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Volume 22, No. 1, Art. 12 – Januar 2021

Modi des Lernens in pädagogischen Organisationen. Theoretische Überlegungen, methodischer Zugang und empirische Befunde am Beispiel der Schule

Steffen Amling

Zusammenfassung: In diesem Artikel beschäftige ich mich mit der Frage nach den Ansatzpunkten und Dynamiken von Lernprozessen in und vor allem von pädagogischen Organisationen am Beispiel der Schule. Ausgehend von einer kurzen Diskussion etablierter Ansätze zur Bestimmung eines Lernens von Organisationen beziehe ich die Vorstellung der Organisation als Aktivitätssystem auf eine konzeptionelle Fassung von Schulorganisationen. Basierend auf dieser Heuristik stelle ich einen methodischen Zugang zur Analyse organisationaler Lernprozesse vor und präsentiere und diskutiere dann empirische Befunde, die auf der Analyse von Gruppendiskussionen und Expert*inneninterviews mit der dokumentarischen Methode basieren. In der Triangulation der Rekonstruktionen zu den Lernorientierungen und zur Positionierung im Aktivitätssystem Einzelschule von Lehrer*innen und dem Schulleiter einer Schule gerät ein organisationaler Modus des Lernens in den Blick.

Keywords: pädagogische Organisationen; Organisationslernen; Schule; Gruppendiskussion; Expert*inneninterview; Triangulation; dokumentarische Methode; Logik der Praxis; Lernorientierungen

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Organisationslernen als Veränderung des Aktivitätssystems Schule

3. Modi des Lernens in pädagogischen Organisationen – methodologisches und methodisches Instrumentarium

4. Empirische Ergebnisse: auf den Spuren der Logik organisationaler Lernpraxis

4.1 Der Schulleiter als Repräsentant der Organisation

4.2 Die Lehrerinnen als Mitglieder der Organisation

4.3 Hinweise auf die Organisation Schule als Aktivitätssystem

5. Fazit: Erste Theoretisierung und weitere Forschungsperspektiven

Anhang: Richtlinien der Transkription

Literatur

Anmerkungen

Zum Autor

Zitation

 

1. Einleitung

Die für die Organisationspädagogik zentrale Frage nach den Ansatzpunkten und Dynamiken des Lernens in und vor allem von Organisationen wird in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zu den verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern in sehr unterschiedlicher Weise thematisch.1) Gerade der Zusammenhang zwischen einem Lernen der pädagogischen Fachkräfte und einem Lernen der Einrichtungen selbst, in denen sie beschäftigt sind, wird dabei kaum systematisch diskutiert. Das lässt sich auch für solche Forschungsbereiche behaupten, in denen – wie in Schultheorie und empirischer Schulforschung – dieser Zusammenhang durchaus erörtert wird. In Bezug auf die dort präsentierten Überlegungen und Befunde gibt es insbesondere zwei Desiderata: Einerseits scheint es – gerade im Lichte der Arbeiten aus dem Kontext der Schulentwicklungsforschung (BOHL, HELSPER, HOLTAPPELS & SCHELLE 2010) – sinnvoll, die Analyse der Lernprozesse der Mitglieder von Schulorganisationen und auch dieser Organisationen selbst von einem Fokus auf Professionalisierungsprozesse zu trennen. Denn der Begriff des Lernens kann, wenn er nicht einfach synonym zum Begriff der Professionalisierung gebraucht werden soll, zur Kennzeichnung von solchen Prozessen der "Gewinnung von spezifischem Wissen und Können" (GÖHLICH & ZIRFAS 2007, S.180) dienen, die es zunächst nur erlauben, eine Irritation von Handlungsroutinen (u.a. BUCK 1989; MEYER-DRAWE 2008) nachhaltig zu beseitigen. Was als Professionalisierung gilt, wäre dann aber mit Blick auf die unterschiedlichen Maßstäbe für die Bewertung von Lernprozessen zu diskutieren.2) Abgesehen von dieser fehlenden systematischen Differenzierung von Professionalisierung und Lernen zeigt andererseits gerade ein Blick auf die empirische Schulforschung, dass in Bezug auf das Lernen von Schulorganisationen noch Fragen offen sind: Auch aufgrund der Fokussierung eines Teils der Forschung zum Wandel von Schulorganisationen auf die Relation zwischen innerer und äußerer Organisation der Schule (vgl. zu dieser Differenzierung DREPPER & TACKE 2012) bleibt bisher etwa unklar, wie theoretisch zu fassen ist, wie das Lernen einzelner Mitglieder oder von Gruppen von Pädagog*innen mit der Veränderung der jeweiligen pädagogischen Einrichtung insgesamt zusammenhängt. Es ist also weder theoretisch noch empirisch abschließend geklärt, wie (und ob) individuelles und kollektives Lernen der Organisationsmitglieder und ein Lernen der Organisation selbst miteinander verknüpft sind. Darüber hinaus ist bisher kaum erschlossen, in welchen unterschiedlichen Weisen eine wechselseitige Beeinflussung dieser Lernprozesse erfolgen kann oder in welchen unterschiedlichen Modi pädagogische Organisationen lernen (vgl. hierzu auch GÖHLICH 2009, S.29). [1]

Im Folgenden will ich diesen Fragen nachgehen, indem ich zunächst deutlich mache, an welche Ansätze zur Bestimmung eines Organisationslernens sich anzuschließen lohnt, um nicht zu stark oder ausschließlich auf die Lernprozesse einzelner oder kollektiver Akteur*innen in der Organisation zu fokussieren. Diese kurzen Überlegungen nutze ich, um eine Heuristik zur konzeptionellen Fassung von Schulorganisationen zu skizzieren, die als Folie zur Unterscheidung von Lernprozessen in und von Schulorganisationen dienen kann (Abschnitt 2). Im Anschluss daran erläutere ich den empirischen Zugang zur Erforschung der Prozesse des Lernens in und vor allem von Schulen und gehe dazu auf ein aktuelles Forschungsprojekt ein. In diesem Projekt habe ich mit der dokumentarischen Methode (BOHNSACK 2014) gearbeitet und den Analysen daher eine praxeologisch und wissenssoziologisch fundierte Perspektive zugrunde gelegt (Abschnitt 3). Kern des Beitrags ist schließlich die Darstellung und Diskussion empirischer Befunde aus diesem Forschungsprojekt. Genauer geht es um Analysen, die auf der Grundlage von einem Experteninterview mit dem Schulleiter einer Berliner Schule und einer Gruppendiskussion mit Lehrerinnen derselben Schule basieren (Abschnitt 4). Abschließend werde ich einerseits die Richtung skizzieren, in die eine Theoretisierung dieser Befunde bzgl. der Lernprozesse von Schulorganisationen gehen könnte; andererseits diskutiere ich die für die Erforschung des Lernens von pädagogischen Organisationen nötigen und die hier präsentierte exemplarische Analyse ergänzenden Schritte (Abschnitt 5). [2]

2. Organisationslernen als Veränderung des Aktivitätssystems Schule

Als Lernen kann im Anschluss an einschlägige erziehungswissenschaftliche Arbeiten (u.a. FAULSTICH 2014; GÖHLICH, WULF & ZIRFAS 2014), in denen u.a. kulturtheoretische (BOURDIEU 1987 [1980]) und pragmatistische (DEWEY 1980 [1922]) Ansätze stark gemacht werden, ein durch die Irritation von Handlungsroutinen (u.a. BUCK 1989; FAULSTICH & GROTLÜSCHEN 2006; MEYER-DRAWE 2008) ausgelöster Prozess der "Gewinnung von spezifischem Wissen und Können" (GÖHLICH & ZIRFAS 2007, S.180) gelten. Dieser Prozess kann eine Veränderung des theoretischen Wissens, aber auch des praktischen Könnens mit sich bringen und sowohl geplant und intentional als auch beiläufig und zufällig erfolgen.3) Als Organisationslernen könnte dann mit GÖHLICH, WEBER und SCHRÖER sowohl ein "implizites Lernen organisationskultureller Selbstverständlichkeit im Umgang mit sich und den Sachaufgaben" (2016, S.310) bezeichnet werden, aber auch ein "explizites Organisationslernen, z.B. als von organisationspädagogisch Professionellen unterstützte kollektive Erforschung und Reflexion dieser Selbstverständlichkeiten" (a.a.O.). Jenseits der Frage, auf welcher Wissensebene Lernprozesse greifen, ist für eine Unterscheidung des Lernens in und von Organisationen allerdings wichtig zu klären, wer überhaupt als Akteur*in oder als das Subjekt des Lernens gilt. Ohne auf die in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion nach wie vor relevanten Ansätze (u.a. von ARGYRIS & SCHÖN 1999 oder LAVE & WENGER 1991) im Detail eingehen zu können (vgl. zur Diskussion einiger dieser Ansätze GÖHLICH 2018), will ich im Folgenden an die Problematisierung der Auffassung anschließen, dass sich ein Lernen der Organisation verstehen lässt, wenn man auf die Lernprozesse der einzelnen oder kollektiven Akteur*innen in der Organisation fokussiert bleibt. Schon LAVE und WENGER (1991) weisen auf die Situiertheit von Lernprozessen hin. Lernen wird dort als zunächst handlungspraktische Bewältigung von Irritationen verstanden, die von einem Kollektiv in der Organisation ausgeht oder von ihr getragen wird, von "Communities of Practice" (WENGER 1998). Gerade mit Blick auf die Hinweise aus der Organisationssoziologie, bei denen explizierte formale Regeln als ein wesentliches Charakteristikum von Organisationen verstanden werden (KÜHL 2011; POHLMANN 2016), lässt sich aber die Frage stellen, ob sich von einem Lernen der Organisation sprechen lässt, wenn kollektive Akteur*innen in der Organisation (also etwa Communities of Practice von Lehrer*innen) ihre Diskurse und Artefakte verändern. Wenn man hingegen die gesamte Organisation als Community of Practice begreift (was als eine Lesart der Arbeiten von LAVE und WENGER zumindest möglich scheint), lässt sich hier der Bogen zu einem Ansatz von ENGESTRÖM (2004) schlagen: Als Akteur*in oder Subjekt des Lernens wird darin weder ein einzelnes Individuum noch ein Kollektiv in der Organisation ausgemacht, sondern die Organisation als "organized activity system" (ENGESTRÖM & SANNINO 2010, S.14). Es geht im Folgenden nun nicht darum, genauer zu untersuchen, wie sich Lernprozesse mithilfe der Perspektive von ENGESTRÖM analysieren lassen (vgl. hierzu insbesondere LANGEMEYER 2005), oder darum, seine Idee einer (stärker auf Interventionen abzielenden) "entwickelnden Arbeitsforschung" (HACKEL & KLEBL 2008, §2) aufzugreifen. Vielmehr soll an die von LAVE und WENGER bereits formulierte und von ENGESTRÖM weiter ausgearbeitete Vorstellung angeknüpft werden, dass sich Organisationslernen nur als ein situierter Prozess begreifen lässt: Gerade der Ansatz von ENGESTRÖM scheint anschlussfähig an den eingangs angesprochenen Versuch, Organisationslernen nicht auf die Lernprozesse der individuellen oder kollektiven Akteur*innen in der Organisation zu reduzieren. Es wird vielmehr die Relationalität der Aktivitäten der kooperierenden oder interagierenden Subjekte, ihrer Objekte, Werkzeuge und der Organisation als sozialem System hervorgehoben. Mit anderen Worten: Lernprozesse, die die Organisation insgesamt betreffen, müssen sich auf den Zusammenhang zwischen einzelnen oder kollektiven Akteur*innen und zwischen diesen Akteur*innen, der Nutzung der Artefakte und des Raums und auch auf die explizierten und formalisierten Regeln auswirken.4) [3]

