Volume 21, No. 2, Art. 2 – Mai 2020



Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Methodische Reflexion zeitsoziologischer Analysen in Mehr-Generationen-Familieninterviews

Nicole Burzan

Zusammenfassung: Auf der Basis ausgewählter, insbesondere für biografische Zugänge fruchtbarer Zeitdimensionen werden in diesem Beitrag an einem Fallbeispiel aus der eigenen Forschung – methodisch anhand von Familieninterviews mit mehreren Generationen – zunächst zwei Fragen ausgelotet. Erstens wird exemplarisch gezeigt, wie sich durch die heuristische Berücksichtigung zeitlicher Dimensionen Aufschlüsse über zentrale Linien der Forschungsfrage – zur Statusreproduktion in Familien – erzielen lassen. Zweitens wird nachgezeichnet, wie familiale Zeitbezüge im Interview durch die Beteiligten überhaupt erst ausgehandelt bzw. hergestellt werden. Im darauffolgenden Schritt wird über das Beispiel hinaus diskutiert, welche spezifischen Möglichkeiten und Grenzen zeitsoziologischer Analyse Familieninterviews im Vergleich zu anderen Erhebungsverfahren qualitativer verbaler sowie nonverbaler Daten insbesondere, aber nicht ausschließlich im biografischen Kontext aufweisen.

Keywords: Zeit; Zeitkonstruktion; Biografieforschung; Familieninterviews; Statusreproduktion

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Fallbeispiel Teil I: Zeitbezüge als Schlüssel zur Forschungsfrage

3. Fallbeispiel Teil II: Die Herstellung von Zeitbezügen in der sozialen Interaktion des Interviews

4. Familieninterviews als Datenbasis für zeitsoziologische Analysen

5. Schluss

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einführung

Die Biografieforschung enthält in ihrem Kern zeitliche Dimensionen. So schreibt etwa ROSENTHAL (2014, S.515) zur Charakterisierung biografischer Fallrekonstruktionen:

"Einerseits wird versucht, die Chronologie der biographischen Erfahrungen im Lebensverlauf und deren Bedeutungen für den Biographen zu rekonstruieren. Andererseits wird die zeitliche Struktur der Lebenserzählung analysiert, d.h. der Frage nachgegangen, in welcher Reihenfolge, in welcher Ausführlichkeit und in welcher Textsorte die BiographInnen ihre Erfahrungen ... präsentieren." [1]

Aus soziologischer Perspektive ist Zeit ein soziales Konstrukt, das in einem engeren oder weiteren Sinne gefasst sein kann. Im engeren Sinne richtet sich soziale Zeit auf zeitliche Ordnungen des Zusammenlebens von Menschen (Koordination, Zeitnormen etc.); im weiteren Sinne wird thematisiert, dass auch etwa objektivierte Zeitregelungen (s. etwa die Diskussion um die Revidierung der mitteleuropäischen Sommerzeit) oder psychisches Zeiterleben sozial fundiert und veränderbar sind. Insofern ist zu reflektieren, dass Vorstellungen von Zeit in der Moderne beispielsweise als linear, als objektiv oder als gestaltbare (ökonomische) Ressource nicht universal sind und dass mit Zeitaspekten hierarchische Ordnungsvorstellungen einhergehen (vgl. im Überblick SCHÖNECK 2009, Teil I). Mit der Diagnose einer umfassenden Beschleunigung (ROSA 2005) wird Zeit sogar als hervorgehobenes Element moderner Gesellschaften generell charakterisiert. [2]

Nimmt man nun genauer in den Blick, welche Zeitaspekte in der Biografieforschung relevant sind1), so sind insbesondere die folgenden Unterscheidungen hervorzuheben:

Vor dem Hintergrund dieser ausgewählten, insbesondere für biografische Zugänge fruchtbaren Zeitdimensionen werden im Beitrag im Folgenden an einem Fallbeispiel aus der laufenden eigenen Forschung – methodisch anhand von Familieninterviews mit mehreren Generationen, die biografische und familiengeschichtliche Erzählungen beinhalten – zunächst zwei Fragen thematisiert. Erstens wird exemplarisch gezeigt, wie sich durch die heuristische Berücksichtigung dieser zeitlichen Dimensionen Aufschlüsse über zentrale Linien der Forschungsfrage erzielen lassen (Abschnitt 2). Zweitens wird nachgezeichnet, wie familiale Zeitbezüge im Interview durch die Beteiligten überhaupt erst ausgehandelt bzw. hergestellt werden (Abschnitt 3). Das Ziel ist es, hier exemplarisch zu veranschaulichen, wie zeitbezogene Aspekte empirisch für die Analyse fruchtbar gemacht werden können (es geht hingegen nicht um eine abgeschlossene theoretische Verknüpfung von Zeitaspekten und der inhaltlich hier interessierenden intergenerationalen Statusreproduktion). Im darauffolgenden Schritt wird über das Beispiel hinaus diskutiert, welche spezifischen methodischen Möglichkeiten und Grenzen zeitsoziologischer Analyse Familieninterviews im Vergleich zu anderen Erhebungsverfahren qualitativer verbaler sowie nonverbaler Daten insbesondere, aber nicht ausschließlich im biografischen Kontext aufweisen (Abschnitt 4). [4]

In dem Forschungsprojekt3), aus dem das hier genannte Beispiel stammt, geht es um die Frage, wie Familien der Mittelschicht in verschiedenen Berufsfeldern ihren Status über Generationen hinweg reproduzieren (wollen). Vor dem Hintergrund einer Diskussion um Erosionen in der gesellschaftlichen Mitte (u.a. durch zunehmende Prekarisierungsrisiken oder etwaige Verunsicherungen, vgl. z.B. BURKHARDT, GRABKA, GROH-SAMBERG, LOTT & MAU 2013; BURZAN, KOHRS & KÜSTERS 2014; SCHÖNECK & RITTER 2018) wird u.a. untersucht, inwiefern im Zuge sozialen Wandels, etwa von Veränderungen der Erwerbsarbeit oder Individualisierungsprozessen, handlungsleitende Prinzipien und Werte stabil geblieben sind oder sich verändert haben. Verglichen werden kann in den Familieninterviews dabei der bereits erfolgte Übergang von der älteren zur mittleren Generation, deren Angehörige im fünften oder sechsten Lebensjahrzehnt schon wichtige biografische Entscheidungen getroffen haben, mit dem Übergang zur jüngeren Generation, die sich zum Zeitpunkt des Interviews in der Regel noch in der Bildungs- oder Berufseinstiegsphase befindet. Generationsspezifische Trajektorien (BOURDIEU 1987 [1979], S.187ff.) im Sinne sozialer Laufbahnen, die in (kollektive) Verläufe des sozialen Auf- oder Abstiegs anderer Akteur/innen eingebettet sind, werden hier thematisiert. [5]

