Volume 21, No. 1, Art. 21 – Januar 2020
Die qualitative Inhaltsanalyse innerhalb der empirischen Bildungsforschung. Einsatzmöglichkeiten in einer sekundäranalytischen Längsschnittstudie zur Identifikation von Reorganisationsmustern schulischer Organisationen
Barbara Muslic, Anne Gisske & Viola Hartung-Beck
Zusammenfassung: Im Bereich der empirischen Bildungsforschung finden qualitative Schulfallstudien seit Jahren zunehmend Verwendung. In diesem Rahmen hat sich vor allem die qualitative Inhaltsanalyse als Methode etabliert. In dem Artikel erläutern wir am Beispiel der Interviewstudie "Datenbasierte Schulentwicklungsprozesse als Reorganisation von Schule. Eine Sekundäranalyse qualitativer schulfallbasierter Längsschnittdaten aus den Jahren 2005 bis 2013", welchen Beitrag die Anwendung der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse leisten kann, umfangreiche längsschnittliche Interviewdaten (n=351) zur Identifikation von Reorganisationsmustern schulischer Organisationen (28 Schulen) auszuwerten. Das von uns entwickelte Kategoriensystem stellt dabei die Basis zur Strukturierung der Schulfallstudien als Case Summary bzw. Analysis und Typenbildung dar. Wir gehen davon aus, dass wir mit diesem Vorgehen sowohl die Vergleichbarkeit durch die methodenimmanente Fokussierung der Materialsystematisierung berücksichtigen als auch die analytische Reichweite zugunsten der strukturierten Analyse erhalten können. Dies ist aus unserer Perspektive dann möglich, wenn die eigenen Weiterentwicklungen des qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehens in Anlehnung an KUCKARTZ (2016) berücksichtigt werden. Neben den Vorteilen der regelgeleitet-interpretativen Analyse für Längsschnittdaten zeigen wir Grenzen innerhalb des hier dargestellten Studiendesigns auf.
Keywords: qualitative Inhaltsanalyse; Längsschnittdaten; Schulfallstudie; Within-Case Analysis; Cross-Case Analysis; fallbasierte Themenmatrix; Typenbildung; Schulorganisation; Schulentwicklung; induktive Kategorienbildung; Interviews
Inhaltsverzeichnis
1. Qualitative Inhaltsanalyse innerhalb der Bildungsforschung
2. Qualitative Fallstudie zur Rekonstruktion schulischer Organisationen
3. Die qualitative Inhaltsanalyse und ihre Weiterentwicklungen
3.1 Entwicklung des Kategoriensystems als Ausgangspunkt
3.2 Case Study und Typenbildung als Weiterentwicklungen des Vorgehens
3.2.1 Case Summary auf Basis einer Fallmatrix
3.2.2 Case Analysis, Strukturbilder und typologisierende Gesamtauswertung
4. Möglichkeiten und Grenzen des qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehens
1. Qualitative Inhaltsanalyse innerhalb der Bildungsforschung
Innerhalb der Bildungsforschung, insbesondere auch der Schulentwicklungs- und Schulforschung, haben in den letzten Jahren qualitative Fallstudien an Bedeutung gewonnen (HORSTKEMPER & TILLMANN 2008). Neben anderen Verfahren wie z.B. der dokumentarischen Methode (BELLMANN, DUŽEVIC, KIRCHHOFF & SCHWEIZER 2014; ZEITLER, HELLER & ASBRAND 2012) oder der objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion (BÖHM-KASPER et al. 2016) hat sich auch die qualitative Inhaltsanalyse etabliert und wird von vielen Forschungsgruppen häufig verwendet. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie zwischen qualitativer und quantitativer Forschung angesiedelt ist (DÖRING & BORTZ 2016) und in einem Feld, das eher durch quantitative Studien dominiert wird, insbesondere gegenüber den Skeptiker_innen des qualitativen Forschungsparadigmas Anknüpfungspunkte bietet. Zum Beispiel besteht die Möglichkeit, auf messbare Kriterien wie die Interkoderreliabilität zurückzugreifen, um die Güte der Analyseschritte überprüfbar zu machen (WIRTZ & CASPAR 2002). [1]
Aus der Perspektive des qualitativen Forschungsparadigmas wird hingegen kritisiert, dass latente Sinngehalte mit der qualitativen Inhaltsanalyse nicht oder nur unzureichend berücksichtigt werden könnten (FLICK 2016). MAYRING selbst schränkt deren analytische Reichweite mit folgenden Worten ein: "Inhaltsanalyse eignet sich immer dann, wenn es um größere Materialmengen geht und eine systematische, generalisierende Auswertung im Vordergrund steht. Wenn allerdings stärker die Tiefenstrukturen des Textes angestrebt werden, zeigen sich Grenzen" (2010, S.611). Sie wird dementsprechend häufig dann eingesetzt, wenn größere Datenmengen analysiert werden sollen und eine Vergleichbarkeit der Analyse angestrebt wird. Um die Frage der Reichweite hat sich allerdings in den letzten Jahren eine kontroverse Debatte entwickelt. KUCKARTZ (2018) verweist unter Bezugnahme auf den Grundsatzbeitrag von KRACAUER (1952) darauf, dass sie sich als interpretative Methode nicht allein auf manifeste Strukturen beschränken könne, sondern die Notwendigkeit bestehe, auch verborgene Bedeutungen zu erfassen. [2]
Im vorliegenden Beitrag folgen wir dieser Debatte und gehen auf die Kritik am Fehlen eines methodologischen Hintergrunds (JANSSEN, STAMANN, KRUG & NEGELE 2017) dahingehend ein, dass dies die eigentliche Stärke der qualitativen Inhaltsanalyse ist. Diese Annahme wird exemplarisch anhand der Studie "Datenbasierte Schulentwicklungsprozesse als Reorganisation von Schule. Eine Sekundäranalyse qualitativer schulfallbasierter Längsschnittdaten aus den Jahren 2005 bis 2013" (DaproRe)1) dargestellt. Im Rahmen der Analyse des vorliegenden umfangreichen Materials von insgesamt 351 problemzentrierten Interviews (WITZEL 2000) an 28 Schulen sind wir der Frage nachgegangen, inwiefern mit der Methode latente Sinngehalte bzw. -strukturen berücksichtigt werden können. Wir gehen dabei davon aus, dass jede qualitative Auswertung gegenstandsbezogen sein muss und legen im Beitrag dar, dass die methodologische "Lücke" mit der Verwendung bereits vorliegender theoretischer Ansätze, hier beispielhaft dargestellt an professionellen schulischen Organisationen, gefüllt und damit die analytische Reichweite ausgeweitet werden kann. Aus dieser Annahme ergibt sich eine forschungspraktische Herausforderung: Wie kann unter dieser Prämisse ein qualitativ-inhaltsanalytisches Vorgehen konkret gestaltet werden, damit eine größere Datenmenge qualitativen Interviewmaterials vergleichend ausgewertet werden kann? [3]
