Volume 21, No. 1, Art. 14 – Januar 2020



Neue Verhältnisse? Zwei Perspektiven auf die Beziehung zwischen Empirie und Theoriebildung in der Kultursoziologie Deutschlands

Guy Schwegler

Review Essay:

Julia Böcker, Lena Dreier, Melanie Eulitz, Anja Frank, Maria Jakob & Alexander Leistner (Hrsg.) (2018). Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung: Stand und Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa; 281 Seiten; 978-3-7799-2731-0; 29.95 €

Zusammenfassung: Im Sammelband "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" werden diverse Auseinandersetzungen über eine systematische Verknüpfung der beiden Bereiche präsentiert. Deren bisheriges Verhältnis, so die Ausgangslage, sei insbesondere in der deutschsprachigen Kultursoziologie durch eine Spannung gekennzeichnet. Im vorliegenden Review Essay werden die im Sammelband sowohl in Form von programmatischen Positionen als auch in Forschungsbeispielen präsentierten Lösungsvorschläge mit zwei Perspektiven diskutiert: Auf der einen Seite werden die Beiträge versammelt, die eine bestimmte Vorstellung von Kultursoziologie festschreiben und daraus Konsequenzen ableiten für das Verhältnis von Empirie und Theoriebildung. Auf der anderen Seite werden die Positionen und empirischen Beispiele gemeinsam besprochen, die von einer konkreten Methodologie ausgehen und daraus eine Idee von Kultursoziologe ableiten. Über diese doppelte Betrachtungsweise wird sowohl das Spannungsverhältnis aufgeschlüsselt als auch der allgemeine Stand einer deutschen Kultursoziologie in den Fokus gerückt. Die an dem Band beteiligten Autor*innen verdeutlichen nämlich, dass mehr und mehr die älteren Trennlinien des Fachs ihre Relevanz verlieren. Dies kann allerdings noch nicht gleichgesetzt werden mit dem Verschwinden des Spannungsverhältnisses zwischen Empirie und Theorie. Die vorgebrachten Lösungsvorschläge bleiben selbst in forschungspraktischen Beispielen noch zu programmatisch. Zu wünschen gewesen wären klarere Anleitungen, aus denen sich ein wirkliches Wechselverhältnis zwischen Theorie und Empirie ableiten ließe.

Keywords: Theoriebildung; Kultursoziologie; Methodologie; Review

Inhaltsverzeichnis

1. Zwei Blicke für ein Spannungsverhältnis

2. Zwei Perspektiven für ein Wechselverhältnis: die Beiträge des Sammelbandes

2.1 Definitionen von Kultursoziologie und deren Lösungen für das Spannungsverhältnis

2.2 Die Nutzung eines Spannungsverhältnisses und eine daraus resultierende Kultursoziologie

3. Fazit: Neue Verhältnisse?

Anmerkungen

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Zwei Blicke für ein Spannungsverhältnis

Mit dem Sammelband "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" wird beansprucht, die Auseinandersetzung über eine systematische Verknüpfung von Empirie und Theoriebildung in der Kultursoziologie fortzuführen, wie einige der Herausgeber*innen im einleitenden Beitrag betonen (EULITZ & LEISTNER, S.8). Die Idee der Fortführung beziehen sie insbesondere auf die Gründung des Netzwerks der empirischen Kultursoziologie, das sich vor einigen Jahren innerhalb der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie entwickelte. Ziel des Netzwerkes ist es, einer wahrgenommen "Randständigkeit" (a.a.O.) der empirischen Arbeit etwas entgegenzuwirken. Diese Randständigkeit habe sich nicht zuletzt aus Forderungen nach einer kultursoziologischen Reflexion über das "Große, Grundsätzliche und Ganze" entwickelt (S.7), wie sie an vergangenen Tagungen der Sektion gestellt wurden; so zumindest eine Beschreibung von EULITZ und LEISTNER zu Beginn des Sammelbandes.1) [1]

Diese Ausgangslage des Sammelbandes scheint sich in beispielhafter Weise mit dem Erscheinen eines anderen kultursoziologischen Buchs zu zeigen, nämlich der Monografie "Die Gesellschaft der Singularitäten" von Andreas RECKWITZ (2017). In diesem prominenten Werk macht der Kultursoziologe RECKWITZ den im hier besprochenen Sammelband an diversen Stellen geforderten "Stabhochsprung"2) was die Reichweite der theoretischen Aussagen gegenüber einzelnen, empirischen Beobachtungen betrifft. RECKWITZ zeichnet nicht nur eine breite, sondern durchaus eine "genaue Kenntnis" der Empirie aus (vgl. LÖW 2019, S.4). Trotzdem bleibt der empirische Anteil der Arbeit im eigentlichen Sinne und ein Prüfen der Hypothesen in "Die Gesellschaft der Singularitäten" eher randständig3) – was die Herausgeber*innen des hier besprochenen Bandes als allgemeines Problem des Fachs Kultursoziologie beklagen. [2]

Neben dem eben genannten, prominenten Beispiel liefern auch diverse "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" beitragende Autor*innen Gründe und Erklärungen, warum gerade in der Kultursoziologie ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Bereichen herrscht. So wird bereits in der Einleitung auf die spezielle "disziplinäre Lage" (EULITZ & LEISTNER, S.8) während der Etablierung des deutschsprachigen Fachs verwiesen. Als Spezialfall zeige es sich etwa in Abgrenzung zu einer amerikanischen Tradition der Cultural Sociology, welche die Integration von Empirie und Theorie auf spezifischere Weise erreicht habe (BINDER; vgl. auch WOHLRAB-SAHR, S.38).4) Die Kultursoziologie in Deutschland kann hingegen nach deren "Revitalisierung" in den 1980er Jahren (GEBHARDT 2005, S.24ff.) immer anhand von mindestens zwei Polen (und deren verschiedener Übergänge) verortet werden (vgl. auch MOEBIUS 2019, S.75f.). Zentral für die Entwicklung war insbesondere, dass die Vertreter*innen der Kultursoziologie diese Subdisziplin in Deutschland in einer Art "Scharnierfunktion" zwischen Sozial- und Geisteswissenschaft positionierten.5) Hierbei überwiegt ein Fokus auf Theoriebildung trotz einer vorhandenen, stärker empirischen Ausrichtung6), die sich insbesondere aus dem Umfeld Jürgen GERHARDS heraus entwickelt hat (GERHARDS 1997; RÖSSEL & ROOSE 2015). [3]

