacob TAUBES. <zurück>

17) Als Labelling-Theorie (im Deutschen auch Etikettierungsansatz) wird eine sich in den USA der 1950er Jahre entwickelnde Strömung bezeichnet, in der Devianz nicht mehr als Ergebnis von deviantem Verhalten verstanden oder der Grund für dieses Verhalten in der Person des/der Delinquenten gesucht wird, sondern Devianz als Folge der Definition eines Ereignisses als deviant durch das soziale Umfeld/die Gesellschaft gefasst wird (vgl. BECKER 1973 [1963]; SCHEFF 1973 [1966]). <zurück>

18) Alvin Ward GOULDNER (1920-1980) war von 1957 bis 1967 Professor für Soziologie an der New York University, daran anschließend Inhaber der Max-Weber-Professur in Washington sowie von 1972 bis 1976 Soziologieprofessor in Amsterdam. Er ist bekannt für die Weiterentwicklung der Bürokratietheorie Max WEBERs. Weitere Arbeitsschwerpunkte lagen auf Themen wie Wissen, Macht sowie der EM (vgl. GOULDNER 1954). <zurück>

19) Ernst von KARDORFF (*1950) war von 1995 bis 2016 Professor für Soziologie der Rehabilitation, Berufliche Rehabilitation und Rehabilitationsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte sind die qualitative Sozialforschung, Rehabilitationssoziologie, Psychiatrie und Alterssoziologie (vgl. FLICK, KARDORFF & STEINKE 2004; KARDORFF & KOENEN 1981). <zurück>

20) Erving GOFFMAN (1922-1982) gilt als einer der prominentesten Soziologen der Nachkriegszeit und als Schlüsselfigur bei der Erforschung der Interaktionsordnung. Von 1958 bis 1968 war er Professor in Berkeley und von 1968 bis zu seinem Tod Professor für Anthropologie und Soziologie an der University of Pennsylvania. Zudem war er 1982 Präsident der American Sociological Association. Er ist Autor zahlreicher Bücher, wovon einige zu den meistverkauften soziologischen Büchern gehören, die zudem auch ungewöhnlich viel Anklang in anderen Disziplinen fanden. Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem die Soziologie der Situation, die Interaktionsordnung, die interaktive Konstruktion des Selbst, soziale Organisation der Erfahrung (framing) sowie totale Institutionen und Stigmata (vgl. GOFFMAN 1969 [1959]). <zurück>

21) Die Writing-Culture-Debatte bewegte vor allem ab den späten 1970er Jahren die Sozial- und Kulturanthropologie und stellte eine Zäsur der eigenen Theoriegeschichte dar. Dabei geht es um die Feststellung des konstruktiven Anteils bei der ethnografischen Erforschung und Beschreibung anderer Kulturen. Objektivitätsansprüche gerieten somit ins Wanken, und der eigene Konstruktionsprozess rückte in den Fokus (vgl. BERG & FUCHS 1993). <zurück>

22) Stephen A. TYLER (*1932) war Professor für Anthropologie an der Rice University in Houston. Zu seinen Forschungsinteressen zählt die kognitive Anthropologie, die EM, die Postmoderne, Rhetorik, Kultur und Indien (vgl. TYLER 1978). <zurück>

23) Ivo STRECKER (*1940), befasste sich in Südäthiopien mit dem Volk der Hamar und war von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (vgl. LYDALL & STRECKER 1979). <zurück>

24) Rover ist der Name des Setters von Alfred SCHÜTZ, den dieser in einem Aufsatz als Beispiel nennt, um die Differenz zwischen individuellen Charakteristika und allgemeiner Typik zu verdeutlichen (vgl. SCHÜTZ 2010). <zurück>

25) Ludwig WITTGENSTEIN (1889-1951) war einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine analytische Sprachphilosophie legte den Grundstein für die linguistische Wende (vgl. WITTGENSTEIN 1922). <zurück>

26) Theodor W. ADORNO (1903-1969) war einer der wichtigsten Vertreter der kritischen Theorie (Frankfurter Schule) und ab 1956 Professor für Soziologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er 1958 auch die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernahm. Er ist u.a. bekannt für die mit Max HORKHEIMER verfasste "Dialektik der Aufklärung" (1947) sowie als einer der Protagonisten des sogenannten Positivismusstreits, der im Kern eine Auseinandersetzung über die Methoden und Werturteile in den Sozialwissenschaften war (vgl. ADORNO 1966; ADORNO et al. 1969). <zurück>

27) Zitiert nach HORKHEIMER und ADORNO (1947, S.50). <zurück>

28) Lothar Friedrich KRAPPMANN (*1936), Soziologe und Pädagoge, war bis 2001 Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und ist derzeit als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin tätig. Sein Forschungsinteresse gilt der Identität, Familie, sozialen Ungleichheit, Erziehungssoziologie, Sozialisationsforschung und der Interaktion von Kindern. Von 2003 bis 2011 war er als unabhängiger Experte im UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes tätig (vgl. KRAPPMANN 1969). <zurück>

29) Heinz STEINERT (1942-2011) war Professor für Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, an der er auch im Jahr 2007 emeritiert wurde. Arbeitsschwerpunkte waren u.a. soziales Handeln, Kunst, Kriminalsoziologie, Devianz, kritische Theorie und Max WEBER (vgl. STEINERT 1973). <zurück>

30) Werner Josef PATZELT (*1953), Politikwissenschaftler, war ab 1991 Professor an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Parlamentarismusforschung, politische Kommunikation, direkte Demokratie und die Methoden der Sozialwissenschaften. Aktuell ist PATZELT wegen umstrittener Äußerungen zur Pegida-Bewegung in den Medien und seit März 2019 im Ruhestand (vgl. PATZELT 1987). <zurück>