Die genannten Zeitdimensionen sind bei dieser Forschungsfrage zentral, insofern es etwa darum geht, im Rückblick Zäsuren zu setzen bzw. Phasen einzuteilen, die "Gegenwart" zu bestimmen und für die nähere oder weitere Zukunft z.B. vage Ideen oder konkrete Pläne zu entwickeln (gerade Angehörigen mittlerer sozialer Lagen wurde in den letzten Jahrzehnten oft eine vorausschauende Planung ihres Lebens zugeschrieben; vgl. BURZAN 2017; HRADIL & SCHMIDT 2007). Dabei stehen solche Zeitkonstruktionen der Familienmitglieder angesichts unterschiedlicher Zeithorizonte der Generationen in einem komplexen Zusammenhang. Auch ein Vergleich zwischen "früher" und "heute" mit Bezug auf Kontinuitäten wie auch auf (gesellschaftliche) Veränderungen ist für die Thematik konstitutiv. Methodisch werden Mitglieder aus drei Generationen einer Familie (d.h. mindestens drei bis ca. sechs Personen) befragt und gebeten, ihre Familiengeschichte mit den entsprechenden Bildungs- und Berufswegen zu erzählen, wobei meist Vertreter/innen der ältesten Generation beginnen. Es findet kein reines Nacheinander der Darstellungen nach dem Alter der Familienmitglieder statt, sondern diese variieren je nach der Dynamik des Gesprächs, und die Teilnehmenden adressieren sich teilweise auch gegenseitig. Innerhalb dieses erzählgenierenden Parts und/oder im Anschluss werden zudem weitere Themen eines Leitfadens (mit den Kernthemen Bildung, Arbeit und Familie, z.B. Familientraditionen) angesprochen.4) Für die Auswertung werden kategorisierende und hermeneutische Verfahren genutzt.5) [6]

2. Fallbeispiel Teil I: Zeitbezüge als Schlüssel zur Forschungsfrage

Das Fallbeispiel stammt aus einem der drei Berufsfelder, die im Projekt in den Blick genommen werden, und zwar Unternehmensfamilien im Handwerk.6) Im etwa dreistündigen Interview sprechen zwei Interviewerinnen mit fünf Mitgliedern einer Familie, die einen eigenen Betrieb in der Kraftfahrzeugbranche besitzt. Der mittlerweile verstorbene Mann der älteren Generation hat die Firma in den 1960er Jahren gegründet, sein Sohn hat sie als Meister zusammen mit seiner Schwester übernommen. Dieser Sohn ist verheiratet (seine Frau ist ebenfalls in der Administration des Betriebs tätig), das Paar hat zwei Töchter im Alter von 18 und 21 Jahren. Am Interview nehmen die drei Personen der mittleren Generation (Anfang 50) teil, außerdem die beinahe 80jährige Mutter der Firmeninhaber/innen, die nach wie vor im Büro des Betriebs mithilft, sowie die ältere Tochter aus der jungen Generation. Wer zur Familie gehört, wird nicht durch das Forschungsteam (z.B. durch Verwandtschaftsgrade) vorgegeben, sondern im Wesentlichen durch die am Interview Teilnehmenden durch ihre Anwesenheit oder das Sprechen über weitere Angehörige festgelegt (im Sinne eines "Doing Family"; vgl. JURCZYK, LANGE & THIESSEN 2010). [7]

Zunächst wird am Beispiel des Interviewanfangs gezeigt, wie sich durch die Berücksichtigung zeitlicher Dimensionen Aufschlüsse über zentrale Linien der Forschungsfrage ergeben. Die Interviewerin bittet die Vertreterin der älteren Generation mit der Familiengeschichte zu beginnen. Diese zeigt zuerst eine Irritation angesichts der Frage: "Ja, wie fang ich am besten an?" Ihr Sohn erwidert: "Am Anfang." Und dann beginnt sie bei der Vorgeschichte der Unternehmensgründung, somit konsequenterweise mit ihrem Mann, der als junger Erwachsener in die Region kam, nach einer Lehre die Meisterprüfung absolvierte und sich selbstständig machte. Interessant ist, dass zwar die Mutter letztlich entscheidet, an welchem Punkt sie die Familien- (und das heißt hier zugleich: Unternehmens-) Geschichte beginnen lässt, doch ihr Sohn ergänzt bereits in dieser Anfangspassage bzw. führt die Darstellung teilweise fort, mithin über Zeiten, in denen er selbst noch nicht geboren oder ein kleines Kind war. Als Analysekategorie kann hier "Deutungshoheit über die erzählte Zeit" identifiziert werden. Die Kategorie richtet sich auf die Gesprächsstruktur (nicht auf die zeitliche Struktur der Ereignisse) und gibt Anlass für eine Hypothese, die sich im Verlauf der weiteren Analyse bestätigt, nämlich dass der Sohn eine ausgeprägte Autorität in der Familie besitzt und damit (tendenziell) die Rolle seines Vaters übernommen hat; somit verweisen hierarchische Aspekte der Zeitstrukturierung auf Beziehungsmuster innerhalb der Familie generell. [8]

Im Gespräch geht es inhaltlich weiter mit der Lebenszeit der Familienangehörigen in den 1960er und 1970er Jahren. Der Firmengründer wird als erfolgreicher Planer und Entscheider dargestellt. Im Gegensatz dazu berichtet seine Ehefrau von sich selbst weniger, und auch nichtberufliche Familienereignisse wie die Geburt der Kinder werden nur nebenbei erwähnt. Auch hier ist es für die Analyse hilfreich, die Inhalte mit einer auf Zeit bezogenen Kategorie zu fassen, und zwar mit der Kategorie "(hergestellte) Kontinuität" in der Familien- und das meint hier insbesondere Unternehmensgeschichte. Diese wird aus heutiger Sicht durchaus nicht allein positiv gewertet. Während die Ehefrau im Rückblick bewundernd von ihrem Mann und seinem unternehmerischen Geschick spricht, flankierend aber auch erwähnt, dass Glück dazu beigetragen habe, den Betrieb zunehmend zu vergrößern, nennt ihr Sohn als negative Seite seiner Kindheit, dass sich alles immer nur um Arbeit gedreht habe. Diese Deutungen stehen eher nebeneinander, da sie in diesem Fall generationentypische Perspektiven spiegeln. Beide Perspektiven stimmen allerdings darin überein, dass der Firmengründer das mit dem Betrieb eng verknüpfte Familiengeschehen bestimmte und plante. Es liegt eine (auch von der Schwester bestätigte) familiale Konsistenz im Hinblick auf diese Kontinuitätskonstruktion vor. [9]