Zum Nachweis der aufgestellten Annahmen erläutern wir zunächst die Studie und ihre methodologische Anlage, dann skizzieren wir die Anforderungen an die Auswertung eines sekundäranalytischen Forschungsdesigns2) durch die Zusammenführung der drei Primärstudien zu einem neuen Längsschnitt (Abschnitt 2). Daran anschließend stellen wir die neue Strategie als eine Kombination aus qualitativer Inhaltsanalyse und der darin integrierten Within-Case und Cross-Case Analysis mit dem Ziel der Typenbildung vor (Abschnitt 3). Abschließend gehen wir auf die Möglichkeiten und Grenzen unserer Weiterentwicklung ein, die aus der forschungspraktischen Anwendung entstanden sind (Abschnitt 4). Angelehnt an die Forderung von KUCKARTZ (2018) versuchen wir damit, das Potenzial der qualitativen Inhaltsanalyse durch die systematische Weiterentwicklung der bislang eher vernachlässigten Fallorientierung aufzuzeigen und liefern zugleich eine kritische Betrachtung des Vorgehens. Über diese Erläuterungen leisten wir einen Beitrag zum method(olog)ischen Diskurs um die qualitative Inhaltsanalyse. [4]
2. Qualitative Fallstudie zur Rekonstruktion schulischer Organisationen
Das Ziel unserer Studie bestand darin, Schulentwicklungsprozesse zu untersuchen, die im Rahmen der neuen Steuerung im Schulsystem (ALTRICHTER & MAAG MERKI 2016) durch die Implementierung unterschiedlicher Steuerungsinstrumente entstanden sind, z.B. Lernstandserhebungen, zentrale Abschlussprüfungen oder die Erweiterung der Autonomie der Einzelschule. Innerhalb dieser Studie wurde zwei Desideraten nachgegangen:
Wie hat sich das organisationale Handeln im Zusammenspiel einzelner Steuerungsinstrumente mit dem Wandel der schulischen Umwelt über einen längeren Zeitraum verändert?
Wie stabil bzw. nachhaltig waren die Akzentverschiebungen des Handelns innerhalb der Schulen? [5]
Diese Desiderate lassen sich damit begründen, dass in bisherigen Studien überwiegend theoretische Modelle zur Beschreibung von schulischen Steuerungsprozessen verwendet wurden, mit denen eindimensionale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge postuliert wurden und die normativ oder technologisch ausgerichtet waren (DEDERING 2012). Um diese Modelle nicht als Ausgangspunkt der Analysen zu verwenden, griffen wir für unsere Untersuchung auf organisationssoziologische Theorien wie den situativen Ansatz nach MINTZBERG (1983) und das Konzept der Entscheidungsprämissen nach LUHMANN (2000) zurück. Diese Ansätze wurden von KUPER und THIEL (2010) bereits für die Schulforschung adaptiert (siehe auch THIEL 2008a, 2008b). Dabei werden Schulen als Organisationen von Professionellen beschrieben und in zwei Idealtypen differenziert: der Typus der autonomen professionellen Organisation, bei dem die Sicherung eines Anspruchs auf professionelle Autonomie in der verwalteten Schule im Vordergrund steht, und der Typus der gemanagten professionellen Organisation, der einer effizienzorientierten Schule entspricht, die funktional differenziert sowie strategisch und operativ vernetzt ist (THIEL 2008a). Auf dieser Grundlage nimmt THIEL an, dass durch die implementierten Steuerungsinstrumente in den Schulen ein Veränderungsdruck entsteht, der als Zwang zur Reorganisation, d.h. der Umgestaltung der schulischen Organisationsstrukturen beschrieben werden kann (2008a, 2008b). Hierzu lag bereits umfassendes Wissen aus vorangegangen empirischen Untersuchungen vor; unter anderem konnte nachgewiesen werden, dass Änderungen des Schulleitungs- bzw. Führungshandelns, des Schulprogramms oder der Entscheidungsfindung für die Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung nicht den Absichten folgen muss, die mit den bildungspolitischen Reformmaßnahmen programmatisch verbunden sind (DIEMER 2013; HARTUNG-BECK 2009; MUSLIC 2017; THILLMANN 2012). Letztlich stehen damit schulorganisatorische und bildungspolitische Veränderungen zwar in einem Zusammenhang, letztere sind aber nicht unbedingt ausschließlich für erstere verantwortlich. [6]
Für die Beantwortung der zentralen Fragestellungen wurden drei Primärstudien zu einem neuen Sekundäranalysedesign3) zusammengeführt. Wie in Tabelle 1 dargestellt, wurden insgesamt 29 bzw. 284) Schulen in das Sample der Untersuchung aufgenommen, die wir als Schulfallstudien5) ausgewertet haben. Schulen wurden hierbei sowohl als empirische (HORSTKEMPER & TILLMANN 2008) wie auch als methodologische Falleinheiten (HARTUNG-BECK & MUSLIC 2015, 2016) definiert, um Rückschlüsse auf Zusammenhänge zwischen schulischen Organisationsmerkmalen und den Effekten der neuen Steuerungsstrategie ziehen zu können. Im Zeitraum zwischen 2005 und 2012 wurden 351 problemzentrierte Interviews (WITZEL 2000) mit 241 verschiedenen Personen (Schul- und Fachgruppenleitungen, Koordinator_innen und Fachlehrkräften) aus sechs Bundesländern geführt. Davon sind 57 Lehrkräfte in 27 Gruppen mit zwei bis drei Personen interviewt worden. Innerhalb der Schulen wurden, wenn möglich, dieselben Personen zwischen ein bis drei Mal im Längsschnitt (t1-t3) befragt, und pro Erhebungszeitpunkt fanden im Durchschnitt 12 Interviews statt.