31) David SUDNOW (1938-2007), Soziologe und Musiker, war Ethnomethodologe der ersten Generation. In seiner noch bei GOFFMAN abgefassten Dissertation beschreibt SUDNOW die Praktiken des organisationalen Umgangs mit Sterbenden in zwei Krankenhäusern. Auf Basis seiner ethnomethodologischen Forschungen zur Inkorporierung entwickelte er eine Lernmethode für das Solo-Pianospiel (The Sudnow Method), mit der er außerhalb der Soziologie große Erfolge erzielte (vgl. SUDNOW 1967, 2001). <zurück>

32) Harvey SACKS (1935-1975), Soziologe, war Begründer der Konversationsanalyse (KA) und ein wichtiger Vertreter der frühen EM. Er hatte einen großen Einfluss auf Bereiche der Soziologie, Linguistik und auf die diskursive Psychologie. Er war Student von Erving GOFFMAN, lehrte ab 1963 in Los Angeles und war von 1964 bis 1975 Professor in Irvine. Ein Großteil seiner Arbeit behandelt die Sequenzanalyse, Mitgliedschaftskategorien und die sozialwissenschaftliche Methodologie (vgl. SACKS 1992). <zurück>

33) Zum Begriff impression management siehe Kapitel 6 in GOFFMAN (1969 [1959]). <zurück>

34) Vor kurzem wurde bekannt, dass "Color Trouble" tatsächlich keine fiktive short story ist, sondern der ethnografische, anonymisierte Bericht eines Ereignisses, bei dem GARFINKEL zufällig Zeuge war: Im März 1940 wurde Pauli MURRAY, eine schwarze Aktivistin der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wegen "disorderly conduct and creating a disturbance" (GILMORE 2008, S.322-325) verhaftet, weil sie sich weigerte, in einem Überlandbus den Sitzplatz zu wechseln. Sein Text "Color Trouble" erschien einige Wochen später in der afroamerikanischen Zeitschrift Opportunity und wurde dann von Edward J. O'BRIEN in den Auswahlband mit short stories aufgenommen (GARFINKEL 1941). Pauli MURRAY war bei dem Vorfall, bei dem sie von einer Freundin begleitet wurde, als Mann verkleidet und wird in GARFINKELs Text auch als junger Mann beschrieben. <zurück>

35) Jacques DERRIDA (1930-2004), Philosoph, war Begründer der Dekonstruktion und ein Vertreter des Poststrukturalismus und Postmodernismus. Von 1965-1983 war er Dozent für Geschichte der Philosophie an der École Normale Supérieure. Von 1983 an war er Forschungsdirektor und Professor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und wirkte als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in Amerika, insbesondere an der University of California, Irvine. Seine Schriften nahmen großen Einfluss auf die Literaturwissenschaft und die Philosophie und behandelten Aspekte wie Sprachphilosophie, Differenztheorie, Epistemologie und Tierphilosophie (vgl. DERRIDA 2013). <zurück>

36) Mit dem Begriff der immortal ordinary society weist GARFINKEL (1991) darauf hin, dass soziale Ordnung unaufhebbar ist, weil – und das hat er insbesondere mit den breaching experiments (GARFINKEL 1963) demonstriert – die Mitglieder der Gesellschaft sie, sollte sie prekär werden, immer wieder durch entweder neue Sinnzuschreibungen oder die (u.a. emotionale) Äußerung von normativen Erwartungen reinstituieren. <zurück>

37) Niklas LUHMANN (1927-1998) war einer der einflussreichsten deutschen Soziologen des zwanzigsten Jahrhunderts und gehört zu den wenigen Theoretiker*innen, die weit in andere Disziplinen hinein rezipiert werden. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 war er Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er ist der Begründer der funktional-strukturellen soziologischen Systemtheorie. Viele Aspekte seiner Theorie gehören heute zum grundlegenden soziologischen Wissensbestand wie bspw. die Annahme der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft oder die Unterscheidung der Systembildungsebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Sein Hauptanliegen kann als die Entwicklung einer wissenssoziologisch fundierten Gesellschaftstheorie skizziert werden, welche mit den Bordmitteln der von ihm entwickelten Theorie sozialer Systeme arbeitet. In diesem Kontext einer Gesellschaftstheorie veröffentlichte LUHMANN Monografien zu den verschiedensten Funktionsbereichen der Gesellschaft wie Kunst, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Massenmedien, Liebe, Erziehung, Moral und Politik (vgl. LUHMANN 1984, 1997). <zurück>

38) Diesen Gedanken entwickelt GARFINKEL bereits in früheren, unveröffentlichten Schriften, insbesondere im Manuskript "Parsons Primer" (1962), dessen Veröffentlichung für 2019 angekündigt ist. <zurück>

39) Clara IMMERWAHR (1870-1915), Chemikerin, war eine der ersten promovierten Frauen und in der Katalyseforschung tätig. Zudem trat sie als Pazifistin und Frauenrechtlerin hervor. <zurück>

40) Fritz HABER (1868-1934), Chemiker und Nobelpreisträger, ist Erfinder des Haber-Bosch-Verfahrens, bei dem es um Ammoniaksynthese geht. <zurück>

41) Émile DURKHEIM (1858-1917) wurde 1887 Professor für Pädagogik und Sozialwissenschaft an der Universität in Bordeaux und lehrte ab 1902 an der Universität Sorbonne in Paris, an der er vier Jahre später den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft übernahm, der wiederum sieben Jahre später den Zusatz "und Soziologie" erhielt. Er gilt als einer der Gründungsväter der Soziologie. Großen Einfluss hatten unter anderem seine Arbeiten zur sozialen Arbeitsteilung und zu Selbstmord und Religion. Er ist bekannt für das Diktum, soziale Phänomene nur durch Soziales erklären zu können (vgl. DURKHEIM 1977 [1893], 1983 [1897], 1984 [1895]). <zurück>

