Volume 9, No. 1 – Januar 2008
Einleitung: Theories that matter. Zur Handlungswirksamkeit des sozialen Konstruktionismus
Moderation: Jo Reichertz & Barbara Zielke
Mit dieser Ausgabe von FQS möchten wir eine neue Debatte beginnen: die über den sozialen Konstruktionismus. Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz, der vor allem in der qualitativ orientierten psychologischen Forschung große Prominenz besitzt, ist aus unserer Sicht für die gesamte qualitative Sozialforschung wertvoll. [1]
Der soziale Konstruktionismus wirbt für eine Psychologie, die den linguistic und den cultural turn als Herausforderung begreift und in die Fachdisziplin einbringt. In seiner kritischen Reflexion des wissenschaftlich-psychologischen Mainstreams weist er nach, dass vermeintlich objektives Wissen historisch und sprachbedingt kontingent ist. Er zeigt im Zeitalter der Globalisierung, was es heißen kann, kulturzentrische "Universalismen" aufzugeben und psychische Phänomene und Funktionen in ihrer Abhängigkeit von kulturell bedingten Bedeutungen zu verstehen – nicht allein in Wissenschaft und Forschung, sondern auch in vielen Bereichen der angewandten Psychologie. Während der soziale Konstruktionismus im englischen Sprachraum seit einigen Jahrzehnten allgemein bekannt und Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen ist, stößt er in der deutschsprachigen Psychologie erst in den letzten Jahren auf Interesse. [2]
Wer sich daran macht, die Ziele und Prämissen dieser Theorie- und Forschungsrichtung und der mit ihr verknüpften praktischen Bemühungen zu skizzieren, stößt auf eine Vielfalt der unter diesem Begriff mittlerweile versammelten Diskurse und Forschungen, die sich nicht in jeder Hinsicht einem einheitlichen Ansatz zuordnen lassen – ist doch diese Vielfalt selbst Teil des Programms. Verortet werden im Umfeld des sozialen Konstruktionismus so unterschiedliche Psychologiekonzeptionen wie die postmodern-sprachpragmatisch ausgerichtete Variante Ken GERGENs, der auf einer allgemeinen Theorie des Dialogs basierende Ansatz John SHOTTERs, die in Großbritannien etablierte discursive psychology (z.B. Jonathan POTTER) oder konstruktionistische Ausrichtungen der Kulturpsychologie (etwa die programmatische Theorie des "dialogical self" der Kulturpsychologen Hubert HERMANS und Harry KEMPEN). Aber auch Vertreter und Vertreterinnen einer critical psychology, die sich z.T. auf die epistemologische Position des critical realism beziehen (Ian PARKER, Valerie WALKERDINE, Carla WILLIG oder John CROMBY), haben den Diskurs des sozialen Konstruktionismus wesentlich mitgeprägt und ihm immer wieder neue Bezüge verschafft. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. [3]
Bei aller Vielfalt lassen sich – im Sinne von Familienähnlichkeiten – bestimmte Aspekte der Wirklichkeits- und Wissenschaftsauffassung auflisten, die den unterschiedlichen Varianten konstruktionistischer Psychologie gemeinsam sind:
Hierzu gehört die Auffassung, dass die im Alltag ausgehandelte oder konstruierte soziale Wirklichkeit auch Inhalt und Form scheinbar "intra-individueller" psychischer Phänomene und Funktionen, wie etwa Emotionen, bestimmt.
Einen wichtigen Ausgangspunkt der konstruktionistischen Ausrichtung in der Sozialpsychologie bildete deshalb die Kritik an der Zentrierung "traditioneller" psychologischer Theorien und Forschungsinteressen auf das Individuum.
Auch methodologisch hat die soziale Dimension grundsätzlich Vorrang vor der Binnenperspektive des Subjekts; soziale Interaktionen jeder Art, insbesondere Alltagsdiskurse und alltägliche Praktiken, geraten in den Fokus; die Analyse dieser sozialen Alltagspraktiken gilt als Basisoperation konstruktionistischer Forschung.
Wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkt ist die prinzipielle Skepsis gegenüber jeder Art Allgemeingültigkeit beanspruchenden Wissens. Dies wird besonders relevant, sobald es um die Geltungsansprüche wissenschaftlichen Wissens geht, gilt aber ebenso für die Wissensbildung im Alltag und betrifft damit auch den Gegenstandsentwurf des Konstruktionismus.