Tabelle 1: Stichprobenzusammenführung (Projektphasen 2005-2013, Erhebungsphasen 2005-2012) [7]
Für die Analysen wurden sowohl die theoretischen als auch empirischen Erkenntnisse als Ausgangspunkt genommen, um nachhaltig etablierte Entwicklungsverläufe bzw. Reorganisationsmuster der Schulentwicklung aufzuzeigen. Neben den Veränderungen des organisationalen Handelns (z.B. Einrichtung von Steuerungs- bzw. Arbeitsgruppen, Mechanismen der Selbstabstimmung) wurden auch die bildungspolitischen Reformmaßnahmen seit den 2000er Jahren berücksichtigt. Dafür wurden über einen qualitativen Längsschnitt6) Fragen der Nachhaltigkeit und Stabilität der Veränderungen sowie der Bezug zwischen den Steuerungsinstrumenten und der Qualität schulischer Arbeit einbezogen. Die methodologische Auswertungsleistung lag in der Zusammenführung längs- und querschnittlicher Perspektiven zu einem Vergleich. Dies wurde über die Erstellung von Schulfallanalysen auf der Basis der qualitativen Inhaltsanalyse (KUCKARTZ 2016) systematisch umgesetzt. [8]
3. Die qualitative Inhaltsanalyse und ihre Weiterentwicklungen
Für die Umsetzung der qualitativen Inhaltsanalyse musste sich die Projektgruppe unter verschiedenen Verfahrensweisen für einen konkreten Weg zur Auswertung der Interviewdaten entscheiden. Zwar wird mit der Methode in erster Linie auf eine nachvollziehbare Reduktion, Strukturierung und Systematisierung des Datenmaterials (MAYRING 2015) oder, anders formuliert, auf die "Systematisierung von Kommunikationsinhalten" (STAMANN, JANSSEN & SCHREIER 2016, §9) abgezielt. In MAYRINGs (2015) Beschreibungen ist jedoch nicht eindeutig festgelegt, in welchen Kombinationsmöglichkeiten die von ihm eingeführten Abläufe sowie Grundtechniken durchlaufen werden sollen. Das konkrete forschungspraktische Vorgehen wird von MAYRING ausschließlich von der Fragestellung und Zielsetzung der Analyse abhängig gemacht und den Forschenden selbst überlassen. Die qualitative Inhaltsanalyse ist demnach "kein Standardinstrument" (S.51), sodass Forscher_innen in jeder Studie selbst entscheiden müssen, wie sie für den konkreten Forschungsgegenstand adaptiert werden kann. Beispielsweise muss die Definition der inhaltsanalytischen Einheiten (Kodiereinheit, Kontexteinheit, Auswertungseinheit) für das eigene Ablaufmodell festgelegt werden. Weiterhin ist zu entscheiden, mit welchen spezifischen Grundtechniken (Zusammenfassung, Strukturierung, Explikation) gearbeitet werden soll und inwiefern diese kombiniert zum Einsatz kommen. MAYRING lässt bei seinen Erläuterungen auch größtenteils offen, welche forschungspraktischen Implikationen sich aus den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Aus diesem Grund sind wir nicht nur den weiterführenden Vorschlägen von KUCKARTZ (2016) zur inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse gefolgt, sondern haben zusätzlich eigene Weiterentwicklungen einbezogen. Wir haben deshalb im ersten Schritt inhaltliche Kategorien gemischt deduktiv-induktiv erstellt und auf dieser Grundlage den Case Study Approach7)sowie eine Typenbildung angeschlossen. [9]
3.1 Entwicklung des Kategoriensystems als Ausgangspunkt
Innerhalb der Projektgruppe wurden weitere Entscheidungen für den Auswertungsprozess getroffen: Zunächst legten wir zur Entwicklung des Kategoriensystems den Ablauf und die Analyseeinheiten fest. Die Kodiereinheiten bildeten sowohl Wortgruppen als auch Sätze im Sinne semantischer Einheiten, wobei weiterführende Sätze sowie ganze Absätze als erklärende Kontexteinheit einbezogen wurden. Für die Kategorienbildung nutzten wir zunächst die theoretischen Prämissen zur professionellen Organisation und deren Gestaltungsparameter bzw. den Entscheidungsprämissen (LUHMANN 2000) und leiteten deduktiv die drei Hauptkategorien Programme (1.), Kommunikation (2.) und Personal (3.) ab (Abbildung 1). Im weiteren Verlauf wurden bei diesen Hauptkategorien durch die Kodierung bzw. Re-Kodierung weitere Differenzierungen vorgenommen, woraus insgesamt 26 weitere Kategorien hervorgingen. Innerhalb der Hauptkategorie Programme wurden deduktiv die Subkategorien Schulprogramm (1.1), schulische bzw. unterrichtliche (Fach-)Curricula (1.2) sowie Didaktik und Methodik im Unterricht (1.3) differenziert, wobei an die Ergebnisse der Primärstudien angeknüpft wurde; induktiv ergänzt wurden die Subkategorien Schulinspektion bzw. externe Evaluation (1.4), interne Evaluation (1.5) sowie Schulentwicklung (1.6). Bei der Hauptkategorie Kommunikation wurde die Subkategorie Kommunikationsebenen (2.1) inkl. weiterer Subkategorien deduktiv bestimmt, und es wurden die Subkategorien Kommunikationsstruktur (2.2), keine Kommunikation (2.3), Veränderungen (2.4), mit externen Akteur_innen (2.5) induktiv-deduktiv weiterentwickelt. Auch hier konnte an Erkenntnisse der Primäranalysen angeknüpft bzw. konnten diese fortgeschrieben werden. Mit der Subkategorie Veränderungen (2.4) wird explizit die synthetisierende Perspektive des Längsschnitts aufgegriffen. Zusammengefasst wurden hier solche Maßnahmen, die von den schulischen Akteur_innen selbst im Vergleich von "heute und früher"8) benannt wurden. Innerhalb der Hauptkategorie Personal wurden die Subkategorien Personalauswahl (3.1), -einsatz (3.2), -entwicklung (3.3) deduktiv und die Subkategorie professionelles Handeln (3.4) induktiv-deduktiv ergänzt bzw. erweitert. Die Hauptkategorie Rahmenbedingungen (4.) inklusive der Subkategorien Schulische Umwelt (4.1) und Ressourcen (4.2) wurde induktiv erstellt. Mehrfachkodierungen des Materials waren erwünscht, um Zusammenhänge zwischen den einzelnen Hauptkategorien identifizieren zu können, allerdings wurden keine doppelten Kodierungen innerhalb der Hauptkategorien und deren Subkategorien vorgenommen, sodass die Zuweisung der Textstellen ausschließlich auf der niedrigsten Ebene erfolgte. Evaluative oder analytische Kategorien (KUCKARTZ 2016) wurden zu diesem Zeitpunkt noch nicht erstellt, sondern erst im Schritt zur typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse ergänzt.