42) DURKHEIMs Position ist, dass die Tatsache, dass uns die innere Erfahrung weder Wesen noch Erscheinungsweise der Tatbestände der Individualpsychologie offenbart (wenngleich diese "schon ihrem Begriffe nach in unserem Ich vorhanden sind"), sondern uns "unklare, flüchtige und subjektive Eindrücke" vermittelt, "nicht aber klare und deutliche Erkenntnisse, geläuterte Begriffe", "auch der genaue Grund [war], welcher im Laufe dieses Jahrhunderts zur Begründung einer objektiven Psychologie geführt hat, deren Grundregel es ist, die psychischen Phänomene von außen, d.h. wie Dinge zu erforschen. Die sozialen Phänomene fordern ein solches Verfahren noch dringender. Denn zu ihrer Erkenntnis ist das Bewusstsein noch weniger berufen als zu der seines eigenen Wesens" (DURKHEIM 1984 [1895], S.90f.). In der englischen DURKHEIM-Übersetzung, die GARFINKEL verwendete, wird der Bezug noch deutlicher: "[D]uring this century an objective psychology has been founded whose fundamental rule is to study mental facts from the out-side, namely as things. This should be even more the case for social facts, for consciousness cannot be more capable of knowing them than of knowing its own existence" (DURKHEIM 2013 [1901], S.8). <zurück>

43) GARFINKEL sagt: "The stability of concerted actions should vary directly with whatsoever are the real conditions of social organization that guarantee persons' motivated compliance with this background texture of relevances as a legitimate order of beliefs about life in society seen 'from within' the society. Seen from the person's point of view, his commitments to motivated compliance consist of his grasp of and subscription to the 'natural facts of life in society'" (1967, S.53f). <zurück>

44) So etwa in dem Sammelband von ANDERSON und SHARROCK (1984). <zurück>

45) Karl MARX (1818-1883), Philosoph, Ökonom, Journalist, legte mit Friedrich ENGELS die theoretischen Grundlagen des Marxismus und der Kapitalismuskritik und beeinflusste damit viele wissenschaftliche Disziplinen, die spätere kritische Theorie sowie die öffentlichen und politischen Diskurse bis heute. Indem er die Umbrüche des 19. Jahrhunderts und die wirtschaftlichen Veränderungen beobachtete und zu erklären versuchte, prägte und popularisierte er neben seiner Theorie über das Kapital in der Moderne Begriffe wie Proletariat, Bourgeoisie, Ware, Gebrauchswert, Tauschwert, Warenfetischismus usw. (vgl. MARX 1980 [1867]). <zurück>

46) Georg LUKÁCS (1885-1971), Philosoph und Literaturwissenschaftler, beeinflusste weitere Entwicklungen in der marxistischen Philosophie und Teile der kritischen Theorie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählten u.a. Expressionismus, Realismus, Marxismus, der Roman, die Politik, Ästhetik, Ontologie und das dialektische Denken (vgl. LUKÁCS 1962-1986). <zurück>

47) Karl KORSCH (1886-1961) war ein Vertreter der marxistischen Philosophie und gilt als Theoretiker der unabhängigen Linken. Seine Interessen galten daher vor allem dem Marxismus, Materialismus und der Politik sowie der Entstehung der kritischen Theorie (vgl. KORSCH 1923). <zurück>

48) Jean-Paul Charles Aymard SARTRE (1905-1980) war Philosoph, Autor, politischer Aktivist und Begründer des Existenzialismus (vgl. SARTRE 1987 [1943]). <zurück>

49) Walter BENJAMIN (1892-1940), Dichter und Philosoph, ist eine der beliebtesten Referenzfiguren der Kulturphilosophie und -soziologie. Er beeinflusste die kritische Theorie und war u.a. mit Theodor W. ADORNO und Hannah ARENDT befreundet. Er schrieb zu Bereichen wie Medien, Kulturkritik, Marxismus und Kunst im Allgemeinen oder zur Fotografie im Speziellen (vgl. BENJAMIN 1980 [1929]). <zurück>

50) Fritz SACK (*1931) war von 1970 bis 1974 Professor für Soziologie an der Universität Regensburg, anschließend lehrte er an der Universität Hannover und wurde 1984 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Universität Hamburg bis zu seiner Emeritierung 1996. Von da an leitete er bis 2012 das Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung in Hamburg. Seine Forschungsinteressen umfassen die EM, soziale Interaktion, den Etikettierungs- oder Labelling-Ansatz. Er zeichnet sich durch die Sichtweise aus, dass Kriminalität ein rein interaktionelles Phänomen sei (vgl. SACK 2014). <zurück>

51) Elmar WEINGARTEN (*1942), Soziologe und Orchesterintendant, schrieb zu Familien von Schizophrenen und zu Themen wie der Entwicklung des musikalischen Geschmacks. Zu seinen weiteren Arbeitsschwerpunkten zählen die EM und Medizinsoziologie (vgl. WEINGARTEN et al. 1976). <zurück>

52) Jim SCHENKEIN (*1944 in Kalifornien) ist ein US-amerikanischer Soziologe und Konversationsanalytiker, der u.a. mit Gail JEFFERSON zusammengearbeitet hat (vgl. JEFFERSON & SCHENKEIN 1977; WEINGARTEN et al. 1976). <zurück>

