Volume 9, No. 1, Art. 10 – Januar 2008

Fallrekonstruktionen, Netzwerkanalysen und die Perspektiven einer prozeduralen Methodologie

Stephan Lorenz

Zusammenfassung: Das Verfahrensmodell, welches Bruno LATOUR (2001a) in Das Parlament der Dinge entwickelt, wird hier methodisch interpretiert und zu etablierten Methoden der fallrekonstruktiven Sozialforschung in Beziehung gesetzt. Damit entsteht ein methodologisches Modell, eine prozedurale Methodologie, die in den Grundzügen entfaltet und deren Chancen und Probleme diskutiert werden. Mit dieser Methodologie lassen sich heterogene Forschungsanforderungen und Methoden integrieren sowie mehrere Brücken schlagen: zwischen unterschiedlichen "qualitativen" Methoden, zwischen Methodik und Zeitdiagnostik, zwischen Sozial- und Umweltforschung. Als zentrale Kennzeichen dieser Methodologie werden Prozesshaftigkeit, Sequenzialität, Multidimensionalität, Reflexivität und Transdisziplinarität herausgearbeitet.

Keywords: Methodologie, Fallrekonstruktion, Netzwerk, Grounded Theory, Objektive Hermeneutik, Zeitdiagnostik, Latour, Umweltsoziologie, Transdisziplinarität

Inhaltsverzeichnis

1. Das Verfahrens-Modell Bruno LATOURs

2. Methodische Interpretation

2.1 Forschungsprozess

2.2 Interpretationstechnik

2.3 Generalisierung

3. Konsequenzen einer prozeduralen Methodologie

4. Ausblick: Quantitativ, qualitativ oder prozedural – eine Frage der Zeit?

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

Eine Kombination verschiedener Methoden verspricht oftmals zusätzliche Erkenntnisgewinne oder wird durch den Untersuchungsgegenstand geradezu gefordert, so beispielsweise in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung. Je heterogener die Ansätze sind, desto mehr handelt man sich dadurch aber zusätzliche Begründungsverpflichtungen ein, wie eine solche Kombination methodologisch zu rechtfertigen ist. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine gemeinsame Perspektive auf unterschiedliche Methoden der qualitativen Forschung zu gewinnen. Genauer sind dies fallrekonstruktive Methoden, nämlich Grounded Theory und Objektive Hermeneutik, einerseits und eine Variante aus dem sehr heterogenen Feld der Netzwerkansätze, die prominent mit dem Namen Bruno LATOUR verbundene Akteur-Netzwerk-Theorie, andererseits. In Abgrenzung dazu, also abweichend von der üblichen Rezeption LATOURs, greife ich zur Entwicklung einer integrativen Perspektive auf einen "anderen", einen "prozeduralen LATOUR" zurück. Das von ihm in Das Parlament der Dinge (LATOUR 2001a) erarbeitete "parlamentarische" Verfahren geht, wie man unschwer im Vergleich zum älteren Vier-Phasen-Modell der Netzwerkkonstruktion sehen kann (CALLON 1986), auf den Netzwerkansatz zurück. Letzterer wird aber mit dem Verfahrensmodell, so meine Interpretation, produktiv überwunden. Damit lassen sich die bewährten methodischen Mittel der fallrekonstruktiven Forschung in einen neuen, geteilten methodologischen Zusammenhang stellen. [1]

Sofern dies überzeugend gelingt, besteht damit ein Diskussionsangebot, auch weitere qualitative Methoden auf ihre potenzielle Integration in einer prozeduralen Methodologie hin zu prüfen. Vorerst jedenfalls erscheint dieser Weg als äußerst fruchtbar, weil er recht heterogene Methoden und Forschungsanforderungen zusammenzuführen erlaubt. Darüber hinaus liefert er besondere Qualifizierungskriterien für die Forschungsarbeit. Diese ergeben sich daraus, dass ein solcher methodologischer Ansatz einen reflexiven Anschluss an die zeitgenössische Gesellschaftsdiagnostik findet, da er mit ihr ein zentrales Strukturproblem teilt, nämlich die Frage nach dem Umgang mit uneindeutigen Anforderungen und kontingenten Optionen, kurz: mit Unsicherheit. Die anspruchsvollsten Antworten darauf werden in der Gesellschaftstheorie als reflexive oder prozedurale vorgestellt und ihr Anspruch besteht gerade darin, Unsicherheiten nicht zu eliminieren, sondern zu prozessieren, mit anderen Worten: keine letztgültigen Festlegungen zuzulassen und deshalb lernfähig zu bleiben.1) Und auch LATOURs (2001a) hier zugrunde gelegter Ansatz zielt explizit darauf ab, Ungewissheiten über ein "parlamentarisches" Prozedere zu bearbeiten, also prinzipiell Zwischen-Ergebnisse zu erzeugen. Der Umgang mit Unsicherheit bildet gewissermaßen die Metaanforderung "hinter" den sieben, unten diskutierten Verfahrensanforderungen. [2]

Eine prozedurale Methodik kann die Gesellschaftsdiagnostik empirisch aufschließen. Sie greift die Strukturproblematik der Unsicherheit reflexiv auf, indem sie sie zum methodischen Drehpunkt macht, das heißt sie auf sich selbst ebenso wie auf ihre Untersuchungsgegenstände anwenden kann. Sie schafft damit eine Reflexionsfolie – wenn man so will: Qualitäts- und Bewertungskriterien – für die empirische Forschungsarbeit selbst sowie dafür, inwieweit Unsicherheiten im Untersuchungsfeld empirisch prozessiert oder eliminiert werden beziehungsweise welche "Abkürzungsstrategien" greifen. [3]

Um die Grundlinien dieses Programms zu entfalten und zu diskutieren, stelle ich zunächst das von LATOUR entwickelte Verfahrensmodell vor, zusammen mit den besonderen Kompetenzen, die den Wissenschaften darin zukommen sollen (1). Daran zeige ich dann, wie sich ganz unterschiedliche Methoden und Forschungsanforderungen, vom Forschungsprozess insgesamt über die Interpretationstechnik bis zu Generalisierungsmöglichkeiten, entlang diesen Verfahrensmodells abbilden lassen (2). Anschließend wird eine Reihe von Konsequenzen einer solchen methodologischen Konzeption, sowohl deren potenzielle Chancen als auch Probleme, diskutiert (3). Schließlich soll ein Ausblick die allgemeinere Bedeutung skizzieren, die eine prozedurale Methodologie in der gegenwärtigen Methoden- und Forschungslandschaft entwickeln könnte (4). [4]