Abbildung 1: Kategoriensystem, vereinfachte Darstellung (bitte klicken Sie hier oder auf die Abbildung für das vollständige Kategoriensystem) [10]
3.2 Case Study und Typenbildung als Weiterentwicklungen des Vorgehens
Die Basis unseres qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehens stellte die Erarbeitung des Kategoriensystems dar, das von MAYRING (2015) auch als zentrales Element der Analyse bezeichnet wird. Problematisch ist allerdings, dass MAYRING die weiterführende Arbeit damit weit weniger in den Fokus rückt als zuvor seine Entwicklung. Die Hinweise dazu sind allgemein gehalten, wie beispielsweise die Interpretation des Kategoriensystems in Richtung der Fragestellung oder der Hinweis, Häufigkeitsauszählungen durchzuführen. Insgesamt legt MAYRING den Schwerpunkt der Gesamtinterpretation in erster Linie auf die quantitative Anschlussanalyse. Die Vorschläge für eine konsequent qualitative Umsetzung, in der das Kategoriensystem für eine tiefenanalytische Auswertung genutzt wird, werden nicht weiter aufgegriffen. Die bisher hervorstechenden Vorteile der Methode, mit der große qualitative Materialmengen regelgeleitet, systematisch vergleichend sowie zeitökonomisch auswertbar sind, werden von MAYRING für die weitere Arbeit beispielsweise in Richtung auf eine fallbezogene Interpretation nicht mehr aufgenommen. [11]
Die von MAYRING vorgeschlagenen Anschlussverfahren waren aufgrund der faktischen Reduktion auf die univariate statistische Analyse von Häufigkeiten sowie aufgrund der Zuspitzung auf eine kategorienbasierte Auswertung für eine empirische Typologie nicht weiter anwendbar (FLICK 2016; KUCKARTZ 2016; ROSENTHAL 2015). Eine kategorienbasierte Fokussierung hätte zur Folge gehabt, dass die jeweiligen Aussagen aus ihrem Kontext von Fall und Prozess herausgenommen und im Hinblick auf die Interpretation der allgemeinen Struktur zusammengestellt worden wären. Vor dem Hintergrund unserer theoretischen Vorannahmen wären die schulischen Einzelfälle aus dem Blick geraten, auf denen gerade unser Schwerpunkt lag. Wir haben den Forschungsansatz der Case Study aber bereits zu Beginn festgelegt, da er im Rahmen der Organisationsforschung auch auf die Kommunikation in Organisationen als Gegenstandsbereich selbst fokussiert ist (ROSENSTIEL 2005). Für die Durchführung der Studie benötigten wir folglich eine Auswertungsstrategie, mit der es möglich war, sowohl die Einzelfallebene als auch latente Inhalte zu berücksichtigen, welche aus dem längsschnittlichen Design sowie den unterschiedlichen Standpunkten der befragten Akteur_innen resultierten. Diese Inhalte wurden von uns z.B. in den Spezifika der Kommunikation und in den Kommunikationswegen der schulischen Organisation analysiert, denn diese können nicht ohne Weiteres anhand einzelner manifester Interviewaussagen nachvollziehbar gemacht werden, sondern vor allem durch das Herausarbeiten und In-Beziehung-Setzen der latenten Inhalte zum gesamten Fall. Manifeste Inhalte, beispielsweise Aussagen zu einer offenen Atmosphäre im Kollegium, die Bereitschaft eigene Probleme zu reflektieren und mit anderen Lehrkräften kritisch über den eigenen Unterricht zu sprechen, können Hinweise auf ein kooperativ arbeitendes Kollegium an einer Schule geben, ohne dass dies von den Akteur_innen selbst so benannt wird (siehe zur weiteren Umsetzung Abschnitt 3.2.2). [12]
Letztlich lag unser Anspruch darin, zeitliche Verlaufsmuster aufgrund der Längsschnittperspektive herauszuarbeiten, die Einblick in das organisationale Handeln der Einzelschule geben, und zusätzlich eine kontextuale Rahmung der Case Study mit den schulischen Umwelten (z.B. bildungspolitische Reformen) vorzunehmen. Aus unserer Sicht haben fallbasierte Anschlussverfahren für die Zielstellungen der Studie im Gegensatz zum kategorienbasierten Vorgehen den Vorteil, dass Entwicklungs- und Prozessabläufe, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sowie typische Handlungsmuster rekonstruiert werden können (BORCHARDT & GÖTHLICH 2006; FATKE 2010; LAMNEK & KRELL 2016). Grundsätzlich war es deshalb für den nächsten Schritt der Analyse notwendig, das bisher eher über die Kategorien erschlossene Material wieder auf eine fallbasierte Ebene zu überführen. [13]
3.2.1 Case Summary auf Basis einer Fallmatrix
Für den zweiten Schritt wurde ein Vorschlag von KUCKARTZ (2016) berücksichtigt, der forschungspraktische Möglichkeiten für einen fallbasierten Ansatz beschrieben hat und von der Projektgruppe weiterentwickelt wurde. Anschließend an die von KUCKARTZ formulierte Themen-/Fallmatrix haben wir die 28 Schulen als empirische und methodologische Auswertungseinheiten genutzt und ein vergleichendes Multiple Case-Design umgesetzt (BORCHARDT & GÖTHLICH 2006; LAMNEK & KRELL 2016; YIN 2003). Dabei bildete das Kategoriensystem (Abbildung 1) für die Beschreibung und Interpretation der Schulfallstudien den Ausgangspunkt. Diese wurden anhand der zuvor herausgearbeiteten Kategorien, Subkategorien und ihren Zusammenhängen als deskriptive (Case Summaries) und analytische (Within-Case Analysis) sowie vergleichende (Cross-Case Analysis) Fallzusammenfassungen strukturiert. Ziel war es, komparativ die längsschnittlichen Verlaufsmuster der Schulentwicklung herauszuarbeiten. [14]