53) Siehe das Interview mit Stephan WOLFF in dieser FQS-Ausgabe (WOLFF & SALOMON 2019). <zurück>

54) Pierre BOURDIEU (1930-2002) war einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Er war ab 1964 Professor am Collège de France in Paris und Studienleiter an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. In seinen Arbeiten behandelt er Themen wie Macht und kulturelle Reproduktion. Er prägte Begriffe wie Habitus, soziales Feld und symbolische Gewalt. Im Rahmen seiner Praxistheorie redefinierte und arbeitete er zudem Konzepte wie Kapital und Klasse weiter aus (vgl. BOURDIEU 1982 [1979]). <zurück>

55) Vgl. zur Reflexivitätsdebatte LYNCH (2000) und MACBETH (2001). <zurück>

56) Edmund HUSSERL (1859-1938) war einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts und Gründer der Phänomenologie. Von 1901 bis 1916 war er Professor in Göttingen und bis zu seinem Ruhestand im Jahre 1928 Professor in Freiburg. Zu den wichtigsten Themen, mit denen er sich beschäftigte, zählen die Mathematik, Psychologie, Intentionalität, Logik und die phänomenologische Reduktion als ein Beitrag zur Transzendenzphilosophie (vgl. HUSSERL 1939). <zurück>

57) Thomas LUCKMANN (1927-2016) war Soziologe und einer der wichtigsten Protagonisten der sog. "neuen Wissenssoziologie". Er ist vor allem bekannt für seine grundlegende, mit Peter L. BERGER verfasste wissenssoziologische Arbeit "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (BERGER & LUCKMANN 1969 [1966]) sowie für seine religionssoziologischen Arbeiten. LUCKMANN war Professor an der New School for Social Research in New York (1960-1965), an der Universität Frankfurt am Main (1965-1970) und an der Universität Konstanz (1970-1994). Arbeitsschwerpunkte waren in den Bereichen Religionssoziologie, Sprach- und Wissenssoziologie sowie Phänomenologie (vgl. LUCKMANN 1991 [1967]). <zurück>

58) Der Briefwechsel zwischen GARFINKEL und SCHÜTZ ist bislang unveröffentlicht. Ein Teil der Briefe ist im Sozialwissenschaftlichen Archiv an der Universität Konstanz zugänglich, ein anderer Teil lagert im GARFINKEL-Nachlass in Boston. <zurück>

59) Donald John TRUMP (*1946), Millionär, Entertainer und US-amerikanischer Präsident. <zurück>

60) PLATON (428/427 v. Chr. - 348/347 v. Chr.), Philosoph, beschäftigte sich mit Metaphysik, Wahrheit, Ethik, Ideenlehre, Staatslehre, Sprachphilosophie und Naturphilosophie und war Schüler des SOKRATES. Er ist einer der Hauptreferenzfiguren der antiken Philosophie, an dem z.B. auch im Neukantianismus in prominenter Weise angeschlossen wurde (vgl. PLATON 1973). <zurück>

61) Hans-Georg GADAMER (1900-2002), Philosoph, wurde 1949 Professor an der Universität Heidelberg, wo er auch 1968 emeritiert wurde. Von 1962 bis 1968 war er Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Phänomenologen wie HUSSERL und HEIDEGGER prägten sein Schaffen. Sein Werk gab u.a. der Hermeneutik wichtige Impulse, für die er den Versuch der Universalisierung unternahm (vgl. GADAMER 1990 [1960]). <zurück>

62) Martin HEIDEGGER (1889-1976) war einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er war Professor in Marburg (1923) und Freiburg (1928), wo er bis 1951 lehrte, obwohl es aufgrund seiner Rolle in Nazideutschland Unterbrechungen gab. Er war Schüler HUSSERLs. "Sein und Zeit" ist eines seiner wichtigsten Bücher (vgl. HEIDEGGER 1960 [1927]). <zurück>

63) Wilhelm DILTHEY (1833-1911) wurde 1982 Inhaber des G.W.F. Hegel Lehrstuhls für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er versuchte, auf Basis der methodologischen Hermeneutik die Geisteswissenschaften einheitlich zu begründen. Er prägte die Unterscheidung von erklärender und verstehender Wissenschaft (vgl. DILTHEY 1924, 1982). <zurück>

64) Alois HAHN (*1941), Soziologe, studierte u.a. bei ADORNO, HABERMAS, LUCKMANN und TENBRUCK. Er lehrte als Gastprofessor an einigen Universitäten im Ausland wie bspw. der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und hauptsächlich als Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Trier bis zu seiner Emeritierung 2009. Er befasst sich mit Religions-, Kultur- und Krankheitssoziologie (vgl. HAHN 2000). <zurück>

65) Bettina HEINTZ (*1949) war von 1997 bis 2004 Professorin für allgemeine Soziologie an der Universität Mainz, danach bis 2013 Professorin für allgemeine Soziologie und soziologische Theorie an der Universität Bielefeld; aktuell ist sie Professorin für Soziologie an der Universität Luzern (seit 2017 als Seniorprofessorin). Zu ihren Forschungsinteressen zählen Themen wie Wissenschaft, Mathematik, Geschlecht, Weltgesellschaft und die Soziologie der Quantifizierung (vgl. HEINTZ 2000). <zurück>

66) Didier ERIBON (*1953), französischer Journalist, Soziologe und Philosoph, ist Professor an der Université de Picardie Jules Verne in Amiens. Sein Buch "Rückkehr nach Reims" wurde ein internationaler Erfolg. Er ist zudem bekannt für seine Arbeiten zu Michel FOUCAULT sowie im Bereich der Queer Studies (vgl. ERIBON 2004, 2016). <zurück>