Um eine genauere Vorstellung davon zu bekommen, welche Dimensionen für das Aktivitätssystem Organisation nun charakteristisch sind und worauf sich dann ein Lernen der Organisation im Einzelnen beziehen müsste, sollen diese hier nur knapp skizzierten Überlegungen im Folgenden am Beispiel der Schule konkretisiert werden. Die Elemente des Aktivitätssystems Einzelschule können im Anschluss an die Hinweise aus Organisationssoziologie (u.a. KLATETZKI 2010a) sowie Schultheorie und empirischer Schulforschung (BLÖMEKE, BOHL, HAAG, LANG-WOJTASIK & SACHER 2009; HELSPER & BÖHME 2008) genauer charakterisiert werden. Ich folge in der Diskussion und Zusammenführung dieser Überlegungen, wie einleitend bemerkt, einer praxeologisch und wissenssoziologisch fundierten Perspektive, die der dokumentarischen Methode (BOHNSACK 2014) zugrunde liegt. Auch wenn im Rahmen der dokumentarischen Organisationsforschung (AMLING & VOGD 2017) Anleihen aus anderen Theoriestränge wie Systemtheorie oder Neo-Institutionalismus gemacht werden, ist sie doch zunächst auf personale Akteur*innen fokussiert, die als Repräsentant*innen von Milieus in den Blick geraten (MENSCHING 2008; NOHL 2007). In dokumentarische Analysen werden daher prinzipiell die kollektiven, impliziten und handlungsleitenden Wissensbestände dieser Akteur*innen fokussiert. Zugleich wird in neueren Arbeiten aber in Rechnung gestellt, dass sich Organisationen nicht nur durch den je milieuspezifischen Vollzug der Praxis auszeichnen, sondern auch durch die Explizierung von formalen Regeln, indem etwa die Zwecke der Organisation und die daraus resultierenden Aufgaben der Mitglieder konkretisiert und die Verteilung der Aufgaben über Rollenzuschreibungen festgelegt werden (KÜHL 2011; POHLMANN 2016). Darüber hinaus lassen sich Organisationen auch durch solche Praktiken kennzeichnen, die den Zusammenhang der Akteur*innen als Organisation in der Praxis konstituieren. VOGD (2009, S.27) bezeichnete diesen Zusammenhang auch als praktische Seite der Organisationskultur. Diese beiden Ebenen – die explizierten formalen Regeln einerseits, die praktische Seite der Organisationskultur andererseits – sind aber gerade nicht auf einzelne oder kollektive Akteur*innen reduzier- oder rückführbar, sondern entfalten jeweils eigene Dynamiken (vgl. hierzu insbesondere MENSCHING 2016a, 2016b). Die Analyse des Aktivitätssystems Einzelschule, die im Folgenden vorgestellt wird, lässt sich damit u.a. von neo-institutionalistisch informierten Arbeiten unterscheiden, bei denen der Fokus auf die Rekonstruktion der "institutional logics" gelegt wird (KOCH, PIÑEIRO & PASCHE 2019, §12) und in denen Organisationen in erster Linie (wenn nicht ausschließlich) "als durch die alltäglichen Praktiken der Organisationsmitglieder mitgestalteter Komplex" (§18) verstanden werden. Die Bedeutung der formalen Struktur der Organisation wird dabei eher unterschätzt.5) Die folgenden Ausführungen lassen sich aber auch von Zugängen zur Erforschung des Wandels in und von Bildungsorganisationen abgrenzen, die vornehmlich an der Systemtheorie von LUHMANN orientiert bleiben (MUSLIC, GISSKE & HARTUNG-BECK 2020; PEETZ, LOHR & HILBRICH 2010) und bei denen in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Schulleitungshandelns stärker oder überbetont wird (siehe dazu auch die Diskussion der Ergebnisse in Abschnitt 5). [4]

Ohne an dieser Stelle im Detail auf die Überlegungen zu Charakteristika von Organisationen im Allgemeinen und der Schule als Organisation im Besonderen eingehen zu können, lässt sich zunächst festhalten, dass es prinzipiell lohnend ist, Schulen als Organisationen zu verstehen (AMLING 2021; DREPPER & TACKE 2012; THIEL 2008a, 2008b). Zwar sind die formalen Regeln, die für Schulen gelten, zu großen Teilen nicht auf der Ebene der Einzelschule verankert, sondern in Schulgesetzen und damit verbundenen administrativen Vorgaben (vgl. hierzu die Unterscheidung von äußerer und innerer Organisation der Schule bei DREPPER & TACKE 2012). Die Ausgestaltung dieser formalen Regeln erfolgt aber durchaus im Rahmen der Autonomie der Einzelschule. Das heißt, auch wenn BLUTNER (2004) zurecht darauf hinweist, dass Lehrkräfte einer Doppelmitgliedschaft bei der Einzelschule und dem jeweiligen Bundesland unterliegen, kann mit BROSZIEWSKI (2016) argumentiert werden, dass die für Organisationen konstitutive Mitgliedschaftsregel in den jeweiligen Schulen konkretisiert wird: Die Organisation Einzelschule nimmt in Anspruch und Lehrer*innen stellen pauschal in Aussicht, ihr Können "sowohl einzubringen (als Lehre) als auch herauszurechnen (als Bewertung), egal, welche Schüler[*innen] ihm [oder ihr] zum Unterricht zugeteilt werden (Gleichheitsgebot)" (S.58). Die operative und strukturelle Schließung der Schule erfolge dann, so BROSZIEWSKI weiter, über die an diese Mitgliedschaftsregel geknüpfte "Personalisierung des Könnens" (S.52) einerseits und die "Personalisierung der Bewertung" (a.a.O.) andererseits. [5]

Es scheint allerdings hilfreich, das o.g. Modell der Organisation als Aktivitätssystem mit Blick auf die Überlegungen aus Schultheorie und Schulforschung und aus soziologischer Organisationsforschung in Richtung einer Mehr-Ebenen-Analyse der Einzelschule weiterzudenken (vgl. hierzu auch HELSPER, HUMMRICH & KRAMER 2010), und zwar gerade auch, um die Analyse von Lernprozessen der Organisation handhabbar zu machen. Es geht hierbei also nicht mehr um theoretische, sondern um die damit verbundenen methodologischen Überlegungen, bei denen ich zwar auch an die in systemtheoretischer Perspektive entwickelten Differenzierungen anschließe, diese aber in der praxeologisch und wissenssoziologisch fundierten Perspektive, die meinem Beitrag zugrunde liegt, aufzugreifen und fruchtbar zu machen versuche.6) So lässt sich die Formalstruktur der Organisation Schule (als Ensemble der formalen Regeln) von der "Fassade" (KÜHL 2011, S.138) bzw. der Schauseite der Organisation unterscheiden: Zur ersten Ebene, der Formalstruktur, zählen bei der Einzelschule wie angedeutet u.a. die Erstellung von Lehrplänen, die Verwaltung von Finanzen, die Einrichtung von Jahrgangs- oder jahrgangsübergreifenden Klassen, die Klassengrößen und Zuteilung von Klassen an bestimmte Lehrer*innen, aber auch die Regeln zur Einsetzung von Gremien und allgemeiner zur Ausgestaltung der Kommunikationsstrukturen.7) Auf der zweiten Ebene, der Schauseite, geht es hingegen um die Darstellung einer Einheit der Schule in Programmen, auf Webseiten oder in Reden der Leitungsverantwortlichen. Diese Darstellung hat mehrere Funktionen: Durch sie kann nach außen die Passung der Arbeit der jeweiligen Schule mit den gesellschaftlichen (institutionellen) Erwartungen ausgedrückt oder auch nur postuliert werden (vgl. z.B. den neo-institutionalistischen Ansatz von MEYER & ROWAN 2009 [1977]). Sie ist aber andererseits nach innen Referenzpunkt für die Auseinandersetzungen um die Durchsetzung eines pädagogischen Entwurfs und um die Form des Umgangs mit/unter Kolleg*innen, die an dieser Darstellung (nach außen) gemessen werden können (siehe hier auch mit Bezug auf die Überlegungen zur Schulkultur BÖHME, HUMMRICH & KRAMER 2015). Von diesen beiden Ebenen oder Dimensionen zu unterscheiden sind die impliziten Regelmäßigkeiten oder die Logiken der Praxis, auf die ich in den Analysen, die ich im Folgenden präsentiere, den Fokus legen werde. Gerade weil Schulen nicht in erster Linie hierarchisch, sondern heterarchisch organisiert sind (BROSZIEWKSI 2016, S.61), spielt die Analyse dieser differenten Logiken der Praxis eine nicht zu unterschätzende Rolle für ein Verständnis des Aktivitätssystems Einzelschule.8) Als solche Logiken der Praxis lassen sich einerseits die unterschiedlichen Formen der Bezugnahme der Organisationsmitglieder auf formale Regeln und auf die darin explizierten beruflichen Anforderungen rekonstruieren. Andererseits lässt sich auch der Modus herausarbeiten, in dem die Mitglieder einer Organisation sich untereinander abstimmen, also mit Blick auf die Unterschiede in Aufgabenzuweisungen, aber auch auf die impliziten Haltungen eine Form finden, um ein gemeinsames Arbeiten zu ermöglichen. KÜHL fasst dies als mikropolitische "Spiele" (2011, S.113ff.), bei VOGD ist, wie bereits bemerkt, die Rede von der praktischen Seite der "Organisationskultur" (2009, S.27).9) [6]