Darüber hinaus zeigt sich ein allgemein gesellschafts- bzw. machtkritisches Anliegen sozialkonstruktionistischer Psychologien in ihrer Agenda, zu der die Aufdeckung von Formen sozialer Ungleichheit und Unterdrückung gehört. [4]
Aus diesen wenigen Voraussetzungen ergeben sich allerdings auch schon einige zentrale Diskussionspunkte der konstruktionistischen Psychologie, die auch Gegenstand dieser Debatte sein sollen:
Kritik: Das Selbstverständnis einer kritischen Wissenschaft und die Verpflichtung zur "politischen" Deutung der eigenen Befunde und Diskurse ergibt sich aus der relativistischen Gegenstandsauffassung: das, was es zu erforschen gilt, ist sozial und kulturell variabel und damit "gemacht", nicht "gegeben". Auch die eigenen "Forschungsergebnisse" sind diesbezüglich zu relativieren. Diese Gegenstandsauffassung aber verbietet auch jegliche Standards, an denen sich Kritik ausrichten könnte – wie also soll eine konstruktionistische Psychologie eine kritische, gesellschaftlich engagierte Psychologie sein?
Empiriebegriff: Mit Bezug auf Wissenssoziologie und Sprachpragmatik, überdies auf postmodern-semiotische, dekonstruktivistische Bedeutungstheorien, rückt der Konstruktionismus lokale "Wahrheiten" ins Zentrum und betont die positive und kreative Kraft einer dialogischen Vielfalt möglicher (wissenschaftlicher) Diskurse oder Konstruktionen des "Gegenstandes". Für empirische Forschung und Theoriebildung in wissenschaftlicher Absicht bedeutet dies, dass deren Aussagekraft jedenfalls nicht im Sinne traditioneller Kriterien sozialwissenschaftlicher Forschung zu bewerten ist, da es ja nicht um eine objektive, eindeutige, methodisch abgesicherte Repräsentation von Wirklichkeit gehen kann. Gleichwohl sind die Positionen innerhalb des Konstruktionismus hier sehr heterogen:
So hat Ken GERGEN sich immer wieder strikt gegen die Möglichkeit einer "konstruktionistischen Methode" ausgesprochen und bezeichnet wissenschaftlich-psychologische Begriffe als "free-floating", als vollständig durch den sozialen Kontext ihrer Genese und zu keinem Anteil durch ihrem "Referenzgegenstand" bestimmt (siehe z.B. CISNEROS-PUEBLA 2007 und ZIELKE 2007, S.169-182).
Discursive psychologists praktizieren vorrangig eine bestimmte Form der konstruktionistischen Diskusanalyse, deren Aussagekraft sie anhand zahlreicher Beispiele illustrieren – und bleiben gleichwohl den relativistischen Prämissen des sozialen Konstruktionismus verbunden.
Wieder andere halten ein Repertoire (bestimmter) qualitativer Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung für vereinbar mit den epistemologischen und theoretischen Prämissen des Konstruktionismus.
Psychologie ohne Subjekt – Psychologie als Diskurswissenschaft?: Nicht zuletzt wirft die Tendenz konstruktionistischer Projekte, die Frage nach den Funktionen, Fähigkeiten und spezifischen Leistungen des Individuums bzw. des "individuellen" psychischen Systems auszuklammern, erhebliche Fragen auf: Wie soll eine Psychologie ohne Subjekt mehr sein als reine Diskurswissenschaft, wie unterscheidet sie sich etwa von den cultural studies? Wie lässt sich das Desinteresse an der Rekonstruktion individueller Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zugunsten der Rekonstruktion von "Positionierungen" durch Diskurse mit dem erwähnten kritischen Anspruch des Konstruktionismus vereinbaren? [5]
Die meisten der oben genannten Fragen legen die Reflexion der Handlungswirksamkeit konstruktionistischer Theorien und Forschungen nahe: welche Praktiken zieht das konstruktionistische Wissen nach sich, in der wissenschaftlich-psychologischen Praxis und in klassischen Anwendungskontexten der Psychologie? Von dieser Frage ausgehend sollen und können jedoch alle der oben aufgeführten Aspekte diskutiert werden: die Epistemologie und Wissenskritik, die Frage des macht- und gesellschaftskritischen Potenzials, die Rekonstruktion des Individuums in "discursive terms", der konstruktionistische Handlungsbegriff oder die Affinität zu postmodern-semiotischen Bedeutungstheorien. [6]