Das Kategoriensystem (Abbildung 1) als "Herzstück" (SCHREIER 2014, §4) unserer bisherigen Umsetzung wurde somit für eine strukturierte Fortsetzung genutzt, indem auf dieser Basis jeweils eine fallbasierte Themenmatrix für alle 28 Schulen angefertigt wurde. Im Folgenden stellen wir diese exemplarisch anhand der Hauptkategorie Programme vor (Tabelle 2). Für die Interpretation der Fallstruktur (Punkt [1] Case Summary bzw. Case Analysis Einzelschule in Abbildung 2) wurden zunächst die Interviewsegmente zu den Erhebungszeitpunkten getrennt voneinander in zwei separaten Spalten als Einbindung der längsschnittlichen Betrachtungsweise berichtet (Punkt [1a], Zeitpunkt t1 sowie Zeitpunkt t2 in Abbildung 2). Parallel dazu wurden die Standpunkte der schulischen Akteur_innen (Schulleitung, Fachgruppen, Fachgruppenleitungen, Fachlehrkräfte) ebenfalls getrennt voneinander über Zusammenfassungen und Paraphrasierungen veranschaulicht (Punkt [1b], Zusammenführung der kodierten Textsegmente in Abbildung 2). Der zweite Erhebungszeitpunkt beinhaltete darüber hinaus auch die synthetisierende Betrachtung des Längsschnitts, indem hier die Vergleiche von "heute und früher" der befragten schulischen Akteur_innen selbst aufgenommen wurden. Auf Grundlage dieser Matrix wurde eine Case Summary für jede Einzelschule mit ihren entsprechenden Erhebungszeitpunkten t1, t2 und ggf. t3 formuliert, womit die Auswertungsperspektive vermittelt über die Repräsentations-, Mehrperspektiven- sowie Mehrebenenthematik9) (HARTUNG-BECK & MUSLIC 2015) erhalten blieb und erste Veränderungen und Kontinuitäten sichtbar wurden.
Abbildung 2: Ablaufschema zu Case Summary, Case Analysis und Verlaufsmuster [15]
Tabelle 2 zeigt einen Auszug aus einer Case Summary und bezieht sich auf die Hauptkategorie Programme zum ersten und zweiten Erhebungszeitpunkt der Einzelschule Nr. 19. Hier werden die veränderten Ziele und Handlungen, die im Anschluss an die durchgeführten Lernstandserhebungen umgesetzt wurden, aus dem Blickwinkel der Fachgruppenleitungen dargestellt. Für die Leitung Deutsch hatten beispielsweise zunächst die Testergebnisse Einfluss auf die Fachcurricula (Subkategorie 1.2), später sollte deren Umsetzung vereinfacht werden (t2). In Bezug auf die Didaktik und Methodik im Unterricht (Subkategorie 1.3.) wurde von der Leitung Mathematik und Englisch erst angegeben, dass Aufgabentypen im Unterricht wiederholt wurden (t1) und anschließend, dass die Methodenvielfalt erweitert wurde (t2). Die Fachgruppenleitung Mathematik thematisierte zu Beginn, dass das Schulportfolio auf Basis der Testergebnisse weiterentwickelt und mithilfe des/der für Evaluationen zuständige_n Beraters_in unterstützt wurde (Subkategorie 1.4: Schulinspektion bzw. externe Evaluation). Im darauffolgenden Interview (t2) sprach sie an, dass externe Evaluationen in der Schule stattfinden werden. Die Leitung der Fachgruppe Deutsch teilte zum ersten Erhebungszeitpunkt bezogen auf Nachfragen zu internen Evaluationsverfahren (Subkategorie 1.5) mit, dass individuelle Feedbackgespräche zwischen den Lehrkräften und Schüler_innen geführt wurden. Dabei wurden auch Fragebögen eingesetzt, um das Feedback zu erfassen. Die Fachgruppenleitung Mathematik ging im Hinblick auf die Schulentwicklung (Subkategorie 1.6) davon aus, dass durch die auf verschiedenen Aggregatebenen zurückgemeldeten Ergebnisse ein schulübergreifender Vergleich ermöglicht wurde.
Tabelle 2: Ergebnisse einer Case Summary am Beispiel der Fachgruppenleitungen [16]
3.2.2 Case Analysis, Strukturbilder und typologisierende Gesamtauswertung
Für die Gliederung der Case Summary war es von besonderer Bedeutung, die Interviewpassagen zu den Kategorien und Subkategorien getrennt nach den Standpunkten der Akteur_innen oder den jeweiligen Organisationseinheiten darzustellen. Hiermit konnte dem situativen Ansatz nach MINTZBERG (1983) über die Mehrebenenstruktur der Schule Rechnung getragen werden. Im Rahmen der professionellen schulischen Organisation verfügt die Schulleitung als strategische Spitze über Entscheidungskompetenzen und z.T. über Weisungsbefugnisse; die Fachgruppen- und Konferenzebene stellt als mittleres Management die Implementationsinstanz von Strategien der Schul- und Unterrichtsentwicklung dar. Der Unterricht selbst wird als operativer Kern zwar als die Hauptkomponente des Handelns betrachtet, aber durch die Autonomie der Lehrkräfte gesteuert. Mit der Wahl des Case Study-Ansatzes haben wir vor allem dem Vergleich der unterschiedlichen Blickwinkel der Akteur_innen samt damit einhergehender Hierarchieebenen (Schulleitung, Fachgruppenleitungen und Fachlehrkräfte) Rechnung getragen, weil hiermit die Repräsentations- und Mehrperspektiventhematik berücksichtigt wurde. Die polykontexturalen, multiperspektivischen Verhältnisse (VOGD & HARTH 2019) wurden sichtbar gemacht und mussten nicht als idiosynkratische Überformungen interpretiert werden (HARTUNG-BECK & MUSLIC 2015). Hierfür war es notwendig, die empirisch bestimmbare Anzahl an Kontexturen und deren genetische Prinzipien zu einem Orientierungsrahmen der schulischen Organisation zusammenzuführen. [17]
Diese Zusammenführung fand über die Gestaltung anhand der vorab gebildeten Kategorien Programme, Kommunikation und Personal sowie der perspektivischen und zeitlichen Trennung der Interviewaussagen statt und wurde in den Case Summaries pointiert herausgearbeitet. Diese Aufteilung wurde benötigt, um in der Case Analysis (Punkt [2] in Abbildung 2) die organisationalen Ebenen (strategische Spitze, mittleres Managements, operativer Kern) in Beziehung zu setzen und Kontinuitäten sowie Veränderungen des Handelns sichtbar zu machen. Damit wurden Strukturen identifiziert, die innerhalb der professionellen Organisation etabliert wurden bzw. sich neu herausbildeten. Fragen des Verlaufs konnten somit deutlicher thematisiert werden (DREIER et al. 2018). Für alle 28 Case Analyses haben wir schulspezifische Strukturbilder erstellt. Es handelt sich um grafische Landkarten (Abbildung 3), bei denen Abläufe und Entwicklungen aufgenommen wurden, die nach den relevanten Einheiten (Schulleitung, Fachgruppen sowie Fachlehrkräfte) systematisiert wurden. Diese Grafiken bildeten auf einer höheren Abstraktionsebene (aber ebenfalls auf der Basis des Kategoriensystems) die Grundlage für den Vergleich und die anschließende Typologisierung (KELLE & KLUGE 2010).