3. Modi des Lernens in pädagogischen Organisationen – methodologisches und methodisches Instrumentarium

Im vorliegenden Artikel sollen die methodologischen Überlegungen und ersten Befunde aus einem laufenden Forschungsprojekt diskutiert werden. In diesem Projekt geht es darum, eine empirisch fundierte Theoriebildung zu der Frage zu betreiben, was das Lernen von pädagogischen Organisationen charakterisiert, gerade auch im Unterschied zu einem individuellen oder kollektiven Lernen in diesen Organisationen. Die im vorangegangenen Abschnitt skizzierte Heuristik dient im Projekt dazu, den Zusammenhang zwischen den Ebenen, die Organisationen als Aktivitätssysteme konstituieren, zumindest vorläufig in einer Weise theoretisch zu fassen, dass eine solche Unterscheidung zwischen einem Lernen in und einem Lernen von Organisationen möglich ist. Wenn eine Organisation als Ganzes lernt, so die aus der Heuristik folgende Annahme, muss entweder der Zusammenhang zwischen den Ebenen berührt sein, also zwischen der Formalstruktur, der Schauseite der Organisation und der Ebene der impliziten Regelmäßigkeiten bzw. Logiken der Praxis, oder die Lernprozesse müssen sich auf allen diesen Ebenen niederschlagen. [7]

In diesem Artikel soll nun keine ausgearbeitete Theorie und Methodologie der Erforschung von Prozessen des Organisationslernens präsentiert werden. Vielmehr möchte ich, ausgehend von den ersten Befunden aus dem genannten Forschungsprojekt, theoretische und methodologische Überlegungen dazu vorstellen und diskutieren, wie sich entsprechende Prozesse konzeptionalisieren und empirisch untersuchen lassen. Im Sinne eines reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie in der rekonstruktiven Forschung sollen die auf Basis der Heuristik gewonnen Analysen dann weitere Präzisierungen oder Erweiterungen anregen, die wiederum für die empirische Erforschung fruchtbar gemacht werden können. [8]

Im Projekt wurden 14 Gruppendiskussionen (BOHNSACK, PRZYBORSKI & SCHÄFFER 2010) mit pädagogischen Fachkräften aus insgesamt sechs unterschiedlichen pädagogischen Einrichtungen geführt, die drei unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern zuzuordnen waren: drei Schulen, eine Kindertagesstätte und zwei Träger der Jugendhilfe (siehe den Überblick über die Einrichtungen, die eingesetzten Erhebungsmethoden und die dadurch erhobenen Daten in Tabelle 1). Darüber hinaus habe ich insgesamt zehn Expert*inneninterviews (MEUSER & NAGEL 2009) mit Leitungsverantwortlichen der Einrichtungen geführt und Dokumente der Einrichtungen erhoben, u.a. programmatische Konzepte und die Selbstdarstellungen auf den jeweiligen Webseiten, Arbeitsplatzbeschreibungen und Organigramme sowie interne Handreichungen.10) In der Kontaktaufnahme mit den Einrichtungen und dann auch in der jeweiligen Erhebungssituation wurde auf einen potenziellen und aktuellen Anlass für Lernprozesse in und von pädagogischen Einrichtungen hingewiesen, nämlich die Aufnahme von Geflüchteten in den Jahren 2015 und folgende. Diese wurde als potenzielle Irritation (neben anderen) eingeführt, die nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern auch für die Kollektive in der Organisation und diese insgesamt Relevanz entfalten könnte. [9]

Die Auswahl der Organisationen, die in die Untersuchung einbezogen wurden, folgte der Strategie der Suche nach starken Kontrasten (GLASER & STRAUSS 1967; NOHL 2013, S.37ff.).11) Die Gemeinsamkeit aller Einrichtungen bestand darin, dass sie geflüchtete Kinder und Jugendliche als Klientel hatten. Es wurden im Einzelnen wie erwähnt Kitas, Schulen und Träger der Jugendhilfe kontaktiert. Die Kitas waren mit der Aufnahme von Flüchtlingskindern konfrontiert, in Schulen wurden sogenannte "Willkommensklassen" eingerichtet, d.h. Lerngruppen für neue Schüler*innen ohne Deutschkenntnisse (in anderen Bundesländern werden diese auch Vorbereitungsklassen genannt). Träger der Jugendhilfe arbeiteten schließlich mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung, insbesondere mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. In Bezug auf die Schulen und Kitas basierte der Kontrast dann darauf, dass die Einrichtungen in Quartieren situiert sind, die sich in Bezug auf die Präsenz von Menschen mit Migrationshintergrund (und dann auch mit Blick auf sozioökonomische Charakteristika der jeweiligen Wohnbevölkerung) stark unterscheiden. Bei den Trägern der Jugendhilfe war das entscheidende Kriterium die Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten oder mit Menschen mit Migrationshintergrund bereits vor 2015, d.h. bevor der größere Bedarf auch in solchen Einrichtungen dazu führte, mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung zu arbeiten, die dies vorher nicht getan hatten.

 

Gruppen-diskussionen

Expert*innen-interviews

Dokumente

Organisation A1

Kita in einem Quartier mit niedrigem Anteil von Kindern NDH12)

2 Diskussionen mit Erzieher*innen

1 Interview mit der Kitaleitung

Konzepte, Flyer, Handreichungen, Webseite

Organisation B1

Grundschule in einem Quartier mit niedrigem Anteil von Kindern NDH

4 Diskussionen (2 mit Lehrer*innen, 2 mit Erzieher*innen)

1 Interview mit der Leitung des Hortbereichs

Konzepte, Flyer,

Webseite

Organisation B2

Gemeinschaftsschule in einem Quartier mit hohem Anteil von Kindern NDH

3 Diskussionen (2 mit Lehrer*innen, 1 mit Erzieher*innen)

4 Interviews mit den Leitungen der Ganztagsbetreuung (Grund- und Sekundarstufe), Schul- und Grundschulleitung

Konzepte, Flyer, Handreichungen, Webseite, Protokolle

Organisation B3

Grundschule in einem Quartier mit hohem Anteil von Kindern NDH

1 Diskussion mit Lehrer*innen

1 Interview mit der Schulleiterin

Webseite

Organisation C1

Träger der Jugendhilfe mit wenig Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten

2 Diskussionen mit Sozialarbeiter*innen

1 Interview mit der Geschäftsführerin

Konzepte, Flyer Handreichungen, Webseite, Protokolle

Organisation C2

Träger der Jugendhilfe mit viel Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten

2 Diskussionen mit Sozialarbeiter*innen

2 Interviews mit den pädagogischen Leitungen Bereich "Betreutes Einzelwohnen"

Konzepte, Flyer, Handreichungen, Webseite, Protokolle

Tabelle 1: Übersicht über die Erhebungen je Einrichtung [10]

In Bezug auf die Auswertung gehe ich im Projekt mit MENSCHING (2016a) prinzipiell davon aus, dass sich ein erziehungswissenschaftlicher Lernbegriff, der zunächst auf das Lernen von einzelnen oder kollektiven Akteur*innen bezogen ist, auf Organisationen als korporative Akteurinnen übertragen lässt. Lernprozesse, die sich, wie im vorangehenden Abschnitt bereits erläutert wurde, als Prozesse der "Gewinnung von spezifischem Wissen und Können" (GÖHLICH & ZIRFAS 2007, S.180) zur nachhaltigen Beseitigung der Irritation von Handlungsroutinen fassen lassen, können nach MENSCHING (2016a, S.193), anhand der Unterscheidungen "vorher-nachher (zeitlicher Aspekt) und Erfolg-Misserfolg (evaluativer Aspekt) im Sinne einer Selbsteinschätzung (Beobachtung 1. Ordnung) bzw. Fremdeinschätzung (Beobachtung 2. Ordnung)" beschrieben werden. Im Projekt ging es dann darum, in einem ersten Schritt und ausgehend von den Erzählungen und Beschreibungen der personalen Akteur*innen der jeweiligen Organisation zu ihrem beruflichen Alltag und zu ihrem Umgang mit Herausforderungen deren Diskrepanzerfahrungen13) und darauf bezogene Bearbeitungsweisen zu rekonstruieren. Damit habe ich die akteur*innenseitigen "Lernorientierungen" (NOHL 2014) in den Blick genommen.14) Darüber hinaus lässt sich an den Aussagen der Akteur*innen aber auch deren Perspektive auf das Aktivitätssystem Einzelschule herausarbeiten, also eine Form der Positionierung in oder zu diesem System. Indem dann die Perspektiven verschiedener Organisationsmitglieder zusammengeführt werden, wird auf die Organisation als korporative Akteurin bzw. auf das "organized activity system" (ENGESTRÖM & SANNINO 2010, S.14) geschlossen. Über diese Analysen gerät zunächst das Aktivitätssystem Einzelschule, dann aber auch der Modus des Lernens dieses Systems in den Fokus, also eine Logik der schulorganisationalen Lernpraxis. [11]