Im angelsächsischen Sprachraum gibt es bereits eine gewisse Tradition, diese und weitere Probleme in öffentlichen Debatten oder in eigens auf bestimmte Streitfragen hin zugeschnittenen Publikationen zu diskutieren (vgl. CROMBY & NIGHTINGALE 1999; PARKER 1999; zusammenfassend BURR 2003). Im deutschen Sprachraum war von solchen Diskussionen bislang wenig zu hören und zu lesen – und dies sollte sich ändern! Das Interesse und der Bedarf an einer entsprechenden Auseinandersetzung zeigte sich schon in der Diskussion, die sich in FQS als Reaktion auf ein mit Ken Gergen geführtes Interview entsponnen hat (MATTES & SCHRAUBE 2004; siehe hierzu RATNER 2004, 2005; ZIELKE 2005, 2006; VAN OORSCHOT & ALLOLIO-NÄCKE 2006). [7]
Da bislang jedoch in FQS nur vereinzelt Beiträge zum sozialen Konstruktionismus publiziert wurden, schien es uns an der Zeit, die Debatte zu bündeln und auch ein wenig zu forcieren. Deshalb haben wir ein Expose für eine solche Debatte angefertigt und dies Autoren, von denen wir ahnten, dass sie sich beteiligen wollen, zukommen lassen. In der vorliegenden Ausgabe von FQS dokumentieren wir nun nicht nur das Expose, sondern auch die Resonanz auf unser Papier: Beteiligt haben sich bislang Klaus D. DEISSLER, Pascal DEY, Peter MATTES und Johannes VON TILING. Für die Bereitschaft der Autoren, die Debatte mit ihren Beiträgen zu eröffnen, möchten wir ganz herzlich danken. [8]
Natürlich soll die Debatte mit der Publikation dieser Artikel nicht ihr Ende finden, sondern wir erhoffen uns eine Fülle von Kommentaren und weiteren Diskussionsbeiträgen. Wenn Sie selbst einen Beitrag zu dieser Debatte schreiben wollen, wenden Sie sich bitte an Jo REICHERTZ oder Barbara ZIELKE. [9]
Literatur
Burr, Vivian (2003). Social constructionism. London: Routledge.
Cisneros-Puebla, César A. (2007). The deconstructive and reconstructive faces of social construction. Kenneth Gergen in conversation with César A. Cisneros-Puebla. With an introduction by Robert B. Faux [83 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 20, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-08/08-1-20-e.htm [3. Januar 2008].
Cromby, John & Nightingale, David (Hrsg.) (1999). Social constructionist psychology. Buckingham: Open University Press.
Parker, Ian (1999). Social constructionism, Discourse and realism. London: Sage.
Ratner, Carl (2004). Social constructionism as cultism. Comments on "'Old-stream' psychology will disappear with the dinosaurs!" Kenneth Gergen in conversation with Peter Mattes and Ernst Schraube [10 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 28, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-05/05-1-28-e.htm [14. Februar 2005].
Ratner, Carl (2005). Epistemological, social, and political conundrums in social constructionism [33 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum Qualitative Social Research, 7(1), Art. 4, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-06/06-1-4-e.htm [13. Januar 2006].
Mattes, Peter & Schraube, Ernst (2004). "Die 'Oldstream'-Psychologie wird verschwinden wie die Dinosaurier!" Kenneth Gergen im Gespräch mit Peter Mattes und Ernst Schraube [38 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 27, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-04/04-3-27-d.htm [30. Dezember 2007].
van Oorschot, Jürgen & Allolio-Näcke, Lars (2006). Plädoyer gegen den Luxus des Missverstehens. Zur Debatte zwischen Carl Ratner und Barbara Zielke um den Sozialen Konstruktionismus Kenneth J. Gergens [46 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 17, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-06/06-2-17-d.htm [8. Dezember 2007].
Zielke, Barbara (2005). The case for dialogue. Reply to "Social constructionism as cultism" by Carl Ratner (December 2004) [12 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 13, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-05/05-2-13-e.htm [8. Dezember 2007].
Zielke, Barbara (2006). Not "anything goes." A critical assessment of constructionism and its misinterpretation. A comment on Carl Ratner's "Epistemological, social, and political conundrums in social constructionism" [21 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(1), Art. 27, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-06/06-1-27-e.htm [8. Dezember 2007].
Zielke, Barbara (2007). Sozialer Konstruktionismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Zitation
Reichertz, Jo & Zielke, Barbara (2008). Einleitung: Theories that matter. Zur Handlungswirksamkeit des sozialen Konstruktionismus. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801D5Ed8.