67) Randall COLLINS (*1941) war 102. Präsident der American Sociological Association und ist emeritierter Professor für Soziologie an der University of Pennsylvania. Er ist einer der prominentesten Vertreter der Mikrosoziologie, wurde u.a. von DURKHEIM, GOFFMAN und WEBER beeinflusst. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Interaktionsrituale bzw. -ketten, Emotionen, öffentliche Intellektuelle und die Konfliktsoziologie (vgl. COLLINS 2004). <zurück>

68) "[Why do] people inhabit the same dwelling places day after day, [...] the same men and women sleep in the same beds and touch the same bodies, [...] the same children are kissed, spanked, and fed"? (COLLINS 1981, S.995) <zurück>

69) Ulrich OEVERMANN (*1940) war von 1977 bis zu seiner Emeritierung 2008 Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er entwickelte die objektive Hermeneutik. Zu seinen weiteren Forschungsinteressen zählen die Familiensoziologie, Religionssoziologie, Wissenssoziologie, Sozialpsychologie und die Sozialisationsforschung sowie Themen wie Profession, Habitus und Sprache (vgl. OEVERMANN 1972, 2004). <zurück>

70) GARFINKEL hat dazu in seinem bisher unveröffentlichten Text "Parsons Primer" (1962), der demnächst von Anne RAWLS veröffentlicht wird, auch eine eigene Formel entworfen: KØ→T. K symbolisiert das common sense knowledge of social structures, Ø ein aus diesem folgendes Schema (gewissermaßen eine Brille), → die Anwendung und T die Situation als praktisches Produkt ihrer Beobachtung mittels des Schemas. <zurück>

71) Jorge Luis BORGES (1899-1986), argentinischer Schriftsteller und Mitbegründer des magischen Realismus (vgl. 1993 [1944]). <zurück>

72) In der Wissenschaft nennt sich dieses Problem auch BONINI-Paradox (vgl. BONINI 1963). <zurück>

73) Kenneth Duva BURKE (1897-1993) war ein amerikanischer Literaturkritiker und Theoretiker, dessen Ansatz zur Analyse von Literatur als symbolische Handlung auf viele soziologische Theorien Einfluss genommen hat (vgl. BURKE 1945). <zurück>

74) Bernhard WALDENFELS (*1934), war von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1999 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist bekannt für eine Phänomenologie, in der der Leib eine größere Beachtung findet. Ein wiederkehrendes Thema seiner Schriften ist das Fremde (vgl. WALDENFELS 1990). <zurück>

75) Richard GRATHOFF (1934-2013) war Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seine Schriften wurden geprägt von SCHÜTZ, HUSSERL und PEIRCE. Sein Arbeitsschwerpunkt war die phänomenologische Soziologie. Bekannt wurde er vor allem durch sein Werk "Milieu und Lebenswelt" (vgl. GRATHOFF 1995). <zurück>

76) Die Reihe "Übergänge" im Fink Verlag wird heute von Bernhard WALDENFELS und Wolfgang ESSBACH herausgegeben. <zurück>

77) Emanuel SCHEGLOFF (*1937) ist Mitbegründer der KA und bekannt für die Überführung der KA in eine eigenständige Disziplin. SCHEGLOFF ist Professor in Los Angeles (seit 1996) und Mitglied im Editorial Board zahlreicher soziologischer und linguistischer Fachzeitschriften. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Sequenzanalyse, Mitgliedschaftskategorisierungen und repairs in Interaktion (vgl. SCHEGLOFF 1968). <zurück>

78) Roy TURNER (1928-2017) war emeritierter Professor für Soziologie an der University of British Columbia und Dozent (adjunct professor) für Soziologie an der York University in Kanada. Sein Forschungsinteresse galt der EM, KA, Interaktion und dem trouble talk (vgl. TURNER 1974). <zurück>

79) Vgl. GOFFMANs Äußerung: "I can remember arguing with Harold [GARFINKEL] not to use ethnomethodology as a term, that he should just introduce his criticism of ordinary methods into sociology at large. He would have nothing to do with that, and I think rightly so, politically, I think, for the group. But the introduction of ethnomethodology as a label that was meant to label just the students who attached themselves socially and institutionally to Harold and his group, that was a very novel thing in American Sociology" (in VERHOEVEN 1993, S.345). <zurück>

80) Anselm L. STRAUSS (1916-1996), Soziologe, begründete in den 1960er Jahren mit Barney GLASER die Grounded-Theory-Methodologie und war Professor an der University of California in San Francisco (1960-1987). Von STRAUSS stammen einflussreiche Forschungen zum symbolischen Interaktionismus, zur Medizinsoziologie, zur Methodologie qualitativer Sozialforschung und zur Theorie sozialer Welten (vgl. GLASER & STRAUSS 1998 [1967]). <zurück>

81) Melvin POLLNER (1940-2007) arbeitete ab 1968 an der UCLA, an der er auch bis zu seinem Tod Professor für Soziologie war. Er war Schüler GARFINKELs und einer der frühen Vertreter der EM. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassten geteilte Annahmen (shared assumptions) in Gemeinschaften (bubbles), psychische Krankheiten und die interaktionale Konstruktion der Realität (vgl. POLLNER 1974, 1987). <zurück>

82) Jörg BERGMANN referiert auf Kisten mit seinen Ethnomethodologieunterlagen, die er am Tag der Interviews an Christian MEYER zur Weiterverwendung übergeben hatte. <zurück>