Abbildung 3: Beispiel eines Strukturbilds einer Schule. Bitte klicken Sie hier oder auf die Abbildung für eine Vergrößerung. [18]
Wie bei der Erstellung der fallbasierten Themenmatrix haben wir hier die Organisationseinheiten im Hinblick auf die Hauptkategorien Programme, Kommunikation, Personal sowie Rahmenbedingungen berücksichtigt. Die Spezifika der Einzelschule wurden über die Strukturbilder visualisiert. Sie stellen nicht nur das Verhältnis zwischen den einzelnen Einheiten, sondern auch die Kommunikations- und Koordinationsabläufe dar, die durch eingeführte Steuerungs- und Evaluationsinstrumente entstanden sind. Optisch haben wir die im Kategoriensystem (Abbildung 1) verwendeten Farben wieder aufgegriffen. Der Vergleich der Bilder wurde gewählt, um Veränderungen sichtbar zu machen, die als Verlaufsmuster der Schulentwicklung zusammengeführt wurden. Abschließend haben wir eine Fallstrukturhypothese (BRÜSEMEISTER 2008) über jeden Erhebungszeitpunkt formuliert, die auf den Hauptkategorien und der Synthese der längsschnittlichen Betrachtungsweise basiert. [19]
Im dritten und letzten Auswertungsschritt (Punkt [3] Verlaufsmuster der Schulentwicklung in Abbildung 2) wurde anhand des Kategoriensystems die synthetisierende Perspektive als längsschnittliches Verlaufsmuster der Entwicklungen bzw. Veränderungen herausgearbeitet, welche in Abhängigkeit zum Zeitpunkt der bildungspolitischen Reformen stehen. Die leitende Frage dabei war, ob über einen längeren Zeitraum Veränderungen in den Einzelschulen (z.B. organisationales Handeln der Akteur_innen) im Zusammenspiel einzelner Steuerungsinstrumente mit dem damit verbundenen Wandel der Umwelt erkennbar sind. Wir setzten damit diese Reorganisationsmuster, die auf die langfristige Betrachtung der Schulentwicklung abzielen, in Bezug zum Wandel der schulrechtlichen Kontexte. Da diese aufgrund der föderalen Ausrichtung der Schulpolitik bundeslandspezifisch variieren, wurden sie als Regelungskontexte der jeweiligen Bundesländer in die Interpretationen einbezogen. Sie wurden somit als schulspezifische Kontextinformationen im Hinblick auf die Zeitpunkte der Implementation steuerungsrelevanter Instrumente ausgewertet. Dazu zählen beispielsweise die Einführung von Testinstrumenten wie Lernstandserhebungen, Schulinspektionen, Schulautonomie oder Schulprogrammen. Daraus entstand ein umfassendes Bild der steuerungspolitischen Rahmenbedingungen. [20]
Das Ziel des letzten Schrittes war die Erstellung eines Modells datenbasierter Schulentwicklung. Hierzu wurden die Strukturbilder und das Kategoriensystem genutzt, um im Rahmen der typenbildenden qualitativen Inhaltsanalyse den Merkmalsraum polythetischer Typen zu bestimmen (KUCKARTZ 2016). Auf Grundlage der Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die wir unter Verwendung von Cross-CaseAnalyses fallintern und fallübergreifend herausgearbeitet haben, wurden Zwillinge, d.h. Schulen mit einer größtmöglichen Ähnlichkeit, identifiziert (YIN 2003). Diese wurden im Hinblick auf eine langfristige, zeitliche Perspektive gruppiert, um über den Erhebungszeitraum hinaus Reorganisationsmuster nachzeichnen zu können. Sie wurden anhand der größtmöglichen internen Homogenität und externen Heterogenität zu Typen datenbasierter Schulentwicklung zusammengeführt. Durch den kontrastierenden Fallvergleich wurden vier Dimensionen identifiziert, anhand derer sich der Merkmalsraum der Typologie beschreiben lässt. Diese Dimensionen setzen sich aus den Bereichen Verantwortungsübernahme, professionelles Handeln, organisationales Handeln und Organisationsstruktur zusammen. [21]
4. Möglichkeiten und Grenzen des qualitativ-inhaltsanalytischen Vorgehens
Im Beitrag haben wir zunächst die Möglichkeiten der qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (2016) für sekundäranalytisch auszuwertende Längsschnittdaten aufgezeigt. Die Methode eignete sich für die Interpretation der größeren Anzahl von 351 problemzentrierten Interviews der DaproRe-Studie, da sie vor allem für die Reduktion, Strukturierung und Systematisierung des qualitativen Materials eingesetzt wird. Die Daten ließen sich damit sowohl theorie- und regelgeleitet als auch forschungsökonomisch analysieren. Diese Form der Systematisierung hat entscheidend dazu beigetragen, das Forschungsprojekt forschungsökonomischer zu gestalten (KOHLBACHER 2006). Mit der Ergänzung um die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (KUCKARTZ 2016) wurden die Transkripte sowohl deduktiv als auch induktiv vergleichbar ausgewertet. Diese Auswertung erfolgte mithilfe organisationssoziologischer Theorien wie den Entscheidungsprämissen nach LUHMANN (2000) und dem situativen Ansatz nach MINTZBERG (1983). Der zeitliche Vorteil dieser Herangehensweise liegt v.a. darin begründet, dass wir das bereits umfassend vorhandene theoretische und empirische Vorwissen nutzen konnten, um die Interviews im ersten Analyseschritt zu strukturieren, ohne dabei ihre latenten Sinngehalte zu vernachlässigen. Unserer Auffassung nach enthält die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse (KUCKARTZ 2016) eine große Offenheit gegenüber bestehendem Wissen wie beispielsweise der soziologischen Beschreibung von Organisationen. Wir konnten so die bereits vorliegenden idealtypischen Modelle der professionellen schulischen Organisation (THIEL 2008a, 2008b) berücksichtigen und mit der induktiven Kategorienbildung auf der Grundlage der bereits von uns weiterentwickelten Methodologie (HARTUNG-BECK & MUSLIC 2015) ergänzen. Wir haben auf diese Weise mit unserer Weiterentwicklung zu einer fallorientierten längsschnittlichen Auswertungsstrategie neue Aspekte aufgenommen, mit denen die Standpunkte der einzelnen Akteur_innen, die zeitliche Implementation von Steuerungsinstrumenten und die Organisation selbst fokussiert wurden. [22]