Es geht mir im vorliegenden Beitrag nun darum, exemplarisch und am Beispiel der vergleichenden Analyse einer Gruppendiskussion und eines Experteninterviews aus einer Einrichtung aufzuzeigen, wie der skizzierte Zugriff auf die Organisation und ihre Logik des Lernens mit der dokumentarischen Methode funktioniert.15) Dabei sollen die Ergebnisse der Auswertung beider Erhebungen nicht in erster Linie zu einer wechselseitigen Validierung herangezogen werden. Im Fokus steht vielmehr die Frage, welche Relationen zwischen den Lernorientierungen und den Positionierungen zum oder im Aktivitätssystem unterschiedlicher in der Organisation präsenter Akteur*innen bestehen, und was dies über das Aktivitätssystem Organisation und über den Modus Operandi seines Lernens aussagt. Dieser Vergleich der Ergebnisse der empirischen Analysen lässt sich mit FLICK (2008) als Triangulation von (Erhebungs-)Methoden (Gruppendiskussionen und Expert*inneninterviews) und dadurch generierten Datensorten bezeichnen: Es geht also darum, unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand (hier: das Aktivitätssystem Organisation und seinen Modus Operandi des Lernens) zu werfen, um zu einem vertieften Verständnis der Charakteristika dieses Gegenstands zu kommen. [12]

Die Analysen, die ich im Folgenden vorstelle, basieren im Wesentlichen auf der Diskussion einer Gruppe von drei Lehrerinnen (Diskussion Gruppe Tetra16)) einer Gemeinschaftsschule mit den Klassen 1-9 (als Ganztagsschule in offener Form) und dem Interview mit dem Schulleiter dieser Schule (Interview Herr Tenten).17) Ich ziehe mit Blick auf die Bedeutung der komparativen Analyse in der dokumentarischen Methode aber punktuell auch die Auswertung anderer Erhebungen heran: Das ist zum einen das Interview mit der Schulleiterin einer zweiten Schule (Frau Liebig aus B3), zum anderen die Gruppendiskussion mit einer anderen Gruppe von Lehrer*innen derselben Schule (Gruppe Okta18) aus B2).19) Anhand der Gruppendiskussionen lassen sich als erster Schwerpunkt der Analyse die Lernorientierungen der Lehrer*innen rekonstruieren, also der Zusammenhang von Diskrepanzerfahrung und Bearbeitungsweise (vgl. hierzu auch AMLING 2015).20) Dabei geht es zunächst darum, herauszuarbeiten, was von den Teilnehmer*innen des Gesprächs überhaupt als Irritation erfahren wird: Welche konkrete Situation oder welcher Typ von Situation wird beschrieben und was gelingt darin im Einzelnen nicht so, wie es sollte? Darüber hinaus lässt sich über die Analyse entsprechender Beschreibungen und Erzählungen zeigen, wie, d.h. in welchem Modus Operandi, mit dieser Irritation umgegangen wird: Ist die Umgangsweise eher auf die Veränderung eines theoretischen Wissens oder auf ein praktisches Können bezogen, also auf Deutungs- oder Handlungsroutinen? In welchem Verhältnis steht bekanntes zu neuem Wissen oder Können bei der Bewältigung der Irritation, und wie weit wird die Irritation nachhaltig überwunden oder doch nur stillgestellt? Darüber hinaus, und das ist ein zweiter Schwerpunkt der Analysen, lässt sich anhand der Gruppendiskussionen rekonstruieren, wie sich die Teilnehmer*innen auf die Einzelschule als Aktivitätssystem beziehen: Wird die Schule als formale Struktur oder über Personen thematisiert? Wird sie als Einheit oder als segmentäre oder hierarchische Struktur adressiert? Wie wird die eigene Position in der Organisation charakterisiert? Und: Nehmen die Teilnehmer*innen sie als Ermöglichungsraum oder Verhinderungsbedingung wahr? [13]

In den Experten*inneninterviews wurden die Leitungsverantwortlichen der jeweiligen Einrichtung als Expert*innen für die Organisation als Ganzes in den Blick genommen. Prinzipiell wird dabei davon ausgegangen, dass als Expert*in in Betracht kommt, wer sich durch eine "institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit" (HITZLER, HONER & MAEDER 1994) auszeichnet. Expert*innenwissen zeichnet sich darüber hinaus durch die Möglichkeit aus, "in der Praxis in einem bestimmten organisationalen Funktionskontext hegemonial zu werden" und so "die Handlungsbedingungen anderer Akteure [...] in relevanter Weise" mitzustrukturieren (BOGNER & MENZ 2002, S.46). Ausgehend von ihrer Position in der organisationalen Hierarchie und den ihnen qua dieser Position zugewiesenen Aufgaben wird also angenommen, dass die Mitarbeiter*innen in schulischen Leitungspositionen "an entscheidender Stelle Verantwortung dafür tragen, dass Programme und Maßnahmen entwickelt, verabschiedet und umgesetzt oder aber auch blockiert werden" (MEUSER & NAGEL 2009, S.467) und damit auch über ein relevantes Betriebswissen verfügen. Die Analyse der Interviews dient dann im Prinzip ebenfalls den zwei genannten Zwecken, die auch für die Analyse der Gruppendiskussionen relevant sind: Erstens geht es um Hinweise darauf, was als ein Modus Operandi der Organisation im Umgang mit Irritationen gelten kann, was also im Einzelnen als Irritation der Organisation21) erfahren wird und wie die Organisation damit umgeht bzw. umgegangen ist. Zweitens wird gerade hinsichtlich der bereits genannten Charakteristika von Schulorganisationen anhand der o.g. Fragen untersucht, wie die Leitungsverantwortlichen sich auf die Organisation als Aktivitätssystem beziehen. In Bezug auf beide Punkte muss allerdings die Funktion der Schulleiter*innen als Repräsentant*innen der Organisation in Rechnung gestellt werden. [14]

In der Triangulation der Ergebnisse der Analysen wird herausgearbeitet, ob sich in Bezug auf die rekonstruierten Lernorientierungen (Analyseebene 1) und Bezugnahmen auf die Einzelschule als Aktivitätssystem (Analyseebene 2) Homologien, Komplementaritäten oder Divergenzen aufzeigen lassen. Gerade über diese Relationierung der Ergebnisse gerät also, so die Annahme, nicht nur in den Blick, was für die Einzelschule als Aktivitätssystem charakteristisch ist, sondern auch, was sich als organisationaler Modus der Bearbeitung von Irritationen und damit als organisationaler Modus des Lernens bezeichnen lässt. Für die Triangulation beziehe ich mich auf Überlegungen aus der Rekonstruktion der Diskursorganisation, etwa den Aufweis von Homologien oder Divergenzen in Bezug auf implizite Haltungen (PRZYBORSKI 2004). Darüber hinaus ziehe ich auch die im Rahmen der Unterrichtsforschung entwickelte Kategorie der "Rahmenkomplementarität" (MARTENS & ASBRAND 2017, S. 82-84; meine Herv.) heran: Dieser Begriff weist auf die qua Position in der Hierarchie einer Organisation bedingte und notwendige Differenz zwischen den Orientierungsrahmen von Organisationsmitgliedern (hier: von Lehrer*innen und Schüler*innen) hin, die sich aber in der Bewältigung des Unterrichts als komplementär erweisen können. Statt um Unterricht geht es im Folgenden allerdings um die beruflichen Aufgaben oder Herausforderungen, die sich den Organisationsmitgliedern stellen. [15]

4. Empirische Ergebnisse: auf den Spuren der Logik organisationaler Lernpraxis

4.1 Der Schulleiter als Repräsentant der Organisation

Das Experteninterview mit dem Schulleiter, Herrn Tenten, begann mit der Frage nach der Geschichte der Einrichtung. In Reaktion auf den Eingangsstimulus22) berichtete Herr Tenten von der Fusionierung von zwei Grundschulen, aus der die heutige Schule hervorgegangen sei, und verwies darauf, dass er erst an die Schule kam, als dieser Prozess, den er als "nicht einfach" charakterisierte, bereits weitgehend abgeschlossen war. Weitere Veränderungen, von denen er in der Eingangspassage berichtete und an denen er seit seiner Einstellung in 2005 beteiligt war, waren das jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL), das zu dieser Zeit als Reformprojekt vom Berliner Senat beschlossen worden war und für dessen Einführung in den Klassen 1-3 er in seiner Schule maßgeblich Verantwortung trug, und die Fusionierung der neu entstandenen Grundschule mit zwei weiteren (Ober-)Schulen, die dazu führte, dass die Schule sich (erfolgreich) für das Pilotprojekt Gemeinschaftsschule beworben habe. Die für Herrn Tenten charakteristische Positionierung in Bezug auf die Organisation als Aktivitätssystem wird schon zu Beginn des Interviews deutlich, exemplarisch in einer Passage zu Beginn des Gesprächs, in der Herr Tenten davon berichtete, wie die o.g. Prozesse im Einzelnen verlaufen waren:

"Also man muss ganz klar sagen dass ähm zwischen zweitausendfünf und zweitausendacht (2)23) viele Kolleginnen und Kollegen die Schule verlassen haben //mhm// soweit ich das gehört habe auch Leistungsträger und äh: @visionäre@ Inklusions äh Spezialisten und so weiter insbesondere von der Schwarzwaldschule; ä::hm (2) von der Allgäuschule weiß ich jetzt nicht genau aber ich glaube auch da sind einige gegangen; (.) ähm (3) und (.) das is ein ein Ding //mhm// wodurch natürlich sich ähm etwas bewegt sag ich mal weil es komm- wenn Leute weg gehen müssen ja neue Leute (.) dazu kommen //mhm// die vielleicht dann erst mal neutraler sind und ähm nicht diese Geschichte im Hintergrund mit: sich rumtragen, dass das eine; (.) öhm und dann war das Jahr bevor ich (.) angefangen ha:be kommissarisch (.) eine Schulleiterin an der Schule die aus dem: Kollegium kam und von allen eigentlich (.) mehr oder weniger irgendwie akzeptiert wa:r und (.) öhm (.) konstruktiv gearbeitet hat ein Jahr lang so dass //mhm// da zumindest irgendwelche Beschlüsse gefasst werden konnten und (2) öhm (.) Voraussetzungen geschaffen wurden //mhm// auf die ich echt gut aufbauen konnte; also ich=ich musste (2) es wurde (.) schon aufgeräumt; //mhm// son Stück weit muss man sagen" (Interview Herr Tenten, Passage 1, Z.6-20). [16]