Vor diesem Hintergrund der Kultursoziologie in Deutschland muss dann bereits der Titel des Sammelbands und die darin prominente Nennung von Empirie als Positionierung der Herausgeber*innen zum sozialwissenschaftlichen Pol gelesen werden. Weiter ist es auch diese spezielle Situation in Deutschland, vor der die weiteren, angeführten Gründe für ein schiefes Verhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung in der Kultursoziologie verstanden werden müssen. WOHLRAB-SAHR (S.34) stellt in ihrem Beitrag etwa einen besonders tiefen Graben zwischen zeitdiagnostischen Thesen und empirischer Arbeit fest, während OTTE (S.74) eine doppelte Unklarheit ausmacht, die zum problematischen Verhältnis führe: Er beklagt, dass sowohl die eigentliche Idee und Aufgabe – im Sinne des Kulturbegriffs – als auch der empirische Gegenstand der Kultursoziologie nicht wirklich definiert sei. [4]

Das Anliegen der Herausgeber*innen zur systematische Verknüpfung von Empirie und Theoriebildung scheint relevant zu sein für einen soziologischen Umgang mit Kultur. Diese Relevanz wird von aktuellen Beispielen und insbesondere auch durch den geschichtlichen Verlauf der deutschen Kultursoziologie unterstrichen. Allerdings ist dies nur der eine Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung. Ein anderer Blick würde das Verhältnis hingegen als allgemeines Problem der Soziologie betrachten (vgl. auch JUKSCHAT 2018, S.329). Die Kultursoziologie würde dann im Sinne einer interessanten Fallauswahl aufgenommen. Dieser zweite Blick könnte womöglich nochmals stärker aufzeigen, was genau als Defizit durch das "schiefe" Verhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung auszumachen ist. Dass nämlich durchaus eine wirkliche Problematisierung möglich ist (und eben nicht nur das Feststellen eines "Grabens" oder einer "Randständigkeit") wird etwa dann deutlich, wenn in Beiträgen spezifischer Bezug auf qualitative Methoden und deren Verhältnis zur Theoriebildung genommen wird. Obschon in dem Sammelband nicht per se zwischen einer quantitativen oder qualitativen Perspektive in der Kultursoziologie unterschieden wird und empirische Beispiele für beide Methodenkulturen eingebracht werden, ist es doch eher ein nicht-standardisiertes, interpretatives Vorgehen, das im Vordergrund steht. Hierbei gelingt es einigen Autor*innen – wiederum in der Einleitung (EULITZ & LEISTNER, S.14f.) sowie in den Beiträgen von WOHLRAB-SAHR (S.40f.) und KALTHOFF (S.138f.) –, ein Selbstverständnis der qualitativen Ansätze zu hinterfragen und damit eine mögliche Problematik der gesamten Disziplin am Beispiel der Kultursoziologie zu verdeutlichen. Die eben genannten Beitragenden zeigen erstens, dass qualitative Ansätze an einem möglichen Missverhältnis zwischen dem empirischen Arbeiten und einer Theoriebildung in neuer Art und Weise leiden: Es sei nun teilweise ein übertriebener Empirismus, der die qualitative Sozialforschung auszeichne (und eben nicht mehr nur die quantitativen Methoden, vgl. auch KNOBLAUCH 2014, S.78). Zweitens liefert die Diskussion des beispielhaften "Falls" Kultursoziologie auch eine Einsicht in eine weiterreichende Thematik (KALTHOFF, HIRSCHAUER & LINDEMANN 2008), wenn es um die Konsequenzen der Idee einer theoretischen Empirie in der qualitativen Sozialforschung geht. [5]

Die Herausgeber*innen versammeln in "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" sowohl Beiträge, in denen der erste Blick auf die Kultursoziologie als Spezialfall eingenommen wird, als auch solche, die das spezifische Fach als Beispiel für die allgemeine Problematik aufnehmen. Eine solche Kombination von Beiträgen hat durchaus Vorteile – trotz einer fehlenden, einheitlichen Position zur Idee der Kultursoziologie.7) Im Folgenden wird daher für das Review eine vergleichbare Doppelung zur Besprechung des Sammelbandes vorgeschlagen. Es sollen mittels zweier Perspektiven die Lösungsansätze betrachten werden, welche die verschiedenen Autor*innen für das doch übereinstimmend als problematisch beschriebene Verhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung präsentieren.

Anhand dieser doppelten Perspektive – die so nicht (explizit) in den vorliegenden Beiträgen, sondern erst als (An-)Ordnung für dieses Essay eingeführt wurde – wird im nächsten Abschnitt eine Übersicht des Sammelbandes "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" geliefert. Dabei wird teilweise der Organisation der Inhalte gefolgt, bei der die Herausgeber*innen zwischen programmatischen "Positionen" und "Beiträgen aus der Forschungspraxis" unterschieden haben. Gleichzeitig werden die Beiträge eines dritten Unterbereiches des Sammelbandes – die mit "Sondierungen" aufgeführten Arbeiten von KALTHOFF und BINDER – hier ebenfalls eher als Positionen gelesen (eine Entscheidung, welche die Herausgeber*innen durchaus in vergleichbarer Weise hätten treffen können). Unabhängig von der Perspektive oder der Art des Beitrags soll in diesem Review Essay das Ziel der Herausgeber*innen bewertet werden: Diese möchten nämlich das Verhältnis zwischen Empire und Theorie im Sinne eines "Wechselspiels" verstehen (EULITZ & LEISTNER, S.8). Dazu muss mit theoretischen Konzepten über das "Große, Grundsätzliche und Ganze" (S.7) eine empirische Arbeit angeleitet werden können. Gleichzeitig sollen über diese Arbeit mit Empirie auch theoretische Aussagen zu einem "sozialen Gesamtzusammenhang" (REHBERG 2013 [1985], S.394) formuliert werden können. [7]

2. Zwei Perspektiven für ein Wechselverhältnis: die Beiträge des Sammelbandes

2.1 Definitionen von Kultursoziologie und deren Lösungen für das Spannungsverhältnis

Unter der ersten Perspektive werden insgesamt sechs Beiträge von "Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" versammelt. In zweien (WOHLRAB-SAHR; OTTE) werden programmatische Positionen dargestellt: Beide Autor*innen machen die Lösung des angespannten Verhältnisses zwischen empirischer Arbeit und Theoriebildung an einem klar bestimmten Kulturbegriff und einer davon abgeleiteten Kultursoziologie fest. [8]