Als dritte Kategorie für diesen Interviewbeginn schließlich kann als Sichtweise der Kinder auf diese konsequente Planung ihres Vaters "dem Lebensplan eines anderen folgen" identifiziert werden. Wiederum ist damit ein Aspekt der (hier: fehlenden) Zeitautonomie angesprochen, diesmal auf die erlebte Lebenszeit bezogen. Beide Kinder der mittleren Generation haben ihren beruflichen Weg als "vorbestimmt" erlebt; angesichts der Dominanz des Vaters und der frühen Sozialisation in den Betrieb, der zudem direkt neben der Wohnung lag, sahen sie "keine Chance" für Alternativen. Während der Sohn sich an einer Stelle zu der Äußerung hinreißen lässt: "Mann, was haben wir eine Scheißkindheit gehabt" – auch wenn er dies nach allgemeinem Lachen sofort relativiert: "Nein, so schlimm war es ja nicht" –, folgt dann später eine gewisse nachträgliche Legitimation: "Und je älter man ja dann eben wird, ja, sagt man 'Menschenskinder, er [der Vater] hat natürlich in vielen Sachen einfach Recht gehabt', ne?" Diese Einsicht bekam er allerdings erst als Erwachsener, d.h. mit zunehmender Lebenserfahrung und der Erkenntnis, dass die väterliche Planung positive Effekte gehabt habe. In der Erzählung zeichnet der Sohn nun seine sich wandelnden Sichtweisen als Kind und dann später als Erwachsener nach. [10]

Zeitbezüge finden sich im Interview somit über die Darstellung eines Ablaufs von Lebenszeit, wie er durch die Eingangsfrage der Interviewerin evoziert wird, hinaus. In den Kategorien der hergestellten Kontinuität und der Befolgung eines Lebensplans eines anderen kommt – insbesondere in Bezug zur ersten eingangs genannten Zeitdimension (Unterscheidung von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) – zum Ausdruck, dass eine spezifische – weitgehend lineare – Deutung der bisherigen Familiengeschichte kollektiv gestützt wird und dass dafür auch individuelle Umdeutungen der Vergangenheit vorgenommen werden, insofern der Sohn (der mittleren Generation) darstellt, den Sinn der väterlichen Planung später erkannt zu haben.7) Die Kategorie der Deutungshoheit über die erzählte Zeit weist auf hierarchische Zeitkonstruktionen in ihrer Relation zu spezifischen Familienbeziehungen hin. [11]

Wie lässt sich mithilfe dieser Zeitbezüge nun die Forschungsfrage weiter erschließen, in der es mit Mustern der intergenerationalen Statusreproduktion ebenfalls um ein zeitliches Phänomen geht? Im Kontext auch weiterer Analysen kann zum ersten Generationenübergang gesagt werden: Der Vater gilt in der Familie als Firmengründer als "Macher" der Statuskontinuität – intragenerational, weil er konsequent Pläne verfolgte, den Betrieb schrittweise vergrößerte und auf wirtschaftlich gute Bedingungen dafür traf (was auf die gesellschaftliche Zeit verweist), intergenerational, weil er seinen Kindern mit dem Betrieb den Boden für ihre Mitarbeit und später Nachfolge bereitete. Dies war allerdings mit einer starken Autorität verbunden, den Kindern keine Wahl zu lassen, sondern sie schon früh – gestützt durch die räumliche Nähe von Wohnhaus und Betrieb – einzubinden und später die entsprechende Qualifizierung einzufordern. Für die Generation seiner Kinder hieß das, sich in einen vorbereiteten Lebensweg einzufügen, das gemachte Nest nicht nur zu nutzen, sondern in ihrer Wahrnehmung eher nutzen zu müssen. Dabei wurde der Sohn jedoch auch auf seine Rolle als Meister und späterer Vorgesetzter vorbereitet, die er zum Zeitpunkt des Interviews zudem bereits mehrere Jahrzehnte innehatte, sodass seine gegenwärtige Autorität über Entscheidungen zur erzählten Zeit dazu nicht im Widerspruch steht. [12]

Bisher wurde der Nutzen zeitlicher Bezüge zur Beantwortung der Forschungsfrage herausgestellt. Über den konkreten Gegenstand hinaus lässt sich zudem festhalten, dass einige Charakteristika von Zeitbezügen als analytische Kategorie dadurch noch einmal an Komplexität gewinnen, dass sie im Familieninterview (und nicht im Einzelinterview) vorkommen. Bereits im biografischen Einzelinterview hat es einen Erkenntniswert, beispielsweise zu berücksichtigen, welche Lebensphasen der oder die Befragte mehr oder weniger ausführlich bzw. gar nicht thematisiert, in welcher Reihenfolge (chronologisch oder nicht) und an welchem Punkt die Lebensgeschichte ansetzt. Im Familieninterview kommt hinzu, dass ebenfalls auszuwerten ist, inwieweit Aspekte der Familiengeschichte (die nicht jeweils alle Mitglieder persönlich erlebt haben können) übereinstimmend oder unterschiedlich dargestellt werden. Im obigen Beispiel berichteten etwa die Frau und die Kinder des Firmengründers sich gegenseitig verstärkend, dass dieser einem Plan gefolgt sei. Solche Darstellungen im Konsens/Dissens müssen sich nicht allein auf die Vergangenheit beziehen, sondern können sich auch auf andere Zeitdimensionen richten, etwa die Weite und Tönung der Zukunftsperspektive (z.B. im Hinblick auf den Familienbetrieb) oder auf Prozesse sozialen Wandels und Zeitnormen, die Einschätzungen und Einordnungen zugrunde liegen. Wie viel Dissens eine Familie (bzw. ihre Präsentationsfassade) dabei "aushält", die sich z.B. nicht als zerstritten oder fragmentiert inszenieren möchte, ist eine empirisch offene Frage. Ein anderer Effekt bei der Analyse von Familieninterviews besteht darin, wer entscheidet, über welche Zeit wie erzählt wird, welche Prozessdarstellungen abgebrochen werden etc. (s. die Analysekategorie: Deutungshoheit über die erzählte Zeit). Auch dies ist ein Aspekt, der im Einzelinterview allein zwischen Befragten und Interviewer/in ausgehandelt wird. Inwiefern ein Verständnis des Interviews als soziale Interaktionssituation die Analyse vertiefen kann, zeigt im folgenden Abschnitt ein weiterer Aspekt des Fallbeispiels. [13]

Zusammenfassend lassen sich die exemplarisch herausgearbeiteten Bezüge zwischen Zeit- und Statusreproduktionsaspekten wie folgt darstellen:

Kategorie

Zeitbezug

Bezug zur Statusreproduktion

Deutungshoheit über die erzählte Zeit

Zeitlichkeit der Gesprächsstruktur (Bezug: Lebenszeit) als Ausdruck von Familienhierarchien

Erfolgte Statusübernahme als Familienoberhaupt

Kontinuitätskonstruktion insbesondere der Unternehmens-geschichte

Kollektive Stützung der Einteilung insbesondere der Vergangenheit

Durch den Vater geplante (und erfolgte) Statuskontinuität (ältere -> mittlere Generation)

Dem Lebensplan eines anderen folgen

Berichteter Grad der Autonomie über die Lebenszeit

Durch den Vater geplante (und erfolgte) Statuskontinuität (ältere -> mittlere Generation)

Tabelle 1: Bezüge zwischen Zeit- und Statusreproduktionsaspekten im Interview [14]

3. Fallbeispiel Teil II: Die Herstellung von Zeitbezügen in der sozialen Interaktion des Interviews

In diesem Abschnitt werden neun Ausschnitte aus dem gleichen Familieninterview herangezogen, die sich auf die Frage nach der bislang ungeklärten nächsten Betriebsnachfolge nun ggf. an die jüngere Generation und damit auf die Zukunftsperspektiven der Familienmitglieder richten. Sowohl Kontinuität im Sinne einer Nachfolgeregelung in der Familie als auch Diskontinuität – angesichts dessen, dass keine der beiden Töchter der jungen Generation eine Qualifizierung im Kraftfahrzeugbereich anstrebt – sind bislang denkbar. Zudem verwebt sich hier die lebenszeitliche Zukunftsperspektive mit als relevant dargestellten Erfahrungen aus der Vergangenheit mit Implikationen, die die (Nicht-)Regelung bereits heute für die Alltagszeit hat, sowie mit (antizipierten) gesellschaftlichen Entwicklungen, in deren Kontext eine Entscheidung über die betriebliche Zukunft zu treffen ist. [15]

Die 21-jährige Frau der jüngeren Generation (im Weiteren: Tochter) hat nach dem Realschulabschluss eine Lehre als Fachangestellte im administrativen Bereich absolviert und ist nach wie vor in ihrem Ausbildungsbetrieb tätig. Sie möchte den Arbeitsplatz eventuell wechseln; eine Tätigkeit im Familienbetrieb kann sie sich allerdings "noch" nicht vorstellen, d.h., eine endgültige Entscheidung darüber hält sie sich offen. Die Befragte argumentiert dabei an mehreren Stellen defensiv und zeitlich vage: Bereits in Bezug auf die Vergangenheit, die Berufsfindung nach dem Schulabschluss, erwähnt sie in negativer Abgrenzung, dass es für sie nicht infrage kam, im Familienbetrieb anzufangen. Nachdem sie zunächst nicht wusste, was sie machen sollte, grenzte sie dann den Bereich "Büro" ein. Die Gegenwart beginnt quasi mit der Übernahme nach der Ausbildung; sie ist "jetzt" noch dort beschäftigt und überlegt, den Arbeitsplatz zu wechseln, um sich finanziell zu verbessern. Eine kurzfristige Entscheidung für den Familienbetrieb fände sie jedoch nach wie vor "komisch". Die weitere Zukunft wird damit thematisiert, dass sie sich, abgesehen von Aushilfen am Samstag, eine Beteiligung im Betrieb "für immer" "noch nicht" vorstellen kann. Einen Zeitpunkt oder eine Bedingung für eine mögliche Entscheidung spricht sie jedoch nicht an, sondern die Zukunft bleibt offen, sowohl im Sinne von gestaltbarer als auch von unwägbarer Zeit. Einen defensiven Beiklang erhalten die Ausführungen dadurch, dass die Befragte sich selbst mehrfach von Optionen abgrenzt, die sie "irgendwie" nicht oder noch nicht möchte (die Frage der Interviewerin lautete an der ersten Stelle allgemein "Wie ist es bei Ihnen beruflich?") und weil die Frage der Betriebsnachfolge als familialer Rahmen offensichtlich wie ein "Elefant" im Raum steht. Bei einer 21-Jährigen kurz nach ihrer Ausbildung, die nicht aus einer Unternehmensfamilie stammt, wäre es wahrscheinlich weniger legitimationsbedürftig, keine konkreten langfristigen Berufspläne zu formulieren. [16]

Ihr Vater seinerseits aktualisiert den Zeitdruck einer Entscheidung auch im Interview. Zum einen kommuniziert er dabei "über Bande", d.h. über den Umweg der Darstellung gegenüber den Interviewerinnen (vgl. HIRSCHAUER, HOFFMANN & STANGE 2015 im Kontext von Paarinterviews) und unter Nutzung unpersönlicher Ausdrücke wie "man" oder "jemand" (z.B.: "Natürlich wär' das schön, wenn hier jemand mit einsteigt, denn wir werden ja auch nicht jünger"). An einer Stelle spricht er seine Tochter zum anderen auch direkt auf eine Entscheidung an: "Denk dran, zu lange darfst Du da auch nicht warten." Der Vater nennt dabei verschiedene Zeithorizonte für eine Zäsur, vom allgemeinen es ginge "nicht ewig" so weiter bis hin zu 15 oder auch zehn Jahren (dann wären er und seine Frau/Schwester Anfang 60 und damit in der Nähe des regulären Renteneintrittsalters). Der wiederholte Hinweis auf das Älterwerden der mittleren Generation (und zusätzlich der Großmutter, deren Leistungsfähigkeit im Büro allmählich abnimmt) verknüpft hier die künftigen Lebenszeiten der Generationen in dem Sinne, dass die Lebensphasen der älteren Generationen biografische Entscheidungen der jüngeren Generation zeitlich und möglicherweise inhaltlich beeinflussen, der Umgang mit der bei den Älteren knapperen Lebenszeit den Jüngeren damit in gewisser Weise auferlegt wird. [17]

Im Interview werden nun immer wieder bestimmte Optionen als suboptimal angesprochen, unter anderem ein (Teil-)Verkauf oder eine Leitung des Unternehmens in der Familie ohne eigene fachliche Kompetenz im KFZ-Bereich, wodurch man sich von Angestellten abhängig machen würde. Auch diese Alternativen sind übrigens nicht zeitlich beliebig wählbar, so bedarf es angesichts des technologischen Wandels absehbarer Innovationen, und eine Firma mit "Investitionsstau" verkauft sich nicht gut (dieser Aspekt stellt ein Beispiel für eine im Interview hergestellte Verknüpfung des familialen Zeithorizonts mit dem Tempo gesellschaftlicher Veränderungen dar). Zudem gilt es darauf zu achten, dass die qualifizierten Angestellten sich nicht anderweitig bewerben, wenn sie die betriebliche Zukunft für unwägbar halten. Schließlich hängt die Kontinuität des Betriebs von der Gesundheit der Führungskräfte in der mittleren Generation ab. [18]