1. Das Verfahrens-Modell Bruno LATOURs2)

In Das Parlament der Dinge entwickelt Bruno LATOUR (2001a) ein prozedurales "Politik"-Modell. Die Einhaltung des Verfahrens soll gewährleisten, dass das "Kollektiv", "die gemeinsame Welt", "die Republik" – alles Begriffe von ähnlicher Bedeutung – allmählich demokratisch zusammengesetzt wird, was im Wesentlichen heißt, dass nichts und niemand im Voraus ausgeschlossen wird. Menschen wie nicht-menschliche Wesen sollen die Möglichkeit haben, in einem immer besser artikulierten, man könnte sagen: sich selbst verstehenden, Kollektiv zusammenzufinden – oder explizit ausgeschlossen zu werden. Es ist dies ein im weiten Sinne politisiertes Wirklichkeits- und Erkenntnismodell. "Politik" verweist hier also auf einen sichtbar gemachten Entstehungsprozess geteilter Wirklichkeit, der seine Legitimität grundsätzlich aus der Einhaltung des Verfahrens bezieht. [5]

Ich möchte nun überprüfen, inwieweit sich dieses Verfahren als Leitfaden für eine Methodik lesen lässt, was aussichtsreicher zu sein verspricht als die Orientierung an der Netzwerk-Metaphorik der Akteur-Netzwerk-Theorie, die in Das Parlament der Dinge gar keine Rolle spielt.3) Im Ergebnis werde ich stattdessen die Begriffe der "Versammlung" und des "Prozeduralen" als methodisch weiterführende aufgreifen. Plausibel ist die Betrachtung unter methodischer Perspektive aus zwei Gründen: Erstens spricht LATOUR selbst von einem experimentellen Verfahren und von "Versuchsprotokollen", das heißt er betrachtet (als Wissenschaftssoziologe) das "politische" Prozedere in Anlehnung an wissenschaftliche Experimente4); zweitens werden den Wissenschaften (neben anderen Berufsständen) besondere Kompetenzen für die Aufgabenbearbeitung zugedacht. [6]

Zunächst soll LATOURs prozedurales Modell mit den sieben vorgesehenen Aufgaben und den entsprechenden Kompetenzen, die den Berufsstand der Wissenschaftler(innen) kennzeichnen, in einer Übersicht aufgeführt und ihrer methodischen Interpretation gegenübergestellt werden, um sie dann detaillierter zu diskutieren.



Übersicht 1: Prozedurales Modell und methodische Lesarten [7]

Verfahrensaufgaben und wissenschaftliche Kompetenzen: Innerhalb des Verfahrens sind insgesamt sieben Aufgaben zu bewältigen. Diese müssen entweder nacheinander (1-4, 6) oder parallel laufend (5, 7) bearbeitet werden, wobei kein letztgültiger Abschluss gefunden wird, sondern Ende und Anfang wiederum ineinander übergehen.5) Die Wissenschaften bringen zur Bearbeitung besondere Kompetenzen mit – wie andere Berufsstände auch –, und wie diese müssen sie sich an allen Aufgaben, nicht nur an einigen, beteiligen. [8]

Die erste Aufgabe bezeichnet LATOUR als Perplexität, was die Offenheit für Neues meint. Genauer ist es die Offenheit, das Prüfungsverfahren zur Aufnahme neuer Mitglieder (genannt "Propositionen" als "Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen", vgl. LATOUR 2001a, S.286, 297) in das Kollektiv zu eröffnen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verfügen hier über eine Vielzahl von Instrumentarien, die die Wahrnehmung neuer Entitäten ermöglichen. Indem sie Neues entdecken, verhelfen sie "der Welt, sich zu Wort zu melden", den "Dingen, sich zu artikulieren" (vgl. LATOUR 2001a, S.93ff., 116ff.): man muss sich nun neu mit "der Welt" auseinandersetzen. Im zweiten Schritt setzt folglich eine Relevanzprüfung ein, eine Konsultation. Wie ist das Neue beschaffen, welche Eigenschaften sind kennzeichnend, wie lässt sich damit umgehen usw.? Verschiedene wissenschaftliche Tests werden durchgeführt und kontrovers diskutiert. Dann können im dritten Schritt Ordnungsangebote durch die Wissenschaft gemacht werden. Das Neue wird in die bestehende öffentliche Ordnung beziehungsweise das Gefüge wissenschaftlichen Wissens hypothetisch eingefügt, um seinen Stellenwert zu bestimmen. Daraufhin setzen, viertens, Schließungsprozesse ein: neue werden zu etablierten Gegebenheiten und gehen als konsensuell gesicherte in Paradigmen, Lehrbücher, Seminare etc. ein. [9]

Die beiden ersten Aufgaben bilden im demokratischen Verfahren die "einbeziehende Gewalt", die Aufgaben drei und vier die "ordnende Gewalt". Die einbeziehende Gewalt ist durch ihre Offenheit, ihre "Neugier" gekennzeichnet. Die ordnende Gewalt ist dagegen die bewahrende Kraft, die die bewährten Strukturen und Funktionen aufrechterhält. Während die einbeziehende Gewalt die etablierte Ordnung durch ständig Neues verunsichert, schränkt die ordnende Gewalt den Zugang zu Neuem ein. Um beide Funktionen zu gewährleisten, muss im Verfahren eine fünfte Anforderung bewältigt werden, nämlich die der Gewaltenteilung. Hier erlaubt die wissenschaftliche Kompetenz, zwischen anerkanntem Wissen, dem Stand der Forschung, einerseits und der Forschungsfreiheit andererseits unterscheiden zu können. [10]

Das derart zusammengesetzte beziehungsweise artikulierte Kollektiv bedarf sechstens der "Szenarisierung des Ganzen", das heißt der Entwürfe eines umfassenden Selbst- und Weltverständnisses. Dafür liefern die Wissenschaften die "großen Erzählungen", also theoretische Interpretationen, und vermehren sie. Und schließlich, Aufgabe sieben, muss die Einhaltung des Verfahrens insgesamt kontrolliert werden. Die Überwachung und Dokumentation des Versuchsprotokolls bildet die Grundlage dafür, dass die immer neuen Durchgänge durch das Verfahren als Lernprozesse gestaltet werden können. [11]

Die Einhaltung des Prozederes gewährleistet in LATOURs Modell die demokratische Zusammensetzung des Kollektivs. Was im Laufe des Verfahrens ausgeschlossen wird, wird dies explizit und in aller Form; es kann aber jederzeit wieder Zutritt verlangen. Im prozeduralen Modell gibt es kein definitives Ende, sondern nur ein ständiges Prozessieren. [12]

2. Methodische Interpretation

Im einzelnen lässt sich LATOURs Modell in dreierlei Hinsicht methodisch lesen, nämlich bezogen auf den Forschungsprozess insgesamt, als Interpretationstechnik sowie mit Blick auf Generalisierungen. Dazu werde ich Elemente etablierter Verfahren der fallrekonstruktiven Sozialforschung auf das prozedurale Modell abbilden. Für den Forschungsprozess werde ich im Wesentlichen auf die Methodologie der Grounded Theory (STRAUSS 1994; STRAUSS & CORBIN 1996) zurückgreifen, für die Interpretationstechnik auf die Objektive Hermeneutik (OEVERMANN 1996, 2000a).6) Das Modell erweist sich, wie im Weiteren gezeigt, als in der Lage, ganz unterschiedliche methodische Anforderungen und Ansätze konzeptionell zusammenzuführen. [13]

