Volume 21, No. 1, Art. 13 – Januar 2020
Qualitative Inhaltsanalyse und historische Forschung
Melanie Werner
Zusammenfassung: In diesem Artikel beschreibe ich, wie qualitative Inhaltsanalyse für ein historisches Forschungsprojekt mit einer großen Textmenge nutzbar gemacht werden kann. Ich beziehe mich hierbei exemplarisch auf das methodische Vorgehen in meiner Dissertation, in der ich das Verhältnis von frühen Theorieansätzen Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen beschreibe. Ausgehend von einem systemtheoretischen Beobachtungsstandpunkt betrachte ich diese Theorieansätze als Kommunikationssysteme, die sich mittels ihrer systemeigenen Semantik charakterisieren und vergleichen lassen. Die Systemsemantik rekonstruiere ich anhand der Verwendung der Begriffe "Volk" und "Nation" in Zeitschriften der historischen Arbeiter_innen-, Frauen- und Jugendbewegung sowie in Texten von Herman NOHL, Alice SALOMON sowie Carl MENNICKE, die als klassische Theoretiker_innen der Sozialen Arbeit gelten. Hierzu kombiniere ich die qualitative Inhaltsanalyse mit quantitativen Verfahren sowie mit Methoden zur Rekonstruktion von Begriffssemantiken. In diesem Artikel beschreibe ich Vorgehensweise, Umsetzung und Herausforderungen der Forschungspraxis.
Keywords: qualitative Inhaltsanalyse; quantitative Inhaltsanalyse; MAXQDA; historische Grundbegriffe; Metaphernanalyse; historische Semantik; Systemtheorie; soziale Bewegungen; Soziale Arbeit; Kaiserreich; Weimarer Republik
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erkenntnisinteresse
3. Qualitative Inhaltsanalyse und Systemtheorie
4. Forschungspraxis: Sinn rekonstruieren, kategorisieren und vergleichen
4.1 Der Scharnierbegriff
4.2 Auswahl der zu analysierenden Texte
4.3 Erstellung eines Kategorienbaums
5. Ausblick und Schluss
In der historischen Forschung in der Sozialen Arbeit1) wird sich überwiegend auf hermeneutische (BRACHES-CHYREK 2013; BROMBERG 2012) und diskursanalytische Verfahren (LAMPE 2017) zur Analyse vergleichsweise kleiner Textmengen gestützt. Für mein Dissertationsprojekt "Zum Verhältnis von Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen" habe ich einen anderen Zugang gewählt. Ausgehend von einem systemtheoretischen Beobachtungsstandpunkt (AKERSTRØM ANDERSEN 2003; LUHMANN 1984, 1997) verknüpfe ich Methoden zur Rekonstruktion von Begriffssemantiken (BRUNNER, CONZE & KOSELLECK 2004; KOSELLECK 2003, 2010; LUHMANN 1993, 2015 [1994]; MAASEN & WEINGART 2000) mit Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (MAYRING 2015) und beziehe eine große Textmenge in die Analyse ein (MacMILLAN 2005). Im Folgenden fasse ich zunächst mein Erkenntnisinteresse zusammen (Abschnitt 2), dann skizziere ich, warum sich Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse besonders für systemtheoretische Zugänge im Allgemeinen und für die hier verfolgte Fragestellung im Besonderen eignen (Abschnitt 3). Anschließend gebe ich einen Einblick in die Forschungspraxis und beschreibe beispielhaft, wie sich inhaltsanalytische Techniken mit der Rekonstruktion von Begriffssemantiken verbinden lassen. In der Forschungspraxis habe ich zwei Aspekte als besonders herausfordernd wahrgenommen: die Arbeit mit einer großen Menge historischer Texte sowie die Entwicklung eines Verfahrens zur Rekonstruktion von Systemsemantiken anhand eines einzelnen Begriffs. Auf diese Herausforderungen und das methodische Vorgehen generell gehe ich in Abschnitt 4 ein. Ich schließe den Artikel mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick (Abschnitt 5). [1]