Die Familie befindet sich mit dem Nachfolgeproblem, das sie der Darstellung nach mit vielen Selbstständigen im Bekanntenkreis teilt, in einem Dilemma: Eine Familiennachfolge wäre wünschenswert – nicht zuletzt für die Statussicherung sowohl der mittleren als auch der jüngeren Generation. Doch gibt es einen zentralen Unterschied zum vorigen Generationenübergang: Es gilt nach allgemein geltenden Wertvorstellungen (und zusätzlich vor dem Hintergrund der eigenen biografischen Erfahrungen) nicht mehr als adäquat, der jungen Generation eine berufliche Laufbahn vorzuschreiben, sondern diese soll und darf – hier sind die Optionen und Zumutungen von Individualisierungsprozessen erkennbar – ihren eigenen Weg finden (s. auch STAMM 2013). Der Vater unterstreicht nachdrücklich, dass die Kinder ihre eigenen Entscheidungen treffen sollen (und an einer Stelle, die die Ambivalenz verdeutlicht, konzediert er auch, welche Last und Verantwortung mit einer Übernahme einhergingen). [19]

Dennoch schält sich, und zwar kommunikativ im Interview – vielleicht hier erstmals explizit, wenn auch scherzhaft geäußert – eine nahezu ideale Alternative heraus. Die Tochter wiederholt, dass sie sich einen Einstieg in den Familienbetrieb noch nicht vorstellen könne, jedenfalls nicht alleine. Eine innerfamiliale Option könnte eine Kooperation mit der jüngeren Schwester sein, die als "handwerklicher" gilt, derzeit am Ende ihrer Schulzeit dieser Idee jedoch ("noch") ablehnend gegenübersteht. Es ergibt sich nun folgender Gesprächsverlauf:

"Vater: Müsste dann schon irgendwie einen Partner mitbringen.

Tochter: Genau, genau.

Mutter: Musst Du einen kennenlernen.

Tochter: Müsste ich jemanden kennenlernen, der halt dann so-

Mutter: Stellenausschreibung, hätte ich fast gesagt." [20]

In dieser angedeuteten Vision eines (entsprechend qualifizierten) Beziehungspartners, der mit der Tochter zusammen die Firma fortführt, bliebe der Betrieb in der Familie. Sowohl die mittlere als auch die junge Generation sicherte sich dadurch Chancen auf den Statuserhalt, die Familie wäre nicht von Externen abhängig und dennoch kennte sich jemand im KFZ-Bereich aus. Weiterhin könnte die Tochter ihrer beruflichen Neigung zur Büroarbeit nachgehen, ohne allein Führungsqualitäten beweisen zu müssen (sie würde damit die traditionelle Arbeitsteilung ihrer Eltern fortsetzen), und die Schwester wäre von der Frage nach dem Einstieg in den Betrieb entlastet – eine in diesem Sinne ideale Lösung mit dem einzigen Nachteil, dass sie nicht steuerbar und normativ problematisch ist. Im Interview wird nichtsdestoweniger die Gelegenheit ergriffen, die Tochter scherzhaft darauf hinzuweisen. Auffällig ist, dass diese selbst dem Gedanken an einen "passenden" Partner bzw. Schwiegersohn zweimal zustimmt. Im allseitigen Aufschub einer Entscheidung über die Zukunftsplanung drückt sich möglicherweise doch der geteilte Wunsch aus, diese Zukunftsvision könnte verwirklicht werden. Für die Zukunftsperspektive der Familie als Kollektiv bedeutet dies, die vorher thematisierte Zukunftsunsicherheit und geringe Planbarkeit in der gegenwärtigen Alltagszeit aushalten zu können, solange die Vision einer Familiennachfolge (durch die Schwestern oder einer Tochter mit Partner) noch möglich erscheint. Dennoch läuft die Zeit zur Realisierung dieser Alternative unweigerlich ab. In keiner Weise wird im Gespräch übrigens thematisiert, dass eine Entscheidung der Tochter gegen einen Einstieg in den Familienbetrieb durchaus einen sozialen Abstieg für sie bedeuten könnte. Bessert auf längere Sicht gesehen nicht ein Partner das Haushaltseinkommen auf, garantiert die Tätigkeit als administrative Fachangestellte möglicherweise nicht das Einkommen und jedenfalls nicht das Berufsprestige einer mittelständischen Unternehmerin. [21]

Durch das Fallbeispiel kann gezeigt werden, wie Planungen für künftige Kontinuitäten oder Diskontinuitäten durch die Zäsur der Betriebsnachfolge innerhalb oder außerhalb der Familie nicht nur dargestellt, sondern im Interview als Interaktionssituation selbst verhandelt werden: Zum einen wird ein wahrgenommener Zeitdruck – direkt und indirekt – kommuniziert, zum anderen kommt die Aushandlung eines (vorläufigen und tendenziell defensiven) Aushaltens einer offenen Entscheidungssituation zur Zukunft des Unternehmens zum Ausdruck. Wenngleich das Interview hier möglicherweise als eine Art Katalysator wirkt, um bestimmte Argumente zu explizieren, wird doch deutlich, dass dieses Thema auch außerhalb der Interviewsituation für die Familie eine hohe Relevanz hat, bereits zuvor diskutiert wurde und als mit einem gewissen Zeitdruck versehen wahrgenommen wird. Getroffene und auch nicht getroffene Entscheidungen haben durch das Familienunternehmen dabei nicht nur statusrelevante Konsequenzen für einzelne, sondern für alle Familienmitglieder in den verschiedenen Generationen. [22]

4. Familieninterviews als Datenbasis für zeitsoziologische Analysen

Für die Biografieforschung sind Interviews (sofern keine schriftlichen autobiografischen Dokumente vorliegen) zumeist die Methode der Wahl, weil sich dadurch u.a. Zeitstrukturierungen und zeitliches Erleben ausdrücklich aus der Sicht der interviewten Personen ermitteln lassen. Welche Vor- und Nachteile weisen Interviews mit mehreren Familienangehörigen zum einen gegenüber Einzelinterviews und zum anderen gegenüber Datenerhebungen auf, die nicht in erster Linie auf verbale Daten abzielen – speziell, wenn sich das analytische Interesse auf zeitsoziologische Fragen richtet? Im Fallbeispiel wurden zeitsoziologische Aspekte zunächst insbesondere im Kontext biografischer Fragen eben der Familiengeschichte (vor dem Hintergrund im Interview relevant gemachter Bezüge zur historischen Zeit und zu Zeitnormen im Wandel8)) gesehen. [23]