2.1 Forschungsprozess

Voraussetzung neuer Erkenntnisse ist, folgt man der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) sensu STRAUSS (und CORBIN), der "unvoreingenommene Blick" in die Welt. Dies ist kein unwissender Blick, sondern einer, der die Erkenntnisinteressen und Vorverständnisse möglichst weitgehend expliziert hat. Die nicht standardisierte Erhebung sichert dann aufschlussreiche Daten. Im zweiten Schritt werden diese Daten extensiv interpretiert und verglichen, um, drittens, etwa zu Memos und Integrationsdiagrammen (STRAUSS 1994) übergehen zu können, das heißt hypothetisch Zusammenhänge zu entwerfen und neue Vergleichsperspektiven zu erschließen. Ist diese Arbeit weit genug voran geschritten, führt sie, viertens, zur Formulierung einer Grounded Theory (GT). Dabei ist der Forschungsprozess der GTM zirkulär in dem Sinne angelegt, dass Datenerhebung und Datenauswertung immer wieder aufeinander verweisen (vgl. HILDENBRAND 2000, S.33ff.). Dies trifft sich mit der Konzeption des LATOURschen Modells, bei dem Ende und Anfang immer erneut ineinander übergehen. Hier greift die fünfte Aufgabe, die Gewaltenteilung, die Zwischenergebnisse festhält, aber durch neue Daten wieder infrage stellen lässt. Die Aufgabe der Szenarisierung eines umfassenderen Gesamtbildes, sechstens, bedeutet im Zusammenhang eines Forschungsprozesses, dass die Ergebnisse, die für einen bestimmten Gegenstandsbereich entwickelte GT, in Beziehung zu setzen sind zu ähnlichen Forschungen in vergleichbaren Feldern bis hin zu Gesellschaftstheorien, um so die Ergebnisse noch einmal abzugrenzen beziehungsweise im Forschungsfeld einzuordnen. [14]

Von Beginn an müssen die Arbeitsschritte protokolliert werden. Dies ist die Basis für kumulative Erkenntnisgewinne. Zugespitzt bedeutet das: "Die Rückkehr zu den alten Daten ist in jeder Projektphase möglich, sogar dann noch, wenn die letzte Seite des Forschungsberichts geschrieben wird" (STRAUSS 1994, S.46). Während sich so die Entwicklung einer GT in LATOURs Verfahrensmodell abbilden lässt, wird umgekehrt deutlich, dass die GTM eine Reihe von forschungspraktischen Leitlinien und Mitteln bietet, die das abstrakte Verfahren in methodischer Hinsicht präzisieren beziehungsweise überhaupt erst operabel machen, seien es die Möglichkeiten der Datenerhebung und -interpretation, der kumulativen Integration oder des Vergleichs (Kodierparadigma, Theoretical Sampling etc.).7) [15]

2.2 Interpretationstechnik

Die Prüfung einer Eignung des Modells zur prozeduralen Beschreibung eines interpretationstechnischen Vorgehens erfordert einen bedeutenden Perspektivenwechsel. Es wird nun darum gehen, nicht einen Forschungsprozess in Gänze zu thematisieren, sondern sich den Verfahrensverlauf so kleinteilig wie möglich zu denken. Das gesamte Prozedere wird nun an jeder einzelnen Sequenzstelle – einem Satz, einem Halbsatz oder nur einem Wort – in Gang gesetzt. In diesem Sinne möchte ich die OEVERMANNsche Sequenzanalyse hier entlang des in Übersicht 1 zusammengefassten Verfahrens skizzieren. [16]

Die erste Aufgabe der Perplexität wird durch die zunächst methodisch erzeugte Kontextfreiheit gewährleistet. Sie dient der unverstellten Ausdeutung der Textstelle, die so als das Unbekannte (neu) betrachtet werden kann. Im zweiten Schritt, der Konsultation, sind mögliche "Geschichten" zum Textausschnitt zu erzählen, um daraus die Strukturmerkmale und allgemeinen Lesarten, die objektive Bedeutung, zu gewinnen. Deren Konfrontation mit dem gegebenen "äußeren" Kontext erfüllt die Anforderung drei, das hypothetische Einrücken der Bedeutung "an sich" in das Gegebene. Im Fortgang der kleinteiligen Analyse zeichnen sich vor dem Hintergrund der allgemeinen Bedeutungen die Selektionsregeln, die besonderen Sinngebungen des Falles ab. Damit lässt sich die Fallstruktur als starke, folgenreiche und deshalb falsifikationsrelevante Hypothese, Aufgabe vier, formulieren (vgl. WERNET 2000, S.68). [17]

Der Anspruch an potenzielle Falsifikation oder Differenzierung verweist bereits auf die permanente Neueröffnung des Verfahrens, die sukzessive an jeder weiteren Sequenzstelle erfolgt. Die explizite Falsifikationschance erfüllt Aufgabe fünf, die Gewaltenteilung, also die methodische Trennung von Strukturhypothese und weiterer extensiver Interpretationsarbeit am Folgetext. Auch Aufgabe sechs ist unproblematisch objektiv-hermeneutisch reformulierbar: die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem macht genau dies schon immer, die Fallstruktur als eine strukturelle Option in einem Feld von möglichen Optionen zu rekonstruieren. Deshalb besteht mit jeder Fallrekonstruktion immer ebenso ein "Anspruch auf Einzigartigkeit" wie zugleich ein "Anspruch auf Allgemeingültigkeit" (OEVERMANN 2000a, S.123f.), und deshalb kann OEVERMANN (1996, S.17) sagen, dass "man mit einer Fallrekonstruktion immer schon mehrere Fälle kennt". Und schließlich ist es die strikte Einhaltung der Sequenzialität, die Aufgabe sieben realisiert, denn sie garantiert den sukzessiven Erkenntnisfortgang bis hin zur rekonstruierten Fallstruktur.8) [18]

Auch hier gilt, dass eine Methode – in diesem Fall die Objektive Hermeneutik – LATOURs abstraktes Verfahren konkretisieren kann, diesmal in interpretationstechnischer Hinsicht. [19]

2.3 Generalisierung

Bezüglich einer Interpretation des prozeduralen Modells als Möglichkeit methodischer Generalisierungen sollen drei Varianten diskutiert werden, nämlich die Strukturgeneralisierung, eine perspektivische Abstraktion sowie schließlich die Theorieanwendung. [20]