In der einschlägigen Literatur werden soziale Bewegungen und Soziale Arbeit häufig miteinander ins Verhältnis gesetzt: Soziale Bewegungen werden beispielsweise als Ursprünge (KLEVE 2007), kritischer Reflexionsspiegel (BÖHNISCH 2014) oder Bündnispartnerinnen (SEITHE 2014) Sozialer Arbeit bezeichnet. Wie genau sich das Verhältnis von Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen darstellt, bleibt jedoch unbestimmt. In meiner Arbeit versuche ich, dieses Verhältnis empirisch zu erfassen. Forschungsgegenstand ist das Verhältnis der historischen Arbeiter_innenbewegung2), der bürgerlichen Frauenbewegung und der Jugendbewegung zu drei Theorieansätzen aus der Zeit der Weimarer Republik, deren Autor_innen sich explizit auf diese Bewegungen bezogen haben: die Ansätze von Carl MENNICKE, Alice SALOMON und Herman NOHL. In der Arbeit werfe ich einen Blick zurück auf den Entstehungszeitraum Sozialer Arbeit – von der Wende zum 20. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. [2]
3. Qualitative Inhaltsanalyse und Systemtheorie
Grundlage meiner Analyse sind Verbandszeitschriften der Bewegungen sowie alle Texte von MENNICKE, NOHL und SALOMON, mit denen diese ein Fachpublikum adressiert hatten. Die Texte habe ich digitalisiert und von Frakturschrift in eine Schrift umgewandelt, die mit der Software MAXQDA lesbar ist. Insgesamt umfasst das Textkorpus etwa 100.000 Seiten. [3]
Die drei sozialen Bewegungen sowie die drei Theorieansätze betrachte ich im Anschluss an LUHMANN (1997) als Kommunikationssysteme (siehe auch AHLEMEYER 1995; GROßBÖLTING 2004). Ein Kommunikationssystem lässt sich von einem anderen durch seine systemeigene Semantik unterscheiden. Im Anschluss an die historische Semantik (BESIO & PRONZINI 2010; LUHMANN 1993), die Begriffsgeschichte (BRUNNER et al. 2004; KOSELLECK 2010) und die wissenssoziologische Metaphernanalyse (MAASEN & WEINGART 2000) gehe ich davon aus, dass sich die Semantik eines Systems anhand eines einzigen Begriffes rekonstruieren lässt, wenn dieser Begriff ähnlich wie eine Metapher mehrdeutig und für das untersuchte System von besonderer Relevanz ist. Für die Fragestellung bedeutet dies, dass ein Begriff gefunden werden muss, dem unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen werden können und der in den Texten der Bewegungen und der Theorieansätze gleichermaßen zentral ist. Einen solchen Begriff, der Soziale Arbeit mit sozialen Bewegungen verbindet, bezeichne ich als "Scharnierbegriff". [4]
Methodisch scheint für ein solches systemtheoretisch fundiertes Vorgehen die qualitative Inhaltsanalyse passend: Vertreter_innen von Systemtheorie und qualitativer Inhaltsanalyse nehmen übereinstimmend an, dass die Wirklichkeit nicht als solche, sondern nur sprachlich zu erfassen ist; Untersuchungsgegenstand ist in beiden Fällen also Kommunikation (LUHMANN 2005 [1990]; MAYRING 2015; MAYRING & GAHLEITNER 2010). Als systemtheoretisch Forschende ziele ich nicht auf das Verstehen oder Verändern der Wirklichkeit, sondern lediglich auf deren Beschreibung und gehe davon aus, dass Forschungsprozess und Gesellschaft miteinander verflochten sind und es keinen neutralen Beobachtungsstandpunkt außerhalb von Gesellschaft geben kann (BESIO & PRONZINI 2010; SCHMIDT 2003). Auch MAYRING (2015) beschränkt die qualitative Inhaltsanalyse auf die Beschreibung von Kommunikationsinhalten und merkt an, dass es schlichtweg nicht möglich sei, Material vorbehaltlos zu analysieren. [5]