83) René KÖNIG (1906-1992) war von 1949 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1974 Professor für Soziologie an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassten die empirische Sozialforschung, die Industriesoziologie, Familiensoziologie und Stadtsoziologie. 1955 übernahm KÖNIG die Amtsnachfolge von Leopold VON WIESE als Herausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie, die KÖNIG als Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie weiterführte. Zudem hat er die beiden äußerst bekannten und einflussreichen Werke "Das Fischer Lexikon: Soziologie" (1958) und "Handbuch der empirischen Sozialforschung" (1973) herausgegeben (vgl. KÖNIG 1958, 1973). <zurück>

84) Dell Hathaway HYMES (1927-2009), Linguist, Volkskundler und Anthropologe, gründete das Journal Language in Society. Er war Präsident der Linguistic Society of America, der American Anthropological Association und der American Folklore Society (vgl. HYMES 1977). <zurück>

85) Basil BERNSTEIN (1924-2000), Soziolinguist, war Inhaber des Karl-Mannheim-Lehrstuhls für Erziehungssoziologie (sociology of education) an der Universität London. Er ist bekannt für die BERNSTEIN-Hypothese, die den Sprachgebrauch verschiedener Gesellschaftsschichten in ein asymmetrisches Verhältnis zueinander setzt. Seine Arbeiten fanden vor allem Beachtung in den Bereichen der Linguistik und Erziehungssoziologie (vgl. BERNSTEIN 1973 [1971]). <zurück>

86) Michael LYNCH (*1948), Soziologe, ist Professor am Institut der Science and Technology Studies an der Cornell University. Von 2002 bis 2012 war er Herausgeber der Social Studies of Science und von 2007 bis 2009 Präsident der Society for Social Studies of Science. Sein Hauptinteresse gilt der Produktion und Verwendung von Beweisen in der Wissenschaft und im Recht, der EM und KA und der Sozialtheorie und Philosophie der Sozialwissenschaft. Siehe LYNCH (1993) und das Interview mit ihm in dieser FQS-Ausgabe (LYNCH, GERST, KRÄMER & SALOMON 2019). <zurück>

87) Eric LIVINGSTON ist Soziologe, Professor der Sozialwissenschaft und Kognitionswissenschaft an der University of New England und ein Vertreter der EM. Zu seinen Forschungsinteressen zählen wissenschaftliche Praktiken, wissenschaftliche Schlussfolgerungen bzw. wissenschaftliches Denken und Technologien des alltäglichen sozialen Lebens (vgl. LIVINGSTON 1986). <zurück>

88) Michael MOERMAN, Anthropologe, war Professor an der UCLA und wurde 2005 emeritiert. Er beschäftigte sich mit ethnischen Gruppenanalysen im asiatischen Raum. Zu seinen Forschungsinteressen gehören soziale Interaktion, die EM, KA und Südost-Asien (vgl. MOERMAN 1988). <zurück>

89) Anita POMERANTZ, Konversationsanalytikerin, war von 2004 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2012 Professorin an der University at Albany in New York. Sie wurde 2017 mit dem GARFINKEL-SACKS-Award ausgezeichnet. Zu ihren Forschungsinteressen zählen generelle soziale Interaktionen und diskursive Praktiken in medizinischen, rechtlichen und organisationalen Kontexten (vgl. POMERANTZ & FEHR 1997). <zurück>

90) Gail JEFFERSON (1938-2008), Soziologin und Mitbegründerin der KA, ist bekannt für die Entwicklung von Notationsgrundsätzen bzgl. der Gesprächstranskription und für das Bearbeiten von Harvey SACKS' Vorlesungen über die Konversation (SACKS 1992). Sie hatte verschiedene Forschungsstellen in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden. Ihre wichtigsten Schriften behandeln die Themen Sequenzanalyse, Sprecher*innenwechsel (turn-taking), Lachen in Unterhaltungen und trouble talk. Sie hatte maßgeblichen Einfluss auf die Verbreitung und Lehre der KA. Charles GOODWIN hebt ihre Rolle in der Entwicklung der KA sowie seines eigenen Ansatzes hervor. Siehe JEFFERSON (1988) und das Interview mit GOODWIN in dieser FQS-Ausgabe (GOODWIN & SALOMON 2019). <zurück>

91) Vgl. "A Study of the Work of Teaching Undergraduate Chemistry in Lecture Format" (GARFINKEL 2002). <zurück>

92) Stacy Lee BURNS, Professorin für Soziologie an der Loyola Marymount University in Los Angeles.Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Rechtssoziologie sowie die Soziologie sozialer Probleme und der sozialen Kontrolle (vgl. BURNS 2000). <zurück>

93) So auch Micheal MOERMAN: "Under close examination, any real conversational event reveals some of its intricate beauty" (1988, S.19). <zurück>

94) Als empirische Studien zu diesem Feld vgl. BERGMANN, DAUSENDSCHÖN-GAY und OBERZAUCHER (2014). <zurück>

95) Bruno LATOUR (*1947), Soziologe und Philosoph, ist einer der Begründer der Actor-Network-Theory (ANT), die sich zu Teilen auch auf die EM stützt. Seine Arbeitsbereiche umfassen STS, Materialität und Agency sowie Natur-/Kultur-Verhältnisse (vgl. LATOUR 2007 [2005]). <zurück>

96) Luc BOLTANSKI (*1940), Soziologe, ist Professor und Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Bereiche der Politik, Moral und Ökonomie und Kritik (vgl. BOLTANSKI 2010). <zurück>

97) Siehe das Interview mit Eric LAURIER in dieser FQS-Ausgabe (LAURIER, KRÄMER, GERST & SALOMON 2019). <zurück>