An diesem Einstieg in die Beantwortung der Frage nach dem Ablauf der umfassenden Transformationsprozesse der Schule, die Herr Tenten zuvor angesprochen hatte, ist auffällig, dass er zwar explizit darauf hinweist, dass "Leistungsträger und äh: @visionäre@ Inklusions äh Spezialisten" die Schule verlassen hätten. Dies wird aber nicht als Problem, sondern vielmehr als Möglichkeit für die Veränderungen thematisiert. Wenn er davon spricht, dass die neuen Mitglieder "vielleicht dann erst mal neutraler sind und ähm nicht diese Geschichte im Hintergrund mit: sich rumtragen", ist das zum einen ein Hinweis auf die Annahme, dass die Organisationsmitglieder über ein organisationales Wissen oder Gedächtnis verfügen oder mehr noch: dieses verkörpern. Zum anderen scheint in seiner Perspektive nicht in erster Linie die Einbeziehung der engagierten und fähigen Kolleg*innen – oder auch: die Mobilisierung dieses organisationalen Gedächtnisses – der Ansatzpunkt für die anstehenden Veränderungen, sondern gewissermaßen seine partielle Neutralisierung. In der Darstellung der Arbeit der "kommissarischen Schulleiterin" dokumentiert sich zudem die Bedeutung eines weiteren Aspekts24) für die Ermöglichung der Entstehung des Neuen in Herrn Tentens Perspektive, nämlich die vom Kollektiv der Mitglieder getragene Formalisierung: Er hebt hervor, dass da "konstruktiv gearbeitet [wurde] ... ein Jahr lang so dass da zumindest irgendwelche Beschlüsse gefasst werden konnten und (2) öhm (.) Voraussetzungen geschaffen wurden". Nicht das Durchregieren der Schulleitung, sondern die stellvertretende Initiierung von die Veränderungsprozesse begleitenden oder vorbereitenden Maßnahmen und die Kollektivierung und Formalisierung der entsprechenden Entscheidungen ermöglichten in seiner Perspektive die Bewältigung der Transformationsanforderungen.25) Die Bemerkung am Ende der Passage, dass "schon aufgeräumt" wurde, kann sich dann auf beides beziehen, sowohl auf den (selbstläufigen) Austausch von Personal als auch auf die Arbeit der Schulleiterin. [17]

Hinsichtlich seiner Positionierung im Aktivitätssystem Organisation weisen die Aussagen von Herrn Tenten also vor allem auf einen Modus der Dezentrierung von Führung hin. Diese Positionierung gewinnt gerade im Vergleich mit dem Interview mit Frau Liebig Kontur: Frau Liebig ist Schulleiterin einer anderen Einrichtung (Organisation B3, siehe Tabelle 1) und betonte im Gespräch mehrfach und sehr ausdrücklich ihre Rolle in der Neustrukturierung insbesondere der Kommunikationsbeziehungen ihrer Schule. Herr Tenten hingegen fokussierte die Darstellung der eigenen Arbeit auf die Initiierung, Kollektivierung und Formalisierung von Entscheidungen. Die Schulleitung erscheint so im Wesentlichen als Moderatorin zwischen externen Anforderungen und interner Strukturierung. [18]

In Bezug auf den zweiten Analysefokus, die Frage danach, was im Einzelnen als Irritation der Organisation erfahren wird und wie die Organisation damit umgeht bzw. umgegangen ist, lassen sich aus der Analyse der zitierten Passage und des weiteren Interviews vorläufig folgende Punkte festhalten:

Mit dieser stark auf das System Schule fokussierten Perspektive verbunden ist die im Interview sich dokumentierende Annahme, dass für ein Lernen der Organisation zwar die Einbindung der Mitglieder nötig ist, dass ein solches Lernen aber auch über deren Austausch möglich scheint; der oder die einzelne Mitarbeiter*in wird v.a. als Katalysator der Veränderungsprozesse der Organisation relevant. [20]

4.2 Die Lehrerinnen als Mitglieder der Organisation

Beim Vergleich des Interviews mit dem Schulleiter und einer Gruppendiskussion mit Lehrerinnen derselben Schule fällt zunächst auf, dass die Lehrerinnen anders als Herr Tenten sehr ausführlich den Umgang mit den Schüler*innen thematisierten und dass auch die Irritationen, mit denen sie sich konfrontiert sahen, aus der Arbeit mit den Schüler*innen resultierten. Das wird exemplarisch an folgender Passage deutlich, in der die Teilnehmerinnen auf meine Nachfrage berichteten, was sie tun, wenn sie in konkreten Situationen nicht weiterwissen:

Poller: Ja gerade habe ich so Probleme mit äh: diese Schüler Yasin? heißt er und; (.) weil er ist eigentlich unruhig er macht was er will hab ich schon gesagt un:d äh ich habe alles versucht @(.)@ ich meine mit (.) diese Ampelsystem so rot gelb grün, und danach hat nicht @ge-klappt@ mit äh Strichliste=wenn du eine Strich bekommst dann musst du Hau- mehr Hausaufgaben machen (.) auch sie haben s- er macht die Hausaufgaben aber er bringt nix er (.) er lernt nie dann mit Belohnungen wenn du so was kleines Gutes machst dann kriegst du was oder (.) gehen wir Eis essen, auch nicht @bei ihm geklappt@ @(.)@ (.)

Yilmaz: └°@(2)@°

Bakels: └@(.)@ (Diskussion Gruppe Tetra, Passage 4, Z.1-9). [21]

An Frau Pollers Beschreibung von Yasins Verhalten als "Problem" lässt sich herausarbeiten, dass der negative Horizont ihrer pädagogischen Praxis ein von (nicht im Einzelnen explizierten) Vorgaben abweichendes Verhalten der Schüler*innen ist. Die Abweichung äußert sich etwa darin, "unruhig" zu sein oder zu machen, "was man will". Der positive Horizont, der darin impliziert ist, scheint dann ein ruhiges Verhalten zu sein, das auf die Vorgaben der Lehrer*innen und die Bedarfe anderer Schüler*innen abgestimmt ist bzw. eben nicht (nur) auf das, was man "will" (siehe Transkriptauszug, Gruppe Tetra, Passage 4, Z.2). Frau Poller fuhr im Interview fort, indem sie darstellte, dass sie auf das Verhalten des Schülers mit Konsequenzen gedroht habe; bei diesen Maßnahmen (Belohnung und Strafe) handelt es sich im Kern um Formen des operanten Konditionierens. Es ist an dieser Stelle besonders auffällig, dass Frau Poller nicht genauer erläuterte, wie das gewünschte Verhalten des Schülers aussehen sollte; das könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie das im Gespräch mit Kolleginnen als so selbstverständlich erachtete, dass es nicht thematisiert werden musste. Im weiteren Verlauf der Diskussion fanden sich in Übereinstimmung mit dieser Beobachtung zwar durchaus Versuche der Lehrerinnen, die biografischen Hintergründe der Schüler*innen nachzuvollziehen. Sie blieben in ihrer Darstellung der Situationen aus dem schulischen Alltag und der Schüler*innen selbst aber einer Perspektive verhaftet, in denen diese Schüler*innen an schulische Leistungs- und Verhaltensvorgaben angepasst werden müssen. Die Schule als formale Organisation mit klaren inhaltlichen und verhaltensbezogenen Vorgaben war also durchgehend nahezu einziger und weitgehend implizit bleibender Bezugspunkt für die Ziele, die die Lehrerinnen mit ihren Interventionen verfolgten: Es wurden also weder eigene Ziele oder Vorstellungen der Lehrerinnen in Abgrenzung davon thematisiert (etwa in Bezug auf alternative Formen des Lehrens), noch die Verhaltenserwartungen als durch die Struktur der Schule bedingt reflektiert.Und auch das Verhalten der Schüler*innen wurde im Verlauf des Interviews kaum als nachvollziehbar und prinzipiell begründbar dargestellt.27) [22]

Primäre Diskrepanzerfahrung für die Lehrerinnen der Gruppe Tetra ist also die Nichtpassung zwischen den Vorgaben der Schule und den Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Schüler*innen (vor allem derjenigen mit Fluchterfahrung). Dass die Lehrerinnen dieser Gruppe in der Beschreibung ihres beruflichen Alltags auf den Umgang mit den Kindern mit Fluchterfahrung und die Schwierigkeiten, diese Kinder in die schulischen Abläufe zu integrieren, fokussiert blieben, wird gerade im Vergleich zur Diskussion einer zweiten Gruppe von Lehrer*innen aus derselben Schule deutlich: In Gruppe Okta wurde weniger das abweichende Verhalten der Schüler*innen (mit oder ohne Fluchterfahrung) besprochen, als vielmehr die Nicht-Passung zwischen den von den Lehrer*innen explizierten eigenen Ansprüchen und den unter den gegebenen Bedingungen realisierbaren Unterstützungsleistungen für Schüler*innen. Hier wurden also auch die Voraussetzungen, unter denen die Arbeit mit den Schüler*innen geleistet wird, weitgehend explizit gemacht und reflektiert. [23]

In den Aussagen der Lehrerinnen der Gruppe Tetra dokumentiert sich zudem die Aufrechterhaltung der schulischen Ordnung als primäre Handlungsorientierung in Bezug auf die Bewältigung dieser Irritation.28) Die Diskrepanzerfahrung wird in erster Linie bearbeitet durch eine Deutung der wiederkehrenden Situationen im Umgang mit den infrage stehenden Schüler*innen. Diese Deutung geht mit einer Grenzziehung zwischen der Schule und der Umwelt einher und dient damit sowohl der Abwehr von bestimmten Anforderungen29) als auch der Herstellung von Gemeinschaft in der Gesprächssituation selbst. Anhand des Materials lassen sich allerdings noch zwei weitere Formen der Bearbeitung der Diskrepanzerfahrung rekonstruieren: Die Lehrerinnen berichteten erstens ausführlich davon, dass sie sich um eine Verregelung der Interaktion mit den Schüler*innen bemühen, d.h. eine Ordnung der Unterrichtssituation jenseits von Wissensvermittlung organisieren. Und sie riefen zweitens in der Diskussion mehrfach die Einheit Schule auf: Im wiederkehrenden Hinweis auf das Prozessieren der Klientel, dem sich die Lehrerinnen überlassen können, wird die Schule als Organisation thematisiert (formale Einheit), in den Beschreibungen der gegenseitigen Hilfe in schwierigen Situationen und in der Abwehr von (neuen) Anforderungen hingegen die Gemeinschaft der Kolleg*innen (soziale Einheit).30) [24]