Familieninterviews sind in der Sozialforschung ein eher selten verwendetes Instrument (PRZYBORSKI & WOHLRAB-SAHR 2009, S.122; Forschungsbeispiele finden sich bei WOHLRAB-SAHR, KARSTEIN & SCHMIDT-LUX 2009 oder – als Familiengespräche mit Orientierung an der Gruppendiskussion – bei HAAG 2018).9) Sie enthalten zum einen Elemente biografischer (Einzel-)Interviews (FUCHS-HEINRITZ 2009; KRUSE 2014), zum anderen solche von Gruppendiskussionen (z.B. BOHNSACK, PRZYBORSKI & SCHÄFFER 2010). Im Vergleich zur Gruppendiskussion steht die Erzählung der Familiengeschichte jedoch deutlich im Vordergrund, zudem haben die Interviewenden keine vorrangig moderierende Funktion (oder allenfalls in spezifischen Phasen des Gesprächs). Im Vergleich zum Einzelinterview kommunizieren und inszenieren sich die Teilnehmenden dabei auch in ihrer jeweiligen Familienrolle und als Familie gegenüber den Interviewenden. So werden in diesem performativen Akt Selbstthematisierung und zugleich kollektive Gemeinschaftsherstellung möglich (AUDEHM & ZIRFAS 2001, HILDENBRAND 2005; HILDENBRAND & JAHN 1988). [24]

Mit Blick auf zeitsoziologische Dimensionen lassen sich insbesondere zwei Vorteile des Familiengesprächs im Vergleich zum Einzelinterview hervorheben: Es findet ein gegenseitiger Bezug der anwesenden Familienmitglieder aufeinander statt, der durch Einzelinterviews so nicht zu erzielen ist: Ergänzungen, Entgegnungen oder unterschiedliche Sichtweisen beziehen sich nicht nur auf die Sach-, sondern auch auf die Zeitebene. Im Fallbeispiel wurde beispielsweise sichtbar, wie "früh" (gemessen an der Lebensphase, um die es inhaltlich ging, aber auch in der Interviewzeit) der Sohn sich in die Erzählung der Lebensgeschichte seiner Eltern einbringt. Er beansprucht mit seiner von der der Mutter unterscheidbaren Perspektive auf diese Phase der Familiengeschichte also eine Deutungshoheit über die zeitliche Strukturierung. [25]

Über einzelne Bezugnahmen hinaus findet eine Konstruktion familialer Zeit in situ statt. Deutet man das Interview, wie beschrieben, als Interaktionssituation, gewinnt man im Familiengespräch zugleich Beobachtungsdaten. Dies beginnt bereits damit, wie ausführlich jemand (über sich) spricht, wenn die anderen auch noch "drankommen" sollen oder schon Maßstäbe gesetzt haben. Die weiter oben ausgeführte Konstruktion einer gemeinsamen Zukunftsperspektive inklusive ihres Grades an Vagheit resp. Konkretheit ist ein weiteres Beispiel dafür. Insofern geht es auch um die Frage, ob Zeithorizonte einzelner Familienangehöriger in eine kollektive Darstellung (z.B. von Kontinuitäten) integriert werden oder ob sie als Einzelperspektiven (mit z.B. unterschiedlichen Zäsuren oder Reichweiten) im Vordergrund stehen. [26]

Wie jedes Instrument weist das Familieninterview gegenüber dem Einzelinterview jedoch auch Grenzen auf. Wiederum mit Bezug insbesondere auf Zeitdimensionen heißt dies: Im Einzelinterview sprechen Befragte möglicherweise ausführlicher über sich, äußern ggf. auch freier Kritik und abweichende Meinungen im Vergleich zu den anderen Familienmitgliedern, während Konflikte im Familiengespräch möglicherweise eher unerwähnt bleiben. Dazu gehört auch eine eigene Konstruktion von Zeit in Erzählungen (z.B. die Wahl von Reihenfolgen). Im Fallbeispiel könnte ein Einzelinterview mit der jüngsten Teilnehmerin weiteren Aufschluss über ihre Zukunftsperspektiven geben, die möglicherweise (trotz ihrer Reaktion auf den Vorschlag eines passenden Schwiegersohns) weniger zu den Familienplänen passen, als sie es im Familieninterview durch Unschlüssigkeit angedeutet hat.10) Wird also im Familiengespräch zumeist eine (mehr oder weniger geschlossene) kollektive Familiengeschichte dargestellt, ermöglichen mehrere Einzelinterviews mit Familienmitgliedern, individuelle Konstruktionen von Abläufen in ihren jeweiligen Zeithorizonten zu vergleichen. [27]

Es ist umstritten, ob Zugzwänge des Erzählens (vgl. KALLMEYER & SCHÜTZE 1977, S.162; der Detaillierungs-, Gestaltschließungs- und Kondensierungszwang) in gleichem Maße wie im Einzelinterview zum Tragen kommen (PRZYBORSKI & WOHLRAB-SAHR 2009, S.130; WIMBAUER & MOTAKEF 2017, S.106). In einem Gespräch mit mehreren beteiligten Familienmitgliedern kann man diesen Zugzwängen möglicherweise eher dadurch entgehen, indem man an andere Teilnehmende verweist, ggf. auch durch diese unterbrochen wird, begonnene Linien nicht weiterführt etc. Beispiele dafür gibt es auch in der Interaktion einer Einzelperson mit dem Interviewer/der Interviewerin, doch potenzieren sich solche Möglichkeiten im Gespräch mit vier oder mehr Personen. Dies hat u.a. Auswirkungen auf die Zeitlichkeit der Erzählung (z.B. auf die Skizzierung chronologischer Linien), aber auch darauf, über welche Zeiten berichtet oder erzählt wird. Im Fallbeispiel erzählt die älteste Beteiligte etwa nur wenig über ihre persönliche Biografie (was in der Fokussierung auf das Unternehmen Plausibilität erhält). [28]