Für WOHLRAB-SAHR zeigt sich Kultursoziologie in den "weitreichenden Thesen über gesellschaftlichen Wandel und über das, was die Gesellschaft und ihre Gruppen 'im Innersten zusammenhält'" (S.34). Das zentrale Problem im bisherigen Verlauf des Fachs Kultursoziologie stellt für die Autorin nun der oben bereits erwähnte tiefe Graben dar, der zwischen der empirischen Arbeit und einer Theoriebildung verlaufe. Zur Überwindung dieses Grabens schlägt WOHLRAB-SAHR die unter anderem von WEBER entlehnte Idee des Tertium Comparationis vor: Ein vergleichendes Drittes soll immer wieder den Bezug zwischen empirischer Arbeit und Theoriebildung ermöglichen – und den gemeinsamen Bezugspunkt bilden für Forscher*innen und Theoretiker*innen. Es ist auch dieses vergleichende Dritte, das im Zentrum steht, wenn der von WOHLRAB-SAHR präsentierten Idee von Kultur im Rahmen von qualitativer Sozialforschung nachgegangen wird. Wiederum im Verweis zu diversen Klassiker*innen definiert sie Kultur als eine Gemeinschaftsbildung bzw. soziale Schließung mit Bezug auf geteilte Erfahrung und Sinndeutungen. Es sind dann insbesondere Mechanismen im Rahmen dieser Schließung, die als das zu vergleichende Dritte, als "grundlegend theoretische Frage" (S.41), einen Anschluss der Empirie und Richtung der Theoriebildung in Einklang bringen soll. [9]

Die zweite Position umreißt OTTE in seinem Beitrag "Was ist Kultur und wie sollen wir sie untersuchen?". Er schreibt dort die Rolle einer Kultursoziologie noch stärker fest als WOHLRAB-SAHR, indem er Kultur als Gegenbegriff zur Sozialstruktur positioniert. Mit diesem Begriffspaar, so OTTEs Idee, werden die "zentrale[n] Bestandteile jeder Gesellschaft" zusammengefasst, mit der "jegliches Handeln strukturier[t]" wird (S.83). Kultur ist in dieser Definition ein Metakonzept, welches wie ihr Gegenüber "Sozialstruktur" in einzelne Teile zu zerlegen ist. Ein so impliziertes Verhältnis zwischen Empire und Theoriebildung löst auf der einen Seite einige Probleme auf elegante Weise. Auf der anderen Seite scheint hier eine Vorstellung von Kultursoziologie festgeschrieben zu werden, die lediglich die fehlenden Elemente der Analyse der Sozialstruktur ergänzen könnte – oder anders formuliert, für die Übergänge zwischen Mikro- und Makroebene verantwortlich ist. Eine von OTTE analytische sowie forschungslogische Trennung und klare Aufgabenzuteilung mutet hier teilweise etwas zu vereinfachend an. Dies wirkt nochmals befremdlicher, wenn gegen Ende des Beitrags verlangt wird, stärker sozial- und kognitionspsychologische Ergebnisse zu rezipieren. Konnte man WOHLRAB-SAHRs Vorschlag insgesamt folgen, und vielleicht noch kritisch anfragen, wie denn ein solcher Fokus auf ein Tertium Comparationis (und indirekt immer auch die Klassiker*innen des Fachs) radikalere Veränderungen ermöglichen könnte, so vermag der Lösungsansatz von OTTE nicht gänzlich zu überzeugen. Mit dem Vorschlag scheint zwar das Empirie-Theorie Verhältnis über die klare Ausrichtung des Metakonzeptes Kultur durchaus in einem produktiven Sinne formuliert zu werden. Gleichzeitig aber droht die Gefahr, dass einiges an Potenzial (etwa für kontra-intuitive Thesen oder umgedrehte Blickrichtungen) verunmöglicht wird, wenn es nur noch um die Klärung eines Verhältnisses zwischen der "Aggregation von Individualmerkmalen" und einer "kollektiven Manifestationen von komplexe[n] kulturelle[n] Prozesse" geht (S.93). [10]

In ähnlicher Weise beschreibt BINDER eine konsequente und produktive, aber wenig überzeugende Haltung im Hinblick auf das Verhältnis von Empirie und Theoriebildung. Er sondiert in seinem Beitrag das strong program8), das als Teil der Cultural Sociology im US-amerikanischen Raum entstanden ist. Jeffrey ALEXANDER und Philip SMITH (2006) verstehen mit diesem von ihnen begründeten funktionalistischen Ansatz Kultur als eine kollektive Sinnstruktur, die sich im Sinne einer kausal wirksamen Variable begreifen lasse. Die daraus abgeleitete Vorstellung einer absoluten Autonomie der Kultur und deren binärer Kodes mögen aber ebenfalls nur teilweise zu überzeugen. Zu oft scheinen hier Phänomene nicht aufgrund der empirisch ablaufenden Prozesse in das Schema eingefügt und erklärt zu werden, sondern sie werden in die Theoriearchitektur "hineingepresst". BINDER schafft es aber in seiner Darstellung des strong programs, genau das daraus resultierende Empirie-Theorie-Verhältnis auf interessante Weise zu vermitteln. Er zeigt dazu drei Phasen der Entwicklung von Brückenhypothesen auf, die zwischen der "Tiefenstruktur" der Kodes und der Oberfläche der sozialen Phänomene vermitteln sollen: In der ersten Phase, so BINDER, habe sich das strong program durch einen Fokus auf die Narration der Kodes ausgezeichnet. Ziel der Vertreter*innen sei es gewesen, die Erzählungen um die jeweiligen binären Kodes aufzuzeigen, wie ALEXANDER und SMITH (1996) dies beispielsweise mit ihrer Studie zu der Erlösung-Untergang-Kodierung9) in Ulrich BECKs "Risikogesellschaft" (2016 [1986]) taten. Eine zweite Phase des strong programs sei mit der Idee der Performanz eingeläutet worden. In dieser Phase seien es nicht mehr nur Texte (wie BECKs Buch oder die Transkripte von Reden), sondern insbesondere auch "materielle, visuelle und organisatorische Aspekte" (BINDER S.163) gewesen, die neu Teil der Analyse wurden. Schließlich sei mit der Idee einer Ikonizität die dritte Phase des strong programs eingeläutet worden. In dieser dritten Phase sei nochmals stärker Materialität betont und versucht worden, insbesondere einer ästhetischen Erfahrung in der empirischen Forschung der binären Kodes Rechnung zu tragen. Die Übergänge zwischen den drei Phasen seien das Resultat von "Reibungen" (S.168) der Empirie an der Theorie gewesen – und hätten nicht zuletzt zu Ansatz-internen Widersprüchen geführt. [11]