Dieser letzte Punkt verweist auf den zweiten Analysefokus, die Perspektive der Lehrerinnen auf den Zusammenhang der verschiedenen Akteur*innen im Aktivitätssystem Einzelschule. Auf meine Nachfrage nach Formen der Zusammenarbeit entwickelte sich bspw. folgende exemplarische Gesprächspassage, in der vor allem Frau Yilmaz von einer Reihe von Funktionen der Zusammenarbeit unter Kolleg*innen berichtete:

Yilmaz: Wir versuchen da gerade jetzt auch bisschen unsere Teamstruktur n bisschen zu verändern; (.) dass wir s- gesagt haben wir wollen bisschen meh:r=also wir ham auch ne Superviso-=sor der kommt und unterstützt dabei dass wir halt gesagt haben wir schaffen das einfach nicht zu inhaltlich zu planen man muss halt viel äh Arbeit mit nach Hause nehmen; teilweise bleiben die Kollegen hier a- stundenlang und arbeiten hier und äh sagen ok dann will ich zu Hause nix machen=aber wir ham gesagt wir wollen versuchen dass wir gemeinschaftlich hier gemeinsam arbeiten in-=an inhaltlichen Sachen arbeiten und gemeinsam vorbereiten so dass (.) die Arbeit halt auch für den einzelnen Kollegen weniger wird. Also es: (.) ähm wir ham ja verschiedene Stränge und in äh in=allen Teams läuft es bisschen anders, (.) und wir sind gerade dabei=da wir ja auch jetzt neue Zusamm- stellung (.) innerhalb unseres Kollegiums haben das wir sagen wir wollen n bisschen anders arbeiten und daran arbeiten wir und äh haben uns Unterstützung geholt und versuchen so (.) pädagogisch gemeinsam zu planen; inhaltlich zu planen; sodass die Kollegen dann auch nicht mehr so belastet sind [Bakels: └°Hm.°] und äh: ja am Ende ihrer Kräfte sind weil das ist hier gerade so (.) eine Situation hier so dass äh viele Kollegen ja; (.) gesagt haben wir sind äh: überfordert kommen nicht klar (Diskussion Gruppe Tetra, Passage 3, Z.20-36). [25]

Das Ziel oder der positive Horizont der Arbeit im Team, der sich in den Aussagen von Frau Yilmaz dokumentiert, ist über drei Aspekte bestimmbar: 1. "gemeinsam" arbeiten, 2. "hier", also in der Schule und nicht "zu Hause", und dies 3. mit dem Ziel, eine Reduzierung der Arbeitsbelastung für die Einzelnen zu erreichen.31) Anhand ihrer wiederkehrenden Beschwerde über die Zustände an ihrer Schule lassen sich dann zwar Homologien zu den in anderen Arbeiten herausgestellten Mustern aufweisen, mit denen Lehrer*innen auf die Aufforderung reagieren, ihren beruflichen Alltag zu verändern. So sprach etwa GOLDMANN vom "Lamentieren" als Form der Konfliktvermeidung und als "gesellige Interaktion" (2017, S.156). Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich anhand des gesamten Gesprächs der Gruppe Tetra ja auch eine Form der Problemexternalisierung rekonstruieren lässt, ist aber auffällig, dass Frau Yilmaz an dieser Stelle gerade nicht bei der Feststellung stehen blieb, dass die Kolleg*innen überfordert seien. Und sie verwies auch nicht auf andere Akteur*innen (Eltern, Politiker*innen, Schulverantwortliche), die in dieser Situation Abhilfe schaffen müssten. Frau Yilmaz fokussierte vielmehr auf Lösungsmöglichkeiten, die in der Hand der Lehrer*innen selbst liegen und die zudem als kollektive Bewältigungsstrategien gekennzeichnet sind. Das lässt sich als ein starker Hinweis darauf lesen, dass bei Frau Yilmaz und im Kollegium ihrer Schule die Erfahrung der Machbarkeit von Veränderung durchaus präsent ist, und das wird auch im folgenden Ausschnitt deutlich:

Yilmaz: Deswegen ist es gerade hier son bisschen=hier an der Grundschule is schon so dass wir bisschen umstrukturieren; viele Kollegen verlassen uns auch weil sie gesagt haben wir (.) wir sind überfordert, verlassen die Schule, (.) aber wir ham gesagt wir wollen jetzt versuchen uns bisschen zu entlasten und ja auch mal manchmal auch als Team als Kollegium äh uns äh: Rückendeckung zu geben und auch mal dem Schulleiter auch mal zu sagen hey hier ist unsere Grenze=und jetzt an nem Thema Beispiel [Bakels: °Hm.°] Englisch (dass wir sagen) nee als K- Team wollen wir sagen wir wollen das nicht weil es ist ne Arbeitsbelastung, und dass die halt auch merken da ist ja auch bisschen so Unzufriedenheit und ähmja. Dass wir mehr Unterstützung brauchen (Diskussion Gruppe Tetra, Passage 3, Z.39-48). [26]

Indem Frau Yilmaz an dieser Stelle zwei mögliche Reaktionen auf die (in ihrer Perspektive unhaltbaren) Zustände an der Schule gegeneinanderstellte, zeigt sich zunächst, dass sie für die einzelne Lehrkraft durchaus einen Spielraum sieht, in unterschiedlicher Weise auf Irritationen zu reagieren, mit denen sie im beruflichen Alltag konfrontiert ist. Sie beschrieb dann aber gerade nicht die Beendigung der Mitgliedschaft als ihre Konsequenz aus den Zuständen, sondern das Wirken in die Struktur. Das "Team" ist an dieser Stelle ihrer Ausführungen zudem zwar mit dem "Kollegium" (das sich selbst oder den Einzelnen "Rückendeckung" gibt) identisch. Es umfasst aber nicht die ganze Schule bzw. alle dauerhaften Mitglieder der Organisation, sondern nur diejenigen, die einer Hierarchiestufe angehören: Die Abgrenzung erfolgt explizit gegenüber "dem Schulleiter", dem "wir" auch mal "sagen hey hier ist unsere Grenze=". In den Ausführungen von Frau Yilmaz dokumentiert sich also, dass es eine wichtige Ressource für die Bearbeitung von Herausforderungen im beruflichen Alltag ist, das "Wir" der Kolleg*innen zu aktivieren. Und gerade darin scheint auch der Lernprozess der Mitglieder zu liegen, der den Prozessen der Veränderung der Organisation als Ganzes (oder ihres Lernens) vorausgeht.32) [27]

4.3 Hinweise auf die Organisation Schule als Aktivitätssystem

Welche Hinweise auf Homologie, Komplementarität und Divergenz in Bezug auf die Lernorientierungen der Mitglieder von Schulorganisationen und ihre Positionierung im Aktivitätssystem Einzelschule finden sich nun in der Zusammenschau der Ergebnisse? Es lassen sich zunächst zwei ausgeprägte Homologien in der Bezugnahme auf das Aktivitätssystem aufzeigen: So wie der Schulleiter im Interview nicht die einzelnen Kolleg*innen thematisierte (diese wurden nur als Katalysatoren von Veränderungsprozessen thematisch), ging es auch in der Gruppe der Lehrerinnen um die Bearbeitung der Bedarfe eines nur vage umrissenen Kollektivs der Schüler*innen. Auch in der Diskussion wurden nicht die individuellen Erfahrungen oder Interessen der Schüler*innen besprochen, sondern ihr von der Ordnung bzw. den Regeln abweichendes Verhalten, und einzelne Schüler*innen wurden immer schon als Repräsentant*innen des Kollektivs eingeführt. Sowohl bei den Lehrer*innen als auch beim Schulleiter scheint damit die Perspektive auf das System Schule gerichtet, das funktionieren muss. Damit korrespondieren auffallende Ähnlichkeiten in Bezug auf die die sich in den Aussagen der Befragten dokumentierende Form des Umgangs mit Irritationen: Obwohl der Schulleiter u.a. den Prozess der Zusammenführung der Kollegien und die Einführung von JÜL als äußerst schwierig beschrieb (und ähnlich wie die Lehrerinnen auch die Aufnahme von Flüchtlingen als problematisch charakterisierte, wenn auch vor allem mit Blick auf die räumlichen Voraussetzungen der Schule), betonte er doch wiederholt, dass sich diese Transformationen unter Beteiligung der Kolleg*innen und dann v.a. durch die Formalisierung und Kollektivierung von Entscheidungen bewältigen ließen. Und obwohl die Lehrerinnen von einer Reihe von Erfahrungen berichteten, die sie an den Rand des Scheiterns brachten, kamen sie auch immer wieder darauf zurück, dass die Schule eben läuft. [28]

Vor dem Hintergrund dieser Homologien lässt sich festhalten, dass die herausgearbeiteten Perspektiven in zwei anderen Punkten komplementär sind: Die Lehrerinnen diskutierten primär den Umgang mit Schüler*innen, der Schulleiter v.a. die Arbeit an der formalen Struktur der Schule (etwa in Bezug auf die Umgestaltung der Kommunikationsbeziehungen mit oder unter den Kolleg*innen) bzw. an der Schauseite der Organisation (in Bezug auf die Beteiligung am Modellprojekt Gemeinschaftsschule). Die Lehrerinnen thematisierten darüber hinaus vor allem individuelle und kollektive (d.h. vom Kollektiv der gleichrangigen Kolleg*innen getragene) Bearbeitungsweisen ihrer Diskrepanzerfahrungen, der Schulleiter hingegen die strukturellen Bearbeitungsweisen der Organisation im Umgang mit Irritationen (oben angesprochen als Zusammenhang der Formalisierung und Kollektivierung). Komplementär sind diese Perspektiven, weil sie sich auf das Funktionieren der ganzen Schulorganisation beziehen. [29]