Weiterhin haben wir gezeigt, dass die qualitative Inhaltsanalyse gerade an ihrem größten Kritikpunkt der fehlenden Methodologie (STAMANN et al. 2016) dem Anspruch auf Gegenstandsangemessenheit der eingesetzten Methoden (STEINKE 1999) gerecht werden kann. Denn für die postulierte methodologische "Lücke" konnte ein auf den Untersuchungsgegenstand angepasstes Vorgehen entwickelt werden. Wir schließen uns hier KUCKARTZ' Ausführung an und fassen den Umstand einer fehlenden Hintergrundtheorie bzw. theoretischen Basis als theoretische Flexibilität auf und bewerten diesen somit als Stärke (JANSSEN et al. 2017). Wir haben auf der Grundlage des Basisverfahrens der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ein Kategoriensystem entwickelt, das in das Zentrum unserer anschließenden Weiterentwicklung, d.h. der Case Study und der Typenbildung, gerückt ist. Über dieses "Herzstück" wurde ein Innovationspotenzial für die anschließende regelgeleitete interpretative Auswertung eröffnet, mit dem zugleich stets der Rückbezug auf die kategorienbasierte Interpretation beibehalten wurde. So wurde das Kategoriensystem zur Systematisierung der schulfallbasierten Themenmatrix und der Strukturbilder verwendet. Auf diese Weise konnten wir die Kritik an der Methode, ihre Grenzen lägen in der Vernachlässigung der analytischen Reichweite, durch (eigene) Weiterentwicklungen zum Teil entkräften. Einwenden müssen wir an der Stelle aber, dass sich ein für schulische Organisationen angemessener methodologischer Ansatz (HARTUNG-BECK & MUSLIC 2015) nicht allein aus dem qualitativ-inhaltsanalytischem Vorgehen selbst ableiten lässt. Denn auch bei der Interpretation der Interviewaussagen werden Regeln benötigt, die beispielsweise die Gegenüberstellung verschiedener Akteur_innenperspektiven berücksichtigen. Hier haben wir neben der Systemtheorie nach LUHMANN (2000) auch Ansätze der rekonstruktiven Sozialforschung verwendet, um die subjektiven Sichtweisen der einzelnen Organisationsmitglieder miteinander in Beziehung zu setzen (VOGD 2011). [23]
Wir sind zudem auf einen weiteren Kritikpunkt eingegangen, der in der der Auflösung oder Zergliederung der Fallstruktur zugunsten der Analyse der allgemeinen Form gesehen wird (FLICK 2016; KUCKARTZ 2016; ROSENTHAL 2015). In diesem Zusammenhang haben wir die von KUCKARTZ (2016, 2018) beschriebene Fallorientierung als aussichtsreiche Entwicklung aufgegriffen. Mit unserer Umsetzung haben wir gezeigt, dass der Zugewinn, Zusammenhänge auf Fallebene zu präsentieren, grundsätzlich erhalten bleiben kann. Mittels der vorgestellten Case Study konnten wir es vermeiden, dass der Fall in seine Einzelteile zerlegt wurde. Hier haben wir dargelegt, wie die Einbindung des Kategoriensystems in die Beschreibungen und -analysen forschungspraktisch umsetzbar ist. Darüber hinaus konnten wir zeigen, wie spezifische Kontextfaktoren, hier die bildungspolitischen Regelungskontexte, in die Zusammenfassungen einbezogen wurden. Mit dieser Weiterentwicklung über die Verwendung der Within-Case- und Cross-Case Analysis beabsichtigten wir vor allem, die theoretischen Vorannahmen der Modelle der Schulentwicklung als Reorganisationsmuster empirisch zu differenzieren. [24]
Darüber hinaus bleibt zu betonen, dass wir die qualitative Inhaltsanalyse anschlussfähig für quantitative Auswertungen wie z.B. Häufigkeitsauszählungen, Faktoren-, Zusammenhangs- oder Kausalanalysen halten. Bisher haben wir solche Auswertungen noch nicht durchgeführt. Auf der Ebene der Häufigkeiten ist aber geplant, z.B. Muster der Kommunikation in Schulen nachzuzeichnen. Diese Muster können dann miteinander verglichen werden. Allein auf der Grundlage des Kategoriensystems und der Auszählung der Kategorien ist es zwar nicht möglich, die mit dem Projekt verbundenen Zielstellungen umzusetzen. Unseres Erachtens könnte aber eine Verbindung zwischen unserem bisherigen Vorgehen und der Möglichkeit der Quantifizierung zu einer Erweiterung der inhaltlichen Beschreibung der Muster und Typen führen. Auf diese Weise könnte auch die analytische Reichweite der qualitativen Inhaltsanalyse erhöht werden. Dies bleibt aber in weiteren Untersuchungen zu überprüfen. [25]
1) Laufzeit der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie: September 2017 bis August 2019. <zurück>
2) Eine Besonderheit der Studie lag in ihrer Anlage als sekundäranalytisches Forschungsdesign, da es aufgrund der Zielstellung notwendig war, auf bereits vorliegendes Datenmaterial zurückzugreifen. Damit mussten die zu untersuchenden schulischen Prozesse nicht retrospektiv (z.B. über die nachträgliche Bewertung in Interviews) aufgegriffen werden, sondern konnten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung betrachtet werden. Dafür bestand die Möglichkeit, auf Interviewdaten aus drei Primärstudien zurückzugreifen, in denen bereits ähnliche Fragestellungen verfolgt und ähnliche theoretische Annahmen favorisiert worden waren. Alle drei Primärstudien sind unter der Leitung von Prof. Dr. Harm KUPER (Freie Universität Berlin) durchgeführt worden. Zur Diskussion bezüglich der zunehmenden Bedeutung der Sekundäranalyse in der qualitativen Sozialforschung siehe CORTI, WITZEL und BISHOP (2005). <zurück>