Das Konzept der Strukturgeneralisierung9) geht erneut auf die Arbeiten von OEVERMANN (1996, 2000a) zurück. Es unterscheidet sich methodisch nicht von dem, was mit der sequenzanalytischen Fallrekonstruktion – siehe Interpretationstechnik – immer schon geleistet wird, da diese, wie gesehen, immer auch den Anspruch auf Allgemeingültigkeit mitführt. Oder anders ausgedrückt: "Eine Fallrekonstruktion ist als Strukturgeneralisierung immer eine genuine, ursprüngliche Typusbestimmung" (OEVERMANN 1996, S.15, vgl. auch 2000a, S.58 und WERNET 2000, S.19f.). In Übersicht 1 erscheint die Strukturgeneralisierung deshalb über das gesamte Verfahren hinweg parallel zu den Ausführungen der Interpretationstechnik. [21]

Mit perspektivischer Abstraktion ist hier wiederum gar nichts anderes gemeint als eine Strukturgeneralisierung, die lediglich die Frageperspektive variiert. Eine Fallrekonstruktion erfolgt jeweils unter einer bestimmten Fragestellung. Die Frageperspektive kann aber selbst noch einmal allgemeiner gefasst werden. Dann werden nicht einfach die Ergebnisse der Rekonstruktion generalisiert, sondern die Generalisierung muss genauso in den Daten gründen. Die gesamte Interpretationsarbeit ist anhand derselben Daten erneut erforderlich, was Übersicht 1 verdeutlicht. Je nach Untersuchungsinteresse kann es sinnvoll sein, eine solche "abgeleitete" Form der Generalisierung zu ergänzen (vgl. exemplarisch LORENZ 2005, S. 231ff.). [22]

Drittens kann die Anwendung von Theorien oder theoretischen Paradigmen empirische Phänomene in einen allgemeineren Kontext setzen, was je nach Erkenntnis- oder Verwendungsinteresse von Bedeutung sein kann (vgl. noch einmal LORENZ 2005, S.231ff.). Bildet man dies auf das Verfahrensmodell ab, wird sofort die eingeschränkte Geltung sichtbar und die besonderen Anforderungen werden deutlich. Denn der Prozessverlauf wird damit umgekehrt (siehe Pfeilrichtung in Übersicht 1). Es stellt sich die Frage, ob dies überhaupt zulässig sein kann. Dass damit keine wirklich neuen Erkenntnisse möglich sind, ist offensichtlich, denn die Aufgabe der Perplexität wird nicht erfüllt. Andererseits lässt sich aber argumentieren, dass die – wenngleich umgekehrte – Einhaltung des Verfahrens gerade Kriterien für eine professionelle Theorieanwendung bietet. Der Untersuchungs- beziehungsweise Anwendungsfall wird nicht einfach subsumiert, sofern die prinzipielle Geltung der Verfahrensanforderungen anerkannt bleibt. Der Fall wird zwar von der Theorie her betrachtet, aber sozusagen "rückwärts" dennoch durch das Verfahren hindurch. Das heißt, es wird dabei nicht "vergessen", dass die theoretische Geltung ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen ist, die bei geringen Abweichungen ganz anders hätten verlaufen können.10) Diese Anerkennung ist die Garantie für die Bereitschaft, jederzeit das Verfahren erneut zu eröffnen. [23]

3. Konsequenzen einer prozeduralen Methodologie

Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich LATOURs prozedurales Modell methodisch problemlos interpretieren lässt. Während damit die Grundzüge eines allgemeinen methodologischen Konzeptes – einer prozeduralen Methodologie – formuliert werden können, welches unterschiedliche methodische Anforderungen und Ansätze zu integrieren in der Lage ist, bieten die etablierten Methoden Möglichkeiten, das abstrakte Prozedere, für sich nur ein dürres Gerippe, entsprechend konkreter Forschungsanforderungen umzusetzen. [24]

Die genannte Eignung des Verfahrensmodells ist bereits Grund genug, eine prozedurale Methodologie zu entwickeln. Darüber hinaus sollen weitere Chancen und Probleme skizziert werden, die sich mit einer Integration von Methoden fallrekonstruktiver Sozialforschung und der umweltsoziologischen Perspektive in Anlehnung an LATOUR verbinden. [25]

1. Fall versus Netzwerk: Man kann es als Stärke des Fall-Begriffes betrachten, dass er für ganz unterschiedliche Gegenstände verwandt werden kann. Wofür der "Fall" eigentlich steht, wird freilich nicht immer deutlich bezeichnet oder bereits als unproblematisch vorausgesetzt, insbesondere wird er häufig nicht klar von Untersuchungsinteresse, Fragestellung, Gegenstand und/oder Daten abgegrenzt. Diese Unschärfen ziehen sich bis in qualifizierte Lehr- und Handbücher hinein (vgl. exemplarisch WERNET 2000, S.50; BUDE 2006, S.60). Bei höher aggregierten Untersuchungsgegenständen, bis hin zu ganzen Gesellschaften, wird eine angemessene Abgrenzung erst im Forschungsverlauf zu leisten sein. Am überzeugendsten ist der Fall-Begriff dort, wo er mit Personen weitgehend identifizierbar ist, aber auch hier ist die Fallbestimmung eher als Resultat der Untersuchung, denn als ihr vorgängig Gegebenes zu betrachten (vgl. MAIWALD 2005). Mit der Bindung an Personen ist jedenfalls eine gleiche Basis für Fallkontrastierungen jenseits bloßer "Einzelfall"-Analysen gegeben. Ist diese Gleichförmigkeit und Vergleichbarkeit nicht gegeben, kann der Netzwerk-Begriff produktiver sein, weshalb er offensichtlich in der (Labor-) Wissenschafts- und Technikforschung so verbreitet ist. Die damit verbundenen Probleme wurden oben bereits angedeutet und werden unten weiter ausgeführt. Die Stärke des Begriffs der prozeduralen Methodologie besteht jedenfalls darin, sowohl für Fallstudien als auch für die Netzwerkanalyse geeignet zu sein, beide umfassen zu können. [26]

2. Versammlung statt Netzwerk: Die Umweltsoziologie hat LATOUR bisher vor allem theoretisch rezipiert, während die methodische Diskussion noch viel weniger vorangekommen ist (vgl. BRAND & KROPP 2004; VOSS & PEUKER 2006). Wo sie geführt wird, wird in der Regel Bezug genommen auf die Akteur-Netzwerk-Theorie, wie sie in der Wissenschafts- und Technikforschung entwickelt wurde. LATOURs prozedurales Modell erweist sich nun methodisch gelesen, anhand der Kriterien fallrekonstruktiver Forschung, als äußerst produktiv. Das "parlamentarische" Verfahren als methodischer Leitfaden ist (nicht nur) für die Umweltsoziologie möglicherweise von größerem Gewinn als der nicht unproblematischen Netzwerk-Metapher zu folgen: Alles mit allem verknüpfen zu wollen und den Akteuren hinterherzulaufen ("follow the actors"), endet ernst genommen eher im forschungspraktischen Stillstand oder eben darin, die Vielfältigkeit rhetorisch vorzuführen und intuitiv zu selegieren, statt sie zu analysieren – und so in tendenzieller Beliebig- und damit Belanglosigkeit von Forschungsaussagen. Die bloß quantitative Vermehrung von Verweisen in postulierten Netzwerken trägt zum Erkenntnisgewinn kaum etwas bei. Die Unterscheidung in eine einbeziehende und eine ordnende Gewalt sowie deren prozedurale Verknüpfung ist dagegen vielversprechender. Dies stellt kumulative Erkenntnisgewinne in Aussicht, die tatsächlich Neues hervorbringen, ohne den Bezug zum Stand der Forschung zu verlieren – und dies auf methodisch abgesicherte Weise. Statt den Akteuren bloß zu folgen, wird man dann sequenziell auch sehen, welche Wege sie nicht gegangen sind und welchen Selektionsregeln sie dabei wiederum folgten. [27]