Wenn die qualitative Inhaltsanalyse ein Verfahren ist, um Texte zu systematisieren, d.h. zu reduzieren und zu strukturieren, und damit dem Vergleich zugänglich zu machen (STAMANN, JANSSEN & SCHREIER 2016), dann eignet sich diese Methode besonders für die hier aufgeworfene Fragestellung, weil ein einziger Begriff aus einer Vielzahl von Texten herausgelöst und in seiner Bedeutung rekonstruiert werden soll. Diese rekonstruierten Bedeutungen müssen sortiert und geordnet werden – hierzu bieten sich qualitativ inhaltsanalytische Kategorien an, die in einem Kategorienbaum3) geordnet werden können. Mit einem induktiv entwickelten Kategorienbaum systematisiere ich das Datenmaterial und filtere so eine Struktur aus dem Text (MAYRING 2015), mit der ich die Semantik des jeweiligen Systems sichtbar mache. Diese Strukturen vergleiche ich miteinander, wodurch Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Systemen beobachtbar werden. Das Verhältnis von Sozialer Arbeit (als disziplinärem Kommunikationszusammenhang) zu sozialen Bewegungen kann so beschrieben werden. Schließlich ermöglicht mir die Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse die Kombination mit quantitativen Verfahren, die benötigt werden, um aus der großen Textmenge einen geeigneten Begriff herauszufiltern (MAYRING 2001). [6]
4. Forschungspraxis: Sinn rekonstruieren, kategorisieren und vergleichen
Mein methodisches Vorgehen habe ich in vier Blöcke gegliedert: Es muss erstens ein Scharnierbegriff gefunden werden. Zweitens müssen Texte für die Analyse ausgewählt werden. In diesen Texten wird dann drittens nach dem Scharnierbegriff gesucht, seine Bedeutung rekonstruiert und in einem Kategorienbaum geordnet. Abschließend werden die drei Kategorienbäume miteinander verglichen. [7]
Zunächst habe ich eine Liste möglicher Scharnierbegriffe erstellt. Diese habe ich zum einem induktiv aus dem Textkorpus entwickelt, zum anderen aus bereits vorhandenen Begriffsgeschichten deduktiv an das Material herangetragen. Um das Verhältnis der Theorieansätze von SALOMON, NOHL und MENNICKE zur historischen Frauen-, Jugend- und Arbeiter_innenbewegung zu beschreiben, eignen sich beispielsweise abstrakte Grundbegriffe wie "Demokratie", "Jugend", "Arbeit" oder auch ein Begriff wie "Stadt". Um einen Eindruck von der Häufigkeit dieser möglichen Scharnierbegriffe zu bekommen, habe ich eine quantitative Inhaltsanalyse (FRÜH 2011) mithilfe der Software MAXQDA durchgeführt. Hierfür habe ich ein Diktionär angelegt, das mögliche Scharnierbegriffe in Einzahl- und Pluralform enthielt. ATTESLANDER (2008) merkt für moderne Texte an, dass Perfektion bei der Digitalisierung nicht zu erwarten sei und eine Fehlerwahrscheinlichkeit von 0,1% immer noch ein bis zwei Fehler pro Seite bedeute. Bei der Digitalisierung historischer Texte steigt diese Fehlerwahrscheinlichkeit erheblich an, weil die Vorlagen häufig in einem schlechten Zustand sind und die Umwandlung von Frakturschriften in moderne Schriften sehr fehleranfällig ist. In das Diktionär habe ich deshalb auch typische Übersetzungsfehler einbezogen. So wird bei der Übersetzung der Buchstabe "S" häufig mit einem "F" verwechselt – im Diktionär wurde folglich nicht nur der Begriff "Staat" aufgeführt, sondern auch die falsche Schreibweise "Ftaat". [8]
Trotz dieser Fehleranfälligkeit konnte ich mir mit der quantitativen Inhaltsanalyse einen ersten Eindruck von der Relevanz der Begriffe in den einzelnen Theorieansätze und Bewegungen verschaffen. Als Scharnierbegriffe für die weitere Analyse habe ich schließlich "Volk" und "Nation" ausgewählt. Diese werden begriffsgeschichtlich gemeinsam verhandelt, weil sie "[...] anhaltende Gemeinsamkeiten der Semantik [...]" (KOSELLECK 2004, S.144) aufweisen. Die Auswahl der Begriffe erfolgte aufgrund von vier Überlegungen: Erstens sind die Begriffe wegen der Buchstabenkombination in der Konvertierung wenig fehleranfällig. Sie sind zweitens besonders "inhaltsleere Begriffe", haben kein empirisches Äquivalent und sind ein reines Konstrukt, also eine Idee, die im 19. Jahrhundert in weiten Teilen an die Stelle