Neben den beiden programmatischen Positionen sowie der Sondierung des strong programs werden drei forschungspraktische Beiträge des Sammelbands unter der ersten Perspektive dieses Essays präsentiert. In den Beispielen zeigen die Forschenden die Konsequenzen einer von Beginn an feststehenden Rolle der Kultursoziologie auf. [12]

HOKLAS greift das von WOHLRAB-SAHR geforderte Tertium Comparationis auf und versucht, den Zusammenhang zwischen Habitus und medientechnischem Wandel von der Blickrichtung der Technik her anzugehen. Sie widmet sich so einem "Wechselspiel zwischen dem Wandel medientechnischer Infrastrukturen und der Logik der Praxis" (HOKLAS, S.256). Dieses Wechselspiel ist für die Autorin eine "Leerstelle der kultursoziologischen Theoriebildung" (a.a.O.). Als empirisches Beispiel dienen die Praxen, die HOKLAS zufolge das alltägliche Musikhören anleiten. Sie führte hierzu biografische Interviews mit Personen, die in den 1960er Jahren geboren wurden, mit Kassettenrecordern aufwuchsen, und sich dann in ihrem Lebensverlauf immer wieder mit neuen Techniken des Musikhörens konfrontiert sahen. HOKLAS analysierte ihr empirisches Material mit der dokumentarischen Methode (BOHNSACK, NENTWIG-GESEMANN & NOHL 2013). Im Beitrag zeigt sie konsequent den Zusammenhang zwischen Empirie und Theoriebildung über die klar festgelegte Idee von Kultursoziologie auf. Das Fach soll hier Bedeutungswandel aufzeigen, wie etwa derjenige des Subjektes im historischen Verlauf des Zusammenspiels zwischen Materiellem und Kulturellem. Über diese klare Ausgangsposition und ihre festgestellte Forschungslücke schafft HOKLAS durchaus den "Stabhochsprung" zwischen ihrer Forschungspraxis und weiter reichenden Thesen. Gleichzeitig aber scheint im Verlauf das vergleichende Dritte des Habitus' in Bezug zu Technik immer schwammiger zu werden, wenn Fragen nach Generationsunterschieden und der Rolle von digitalen Technologien ins Zentrum rücken. [13]

OTTEs Forderung der Ergänzungen von Kulturanalyse und Sozialstrukturanalyse wird mittels einer von ihm gemeinsam mit KUNIßEN und EICHER durchgeführten Sekundäranalyse verdeutlicht. Die Autor*innen präsentieren einen hervorragenden Überblick zur Omnivorizitätsthese10) (PETERSON & KERN 1996) und deren Forschungsstand. Daraus leiten sie verschiedene mögliche Operationalisierungen ab, die im Beitrag gegenübergestellt sowie empirisch überprüft werden. Damit zeigen KUNIßEN et al. die Abhängigkeit der These von deren Messbarmachung auf. Hier wird die Stärke einer Idee von Kultursoziologie deutlich, wie sie oben anhand von OTTEs Position beschrieben wurde: Die Probleme und Forschungslücken werden klar ausgeführt und lassen diverse Anschlussmöglichkeiten eines solchen Forschungsbeitrags auftauchen, während gleichzeitig auch ein kritischer Umgang mit quantitativen Methoden aufzeigt wird. Das eigentliche Problem in den analysierten Surveys scheint hingegen weniger die Details einer Operationalisierung zu betreffen, sondern eher den zu simplen Umgang mit Kategorien wie derjenigen des Musikgenres. Dieser Vorwurf kann allerdings erstens nicht nur an diesen Beitrag gemacht werden, und zweitens wird die Problematik auch von KUNIßEN et al. anerkannt (S.229). Trotzdem: Hier hätte vielleicht ein Ansatz mit eigener Datenerhebung einen Ausweg aus der Problematik und eine Position quantitativer Ansätze zur Frage der Kategorisierung ermöglicht. In der im Beitrag präsentierten Variante bleibt die Kultursoziologie in einer kleinteiligen Lösung von Problem verhangen – die am Beispiel der Operationalisierung der Omnivorizitätsthese wohl ihre Grenzen erreicht hat. [14]

Trotz der angemerkten kritischen Aspekte sind die eben aufgeführten Beispiele aus einer Forschungspraxis der Kultursoziologie anschauliche Darstellungen für ein mögliches produktives Verhältnis zwischen Empirie und Theoriebildung im Sinne des Wechselspiels. Das Verhältnis zwischen den beiden Bereichen zu beleuchten klappt allerdings nicht immer: So nimmt sich SCHÄFER der Rolle der Totalität von gesellschaftstheoretischen Beschreibungen an. Für ihn sind es Zeitdiagnosen mit weitreichenden Implikationen, die eine Kultursoziologie auszeichnen sollten. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Empirie und Theorie ergibt sich daraus die Frage, wie die theoretischen Totalitätskategorien methodisch kontrolliert untersucht werden können. SCHÄFER beginnt seinen Beitrag, indem er verschiedenste aktuelle Diagnosen auf eine Ästhetisierungsthese bezieht. Mit totalitären Kategorien operierende, kultursoziologische Ansätze beschreiben für ihn im "Bereich der Wirtschaft eine enge Verflechtung" (S.196) zwischen eher protestantischen bzw. calvinistischen Idealen und kreativer Lebensführung gemäß künstlerischen Idealen.11) Diese Zusammenfassung überzeugt zunächst – obwohl mit Hinblick auf die bereits oben erwähnte Studie der "Gesellschaft der Singularitäten" (RECKWITZ 2017) eine vorgeworfene "Zuspitzung" gerade nicht nur kapitalismustheoretische Konsequenzen hat. SCHÄFER formuliert dann die Totalitätskategorie der Ästhetisierung gemäß einer religionssoziologischen Erweiterung um. Der "semantische Antagonismus" zwischen rationaler und kreativer Lebensführung zeigt sich für ihn auch auf einer allgemeineren "Ebene der Weltanschauung" (S.199) und nicht lediglich im Bereich des wirtschaftlichen Handelns. Der Autor illustriert anschließend die erweiterte Totalitätskategorie am Beispiel des Veganismus: Diese Ernährungshaltung verdeutliche auf besondere Weise die Gleichzeitigkeit von puritanischer Askese und artistischer Passion im weiteren Sinne. Leider bleibt SCHÄFER hierbei stehen. Es ist daher fraglich, wieso der Beitrag als Beispiel einer Forschungspraxis aufgelistet wird. Der Autor möchte nämlich seine Anliegen "ohne Ansprüche auf methodisch-analytische Korrektheit" vorbringen (S.201). Das mag anschaulich sein, hilft aber nicht für eine methodologische Klärung des Verhältnisses zwischen Empirie und Theoriebildung – und der von WOHLRAB-SAHR diagnostizierte Graben wird wohl nur tiefer werden. [15]