Es gibt daneben aber auch eine Divergenz: Die Lehrer*innen der Gruppe Tetra etablierten in der Diskussion eine starke Differenz zur Umwelt, zum einen, indem sie den Schüler*innen eine bestimmte kulturelle Zugehörigkeit zuschrieben, zum anderen, indem sie anderen Berufsgruppen die Fähigkeit zur Bearbeitung der Schwierigkeiten im Umgang mit den Schüler*innen zuwiesen. Herr Tenten hingegen ging nur kursorisch auf diese Umwelt ein: Sie schien zwar in den Anforderungen auf, die an die Schule gestellt würden, wurde aber nicht problematisiert oder als Folie zur Abgrenzung genutzt. Ob dies als Hinweis auf unterschiedliche Positionierungsnotwendigkeiten innerhalb der Organisation gelesen werden muss, müsste weiter im Blick behalten werden. [30]

5. Fazit: Erste Theoretisierung und weitere Forschungsperspektiven

Um das Lernen von Organisationen im Unterschied zu einem Lernen in Organisationen zu erforschen, müssen Organisationen als spezifische Form sozialer Strukturbildung in einer Weise konzeptionell gefasst werden, dass sich ein solcher Unterschied auch empirisch nachweisen lässt. Hierzu habe ich im Anschluss an ENGESTRÖM (2004) vorgeschlagen, Organisationen als Aktivitätssysteme zu verstehen, um den Blick auf die Relationalität der Aktivität zwischen (den kooperierenden) personalen Akteur*innen, ihren Objekten, Werkzeugen und der Organisation als sozialem System zu lenken. Der Ansatz von ENGESTRÖM lässt sich dann mit den Hinweisen von KÜHL (2011) und in Anlehnung an die Erkenntnisse aus Schultheorie und empirischer Schulforschung für Schulorganisationen weiter ausbuchstabieren (vgl. auch AMLING 2021): Schulen wurden im Beitrag als mehrdimensionale Gebilde gefasst, die als Zusammenhang von Formalstruktur, Schauseite der Organisation und impliziten Logiken der Praxis verstanden werden können. Auf Lernprozesse bezogen heißt das: Wenn eine Organisation als Ganzes lernt, ist die aus der Heuristik folgende Annahme, dass entweder der Zusammenhang zwischen den Ebenen berührt sein muss, also zwischen der Formalstruktur, der Schauseite der Organisation und der Ebene der impliziten Regelmäßigkeiten bzw. Logiken der Praxis, oder die Lernprozesse müssen sich auf allen diesen Ebenen niederschlagen. Die triangulierende Analyse von Gruppendiskussionen mit pädagogischen Fachkräften und Interviews mit Leitungsverantwortlichen ermöglichte es vor dem Hintergrund dieser Heuristik, anhand der Schilderungen von Mitgliedern einer Schulorganisation zu ihrem beruflichen Alltag auf implizite Orientierungen der Befragten im Umgang mit Irritationen zu schließen, auf die "Lernorientierungen" (NOHL 2014). Zudem ließen sich in der Auswertung wie erläutert unterschiedliche Formen der Positionierung im oder zum Aktivitätssystem Einzelschule herausarbeiten. Anhand der Zusammenschau dieser in der Organisation präsenten Perspektiven bzw. der impliziten Orientierungen kann dann zunächst auf die Schulorganisation als "organized activity systems" (ENGESTRÖM & SANNINO 2010, S.14) geschlossen werden und dann auch auf das, was man einen Modus des Lernens der Organisation oder eine Logik der organisationalen Lernpraxis nennen könnte. [31]

Mit Blick auf die präsentierten empirischen Befunde ließe sich nun an die Überlegungen aus der bereits erwähnten Forschung zum Wandel von Bildungsorganisationen anschließen, die sich auf die Analyse des Schulleitungshandelns konzentriert hat. Zum einen bestätigte sich die Annahme, dass sich der Schulleitung gerade im Umgang mit Herausforderungen vor allem die Aufgabe der Koordination der innerhalb der Schule ablaufenden Aktivitäten stellt. Dies lässt sich, wie es PEETZ et al. (2010) vorgeschlagen haben, durchaus vor dem Hintergrund des Wandels des Bildungssystems verstehen: Kern der Reformvorschläge der letzten knapp zwei Jahrzehnte war ja gerade die "Dezentralisierung der Steuerung von Schulen" über die "Übertragung der Verantwortlichkeit für die Verfügung über Ressourcen, Management und Organisation des Schulalltags an die Einzelschule", die mit einer "kontinuierlichen Leistungskontrolle und Evaluation" (§40) verbunden wurde. PEETZ et al. haben zudem aufgezeigt, in welch unterschiedlicher Art und Weise die mit diesen Reformen verbundenen neuen Aufgaben von Schulleiter*innen bewältigt wurden: Das Kontinuum reicht von der "gemeinschaftlichen Koordination" (Abschnitt 4.2), in der die Schulleitung als Primus inter Pares agiert, bis zum Schulleitungshandeln als "entscheidungsorientiertes Management" (Abschnitt 4.3). Auch wenn das vorliegende Material nur einen ersten Zugang zum Verständnis der Einzelschule als Aktivitätssystem erlaubt, ließe sich die Position des Schulleiters Herrn Tenten eher auf der Seite der gemeinschaftlichen Koordination positionieren. Man könnte, auch im Anschluss an die Befunde aus anderen Arbeiten, von einem "partizipativen Führungsstil" (BRAUCKMANN 2012, S.85) sprechen, für den u.a. die "Förderung von offener Kommunikation im Kollegium, [die] Gewährung unterrichtsbezogener Autonomie an die Lehrpersonen, [die] Schaffung einer gemeinsamen Vision zwecks Schulentwicklung … [sowie die] aktive Einbindung von Kolleginnen und Kollegen in die Planung und Umsetzung dieser Vision" (a.a.O.) charakteristisch ist. [32]

Es ist allerdings im Lichte der entwickelten Heuristik zu kurz gegriffen, wenn sich die Analyse der Ansatzpunkte und Dynamiken von Wandlungsprozessen von Bildungseinrichtungen nur oder in erster Linie auf die Analysen des Führungs- oder Entscheidungshandelns der qua Rolle mit mehr Entscheidungsmacht ausgestatteten Akteur*innen konzentriert. Ob etwa der Führungsstil der Leitungsverantwortlichen ursächlich für eine bestimmte Form der Bezugnahme der Mitglieder aufeinander ist (oder diese eher reflektiert) und welche Bedeutung das Führungshandeln für die organisationale Form der Bearbeitung von Diskrepanzerfahrungen hat, ist mit dieser Analyse noch nicht ausgemacht. So wurden in den vorliegenden Darstellungen der unterrichtlichen Praxis durch die Lehrerinnen der Gruppe Tetra zwar durchaus einige Ansatzpunkte für organisationales Lernen sichtbar und mitunter explizit angesprochen. Im Interview mit dem Schulleiter wurden diese aber größtenteils nicht thematisiert. Es ließe sich nun in einer einseitig auf das Schulleitungshandeln fokussierten Perspektive von einer devolution sprechen, also von der "Übertragung von Entscheidungsvollmachten von den oberen zu den unteren Entscheidungsebenen, auf denen nicht mehr zustimmungspflichtig Entscheidungen getroffen werden können" (S.82) – die Lehrkräfte müssen sich also selbst um die Bearbeitung der in der Lehr- oder Unterrichtspraxis auftretenden Irritationen kümmern. Das stimmt mit Überlegungen zu den Charakteristika von sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisationen überein: KLATETZKI bezeichnete diesen Typ von Organisationen mit SMITH (1974) als "front-line-organizations",

"da die Handlungen zwischen Klienten und Personal abgeschottet und entfernt von den Aktivitäten der Leitung und des Managements der Einrichtungen und Dienste stattfinden und das Führungspersonal auf die Mitteilungen und Informationen des Personals angewiesen ist, wenn es wissen will, was an der 'Front' passiert" (KLATETZKI 2010b, S.17). [33]

Schulleitungskräfte sind also vor allem aufgrund der notwendigen Autonomie der in der Organisation professionell Tätigen in ihren Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt. Es kommt dann aber darauf an, die Relationen der unterschiedlichen Größen des Aktivitätssystems Einzelschule in den Fokus zu rücken. So stellten auch THILLMANN, BRAUCKMANN, HERMANN und THIEL (2015) fest, dass es (zu) wenige Analysen zu den Kontextbedingungen von Führungshandeln gebe, und gerade auch "die Organisation von den Handelnden theoretisch und empirisch zu trennen bleibt vorerst ein zentrales Forschungsdesiderat" (S.196). [34]

Um ein vollständigeres Bild dieser und anderer pädagogischen Einrichtungen als Aktivitätssystem/e zu gewinnen und um dann auch die Verschränkungen individueller und kollektiver Lernprozesse mit den Lernprozessen der jeweiligen Organisation im Detail analysieren zu können, müssten die vorgestellten Analysen noch ergänzt werden. Für den vorliegenden Fall wäre etwa die Auswertung der Gruppendiskussionen mit anderen Lehrer*innen und Erzieher*innen derselben Schule einerseits und der Interviews mit weiteren Leitungsverantwortlichen andererseits hinzuzuziehen. Auf diese Weise ließe sich zeigen, ob in Bezug auf Lernorientierungen und Positionierungen im Aktivitätssystem im Vergleich der Perspektiven unterschiedlicher Akteur*innen Homologien, Komplementaritäten oder Divergenzen nachweisbar sind. Darüber hinaus würde die Analysen der Dokumente, die in der Organisation produziert und zirkuliert werden, dabei helfen, die organisationalen Logiken des Lernens im Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen genauer zu konturieren. [35]

Anhang: Richtlinien der Transkription33)

 

Beginn einer Überlappung, d.h. gleichzeitiges Sprechen von zwei Diskussionsteilnehmer*innen oder direkter Anschluss beim Sprechwechsel

Ende einer Überlappung

(.)

kurze Pause bis zu einer Sekunde

(3)

Pause, Dauer in Sekunden

nein

betont

°nein°

leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin)

.

stark sinkende Intonation

;

schwach sinkende Intonation

?

stark steigende Intonation

,

schwach steigende Intonation

viellei-

Abbruch eines Wortes

ja=ja

schneller Anschluss, Zusammenziehung

nei::n

Dehnung, die Häufigkeit vom ":" entspricht der Länge der Dehnung

(kein)