In Das Parlament der Dinge etabliert LATOUR den Begriff des "Kollektivs", welches sich im "parlamentarischen" Prozess konstituiere. Zumindest im Deutschen ist es m.E. sinnvoll, den belasteten Begriff des Kollektivs durch den der "Versammlung" zu ersetzen, der alle inhaltlichen und politischen Implikationen LATOURs erfüllen kann und bei ihm auch Verwendung findet. Im Gegensatz zum Netzwerk kann der Versammlungsbegriff die Bewegungen zwischen Gemeinsamem und Trennendem fassen. Das Netzwerk suggeriert die Verbindung von allem mit allem und zeigt keine Konfliktlinien. In einer Versammlung kommt man zwar zusammen, aber mit durchaus sehr gegensätzlichen Ansichten, Interessen und Positionen. Man wird dort Konflikte geradezu erwarten müssen, bis dahin, dass noch um den vordergründig gemeinsamen Gegenstand, um den Anlass der Versammlung selbst, gestritten werden kann. Und schließlich gibt es sogar die Ausschlussoption. Bei all dem ist mit "Versammlung" immer auf eine Regelhaftigkeit verwiesen – ob die Regeln des Versammelns nun eingehalten oder gebrochen werden. [28]

3. Wirklichkeitsmodell und Methode I: Damit ist bereits die wissenschaftliche Tätigkeit bezeichnet, nämlich als eine "Arbeit des Versammelns". Diese "Arbeit des Versammelns" steht dann einmal für ein Wirklichkeitsmodell und zum anderen für die methodische Tätigkeit. Die Methodik entlehnt sich dem Wirklichkeitsverständnis und ist gerade deshalb geeignet, als Rekonstruktions-Methodik zu arbeiten. Dies teilt sie wiederum mit den fallrekonstruktiven Verfahren, die ihre Methodenlehren in Anlehnung an ihr Verständnis von Alltag entwickeln. Die Methodologie der Grounded Theory zieht keine klare Grenze zwischen Alltagshandeln und wissenschaftlichem Handeln, letzteres ist lediglich vom konkreten Handlungsdruck und den Alltagsroutinen entlastet. OEVERMANN sieht das Alltagshandeln sequenziell strukturiert und organisiert deshalb auch das methodische Vorgehen sequenziell.11) Mit der relativen Unterscheidung von Gegenstand und Methode bei gleichzeitiger Anlehnung der Methode an das Gegenstandsverständnis wird der Forscher bzw. die Forscherin nicht im großen Netzwerk verstrickt. Er oder sie kann eine distanzierte Perspektive einnehmen, die dennoch keine absolute Differenz setzt. [29]

4. Anspruchsvolles Verfahren, reduzierter Handlungsbegriff: Die Differenz zwischen zu untersuchender Wirklichkeit und Methodik liegt auch darin, dass das methodische Modell so umfassend und anspruchsvoll wie möglich gestaltet werden muss, während realiter von gegenläufigen und/oder verkürzten Verfahrenswegen ausgegangen werden kann. LATOURs Modell ist derart konzipiert und wird von ihm gerade in Abgrenzung zu systematisch verkürzten Konzepten entfaltet (2001a, S.127ff.). Es ist, wenn man es in Anlehnung an OEVERMANN so formulieren will, ein Krisen-, kein Routinemodell.12) Deshalb ist es auch nicht das einzig wirkliche oder legitime, muss aber einen umfassenden Anspruch erheben. Empirische Verkürzungen (routinierte, aktionistische, ideologische oder machtförmige) lassen sich erst vor dem Hintergrund des vollständigen Prozessverlaufs markieren.13) Gegebenenfalls lässt sich dann auch beurteilen, ob oder wo die Nichteinhaltung aller Verfahrensschritte angemessen sein kann. Ähnliches gilt auch in der fallrekonstruktiven Sozialforschung. Forscher(innen) müssen vom Handlungsdruck entlastet sein und gegebenenfalls über (Verfahrens-) Kompetenzen, zumindest Kenntnisse, verfügen oder sie sich forschend aneignen, über die nicht jede(r) jederzeit im Alltag verfügen muss beziehungsweise die im Alltag latent bleiben. Sonst wären Vergleiche und Systematisierungen zwischen Fällen gar nicht möglich. [30]

Das anspruchsvolle Verfahrensmodell kontrastiert eigentümlich mit einem breit angelegten, aber damit auch reduzierten Handlungsbegriff. In seinem Bemühen, den "Dingen" einen Platz in der "Versammlung" einzuräumen, wird für LATOUR (2001a, S.108) jede wie immer modifizierende Transformation bereits zur Handlung. Es stellt sich die Frage, wie derart "handelnde" Dinge, mit diesem Minimum an Kompetenzen, den Ansprüchen des Verfahrens genügen können sollen. Selbst wenn man, umwelt- oder techniksoziologisch interessiert, einen solchen Handlungsbegriff als basal gelten lassen will, drängt sich sofort ein Bedarf auf, die Handlungsbeiträge nun noch einmal zu qualifizieren.14) Spielt nicht gerade die Verweigerung einer Qualifizierung, über die sich dann immerhin streiten ließe, einer informellen expertokratischen Übernahme des Verfahrens in die Hände? Methodisch gelesen steht die Unterscheidung von Forschenden und Untersuchungsgegenständen im Vordergrund, erweitert um die Frage nach sinnstrukturierten und nicht beziehungsweise unterschiedlich sinnstrukturierten Untersuchungsgegenständen. [31]

5. Wirklichkeitsmodell und Methode II: Die Anlehnung der umfassend formulierten Methodik an den Gegenstand lässt die empirische (Nicht-) Realisierung des Prozederes erkennen. Die methodischen Aufgaben und Kompetenzen sind dabei freilich andere als die des Gegenstands. Gemeinsam ist Methodik und Gegenstand die "Meta"-Anforderung der Prozeduralität selbst, also der prinzipiellen Unabgeschlossenheit und der damit verbundenen Gestaltungsanforderung. Die Aufgaben müssen gegenstandsbezogen aber reformuliert werden. Dies wird hypothetisch, orientiert am Verfahrensmodell, möglich sein, ist aber letztlich als Ergebnis, nicht als Ausgangspunkt der Forschung zu verstehen. [32]