2.2 Die Nutzung eines Spannungsverhältnisses und eine daraus resultierende Kultursoziologie

In diesem Abschnitt wird die Perspektive auf die weiteren Beiträge des Sammelbandes und ihre Lösungsansätze nun umgekehrt: Die Autor*innen der nächsten drei Positionen haben verschiedene Praktiken an den Anfang ihrer Überlegungen und Betrachtungen gestellt. Damit kann, so die Idee im Review Essay, vom jeweiligen Vorgehen abgeleitet werden, was Kultursoziologie sein könnte und welcher Blick auf Kultur durch einen bestimmten Ansatz ermöglicht wird. Mit dieser Perspektive auf die Beiträge geht es also nicht mehr darum, in einer programmatischen Art und Weise einen Ansatz von Kultursoziologie auszuführen, wie es den im letzten Abschnitt vorgestellten Beiträgen des Sammelbandes unterstellt wurde. Nun steht (in einer durchaus pragmatischen Weise) ein konkretes Verhältnis von Empirie und Theoriebildung am Anfang der Überlegungen. [16]

Zunächst präsentieren die drei den Sammelband mitherausgebenden Autorinnen BÖCKER, DREIER und JAKOB eine Forschungsgrundhaltung: Zentral für ihr Vorgehen sei ein Bewusstsein dafür, das Dinge anders ablaufen könnten. Eine jeweilige Struktur, eine Situation, ein Gegenstand oder allgemein ein Phänomen sei immer "grundsätzlich auch anders gestalt- und machbar" (S.22). Für die Autorinnen gilt es, diese Idee sowohl in der sozialen Welt (als Kontingenz 1.Ordnung) als auch im Forschungsprozess selbst (als Kontingenz 2.Ordnung) zu beachten. Ein erfolgreiches Verhältnis zwischen Empire und Theoriebildung zeige sich dann, wenn in beiden Bereichen Kontingenz aufgezeigt werden könne. Aus der Kontingenzsensibilität ließe sich dann auch die Idee von Kultursoziologie ableiten: Diese setze sich explizit mit einer kulturell vorstrukturierten Welt auseinander.12) Interessant an der Argumentation zur Kontingenzsensibilität ist nicht zuletzt das Votum der Autorinnen für eine Rolle als Generalist*in: Forschende sollten sich auf der einen Seite nicht einer Theorieschule und damit eingeschränkten Erklärungen verschreiben. Diese Generalist*innenrolle gelte auf der anderen Seite auch für die Empirie, und verschiedenste Methoden sollten zum Repertoire der Kultursoziologie gehören. Da der jeweilige Blick auf ein Phänomen immer auch anders sein könne, lasse es sich einfacher rechtfertigen, auch andere theoretische und empirische Varianten auszuprobieren. Weniger klar wird bei BÖCKER et al. hingegen, wie über eine Middle-Range-Theorie hinaus Erkenntnisse gewonnen werden könnten mit diesem (implizit eher qualitativen) Ansatz. Denn trotz aller Kontingenz zeigen sich Stabilitäten und auf dieselbe Art und Weise ablaufende Prozesse über weite Teile der empirischen Realität. Schlussendlich ist es auch die Argumentation für die weitreichenden stabilen Phänomene, die eine Stärke der Kultursoziologie waren und sind. [17]

Eine vergleichbare Problematik zeigt sich auch in MEYERs Beitrag zu einer praxistheoretischen Kultursoziologie. Die Praxistheorie wird von ihm zunächst überzeugend als soziologische Perspektive auf Kultur eingeführt. Über den Ansatz, so seine Argumentation, werde nur auf soziale Phänomene im engeren Sinne wie Interaktion, Handeln, Kooperation, Routinen usw. in der Erklärung von Kultur fokussiert. Es gelte von dieser Untersuchung der "operativen Konstitution von Praxis" und deren "leiblich-prozeduralen und material-infrastrukturellen Bedingungen" (S.111) aus die Kultursoziologie und deren Verhältnis zwischen Empire und Theoriebildung zu bestimmen. Beide Seiten hätten den Forschenden dann dazu zu dienen, eine Kollektivität von Verhaltensweise aufzuzeigen: Die Frage, die von Praxistheoretiker*innen gestellt werde, sei, wie ein "übersituativ[es] Kollektives" (S.109) in Bezug zu Bedeutungen und Wissen entstehen könne. Über diese Argumentation beantwortet MEYER die Frage nach einer soziologischen Identität, die in der Kultursoziologie nach deren Neugründung in der 1980er Jahren immer virulenter geworden sei.13) Diese soziologische Identität sei nicht zuletzt von den Kulturwissenschaften herausgefordert worden, welchen wiederum "fehlende methodische Rigidität" und "theoretischer Eklektizismus" (S.105) vorgeworfen worden sei und weiterhin werde. Der von MEYER formulierte praxistheoretische Blick auf Kultur leidet weder am einen noch am anderen. Doch die von ihm vorgeführten Beispiele und Erklärungen verweisen in ihren Argumenten kaum über die empirischen Beispiele hinaus. Es bleibt dann unklar, wieso aus einzelnen mimetischen Prozessen – etwa beim Lernen des Cellospiels – bereits kollektive soziale Phänomene wie "charakteristische Stil- und Interpretationsschulen" (S.126) entstehen können. Es gilt daher vor allem die Frage nach der Reichweite zu stellen, für die MEYER sowohl eine empirische als auch eine theoretische Antwort schuldig bleibt. [18]