3) Die Zusammenstellung eines neuen Datensatzes im Längsschnittdesign (Amplified Analysis nach HEATON [2004]) aufgrund von drei bereits vorliegenden längsschnittlichen Datensätzen kann innerhalb der qualitativen Methodik als innovativer Ansatz angesehen werden. Diese ermöglicht eine Analyse der Daten auf der Aggregatebene der Schule, sodass auf diese Weise organisationale Veränderungen und Schulentwicklungsprozesse nachvollzogen werden können. Nachzulesen ist diese Vorgehensweise bei MUSLIC und HARTUNG-BECK (2016). <zurück>
4) Eine Schule wurde sowohl innerhalb Studie 2 und 3 befragt, weshalb sich die Gesamtanzahl auf 28 reduziert. <zurück>
5) Fallstudien als Zugang zum Einzelfall, mit der Ausrichtung auf Ganzheitlichkeit und Multiperspektivität, werden im Bereich der Schulforschung eingesetzt, um innerschulische Prozesse zu untersuchen (HORSTKEMPER & TILLMANN 2008). <zurück>
6) Wir fassen dabei nach DREIER, LEUTHOLD-WERGIN und LÜDEMANN (2018) den qualitativen Längsschnitt als eine synthetisierende Perspektive über mehrere Erhebungszeitpunkte hinweg auf, bei dem sowohl die Querschnittlichkeit als auch der zeitliche Vergleich systematisch berücksichtigt wird. So entsteht aus der querschnittlichen Erfassung des Ist-Zustands der schulischen Organisation zu den jeweiligen Zeitpunkten (t1-t3) die Möglichkeit des Vergleichs. Enthalten ist aber auch eine synthetisierende Perspektive durch die Sichtweisen der Befragten selbst aufgrund ihrer subjektiven Vergleichsmöglichkeiten von "heute und früher". Diese ist auch explizit durch die Interviewer_innen in den Gesprächen fokussiert worden. <zurück>
7) Wir verwenden im Folgenden, insofern wir uns auf unsere eigene Vorgehensweise beziehen, ausschließlich die englischen Begriffe Case Study für Fallstudie und Case Analysis für Fallanalysen, da wir uns an diesen Stellen auf YIN (2003) beziehen. <zurück>
8) Vgl. Anmerkung 6. <zurück>
9) Die Überlegungen zur methodologischen Verortung wurden in der Vorbereitung der Auswertungsstrategie zur hier dargestellten Studie entwickelt und sind ausführlich nachzulesen bei HARTUNG-BECK und MUSLIC (2015). <zurück>
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Barbara MUSLIC ist Post Doc am Arbeitsbereich Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung der Freien Universität Berlin und Leiterin des von dem BMBF geförderten Projekts "Datenbasierte Personalentwicklung an Schulen (DaPerS)". Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der (qualitativen) Schulorganisationsforschung sowie der Schulentwicklungs- und Schulleitungsforschung.
Kontakt:
Barbara Muslic
Freie Universität Berlin
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
Arbeitsbereich Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
Tel.: +49 (0)30 838 639 62
E-Mail: barbara.muslic@fu-berlin.de
URL: https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/schulentwicklungsforschung/mitarbeiter/alle_wimis_stumis/B_Muslic/index.html
Anne GISSKE war wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "DaproRe" am Standort FH Dortmund. Zudem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der School of Education am Institut für Bildungsforschung der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der qualitativen Sozialforschung, deren Gütekriterien und der Schulentwicklung.
Kontakt:
Anne Gisske
Bergische Universität Wuppertal
School of Education
Institut für Bildungsforschung
Methoden der Bildungsforschung
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
Tel.: +49 (0)202 439 1221
E-Mail: gisske@uni-wuppertal.de
URL: https://www.ifb.uni-wuppertal.de/de/arbeitsbereiche/methoden-der-bildungsforschung/gisske-anne.html
Viola HARTUNG-BECK ist Professorin für empirische Forschungsmethoden, insbesondere qualitative Methoden an der Fachhochschule Dortmund am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften und Leiterin des von der DFG geförderten Projekts "DaproRe" am Standort Dortmund. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Weiterentwicklung qualitativer Forschungsperspektiven und der schulischen Organisationsforschung.
Kontakt:
Viola Hartung-Beck
Empirische Forschungsmethoden, insb. qualitative Methoden
Fachhochschule Dortmund
Angewandte Sozialwissenschaften
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44227 Dortmund (Campus Nord)
Tel.: +49 (0)231 9112 8960
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E-Mail: viola.hartung-beck@fh-dortmund.de
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Muslic, Barbara; Gisske, Anne & Hartung-Beck, Viola (2020). Die qualitative Inhaltsanalyse innerhalb der empirischen Bildungsforschung. Einsatzmöglichkeiten in einer sekundäranalytischen Längsschnittstudie zur Identifikation von Reorganisationsmustern schulischer Organisationen [25 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(1), Art. 21, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-21.1.3451.