98) Georg SIMMEL (1858-1918) gilt als einer der Gründungsväter der Soziologie. Er wurde erst sehr spät, nämlich 1914, Professor in Straßburg und war 1909 einer der Gründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Arbeiten trugen maßgeblich zur Formung der Mikrosoziologie, der Stadtsoziologie, der Konfliktsoziologie, der Soziologie der Mode und von vielem mehr bei. Er gilt als Gründungsfigur der sog. Formanalyse und ist bis heute eine der primären Referenzfiguren für die Kulturphilosophie und -soziologie (vgl. SIMMEL 1900). <zurück>

99) Kurt Heinrich WOLFF (1912-2003), deutschamerikanischer Soziologe, war von 1972-1979 Präsident der International Society for the Sociology of Knowledge und zudem Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte war die Wissenssoziologie. Außerdem betätigte er sich als Übersetzer der Texte Georg SIMMELs ins Amerikanische (vgl. WOLFF 1950). <zurück>

100) Egon BITTNER (1921-2011), Soziologe, lehrte bis zu seiner Emeritierung 1991 an der Brandeis University in Waltham, MA. Er war Präsident der Society for the Study of Social Problems und befasste sich hauptsächlich mit dem Verhältnis von Polizei und Gesellschaft (vgl. BITTNER 1970). <zurück>

101) Maurice MERLEAU-PONTY (1908-1961), einflussreicher Philosoph in der phänomenologischen Tradition, war Professor am Collège de France in Paris (1952-1961). Seine Arbeitsschwerpunkte umfassten insbesondere die Körperphänomenologie, Wahrnehmung und Bedeutung sowie Ästhetik (vgl. MERLEAU-PONTY 1966 [1945]). <zurück>

102) Michel FOUCAULT (1926-1984), Philosoph, Sozialtheoretiker, war von 1970 bis zu seinem Tod Inhaber des Lehrstuhls Geschichte der Denksysteme am Collège de France in Paris. Er war der Begründer der Diskursanalyse und einer der prominentesten Vertreter des Poststrukturalismus. Er prägte Begriffe wie Dispositiv, Panoptimismus und Gouvernementalität und schrieb u.a. zu Macht, Diskurs, Überwachung, Sexualität und Psychiatrie (vgl. FOUCAULT 1976 [1975]). <zurück>

103) Jean-François LYOTARD (1924-1998), Philosoph, Soziologe, Literaturtheoretiker, war einer der wichtigsten Theoretiker der Postmoderne. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1987 war er Professor für Philosophie an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählten u.a. Themen wie Ästhetik, Phänomenologie, Wissen, Diskurs und Postmoderne (vgl. LYOTARD 1978). <zurück>

104) Gilles DELEUZE (1925-1995), Philosoph, war Kritiker des Essentialismus und Kapitalismus. Von 1964 bis 1969 war er Professor an der Universität Lyon, danach lehrte er bis zu seinem Ruhestand 1987 an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis. Er beschäftigte sich eklektizistisch mit vielen verschiedenen Bereichen wie z.B. Psychoanalyse, Kunst, Film, Soziologie und Architektur (vgl. DELEUZE & GUATTARI 1972 [1974]). <zurück>

105) Félix GUATTARI (1930-1992), Philosoph, Psychoanalytiker, Semiotiker, arbeitete in der Psychiatrie La Borde, Frankreich. Sein Interesse galt der Psychoanalyse und der Kapitalismuskritik, und er prägte die Ökosophie (vgl. DELEUZE & GUATTARI 1974 [1972]). <zurück>

106) Roland BARTHES (1915-1980), Philosoph, Linguist, Literaturkritiker, war ab 1976 Inhaber des eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhls für literarische Zeichensysteme am Collège de France und gilt als eine der Hauptfiguren des Poststrukturalismus. Zu seinen vielfältigen Forschungsinteressen zählten u.a. Sprache, Sinn, Diskurs, Dekonstruktion, Psychoanalyse und Semiotik. "Der Tod des Autors" ist sein wohl bekanntester Aufsatz, in dem er postuliert, dass in der Literatur die Autor*innen eines Textes eine nur nebensächliche Rolle spielten, da die Rezeption und deren Folgen von deren Intentionen losgelöst seien (vgl. BARTHES 1967 [1966], 2006 [1993]). <zurück>

107) Jean BAUDRILLARD (1929-2007), Philosoph, Soziologe, Schriftsteller, war Dozent an der Universität Paris-Nanterre. Von 1986 bis 1990 widmete er sich in seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Direktor an der Universität Paris-Dauphine dem Institut de Recherche et d'Information Socio-Économique. Seine Schriften waren insbesondere für den Poststrukturalismus bedeutend (vgl. BAUDRILLARD 1978). <zurück>

108) Paul RICŒUR (1913-2005), Philosoph, wurde 1957-1987 Professor an der Universität von Paris (Sorbonne) und 1970-1990 Professor in Chicago. Er beschäftigte sich mit Phänomenologie, Psychoanalyse, Hermeneutik, Symbolen und wurde dabei durch die Lektüre von HUSSERL, HEIDEGGER und FREUD beeinflusst (vgl. RICŒUR 1988 [1983]). <zurück>

109) Paul VIRILIO (1932-2018), Philosoph, war von 1969 bis zur Emeritierung 1997 Professor an der École Spéciale d’Architecture in Paris, wo er ab 1975 Studiendirektor und ab 1990 Präsident der Schule war. Er begründete die Dromologie, mittels der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Geschwindigkeit genauer untersucht werden soll (vgl. VIRILIO 1989). <zurück>

110) Georges BATAILLE (1897-1962), Philosoph und Schriftsteller und u.a. geprägt von HEGEL, MARX und FREUD, setzte er sich mit Sexualität, Anthropologie, Ökonomie, Politik und Soziologie auseinander und beeinflusste wiederum das Werk DERRIDAs, FOUCAULTs, LACANs und BAUDRILLARDs (vgl. BATAILLE 1975 [1949]). <zurück>