Ein möglicher Lösungsansatz zur Überwindung einer Mikro-Makro-Problematik findet sich in PETTENKOFERs Beitrag. Der Autor erläutert hierzu das Konzept der situativen Evidenz. Dieses besagt, dass die Frage nach der Reichweite in konkreten Situationen "kleingearbeitet" (S.53) werden könne in zeitliche und räumliche sowie medial abgegrenzte Momenten. Über diese Perspektive der situativen Evidenz würden sich Forscher*innen den "Scharnierstellen in der Restabilisierung oder Destabilisierung weiter ausgreifender Ordnungen" widmen (S.65). Es seien dann sowohl die empirischen als auch die theoretischen Beiträge zu den re- bzw. destabilisierenden Mechanismen, die das Verhältnis zwischen den beiden Seiten bestimmen und anleiten müssten. PETTENKOFER zeigt hier keine einheitliche Kultursoziologie auf, sondern er führt vielmehr verschiedene Forschungslinien zu Situationen an, von denen das gemeinsame Bezugsproblem der Stabilisierung abgeleitet werden kann. Als Hauptlinien nennt er die Untersuchung von Selbstverhältnissen, Darstellungen, Ritualen und Prüfungen. Es gelingt ihm dabei, sowohl Klassiker wie GOFFMAN (1961) als auch neuere Ansätze wie den von BOLTANSKI und THÉVENOT (2007) zusammenzufassen. PETTENKOFER schließt mit einer umkehrten Herangehensweise an die Position von WOHLRAB-SAHR an. Gleichzeitig wird jedoch in seiner Position zunehmend unklarer, was denn keine Kultursoziologie wäre.14) [19]

Auch in KALTHOFFs Sondierung zur Frage der theoretischen Empirie wird nicht immer klar, wie sich die Aussagen auf die Kultursoziologe beziehen lassen. Ihm zufolge weist Empirie auch in qualitativen Verfahren nicht nur ein "empiristisches" (S.132) Vorgehen in der Forschung auf, sondern beinhaltet auch die Arbeit an theoretischen Vokabularien und Ansätzen. Aus dieser Ausgangslage lässt sich aber noch kein Blick auf Kultur oder eine konkrete Kultursoziologie ableiten. Der Bezug zum Fach wird nur indirekt über die spezielle disziplinäre Lage der deutschen Kultursoziologie klar, die sich lange vor allem als qualitativ operierendes Teilgebiet verstanden hat (ROOSE & RÖSSEL 2015, S.14). Trotzdem: KALTHOFFs Einsichten zu einer Verschränkung von Theorie und Empirie sind interessant. Theorien können, so seine Idee, in zwei "Aggregatszuständen" (S.141) in der Empirie vorliegen. Sie sind erstens als ausformulierte Konzepte vorhanden, mit der die Empirie angegangen wird. Zweitens liegen sie aber auch im Sinne von Bezügen in und als Gehalte der empirischen Daten selbst vor, welche die qualitativen Forscher*innen dann "entschlüsseln" müssten (a.a.O.). KALTHOFF dreht so auch die Idee des Sammelbandes zum Verhältnis zwischen Empirie und Theorie: Hier geht es nun darum, Theorie in den empirischen Daten zu entdecken; das Wechselspiel zwischen den beiden Bereichen wird zu einem (empirischen) Gegenstand. Das vermittelt durchaus neue Einsichten und ist – aus methodologischer Sicht – anschlussfähig an die Performativitätsidee von Michel CALLON (1998) und an weitere "materialitätstheoretische" Positionen (DERRIDA 1988 [1972]; KNORR-CETINA 2008; KRÄMER 1997; RHEINBERGER 2001; SCHATZKI 2016; vgl. auch KALTHOFF, S.143). [20]

Auch zwei forschungspraktische Beispiele des Sammelbandes können unter der in diesem Abschnitt eingenommenen Perspektive versammelt werden. Deren Autorinnen (NEUBERT; FRANK) setzen stärker auf die Prozesse hin zur Konstruktion einer Kultursoziologie, anstatt eine Idee dieses Fachs vorauszusetzen. Sie versuchen einen Theorie-unabhängigeren Zugang zur Empirie zu finden bzw. sich (gemäß der eben genannten Idee KALTHOFFs) die theoretischen Voraussetzungen von Beobachtungen bewusster zu werden. [21]

NEUBERT widmet sich in ihrem Beitrag einer "spezifischen Wirksamkeit von Materialität" (S.176), die sie am Beispiel der Architektur aufzuzeigen versucht. Ziel ist es, deren Materialität als "tragendes" bzw. "stabilisierendes" Element des Sozialen anzusehen (S.177). NEUBERT geht praxistheoretisch vor, um dann – wie oben bereits anhand der beiden Beiträge von MEYER und PETTENKOFER eingeführt – nach den Stabilisierungen und Destabilisierungen in konkreten Fällen zu suchen. Im Gegensatz etwa zu einem strong program nimmt die Autorin so keine definitive Haltung gegenüber einer Frage von Materialität und Kultur ein, sondern versucht, die genauen Verhältnisse in den sozialen Prozessen zu betrachten. Als empirisches Material dienten ihr fünf Arbeitsfelder und deren räumliche Umgebung, in denen sie während ihrer Feldaufenthalte Beobachtungen machte sowie (informelle) Gespräche und Interviews führte. NEUBERT schafft insbesondere über die vergleichende Fallauswahl und die daran abgeglichenen Prozesse, eine grundlegende sinnliche Erfahrung empirisch zu erforschen, ohne diese genauer von Beginn an festlegen zu müssen. Weiter zeigt sie auch auf, dass es unter anderem eine Beschäftigung mit der Materialität ist, die neu auch die Kultursoziologie als gesamtes Fach mitdefiniert.15) [22]

FRANK versucht in ihrem Beitrag auf ähnliche Weise, einen empirischen Zugang zu einem Gegenstand zu finden und so zu stark theoretische Voraussetzungen zumindest zu hinterfragen. Sie tut dies am Beispiel "hochkultureller Objekte" (S.236) und setzt anstelle einer (theoretisch) festgeschriebenen Bedeutung auf die Idee einer empirischen Ästhetik (vgl. auch DIAZ-BONE 2010). Ihr Ziel ist dabei, eben keine Kategorien vorauszusetzen, wie es etwa im Beitrag von KUNIßEN et al. anhand der Musikgenres erfolgte. FRANK sieht es vielmehr als Frage der Empirie und der Akteur*innen, was als Kategorie oder eben "als gemeinsamer Erfahrungsraum verstanden wird" (S.241). Sie untersucht die Kategorien und wie sie zur Anwendung kommen im Rahmen von Gruppendiskussionen mit Mitgliedern von Fördervereinen für die "hochkulturellen" Bereiche Oper und Theater. Dieses Vorgehen zeichnet sich durch eine besondere Relevanz aus: FRANK liefert in ihrem neu gedachten Verhältnis zwischen Empirie und Theorie auch eine Betrachtung der Praxis der Kultursoziologie selbst – und hinterfragt diese mittels empirischem Material. Sie beklagt nämlich nicht nur, das Kultursoziolog*innen lange von Oper und Ballett per se als Beispielen für Hochkultur ausgegangen seien, anstatt etwa historische Dimension solcher Beschreibungen mitzudenken.16) Sie verdeutlicht dann an ihren Gruppendiskussion genau die Kontingenz solcher Kategorisierungen: Die Teilnehmer*innen haben verschiedenste (und eben nicht nur "rein ästhetische") Vorstellungen im Zusammenhang zu diesen Hochkulturen eingebracht. Schlussendlich zeigt FRANK mit ihrem Beitrag eine andere Idee von Kultursoziologie auf, die trotz einer "offenen" Ausgangslage und der Verwendung qualitativer Methoden im Sinne eines Hypothesentests eingesetzt werden kann. [23]