von Religion trat (ANDERSON 2016; LUHMANN 1984). Sie kommen – drittens – in allen Systemen besonders häufig vor. Schließlich weisen sie – viertens – eine inhaltliche Nähe zu Sozialer Arbeit und sozialen Bewegungen auf: Wer die Begriffe "Volk" und "Nation" verwendet, wird beantworten müssen, wer zum Volk dazu gehört und was das Volk zusammenhält. Mit den Begriffen "Volk" und "Nation" können folglich Fragen von Inklusion und Integration in besonderer Weise gefasst werden. Diese Fragen sind sowohl für Soziale Arbeit als auch für soziale Bewegungen grundlegend. Mit diesen Scharnierbegriffen ist festgelegt worden, wonach im Text gesucht werden soll. [9]
4.2 Auswahl der zu analysierenden Texte
Nun musste das Textkorpus auf ein Kernkorpus eingeschränkt werden, das nur die Texte umfasst, die für die Entwicklung induktiver Kategorien vielversprechend erschienen. Dies sind zum einen Texte, in denen die Scharnierbegriffe besonders häufig vorkommen (MACMILLAN 2005). Hierzu habe ich eine lexikalische Wortsuche in MAXQDA durchgeführt. Die Ergebnisliste habe ich manuell korrigiert und überarbeitet. Diese Treffer habe ich in Relation zur jeweiligen Artikellänge gesetzt und konnte so die prozentualen Häufigkeiten der Begriffe "Volk" und "Nation" in Artikeln und Büchern errechnen. Die Auswahl der zu analysierenden Texte über die Häufigkeit der Scharnierbegriffe zeigte sich als sehr erfolgreich. Ich konnte so Texte aufspüren, in denen sich die Autor_innen explizit oder implizit mit den Begriffen auseinandersetzen. Zum anderen habe ich Texte ausgewählt, die aufgrund von Titel, Überschriften oder auffälligen Wortkombinationen für die Fragestellung besonders bedeutsam erschienen: So trägt ein Hauptwerk SALOMONs den Titel "Die deutsche Volksgemeinschaft" (1922) und in der Arbeiter_innenbewegung findet sich ein Aufsatz von Karl KAUTSKY mit dem Titel "Nationalität und Internationalität" (1908). Auf spannende Begriffskombinationen bin ich außerdem durch die Worthäufigkeitssuche in MAXQDA gestoßen, beispielsweise auf die Begriffe "Volksdichte", "Schmarotzervolk" oder auch "Nationensplitter". Auch hier hat sich ein Blick in den jeweiligen Originaltext gelohnt, der dann ggf. in das Kernkorpus aufgenommen wurde. Das Kernkorpus habe ich als offenes Textkorpus konzipiert, so konnte ich weitere Texte aus dem Gesamtkorpus, aber auch neue Texte hinzuziehen. So wird sich in zahlreichen Artikeln der Arbeiter_innenbewegung auf das Buch "Nation und Staat" von Karl RENNER (1918) bezogen, welches ebenfalls in das Kernkorpus aufgenommen wurde. [10]
4.3 Erstellung eines Kategorienbaums
Aus dem Kernkorpus habe ich nun die relevanten Textstellen, in denen die Begriffe "Volk" oder "Nation" vorkamen, herausgefiltert. Hierzu habe ich die lexikalische Suche in MAXQDA genutzt. Ich habe so viel Kontext einbezogen, wie für das Verständnis der Textstelle notwendig war. Aus diesen Textstellen habe ich induktiv einen Kategorienbaum entwickelt. MAYRING (2015) schlägt zur induktiven Kategorienbildung Techniken der zusammenfassenden Inhaltsanalyse vor. Für ein systemtheoretisch fundiertes Vorgehen scheint mir jedoch die Suche nach Gegenbegriffen gewinnbringender. Aus einer systemtheoretischen Logik lässt sich die Bedeutung eines Begriffes durch seinen Gegenbegriff entschlüsseln: Wenn etwas bezeichnet wird, muss es von etwas anderem unterschieden werden, "gerade deshalb ist es wichtig, Unterscheiden und Bezeichnen als die beiden Komponenten der Beobachtung sorgfältig auseinanderzuhalten" (KNEER & NASSEHI 2000, S.97). [11]