111) Paul FEYERABEND (1924-1994) war von 1958 bis 1989 Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley. Seine Werke prägten die Wissenschaftsphilosophie in Form eines Relativismus, der die Allgemeingültigkeit und den Wahrheitsanspruch jeder Theorie infrage stellt. Von ihm stammt der oft missverstandene Begriff des anything goes (vgl. FEYERABEND 1976 [1975]). <zurück>

112) Brigitte LUCHESI (*1943) ist Soziologin, Historikerin und Ethnologin. Sie gilt als eine der versiertesten Übersetzerinnen ins Deutsche und lehrte an der Freien Universität Berlin und am Institut für Religionswissenschaft der Universität Bremen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind religiöse lokale Ausprägungen in Nordindien, religiöse Praktiken von Hindu sowie von christlichen Immigrant*innen Südasiens in Deutschland und bildliche Wahrnehmung. Sie hat einige der bekanntesten Werke der Ethnologie, Soziologie und Sozialwissenschaft übersetzt und arbeitet aktuell an der Übersetzung von GARFINKELs "Studies in Ethnomethodology" (vgl. LUCHESI 2014). <zurück>

113) Anne Warfield RAWLS (*1950), Soziologin, ist Leiterin des GARFINKEL-Archivs und Professorin an der Bentley-Universität, Massachusetts. Ihre wichtigsten Arbeiten behandeln die Themen EM, Interaktion, Arbeit, Sozialtheorie, politische Philosophie, Ethik und soziale Praktiken (vgl. RAWLS 2008). <zurück>

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Zu den Autoren

Jörg R. BERGMANN, geb. 1946, Studium der Psychologie, Soziologie, Philosophie und Sprachwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1975 Diplom. Von 1976 bis 1978 Forschungsstipendiat an der Universität Konstanz und an der UCLA. 1980 Promotion und Habilitation in Konstanz bei Prof. Dr. Thomas LUCKMANN. Vertretungsprofessuren und Heisenberg-Stipendium, 1990 erste Professur (Mikrosoziologie) an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. 2001 wechselte an die Universität Bielefeld und war dort bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für empirische Sozialforschung mit dem Schwerpunkt qualitative Methoden.

Kontakt:

Prof. i. R. Dr. Jörg Bergmann

Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Postfach 100131
D-33501 Bielefeld

E-Mail: joerg.bergmann@uni-bielefeld.de
URL: https://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/bergmann/

 

Christian MEYER, geb. 1971, Studium der Ethnologie, Soziologie und Linguistik in Heidelberg, Montpellier und Mainz. 2003 Promotion an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2011 Habilitation an der Universität Bielefeld. 2008 bis 2014 Vertretungsprofessuren an den Universitäten Bielefeld, Halle-Wittenberg und Siegen sowie Senior-Fellowship am Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. 2014 Berufung zum Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und 2015 zum Professor für spezielle Soziologie und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung an die Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Seit 2016 Inhaber der Professur für allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kultursoziologie, Sozialtheorie, Interaktionssoziologie und den qualitativen Methoden.

Kontakt:

Prof. Dr. Christian Meyer

Professur für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie
Fachbereich Geschichte und Soziologie
Universität Konstanz, Fach 41
78457 Konstanz

Tel.: +49 7531 88-5020

E-Mail: christian.meyer@uni-konstanz.de
URL: https://www.soziologie.uni-konstanz.de/meyer/team/prof-dr-christian-meyer/

 

René SALOMON, geb. 1976, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für allgemeine Soziologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Forschungsschwerpunkte: Praxis- und Systemtheorie, qualitative Methodologie, Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie.

Kontakt:

René Salomon

Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie
Institut für Politikwissenschaft und Soziologie
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Wittelsbacherplatz 1
97074 Würzburg

Tel.: +49-931-31-80083
Fax: +49-931-31-800830

E-Mail: rene.salomon@uni-wuerzburg.de
URL: https://www.politikwissenschaft.uni-wuerzburg.de/lehrbereiche/allgemeinesoziologie/mitarbeiter/rene-salomon/

 

Hannes KRÄMER, geb. 1980 in Weimar, studierte Kommunikationswissenschaft und Sozialwissenschaften an den Universitäten Duisburg-Essen, Maynooth (Irland) und Bern (Schweiz). Er arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster 16 der Universität Konstanz. 2013 hat er mit einer Dissertation über Kreativarbeit an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina promoviert. Von 2014-2016 leitete er das Forschungsprojekt "Temporale Grenzen der Gegenwart" und war anschließend von 2017-2018 Forschungsgruppenleiter und wissenschaftlicher Koordinator am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION. Seit 2018 ist er Professor für Kommunikation in Institutionen und Organisationen an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeits- und Organisationsforschung, Kultursoziologie, Praxistheorie und Mikrosoziologie, Grenzforschung, Soziologie der Zeit, Mobilität und Ethnografie.

Kontakt:

Prof. Dr. Hannes Krämer

Universität Duisburg-Essen
Institut für Kommunikationswissenschaft
Universitätsstraße 12
45141 Essen

Tel.: +49 201-183-3540

E-Mail: hannes.kraemer@uni-due.de

URL: https://www.uni-due.de/kowi/instikom/hkraemer.php

Zitation

Bergmann, Jörg; Meyer, Christian; Salomon, René & Krämer, Hannes (2019). Garfinkel folgen, heißt, die Soziologie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Jörg Bergmann & Christian Meyer im Gespräch mit René Salomon & Hannes Krämer [87 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(2), Art. 18, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-20.2.3289.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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