3. Fazit: Neue Verhältnisse?

Als Fazit dieses Review Essays soll auf der einen Seite noch der Versuch eines "Stabhochsprungs" gemacht werden. Anstatt den Blick auf die Details der einzelnen Beiträge zu richten, gilt es also, die Lage der Kultursoziologie Deutschlands im Vergleich zu ihrer oben eingeführten Ausgangslage zu beschreiben. Auf der anderen Seite ist dann nochmals die im Sammelband angestrebte Klärung des Verhältnisses von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung zu bewerten. [24]

"Zum Verhältnis von Empirie und kultursoziologischer Theoriebildung" verdeutlicht für das Fach der Kultursoziologie in Deutschland drei positive Aspekte:

In diesen drei Punkten zeigt sich auch eine Internationalisierung der Kultursoziologie Deutschlands: US-amerikanische Thesen werden genauso wie ältere und neuere französische Ansätze in die deutsche Subdisziplin aufgenommen. Vielleicht ist genau eine solche Internationalisierung auch eine Chance für das Netzwerk der empirischen Kultursoziologie, sich selbst in spezifischer Weise zu behaupten – und eben nicht mehr auf die vergangenen Diskussionen eingehen zu müssen. Damit bestünde auch die Möglichkeit, das Verhältnis von Empirie und Theoriebildung in der Kultursoziologie genauer zu problematisieren und nicht einfach die älteren Defizite anzuprangern. [26]

Als zweiter Teil des Fazits gilt es nochmals, das Ziel des Sammelbandes zu betrachten. Hier muss in Bezug zu dem Anliegen der Herausgeber*innen kritisch eingewendet werden, dass ein wirklicher methodologischer Turn vielleicht angekündigt, aber zumindest mit diesem Band und in der Form noch nicht eingelöst wird. Es bleibt vielmehr bei ersten Hinweisen und Beispielen für ein mögliches Wechselspiel zwischen Empirie und Theoriebildung. Als Anleitung für ein eigenes Forschen (was durchaus ein Anliegen von Nachwuchswissenschaftler*innen im Bereich Kultur sein könnte) funktioniert der Sammelband nicht. Eine wirkliche methodologische Präzisierung müsste nochmals an anderer Stelle und in klarer aufgeschlüsselter Weise präsentiert werden. Auch hierbei könnten die Mitglieder des Netzwerks der empirischen Kultursoziologie vielleicht selbst noch aktiver werden – denn es sind nicht zuletzt deren Beiträge "Zum Verhältnis zwischen Empire und kultursoziologischer Theoriebildung", die in ihrem methodologischen Ansatz zu überzeugen vermochten. [27]

Anmerkungen

1) EULITZ und LEISTNER beziehen sich mit der Formulierung des "Große[n], Grundsätzliche[n] und Ganze[n]" auf den Sammelband "Kultursoziologie im 21. Jahrhundert" (FISCHER & MOEBIUS 2014a), der zur erwähnten, gleichnamigen Sektionstagung der Kultursoziologie herausgegeben wurde. FISCHER und MOEBIUS referieren in der Einleitung dieses älteren Sammelbandes auf REHBERGs Idee der weiten Implikationen der Kultursoziologie. Das Fach soll immer eine "Rückbindung (...) an den jeweiligen sozialen Gesamtzusammenhang" aufzeigen (REHBERG 2013 [1985], S.394; vgl. auch FISCHER & MOEBIUS 2014b, S.11f.). <zurück>

2) Der Begriff des "Stabhochsprungs" geht auf WOHLRAB-SAHRs Beitrag im Sammelband zurück, der zuvor bereits in Sociologia Internationalis (WOHLRAB-SAHR 2015) veröffentlicht wurde. Sie bezieht sich damit auf den Schritt – oder eben Sprung – hin von empirischen Details zu den weitreichenden Thesen der Kultursoziologie. <zurück>

3) Der Hinweis zu RECKWITZ soll vor allem die Relevanz des Anliegens des hier weiter besprochenen Sammelbandes verdeutlichen und nicht die Leistung des Werks schmälern (vgl. auch WAGNER 2018, S.527). Es ist dann auch nur passend, wenn RECKWITZ – neben Max WEBER – den verschiedensten Autor*innen im Sammelband als Quelle für ihre Überlegungen dient, insbesondere wenn es um die Definition eines Kulturbegriffs geht (RECKWITZ 2004). <zurück>

4) Diverse Kultursoziologien in einer Länderperspektive werden etwa bei Beiträgen in dem Handbuch von MOEBIUS, NUNGESSER und SCHERKE (2019) präsentiert. Für einen Überblick zur US-amerikanischen Kultursoziologie siehe ARNOLD (2019) und für die Positionen der "neuen" amerikanischen Kultursoziologie siehe SMITH (1998). In Letzterem wird das in den 1990er Jahren entstandene Programm der Cultural Sociology breiter eingeführt, während BINDERs Beitrag zu dem amerikanischen Teilgebiet im hier besprochenen Sammelband sich vor allem auf das strong program im engeren Sinne fokussiert (siehe die Besprechung von BINDERs Beitrag in Abschnitt 2.1). <zurück>

5) Diese "Scharnierstellung" zeigt sich etwa daran, dass für gewisse Strömungen der deutschen Kultursoziologie die Ideen der philosophischen Anthropologie von GEHLEN, PLESSNER und SCHELER zentral waren (REHBERG 2010, vgl. auch WOHLRAB-SAHR 2010a). <zurück>