6. Dialektik und Netz : LATOURs Vorwurf, dass die Dialektik immer schon auf die Trennung dessen angewiesen sei, was zusammen gehöre, namentlich Natur und Gesellschaft (vgl. 2001a, S.73ff.), ist rhetorisch überzeugend. Dialektik trennt aber nicht letztlich, sondern betrachtet das Einigende im Getrennten oder das Trennende in seiner Einheit. Es gibt hier Sensibilitäten sowohl für Verbindungen als auch für Distanzen, die im "großen Netzwerk" geleugnet werden müssen.15) Im Netzwerk folgt man – oft eher intuitiv und willkürlich selektiv – den (Sinn-) Verweisen, die explizit oder implizit immer gegeben sind (bei jeder Äußerung, jeder Handlung, jedem Ereignis ...), aber nur horizontal, auf gleicher "Ebene". Dialektik kann dagegen die Ebenen wechseln. Es ist eine Qualifizierung von Sinnverweisen möglich, wie sie die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem und die dadurch ermöglichte Strukturgeneralisierung leisten. Prozedural ist beides möglich. Der Tendenz nach, aber nicht ausschließlich, werden horizontale Verweise in früheren, vertikale in späteren Verfahrensschritten besonders relevant. [33]

Neben den Unterscheidungen auf Gegenstandsseite ergeben sich aber auch Differenzen im Verhältnis von Forschenden und Untersuchungsgegenständen (s.o., Wirklichkeitsmodell und Methode I). Der Netzwerkansatz radikalisiert die Teilnehmer(innen)perspektive; Forschende sind immer Teil des Geschehens, kommen aus dem "großen Netz" nicht heraus. Dialektisch wird man keine bloße Beobachtungsposition einnehmen, aber auch nicht im Gegenstand aufgehen, sondern eine distanzierende Bezugnahme auf den Gegenstand reflektieren. [34]

7. Transdisziplinarität und Sinn: Versteht man unter Transdisziplinarität eine Forschungsausrichtung, die sowohl unterschiedliche Disziplinen einbezieht als auch potenziell anwendungsbezogen arbeitet, so liegen die Ambitionen von fallrekonstruktiver Forschung und Umweltsoziologie nah beieinander. "Qualitative" Methoden sind nicht auf bestimmte sozial- oder geisteswissenschaftliche Disziplinen beschränkt (HITZLER 2007), und von der Professionalitätsforschung lässt sich lernen, inwiefern wissenschaftliches Wissen Eingang in soziale Praxis finden kann oder nicht. Innerhalb der "qualitativen" Forschung gibt es dennoch tiefgreifende Differenzen, die sich, so HITZLER, zentral mit dem Verständnis von Sinn und dessen Interpretation verbinden. Hier liegt die Forderung nahe, nach einem übergreifenden, gemeinsamen "Sinn"-Paradigma zu suchen. Aus umweltsoziologischer Perspektive kann freilich auch ein anderer Schluss gezogen werden. Zwar gibt es auch in der Umweltsoziologie die – unter anderen systemtheoretisch – stark vertretene Position, dass die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft in der Unterscheidung von Sinn versus Nicht-Sinn eine unhintergehbare Differenz finde. Es gibt aber ebenso die nicht minder starke Position, die sich unter anderen mit dem Namen LATOUR verbindet, die diese starren Grenzziehungen gerade überwinden will. Von hier aus wird man also die Frage aufwerfen, ob verschiedene Konzepte von Sinn nicht darin begründet sind, dass es keine klare Grenzziehung zwischen Sinn und Nicht-Sinn gibt. Für transdisziplinäre Umweltforschung stellt sich also noch viel dringlicher die Frage nach einer Klärung dieser Grenzziehungen, weil sie Naturforschung in ihre Arbeit integrieren können muss. LATOUR bietet mit seinem Verfahren ein Konzept an, dass den Anspruch formuliert, die Trennung von Natur und Gesellschaft in der "parlamentarischen" Versammlung aufzuheben. Ob ihm dies tatsächlich gelingt oder er bisher im Wesentlichen eine Polemik gegen die "Differenztheoretiker" formuliert hat, ist noch keineswegs geklärt. In seiner abstrakten Form ist das prozedurale Modell sicher auch naturwissenschaftlich nutzbar, nicht zuletzt weil es sich auch aus der Beobachtung naturwissenschaftlicher Experimente durch die Wissenschaftssoziologie herleitet. Die Differenzen von Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt etc. sind deshalb nicht bereits notwendig überwunden. Von hier aus lässt sich noch einmal auf eine ausstehende Differenzierung und Qualifizierung des Handlungsbegriffes verweisen (s.o., Anspruchsvolles Verfahren, reduzierter Handlungsbegriff). Solange die Umweltsoziologie die Verbindung von Natur und Gesellschaft durch Reduktionsstrategien realisieren will, wird sie zu Recht auf erhebliche Widerstände in der Soziologie stoßen. [35]

4. Ausblick: Quantitativ, qualitativ oder prozedural – eine Frage der Zeit?

Der Streit zwischen unterschiedlichen Forschungsrichtungen wird traditionell mit den Begriffen quantitativ versus qualitativ geführt. Was "quantitativ" heißt, ist eigentlich schnell gesagt. Es geht darum, Untersuchungen mit Hilfe mathematischer Operationen in Zahlenverhältnissen abzubilden. Alles andere ist dann "qualitativ". Über die Qualität der Forschung sagt das offensichtlich nichts aus, die kann so oder so gut oder schlecht sein. Quantitative Forschung kann nie ohne qualitative Elemente – der Hypothesenbildung, des Forschungsdesigns, der Ergebnisinterpretation etc. – auskommen, denn "quantitativ" zu arbeiten sagt nur etwas über bestimmte Techniken im Umgang mit Daten aus, mehr nicht. Umgekehrt versagte sich die qualitative Forschung allzu schnell den Umgang mit Zahlen, wenn sie sich nur negativ als "nicht quantitativ" begreifen würde. [36]

Die Unterscheidung von quantitativ versus qualitativ zur Paradigmenfrage zu machen, ist von vornherein asymmetrisch und wenig produktiv. Deshalb wurden auch verschiedentlich andere Unterscheidungen vorgeschlagen, die der Sache mehr gerecht zu werden versuchen. Bezogen auf die Datenerhebung lässt sich die Forschung in standardisiert und nicht standardisiert arbeitende unterteilen, allerdings mit einer breiten Schnittmenge von mehr oder weniger standardisierter Erhebung. Auf die Forschungslogik zielt die Charakterisierung von Rekonstruktion versus Subsumtion, wie sie von OEVERMANN (1996, vgl. BOHNSACK 1993) bekannt ist. Erneut anders, nämlich an der "Sinn"-Frage, ist die Gegenüberstellung von Verstehen versus Erklären ausgerichtet, wie sie zuletzt von HITZLER (2007) noch einmal vorgetragen wurde. [37]