Diese verbalen Daten, die im biografischen Kontext die subjektiven Deutungen des Erlebten und seines Kontexts zum Ausdruck bringen, sind somit bereits in sich differenziert, z.B. durch Einzelinterviews, Familiengespräche oder die damit verknüpfte kommentierte Erstellung von Genogrammen.11) Gleichwohl ist ihre Aussagekraft für Teile zeitsoziologischer Fragestellungen – speziell für die Untersuchung von Familienbiografien im Hinblick auf Statusreproduktionen – begrenzt, etwa dann, wenn es um ein (nicht stets reflektiertes) Zeithandeln in komplexen Situationen geht. Daher sind verbale Daten sinnvoll durch andere Daten zu ergänzen (vgl. z.B. zur Verbindung mit Interaktionsdaten außerhalb des Interviews KÖTTIG 2018, als Beispiel WITTE & ROSENTHAL 2007; zur Verknüpfung mit ethnografischen Beobachtungen PAPE 2018). Zudem sind methodenplurale Zugänge (BURZAN 2016; ALBER, GRIESE & SCHIEBEL 2018) hier oftmals nutzbringend einsetzbar, wenngleich eine Vielzahl an Datenerhebungen pro Person(engruppe) eine hohe Kooperationsbereitschaft der Teilnehmenden voraussetzt. Mit Rückgriff auf ELIAS' (1988 [1984]) Plädoyer zur Beachtung des Zeithandelns ist damit das "Zeiten" in Handlungszusammenhängen über Interviews hinaus empirisch erfassbar, z.B. wie Zeiten in mehr oder weniger hierarchischen Situationen kurz- oder langfristig koordiniert werden oder wie ein Zeitmanagement (z.B. die Planung einer Familienfeier) stattfindet. Daten zur Analyse solcher Phänomene können dann etwa Beobachtungsdaten (Feldprotokolle, Videoaufzeichnungen) oder Dokumente (z.B. Familienkalender und einander geschickte Nachrichten im Privatleben oder Arbeitszeitpläne und Strategiepapiere in Familienbetrieben) sein. [29]

Nonverbale Daten zu Zeitphänomenen haben gegenüber aus Interviews gewonnenen Daten somit zwei Vorzüge: Zum einen ist Zeit in komplexeren Situationen (z.B. der Lebensführung) bzw. konkreten Abläufen erfassbar, über die in Interviews ggf. allenfalls selektiv oder abstrahierend berichtet wird. Zum anderen ist für die Verbalisierung gerade der Alltagszeit in der Regel eher implizites Wissen aufzurufen (vgl. zu Zeitkulturen etwa LEVINE 1999 [1997]), was entsprechende Schwierigkeiten mit sich bringt und ggf. zu methodischen Problemen wie sozial erwünschten Ausführungen oder Ex-post-Rationalisierungen führt. So ließe sich beispielsweise auch im Familienunternehmen aus dem Fallbeispiel beobachten, wie zeitliche Koordination stattfindet oder wie selbstbestimmt und flexibel die Großmutter darin ist, entweder im Betrieb mitzuarbeiten oder – mehr oder weniger spontan – eine Pause zu machen. Generelle Nachteile der Beobachtung sind dabei jedoch auch hier zu berücksichtigen: So muss der Forscher oder die Forscherin (in Absprache mit den Beobachteten) im Vorhinein Beobachtungssituationen auswählen, sofern eine Ethnografie über einen längeren Zeitraum nicht infrage kommt. Auch bei Videoaufnahmen gibt es eine räumliche und auch zeitliche Selektivität (wenn man davon ausgeht, dass die Forschungsteilnehmenden entscheiden können, wann sie die Kamera ausstellen oder außerhalb des Blickwinkels der Kamera agieren). Für Forschungen zu Familien kommt für jede Datenerhebung hinzu, dass die Familienmitglieder entscheiden, wen sie als zur Familie zugehörig ansehen und wen sie entsprechend z.B. über einen Interviewtermin informieren oder zu Familientreffen einladen – was etwa bei größeren Streitigkeiten oder nach Trennungen einen selektiven Charakter haben kann (vgl. HENSE & SCHAD 2019). Einen besonderen Einfluss in Interviews übt hier meist die Kontaktperson aus, über die das Gespräch angebahnt wurde. Zwar hat auch diese Selektion im Sinne eines "Doing Family" (JURCZYK et al. 2010) Aussagekraft, doch ist es für die Forschenden gelegentlich schwierig, etwas über die nicht anwesenden Väter, Töchter etc. zu erfahren oder auch nur, welche Prozesse zu ihrer Dethematisierung / ihrem Ausschluss geführt haben. Zu fragen ist, nun wiederum für Beobachtungsdaten, inwiefern man damit Fragestellungen wie die nach der Statusreproduktion erhellen kann, also solche, die einen längeren Prozess beschreiben. Ohne Langzeitbeobachtungen sind hier Annäherungen über Umwege notwendig bzw. Daten, die insbesondere in der methodenpluralen Verknüpfung ihre Aussagekraft entfalten. So könnte man beispielsweise untersuchen, in welcher Weise eine (berichtete) vorausschauende Planung (als zeitbezogenes Element einer Mentalität, die ggf. an die nächste Generation weitergegeben wird) in spezifischen Situationen gelebt wird, wenn etwa bei einer Familienzusammenkunft künftige Investitionen für den Familienbetrieb besprochen werden. Dabei geht es weniger darum, eine Datensorte als valider gegenüber einer anderen einzuschätzen, sondern zu vergleichen, in welchen Situationen welche Inszenierung (im Sinne von GOFFMAN 1969 [1959]) im Vordergrund steht. [30]

5. Schluss

In der Zeitsoziologie hat man es mit "herausfordernden Zeiten" auch im Sinne der empirischen Fassbarkeit von Zeit zu tun. Wie mit dem Fallbeispiel und durch die methodischen Überlegungen gezeigt wurde, stellt Zeit als Querschnittsthema12) eine komplexe Schnittstelle vielfältiger sowie vielfältig verknüpfter Phänomene dar. Beispielsweise werden dabei Makro-Mikro-Verbindungen ebenso adressiert wie sich wandelnde Perspektiven unterschiedlicher Reichweite auf die Vergangenheit und Zukunft und Veränderungsprozesse generell sowie aufeinandertreffende Zeitperspektiven unterschiedlicher Akteur/innen. Damit gehen methodische Chancen und Herausforderungen im weiteren Sinne einher, die unter anderem 1. die Wahl methodischer Verfahren und ggf. ihre Verknüpfung sowie 2. die konzeptionelle Verbindung von Zeit- und (im hier dargestellten Beispiel) etwa Biografieforschung betreffen:

Danksagung

Ich danke den Herausgeberinnen und Gutachtenden sowie Jennifer EICKELMANN und Miriam SCHAD (beide TU Dortmund) für Ihre Hinweise zum Beitrag. Dem Projektteam (neben Miriam SCHAD Andrea HENSE und Berthold VOGEL, SOFI Göttingen) danke ich für die gemeinsame Erarbeitung der empirischen Grundlagen und Diskussionen. Jürgen P. RINDERSPACHER danke ich für die grundlegenden Gespräche zum Thema Zeit.