6) Jürgen GERHARDS Werdegang war geprägt durch eine "distanzierte Nähe" zur Kölner Schule (ROOSE & RÖSSEL 2015, S.10), d.h. zu der sozialwissenschaftlichen Tradition um René KÖNIG in Köln. Diese Tradition zeichnete sich durch eine starke empirische und insbesondere quantitative Ausrichtung aus. Im Rahmen dieses Review Essays wird als Merkmal dieser von GERHARDS neu eingebrachten Richtung der Kultursoziologie ein stärkerer Fokus auf empirisches Arbeiten insgesamt genannt (und nicht etwa ein wechselnder Fokus auf quantitatives anstatt qualitatives Arbeiten). Mit dieser Lesart soll nochmals das allgemeinere Problem einer stark empirischen vs. einer lediglich theoretischen Ausrichtung der Kultursoziologie verdeutlicht werden, ohne auf die Differenzen zwischen qualitativen und quantitativen Methodologien einzugehen. <zurück>

7) SCHMIDT-LUX und WOHLRAB-SAHR (2016) leiten etwa aus vier Varianten eines Kulturbegriffs vier Verständnisse einer Kultursoziologie ab (anstelle der Präsentation der verschiedensten Verständnisse von Kultur wie etwa bei RECKWITZ 2004). Die vier Verständnisse zeigen sich als "Spektrum", "das sich zwischen einem weiteren und einem engeren Kulturbegriff (das Soziale vs. ein Feld des Sozialen), und zwischen einem abstrakteren und einem gemeinschaftlich gebundenen Kulturbegriff (Sinn vs. Erfahrungsgemeinschaft) aufspannt" (SCHMIDT-LUX & WOHLRAB-SAHR 2016, S.24). <zurück>

8) Der Begriff der "Stärke" im strong program bezieht sich erstens auf Kultur als Einflussgröße (z.B. ALEXANDER & PHILIP 2006). "Schwach" wären in diesem Verständnis dann Ansätze, die den Einfluss von Kultur im Verbund mit anderen Faktoren sehen, etwa die Idee der Distinktion der Klassen über Kulturkonsum bei BOURDIEU (2016 [1987], vgl. BINDER S.153). Mit dem strong program soll hingegen von Kultur als einem autonomen Faktor ausgegangen werden. Zweitens bezieht sich der Begriff der "Stärke" auch auf eine "starke" und damit strukturalistische (sowie funktionalistische) Interpretation von DURKHEIMs "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" (2017 [1912], vgl. BINDER S.155). Auch die Idee der binären Kodes stammt aus DURKHEIMs Werk, der zwischen dem Profanem und dem Heiligen unterscheidet. <zurück>

9) "Drawing upon the cutural theory outlined here, we suggest that Risk Society is itself a 'social fact' not in the empiricist but in the classical Durkheimian sense. (…) resting indeed on dichotomous categories of the sacred and profane and an escatalogical narrative of salvation and damnation" (ALEXANDER & SMITH 1996, S.259, meine Hervorhebung). <zurück>

10) Die Omnivorizitätsthese wird in Bezug zur Idee der Distinktion bei BOURDIEU (2016 [1987]) formuliert. Sie besagt, dass höhere Klassen sich nicht mehr durch einen Geschmack abgrenzen, der lediglich spezifische Dinge wie etwa hochkulturelle Angebote bevorzugt. Vielmehr zeige sich Distinktion bei statushöheren Personen über einen möglichst breiten Geschmack und ein vielfältiges Interesse. Die Mitglieder der höheren Klassen seien nun eben "Allesfresser" oder "Omnivore" (PETERSON & KERN 1996, S.904). <zurück>

11) Ein Beispiel für die verschiedenen Arbeiten zur Ästhetisierungsthese, die SCHÄFER in seinem Beitrag zusammenfasst, ist "Der neue Geist des Kapitalismus" von BOLTANSKI und CHIAPELLO (2003). <zurück>

12) Sowohl mit der Idee der Kontingenz als auch insbesondere mit der der kulturell vorstrukturierten Welt beziehen sich die drei Autorinnen auf Konzepte von Alfred SCHÜTZ (SCHÜTZ, GURWITSCH, LUCKMANN & GRATHOFF 1971; SCHÜTZ, SCHÜTZ, LUCKMANN & GRATHOFF 1971). <zurück>

13) Siehe hierzu auch MOEBIUS (2019, S.76), der eine praxis- und diskurstheoretische Forschung ebenfalls als eigentlichen soziologischen Teilbereich der Kultursoziologie neben den neueren Ausdifferenzierungen des Fachs festmacht. <zurück>

14) In dem Beitrag zeigt sich damit ein Verständnis von Kultur als "zweite[r] Natur des Menschen" (SCHMIDT-LUX & WOHLRAB-SAHR 2016, S.25), was dazu führt, dass diese "gleichbedeutend mit dem Sozialen" (a.a.O.) ist. Bei einem solchen Verständnis von Kultur wird es immer schwieriger, einen Unterschied zwischen Kultursoziologie und Soziologie festzumachen (siehe auch OTTE, S.76f.). <zurück>

15) Siehe für eine Übersicht zur Diskussion um die materielle Seite von kultursoziologischen Gegenständen auch RECKWITZ (2014). <zurück>

16) "Die Oper und das Ballett als 'prototypisches Beispiel klassischer Hochkultur' zu sehen ist selbst Teil einer historisch bedingten Konstruktion der Gattung" (FRANK, S.242). <zurück>

17) Siehe auch den Band von WOHLRAB-SAHR (2010b), in dem sie bereits Kultursoziologie als stärker plurales Vorhaben behandelt hat. <zurück>

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Zum Autor

Guy SCHWEGLER ist seit August 2017 am Lehrstuhl Soziologie – quantitative und qualitative Methoden von Prof. Dr. DIAZ-BONE des soziologischen Seminars der Universität Luzern tätig. Im Rahmen seines Dissertationsprojektes behandelt er die Performativität von sozialwissenschaftlicher Theorie. Neben seiner universitären Tätigkeit ist er im Vorstand des Verlags Präsens Editionen und Mitherausgeber des zweikommasieben Magazins, das gegenwärtige Musik und Sounds dokumentiert.

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Guy Schwegler

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Zitation

Schwegler, Guy (2020). Review Essay: Neue Verhältnisse? Zwei Perspektiven auf die Beziehung zwischen Empirie und Theoriebildung in der Kultursoziologie Deutschlands [27 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(1), Art. 14, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.1.3417.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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