Um dieses Verfahren beispielhaft darzustellen, beziehe ich mich im Folgenden nur auf das Textkorpus zu SALOMON. Im "Leitfaden der Wohlfahrtspflege" findet sich beispielsweise folgende Textstelle: "Die Wohlfahrtspflege soll dem Einzelnen die bestmögliche Entwicklung seiner Persönlichkeit und dadurch der Gesamtheit die höchstmögliche Steigerung der Volkskraft gewährleisten" (SALOMON & WRONSKY 1928, S.5). Was bedeutet "Volkskraft" in diesem Textausschnitt? Oder systemtheoretisch gesprochen: Welcher Sinn wird im Begriff "Volkskraft" aktualisiert? SALOMON und WRONSKY sprechen im hier vorgestellten Textausschnitt von der "Volkskraft" als Ziel der Wohlfahrtspflege, der Gegenbegriff wäre das "schwache Volk" oder auch die "Volksschwäche"; beide Gegenbegriffe verweisen auf das Fehlen von Widerstandsfähigkeit und Leistungsfähigkeit des Volkes. In einem anderen Zusammenhang könnte die "Volkskraft" aber auch als die Gesamtheit der im Volk arbeitenden Kräfte verstanden werden oder eine Ursache für eine bestimmte Beobachtung im Volk bezeichnen. Mit dem Gegenbegriff unterscheide ich das Bezeichnete vom Nicht-Bezeichneten und entschlüssele damit seine Bedeutung. [12]
Nicht immer haben sich mir die Gegenbegriffe sofort erschlossen. In diesem Fall habe ich als Zwischenschritt die von MAYRING (2015) vorgeschlagene Selektion und Paraphrasierung durchgeführt: Ich habe die Textstelle auf eine einzige Aussage reduziert ("Die Wohlfahrtspflege zielt auf die Kräftigung des Volkes") und hierzu eine Gegenaussage formuliert ("Die Wohlfahrtspflege führt zur Schwächung des Volkes"). Wenn ich mehrere Gegenbegriffe gefunden habe, habe ich auch mehrere Kategorien gebildet. [13]
Rekonstruierte Bedeutungen habe ich dabei wie Kategorien behandelt und ggf. in Oberkategorien zusammengefasst. So habe ich aus dem Material schrittweise einen Kategorienbaum entwickelt, bis keine neuen Textstellen mehr hinzugekommen sind und der Kategorienbaum als "gesättigt" gelten konnte. Es folgte eine inhaltliche Strukturierung (a.a.O.), in der ich den Kategorienbaum an das Kernkorpus herangetragen und Textstellen den einzelnen Kategorien zugeordnet, also kodiert habe. Auch in diesem Schritt war das Bilden neuer Kategorien, das Subsumieren und Ausdifferenzieren des Kategorienbaums, noch möglich. [14]
Im Zuge der Auswertung wurde deutlich, dass manche Begriffe häufig gemeinsam genannt werden: So nutzt SALOMON der Begriff der "Volkskraft" oft zusammen mit dem Begriff der "Volksgesundheit" oder der "Volkskrankheit". Diese Begriffe scheinen also semantisch zusammenzugehören. Das komplette Textkorpus konnte nun nach diesen Bedeutungseinheiten durchsucht werden. Mit MAXQDA habe ich beispielsweise nach Textstellen gesucht, in denen "Volkskraft" und "Volksgesundheit" in einem Absatz vorkommen. So konnte das Kernkorpus erweitert werden. Das Kernkorpus zum Theorieansatz von SALOMON umfasste zunächst zwölf einschlägige Quellen, in denen 605 Mal die Bedeutung der Begriffe "Volk" und "Nation" entschlüsselt wurde. Durch die Erweiterung des Textkorpus konnten über 100 Quellen einbezogen werden, in denen weitere 659 Kodierungen vorgenommen wurden. Dies führte zur Verfeinerung des Kategorienbaums, zudem konnten die einzelnen Kategorien in ihrer Bedeutung so besser eingeschätzt werden. Aus SALOMONs Theorieansatz konnte ich schließlich vier semantische Felder herausarbeiten, die den Oberkategorien des Kategorienbaums entsprechen: eine nationalökonomische, eine kulturelle, eine demokratische und eine utopische Semantik. Unter der Oberkategorie "nationalökonomische Semantik" finden sich beispielsweise die Unterkategorien "das Volk als Bedürfnisgemeinschaft", "das arbeitende Volk", "das produzierende Volk" oder das "ökonomisch unabhängige Volk", die sich auf die Ebene der Begriffsverwendungen beziehen. [15]