Das prozedurale Forschungsverständnis liegt quer zu diesen Differenzierungen. Am ehesten trifft es sich mit einem rekonstruktiven Ansatz. Die prozedurale Methodologie bezeichnet allerdings nicht nur eine Forschungslogik: sie hinterfragt die strikte Trennung in Sinn und Nicht-Sinn16) und sie schließt "subsumtive" Elemente nicht aus, sofern diese entlang des Prozessmodells methodisch kontrolliert werden können (als gezielte Abkürzung oder Umkehrung des Prozederes).17) Deshalb verweist das prozedurale Forschungsverständnis nicht zwingend auf einen dichotom konstruierten Widerpart. [38]

Die Chancen und Grenzen einer prozeduralen Methodologie sind eng verbunden mit der eingangs angeführten Zeitdiagnostik und darin liegt letztlich auch ihr, im weiten Sinne, politisches Moment. Gesellschaftliche Verunsicherungen werden sehr vielfältig beobachtet, aber ob man sie als spätmoderne Unübersichtlichkeiten pointiert (HABERMAS 1996), auf Beschleunigungsdruck (ROSA 2005), gesteigerte Angebots- und Optionenvielfalt (SCHULZE 1992; GROSS 1994) oder sozialstaatliche Entkoppelungsprozesse (CASTEL 2000) zurückführt, reflexiv modern (BECK, GIDDENS & LASH 1996), postmodern (BAUMAN 2003) oder "amodern" (LATOUR 1995) analysiert, ist hier erst im zweiten Schritt relevant. Der Anspruch, mit einer prozeduralen Methodologie auf der "Höhe der Zeit" zu sein, erfordert dennoch eine gewisse Positionierung in der Gesellschaftsdiagnostik. Es geht weder darum, Beliebigkeit auszurufen ("anything goes") noch aus den üblichen Verlustklagen in neu-alte Gewissheiten zu verfallen. Die prozedurale Methodologie organisiert vielschichtige, aufeinander verweisende Lernprozesse – von der Interpretation am Detail bis hin zu ganzen Forschungsprojekten. Sie prozessiert Ungewissheit und eliminiert sie nicht, sie bewahrt Unsicherheit, auch und gerade wo sie sie vorübergehend suspendiert. Darüber hinaus beruht die prozedurale Methodologie auf einem Wissenschaftsverständnis, das grundlegend transdisziplinär orientiert ist. Das heißt, sie ermöglicht auch "problembezogene Forschung" (vgl. GROß 2006; BECHMANN 2000), bei der wissenschaftliche Akteure als Akteure neben anderen gelten und mit diesen zusammen arbeiten, wenngleich mit spezifischen Kompetenzen. [39]

Zusammenfassend lassen sich fünf zentrale Kennzeichen der prozeduralen Methodologie festhalten. Dies sind zunächst Prozesshaftigkeit und Sequenzialität, das heißt einer Orientierung am Verfahren, welches sowohl schrittweise als auch als Ganzes immer wieder durchlaufen wird. Das dritte Merkmal ist die Multidimensionalität, also die ineinander greifende Pluralität von Verfahrensverläufen über verschiedene Ebenen. Damit verbunden ist, viertens, die Reflexivität, eine Anlehnung des methodischen an das Gegenstandsverständnis im Kontext einer Zeitdiagnostik. Von hier aus ergibt sich wiederum eine Brücke zu problembezogener Forschung und so zum fünften Kennzeichen, der Transdisziplinarität. [40]

Die prozedurale Methodologie ist damit ein viel versprechendes Programm. Sie ist aber andererseits lediglich eine neue Perspektive, die die vorhandenen und bewährten Forschungsmethoden für unverzichtbar hält und, als bloßes Verfahren ein dürres Gerippe, ihre Kraft nur aus deren Forschungserfahrungen beziehen kann. Das Verfahren formuliert Anforderungen, die bearbeitet werden müssen – wie dies konkret zu geschehen hat oder je nach Gegenstand am geeignetsten geschehen kann, dazu bedarf es auch konkreterer methodischer Mittel. Der Beitrag einer prozeduralen Methodologie ist ein Interpretationsangebot, das die Methodenvielfalt auf der "Höhe der Zeit" neu sortiert und integriert, wenn man so will: versammelt. Ob das LATOURsche Prozessmodell mit seinen sieben Aufgaben dafür letztlich die geeignetste Grundlage bildet, ob mehr oder weniger Anforderungen gestellt werden müssen, ob und wenn ja welche Elemente aus bewährten Methoden einen Grundbestand für eine prozedurale Methodik bilden sollten – diese Fragen und all die oben aufgeworfenen Probleme können hier nur benannt werden und bedürfen kontroverser Diskussionen und differenzierter Antworten. Das Verfahren, einschließlich des Verfahrens über das Verfahren, muss erneut eröffnet werden. [41]

Anmerkungen

1) Ich habe diese Zusammenhänge der Unsicherheitsthematik zwischen Gesellschaftstheorie und Empirie am Beispiel der Rekonstruktion von Biokonsum-Orientierungen andernorts ausführlich diskutiert (LORENZ 2007, 2005). An dieser Stelle geht es nur darum, die Unsicherheitsproblematik als strukturell gemeinsame für Theorie, Empirie und Methodik zu markieren, um damit die (verbindende) Bedeutung der Prozeduralität, als besonderer Umgangsweise mit Unsicherheit, für die im vorliegenden Beitrag entwickelte Methodik zu unterstreichen. <zurück>

2) Die Darstellung und methodische Interpretation des LATOURschen Modells (Abschnitt 1 und 2) gehen zurück auf LORENZ (2006a) und sind von dort weitgehend übernommen. <zurück>

3) LATOUR problematisiert die Terminologie der Akteur-Netzwerk-Theorie an anderer Stelle durchaus selbst: "I will start by saying that there are four things that do not work with actor-network theory; the word actor, the word network, the word theory and the hyphen!" (LATOUR 1999, S.15), behält sie aber bei (vgl. LATOUR 2005). <zurück>

4) Zu einer Auseinandersetzung mit LATOURs Experiment–Begriff im Vergleich zum naturwissenschaftlichen vgl. GROß (2006). GROß' Intention in seinem "Ausblick: Experimentelle Praxis als Prozeduralisierung von Kontingenz" (2006, S.178) entspricht weitgehend dem Anliegen dieses Beitrags und soll im Folgenden in den methodologischen Grundzügen entfaltet werden. <zurück>

5) Vgl. LATOUR (2001a, S.180ff., 206ff.; für eine Visualisierung der Verfahrensabläufe S.163, 181). Exemplarisch erläutert LATOUR die ersten vier Aufgaben am Beispiel BSE/Prionen (S.150ff.). <zurück>