Anmerkungen

1) Es handelt sich somit um einen Ausschnitt zeitsoziologischer Fragen, die sich darüber hinaus etwa auch auf Zeitregime in Organisationen (BROSE & KIRSCHSIEPER 2019) und gesellschaftlichen Teilbereichen (am Beispiel Politik etwa LAUX & ROSA 2015, zur "gesellschaftlichen Raumzeit" HENKEL, LAUX & ANICKER 2017), auf das Ausmaß des Zeitwohlstands (RINDERSPACHER 2002) und der Work-Life-Balance in verschiedenen sozialstrukturellen Gruppierungen (SCHILLING 2015) oder Zeit im Kontext von Digitalisierung (z.B. JOHNSON & KEANE 2017) richten könnten – um nur einige Beispiele für teilweise stärker makrosoziologisch orientierte Zugänge zu nennen. <zurück>

2) Alltag ist hier im Sinne eines grundlegenden Erfahrungsraums der Lebenswelt gemeint, der als fraglos gegeben erscheint und in dem man handelnd in die Welt eingreifen kann (ZIFONUN 2014, S.15). <zurück>

3) Das von der DFG von 2018 bis 2020 geförderte Projekt "Statuserhalt in der 'sozialen Mitte'. Intergenerationale Stabilisierungsmechanismen in Berufsfeldern der Mittelschicht" wird von mir in Kooperation mit dem SOFI Göttingen (Berthold VOGEL) geleitet. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im Projekt sind Andrea HENSE und Miriam SCHAD (vgl. auch SCHAD & BURZAN 2018a, 2018b). <zurück>

4) In der Abwägung gegenüber den Vorteilen mehrerer Einzelinterviews (leichtere Terminfindung, ggf. Offenheit auch im Sinne kritischer Äußerungen gegenüber anderen Familienmitgliedern) haben wir uns für Familieninterviews entschieden, um dadurch die gemeinsame Konstruktion von "Familie" und Kommunikationsdynamiken zwischen den Anwesenden analysieren zu können (s.a. Abschnitt 4). Diese Analyse wurde dadurch unterstützt, dass die Teilnehmenden zum Abschluss außerdem ein Genogramm und einen kurzen Personenfragebogen ausfüllten. Diese Befragungsdaten wurden weiterhin ergänzt durch Feldprotokolle der Interviewenden, mithin durch Beobachtungsdaten. <zurück>

5) Wir arbeiten mit Strukturierungen von Themen und Kommunikationsaspekten entlang der Chronologie des Interviews, Kategorisierungen mithilfe einer Kategorisierungssoftware, dem Eintrag familiengeschichtlicher Ereignisse auf einem Zeitstrahl, Kurzbeschreibungen der einzelnen Personen und sequenziellen Feinanalysen ausgewählter Interviewstellen, um – ergänzt durch die Genogramme und die Feldprotokolle – eine Fallbeschreibung der Familien zu entwickeln als Grundlage für Fallvergleiche im nächsten Schritt. Dabei fragen wir u.a., welche Rolle der frühere/spätere Generationenübergang und das Berufsfeld für welche Formen und Wahrnehmungen der Statusreproduktion spielen, bleiben aber offen auch für andere relevante Dimensionen der Bedingungskonstellation. <zurück>

6) Die beiden anderen Felder sind akademische "staatsnahe" (z.B. Lehrer/innen) und technische Berufe (mindestens mit Fachhochschulabschluss, z.B. Ingenieur/innen). Auf diese Weise sollen verschiedene Segmente innerhalb der heterogenen Mittelschicht adressiert werden. Innerhalb der Berufsgruppen erfolgt eine Kombination aus selektivem und theoretischem Sampling (u.a. spielten die Homogenität der Familienmitglieder in Bezug auf das Berufsfeld oder die Kontaktintensität bislang eine Rolle). Innerhalb der Familien wählten die Kontaktperson und die von ihr angesprochenen Angehörigen aus, wer am Interview teilnahm (vgl. ausführlicher zum Sampling HENSE & SCHAD 2019). <zurück>

7) Die Verknüpfungen der Lebenszeit zur Alltagszeit und institutionellen Zeitregimen/gesellschaftlichen Entwicklungen (s. die zweite Dimension in Absatz 3) werden im zweiten Teil des Fallbeispiels aufgegriffen. <zurück>

8) Mit diesem Verständnis von Biografien als Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und lebensgeschichtlichen Prozessen wird der Annahme von BERTAUX (2018 [2016], S.5) widersprochen, gerade (auch) deutsche Sozialwissenschaftler/innen würden sich auf subjektive Deutungen und nicht auf die soziale Welt "da draußen" fokussieren. <zurück>

9) Etwas häufiger sind Paarinterviews zu finden (z.B. BEHNKE & MEUSER 2013; WIMBAUER & MOTAKEF 2017), mit denen oftmals Genderdimensionen fokussiert werden, während Familieninterviews darüber hinaus Generationenaspekte offenlegen. <zurück>

10) Interessant wäre hier zusätzlich eine Längsschnittperspektive, indem man dieses Interview z.B. erst zwei Jahre nach dem Familieninterview führt, was jedoch zugleich eine Vermengung der Vergleichslinien verschiedener Perspektiven und verschiedener Zeitpunkte bedeutete. <zurück>

11) Über den hier vorgestellten Forschungskontext hinaus ist an weitere verbale und auch schriftliche Angaben zu denken, z.B. das Ausfüllen von Netzwerkkarten oder – insbesondere auf die Dimension der Alltagszeit bezogen – die Erstellung von Tagebüchern (dazu KUNZ 2018). <zurück>

12) Ähnlich verhält es sich mit dem Raum, vgl. zum biografischen Zusammenhang beider z.B. WEIDENHAUS (2017). <zurück>

13) Dies gilt umso mehr, wenn methodologische "Grenzen", z.B. zwischen qualitativen und quantitativen Forschungsprinzipien, überschritten werden. <zurück>

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Zur Autorin

Nicole BURZAN ist Professorin für Soziologie an der TU Dortmund. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, u.a. aus einer kultursoziologischen Perspektive (z.B. Ungleichheitsaspekte in Museen, Statusreproduktion in der Mittelschicht), methodenplurale Forschung (s.a. die gleichnamige Monografie 2016 bei Beltz Juventa) und Zeitsoziologie. Von 2017 bis 2019 war sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).

Kontakt:

Prof. Dr. Nicole Burzan

Technische Universität Dortmund
Institut für Soziologie
Emil-Figge-Str. 50, D-44221 Dortmund

E-Mail: nicole.burzan@tu-dortmund.de
URL: http://lehrgebiet-soziologie.fk12.tu-dortmund.de

Zitation

Burzan, Nicole (2020). Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Methodische Reflexion zeitsoziologischer Analysen in Mehr-Generationen-Familieninterviews [31 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(2), Art. 2, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.2.3427.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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