Mithilfe dieses Verfahrens, das ich hier beispielhaft anhand des Textkorpus zu SALOMON beschrieben habe, werde ich im weiteren Fortgang der Studie die Systemsemantiken der Arbeiter_innen-, der Frauen- und Jugendbewegung sowie der theoretischen Ansätze von NOHL und MENNICKE rekonstruieren. Die Semantik der Systeme werde ich durch die qualitativ inhaltsanalytischen Kategorienbäume sichtbar machen, die dann miteinander verglichen werden können. Mit dieser Komparatistik kann ich das Verhältnis von Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen am Beispiel der Begriffe "Volk" und "Nation" beschreiben. [16]
Die Rekonstruktion von Semantiken ist weder in den Geschichts- noch in den Sozialwissenschaften ein neues Vorgehen: LUHMANN (1993, 2015 [1994]) hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass sich mit der Gesellschaftsform auch die Sprache verändert. Während MAASEN und WEINGART (2000) Bedeutungsverschiebungen von Begriffen in verschiedenen Systemen nachzeichnen, beschreiben BRUNNER et al. (2004) deren Veränderung im Zeitverlauf. Diesen drei Ansätzen ist ein vierter hinzuzufügen: die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Systemen. Hierzu ist es notwendig, die Systemsemantik "sichtbar" und vergleichbar zu machen. Mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse können einzelne Elemente aus einer Vielzahl von Texten extrahiert, sortiert und relationiert werden (STAMANN et al. 2016). Wird die Strategie zur Kategorienbildung angepasst (SCHREIER 2014), wie im Beispiel durch die Suche nach Gegenbegriffen, so lässt sich die qualitative Inhaltsanalyse systemtheoretisch fundieren. Liegen die Texte digitalisiert vor, kann die qualitative Inhaltsanalyse mit Verfahren der quantitativen Inhaltsanalyse und der lexikalischen Wortsuche kombiniert werden. Hier sind auch andere Verfahren des Data Mining denkbar (WALDHERR et al. 2019). In der Forschung mit analogen Quellen muss das Textkorpus aus Ressourcengründen zwangsläufig beschränkt werden. Dann stellt sich die Frage, welche Quellen ein- und welche ausgeschlossen werden sollen (JUNG 1994; SCHULTZ 1979; TEUBERT 1994). Diese Frage muss zunächst inhaltlich beantwortet werden, sie lässt sich aber durch die Digitalisierung der Quellen ein Stück weit relativieren, weil so das Textkorpus ausgeweitet werden kann. [17]
1) Unter "Sozialer Arbeit" verstehe ich eine Profession und eine akademische Disziplin. Hingegen schließt der Begriff "soziale Arbeit" auch ehrenamtliche, nicht-professionelle Arbeit ein. <zurück>
2) Der Begriff "Arbeiter_innenbewegung" umfasst Männer und Frauen, die sich dieser Bewegung zugehörig fühlen. Dazu gehört die proletarische Frauenbewegung, deren Mitglieder sich eher der Sache der Arbeiter_innen als der Sache der Frauen verpflichtet sahen. <zurück>
3) Um theoretische und methodische Begrifflichkeiten zu trennen, spreche ich in einem systemtheoretisch fundierten Forschungsdesign von einem "Kategorienbaum", nicht von einem "Kategoriensystem". <zurück>
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Melanie WERNER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln und Stipendiatin im Mathilde-von-Mevissen Programm. Sie promoviert zurzeit zum Verhältnis von frühen Theorieansätzen Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen an der Leuphana Universität Lüneburg.
Kontakt:
Melanie Werner
TH Köln
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Ubierring 48
50678 Köln
Tel.: +49 221/8275-3627
E-Mail: melanie.werner@th-koeln.de
URL: https://www.th-koeln.de/personen/melanie.werner/
Werner, Melanie (2020). Qualitative Inhaltsanalyse und historische Forschung [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(1), Art. 13, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.1.3419.