6) Die besondere Eignung der Methodologie der Grounded Theory für den Forschungsprozess insgesamt und der Objektiven Hermeneutik als Interpretationstechnik habe ich an anderer Stelle herausgearbeitet. Diese Unterscheidung ist allerdings sehr vereinfacht. Beide Methoden sind umfassender in einem komplementären Ergänzungsverhältnis zu sehen (LORENZ 2005, S.67ff., vgl. HILDENBRAND 2004). Grundlagen für die hier angestellten Überlegungen des Verhältnisses fallrekonstruktiver Methoden zu LATOUR beziehungsweise allgemeiner zu einer transdiziplinären Methodik finden sich in LORENZ (2006b). <zurück>

7) Wie sehr sich die GTM für eine Einfügung in eine prozedurale Methodologie eignet, lässt sich wissenschaftstheoretisch auch mit STRÜBING (2004) begründen, der die "iterativ-zyklische Vorgehensweise" als ein zentrales Charakteristikum der GTM herausarbeitet. <zurück>

8) Ein Beispiel für die Bedeutung der Dokumentation des "Versuchsprotokolls" ist, dass OEVERMANNs (1983) Analyse einer Fernsehansage heute anders ausfallen muss. Er hatte die Ankündigung einer Sendung über Tiere mit "Guten Abend meine Damen und Herren …" rekonstruiert und daran die strukturelle Verletzung sozialer Reziprozität durch das Fernsehen herausgearbeitet. Geht man entsprechend seiner Interpretationstechnik vor, das heißt erzählt man zuerst differierende Geschichten, in denen die damals analysierte Äußerung "Guten Abend" vorkommt, müsste heute zwingend eine Geschichte der Normalverwendung im Fernsehen dabei sein. Damit ist die Fernsehverwendung aber bereits Grundlage einer Bestimmung der objektiven Bedeutung von "Guten Abend". Umgekehrt formuliert kann man die regelverletzende Verwendung von "Guten Abend" im Fernsehen nicht nachweisen, wenn diese Verwendung selber die Explikation der Regeln mitbestimmt. Man kann aber aus der Differenz von der dokumentierten damaligen Interpretation zu einer heutigen wiederum einiges lernen – über die Methode, über Kritik, das Fernsehen und die Gesellschaftsentwicklung. <zurück>

9) Dass LATOUR sich gegen strukturalistische Konzepte wendet (vgl. 2001a, b), ist an dieser Stelle nicht weiter von Belang, solange sich das Verfahren als Strukturgeneralisierung lesen lässt. Viel eher ist zu fragen, ob er mit seinem prozeduralen Modell, im Gegensatz zum Netzwerk-Ansatz, ohne einen Strukturbegriff auskommen kann. <zurück>

10) Konkret lässt sich das Beispiel eines Arztes denken, der anhand einiger Symptome schnell zu einer Diagnose kommt. Professionalität wäre aber im hier vorgetragenen Verständnis weniger durch routinierte Abkürzungen des Erkenntnisprozesses gekennzeichnet, als durch eine Umkehrung des prozeduralen Vorgehens, bei der die Verfahrensschritte gerade weiter gelten und eben dadurch die Sensibilität erhalten bleibt, bei Anwendungsproblemen die Vorgehensweise wieder umzukehren. <zurück>

11) Die kategoriale Differenz, die OEVERMANN zwischen Theorie und Praxis markiert, orientiert sich an der Unterscheidung von Erkenntnis- und Handlungslogik (OEVERMANN 2000b). Diese wird gelegentlich überbetont (und würde streng genommen jede problembezogene Kooperation von wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Akteuren ausschließen), soll aber davor bewahren, dass Wissenschaft die Praxis bevormundet (vgl. LORENZ 2005, S.73, Fn.116). <zurück>

12) LATOUR (2001a) selbst verweist auf Anleihen an HABERMAS' prozeduralem Politikverständnis und HABERMAS' Anspruch ist immer der, soziale Phänomene nicht schon durch Theorieentscheidungen konzeptionell, insbesondere um normative Aspekte zu reduzieren (HABERMAS 1994). Die Differenz zu HABERMAS liegt dann, wie noch zu sehen sein wird, insbesondere im Handlungsbegriff. <zurück>

13) Exemplarisch verweise ich auf LORENZ (2007), wo reflexive und "verkürzte" Orientierungsmuster im Biokonsum aufgezeigt und unter anderen zur LATOURschen Theorie in Beziehung gesetzt werden. <zurück>

14) Hier bieten sich beispielsweise die Handlungstypen an, die HABERMAS (1988) unterschieden hat. Für eine instruktive, systematisch-idealtypische Gegenüberstellung von technischem versus pädagogischem Handeln vgl. GIEGEL (1998). Aber auch die "Dinge" wären zu qualifizieren, wie etwa die "Werkzeuge" bei ILLICH (1998, S.48, 57f.). <zurück>

15) Ich habe an anderer Stelle (LORENZ 2006b, S.124) bereits darauf hingewiesen, dass die Proklamation des "Endes der Natur" durch eine Aufgabe jeglicher Differenz von Natur und Gesellschaft gerade Ungewissheiten eliminiert, was durch das prozedurale Konzept eigentlich vermieden werden soll. <zurück>

16) Auch OEVERMANN unterscheidet Natur- und Sozialwissenschaften entlang der Unterscheidung sinnstrukturierter versus nicht sinnstrukturierter Forschungsgegenstände. Die Gültigkeit der sequenzanalytischen Vorgehensweise sieht er allerdings auch naturwissenschaftlich gegeben (1996, S.4f., 27; 2000a, S.13f.). <zurück>

17) Solche "Abkürzungen" werden auch von OEVERMANN in forschungsökonomischer Absicht durchaus zugelassen (vgl. exemplarisch 1983, S.246). <zurück>

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Zum Autor

Stephan LORENZ, Dr. phil., Soziologe M.A., ist Post-doc-Stipendiat der Fritz Thyssen Stiftung und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl von Prof. Hartmut ROSA am Institut für Soziologie in Jena. Thematische Arbeitsschwerpunkte sind neben qualitativer Methodik u.a. Überfluss und Wachstum, Konsum und Ernährung, Umwelt und Nachhaltigkeit, Kultursoziologie.

Kontakt:

Stephan Lorenz

Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Soziologie
Carl-Zeiss-Str. 2, D-07743 Jena

Tel.: 03641/945510
Fax: 03641/945512

E-Mail: Stephan.Lorenz@uni-jena.de
URL: http://www.uni-jena.de/Dr_Stephan_Lorenz.html

Zitation

Lorenz, Stephan (2007). Fallrekonstruktionen, Netzwerkanalysen und die Perspektiven einer prozeduralen Methodologie [41 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 10, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801105.

Revised 3/2009

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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