Unsicherheit bei Transkription, schwer verständliche Äußerung

( )

Äußerung ist unverständlich, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung

((stöhnt))

Kommentare bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen

@nein@

Text wird lachend gesprochen

@(.)@

kurzes Auflachen

@(3)@

drei Sekunden Lachen

Literatur

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Anmerkungen

1) Ohne an dieser Stelle eine zusammenfassende Übersicht leisten zu können, lässt sich doch konstatieren, dass es insbesondere in der frühpädagogischen Forschung und in der Forschung zur Praxis der Sozialen Arbeit nur wenige Arbeiten gibt, in denen die Einrichtungen, in denen die Fachkräfte jeweils tätig sind, überhaupt alsOrganisationen thematisiert wurden. Ausnahmen sind etwa CLOOS (2008), KIESELHORST (2010) oder auch BUSSE, EHLERT, BECKER-LENZ & MÜLLER-HERMANN (2016). In der Erwachsenenbildung ist die Organisationshaftigkeit der Einrichtungen hingegen schon länger in der Diskussion (vgl. etwa DOLLHAUSEN & NUISSL VON RHEIN 2007). <zurück>

2) Man könnte als Professionalisierung etwa mit Bezug auf den kompetenzorientierten Ansatz verstehen, dass ein Lernprozess dazu führt, dass ein*e Lehrer*in sich "professionelle Kompetenz[en]" (BAUMERT & KUNTER 2006) aneignet und damit für einen besseren "Output" der Organisation sorgt (indem z.B. die Leistungswerte der Schüler*innen verbessert werden). Mit HOLZKAMP (2004) ließe sich aber auch annehmen, dass es unter den Bedingungen der Schule (nicht nur bei Schüler*innen) vor allem zu einem "defensiven Lernen" (S.30; meine Herv.) kommt, das im Wesentlichen die Bewahrung von Handlungsfähigkeit ermöglicht – ob oder in welcher Weise ein solches, defensives Lernen noch als Professionalisierung gelten kann, wäre allerdings die Frage. <zurück>

3) Ob mit dieser Definition auch Prozesse des beiläufigen Lernens angemessen beschrieben sind, hängt an der Frage, was im Einzelnen als Irritation von Handlungsroutinen gelten kann. Ich schließe hier an die Rezeption von DEWEY durch NOHL (2018a) an. NOHL hielt mit Blick auf den Begriff der "primary experience" bei DEWEY (1986 [1925], S.15) fest: "Wo sich, weil Mensch und Welt in einer Passung sind, die primary experience stets reproduziert, entstehen 'habits' (Dewey 1980, S.15) im Sinne von Routinen der Praxis. Wo es eine solche Passung zwischen Mensch und Welt nicht gibt oder sie aus den Fugen gerät, treten spontane Handlungsanregungen auf den Plan; diese können das Handeln in diesem Moment vollständig erfüllen und bringen dann, wie es bei Dewey (1987, S.66) heißt, 'eine Erfahrung in Gang ..., die nicht weiß, wohin sie geht’, die also weder von Routinen noch von reflektierten Intentionen geprägt ist" (NOHL 2018a, S.70). Auch wenn es NOHL hier um die Unterscheidung von intentionalem und spontanem Handeln und die Frage nach der Offenheit und der Habituierung von Praktiken geht, können in dieser Perspektive Irritationen von Handlungsroutinen als solche Erfahrungen betrachtet werden, in denen entweder keine Passung zwischen Mensch und Welt mehr besteht oder diese Passung noch nicht besteht. In beiden Fällen kann sich ein Lernprozess anschließen. <zurück>

4) Hier ließe sich auch an die Überlegungen zu einer "transaktionalen Forschungsperspektive" anschließen, die NOHL (2018b, S.37ff.) mit Bezug auf DEWEY und BENTLEY (1989 [1949]) skizzierte. Eine solche Forschungsperspektive zu realisieren, die für die Erforschung von Organisationslernen in dem hier entwickelten Verständnis sicher äußerst ertragreich wäre, würde allerdings voraussetzen, weitere Materialsorten zur Verfügung zu haben, etwa Videografien oder Bilder (siehe dazu auch die Hinweise zur Analyse von Dokumenten in Abschnitt 3). <zurück>

5) KOCH et al. beziehen sich hier auf die Arbeit von LIPSKY zur so genannten "street level bureaucracy" und nehmen mit einem Zentrum für Kinder- und Jugendhilfe eine Abteilung des Schweizer Jugendamts in den Blick. Dieses Zentrum kann mit KLATETZKI (2010b) als eine Form der sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisation gelten, die sich zwar durch eine Entkopplung zwischen formaler oder bürokratischer Struktur und professioneller Praxis auszeichnet; nichtsdestotrotz gibt die formale Struktur einen Rahmen für die Praxis vor, und ihre Relevanz oder Irrelevanz sollte empirisch geprüft und nicht von vornherein theoretisch bestimmt werden. <zurück>

6) Eine Alternative zur Erforschung von Organisationen auf der Basis der dokumentarischen Methode bieten JANSEN, VON SCHLIPPE und VOGD (2015) mit der "Kontexturanalyse" an. Auch wenn die Vorstellung, dass in Organisationen von einem "Amalgam aus kommunikativem und konjunktivem Wissen" (§9) auszugehen ist, auch an die skizzierte Konzeption einer Organisation als Aktivitätssystem anschlussfähig ist, scheint der Kontexturbegriff in der Breite seiner Verwendung – damit kann bezeichnet sein "ein Körper, eine Institution, ein Milieu oder ein Selbst" (§88) – wenig fassbar. <zurück>

7) Natürlich wären bei einer systematischen Analyse der formalen Regeln, die für Einzelschulen gelten, auch die übergeordneten Ebenen der Schulgesetzgebung und Schulverwaltung zu berücksichtigen (vgl. die Unterscheidung von innerer und äußerer Organisation der Schule bei DREPPER und TACKE 2012). Dazu müssten etwa Vorgaben über Schulformen, Rahmenlehrpläne, die Besoldung der Mitglieder, aber auch die Forderung nach Schulprogrammarbeit und Evaluation analysiert werden (vgl. zur Relation von innerer und äußerer Organisation auch MUSLIC et al. 2020). <zurück>

8) Hierauf wiesen ja auch WEICKs Überlegungen zu Organisationen des Bildungssystems als "loosely coupled systems" (1976) hin, in denen also nur eine lose Kopplung zwischen bürokratischer Struktur und professioneller Praxis besteht. <zurück>

9) Dass die Abstimmung zwischen den Mitgliedern in diesen Ansätzen für notwendig gehalten wird, basiert auf der Annahme, dass den Organisationsmitgliedern nicht nur unterschiedliche Meinungen, Ziele und Arbeitsaufträge, sondern vor allem auch divergierende Orientierungen und Regelverständnisse unterstellt werden können. <zurück>

10) Hier folge ich den Überlegungen von PEETZ et al. (2010), dass Akten oder genauer Dokumente einen Zugang zur Formalstruktur der Organisation bieten (§27 und 28), wobei ich noch je nach Dokumentenart unterscheide, ob darüber der Zugriff auf die formale Programmierung oder die Schauseite der Organisation ermöglicht wird. Ähnlich wie PEETZ et al. begreife ich zudem die Analyse von Dokumenten nur als einen Teil der Analyse von Organisationen. <zurück>

11) In der dokumentarischen Methode ist statt von Sampling von einer "theorie- und erfahrungsgeleiteten Suchstrategie" (NOHL 2013, S.54) die Rede, die sich (in der Regel, aber nicht notwendiger Weise) auf gesellschaftlich etablierte Dimensionen gesellschaftlicher Heterogenität bezieht. Obwohl es hier also Anleihen beim selektiven Sampling gibt, geht die Suchstrategie ganz im Sinne des theoretischen Samplings bei GLASER und STRAUSS "idealerweise mit einer Rekonstruktion der Fälle einher, die so detailliert ist, dass auch jenseits der theoretischen Vorannahmen liegende Aspekte der Fälle auffallen und zur Typenbildung genutzt werden können" (NOHL 2013, S.54) – d.h. die Suchstrategie kann durch die empirischen Rekonstruktionen infrage gestellt und dann das Sample entsprechend erweitert werden, weswegen sich von einem iterativen Vorgehen in der Forschungspraxis sprechen lässt. <zurück>

12) Das Kürzel steht für die in Schulen übliche Kennzeichnung von Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache. <zurück>

13) Als Diskrepanzerfahrungen verstehe ich eine Form der Wahrnehmung von Irritationen, durch die Handlungsroutinen unterbrochen werden. Für die empirische Analyse können weiter Diskrepanzerfahrungen (FAULSTICH & GROTLÜSCHEN 2006) und Bearbeitungsweisen unterschieden werden (vgl. hierzu im Detail auch AMLING 2015). Der Begriff der Herausforderung, der im Folgenden auch verwendet wird, ist vor allem forschungspraktisch relevant geworden, weil ich hiermit die Kontaktaufnahme zu den Einrichtungen und die Interviews und Gruppendiskussionen eingeleitet habe. <zurück>

14) Mit dem Begriff der Lernorientierung schließe ich an die Überlegungen von NOHL, ROSENBERG und THOMSEN (2015) an, die im Rahmen der Ausarbeitung einer empirischen Lern- und Bildungsforschung zwischen den Orientierungsrahmen der Akteur*innen als umfassend gedachte "Lebensorientierungen" und den kleinteiligeren "Handlungsorientierungen" (S.217ff.) unterschieden. Handlungsorientierungen stehen für implizite, handlungsleitende und kollektive Wissensbestände, die nur auf bestimmte Praxisbereiche bezogen sind: Sie "haben ihre Geltung [...] immer nur in Bezug auf spezifische Weltausschnitte" (S.218). <zurück>

15) Ich konzentriere mich in diesem Artikel auf die vergleichende Analyse von Gruppendiskussion und Experteninterview und präsentiere insofern nur einen ersten Teil der für die Rekonstruktion eines Modus des organisationalen Lernens relevanten Analysen. Während die Erhebung und Auswertung von Gruppendiskussionen und Interviews inzwischen zum Standard dokumentarischer Analysen gehören, gibt es zur Analyse von Dokumenten bisher keine ausgearbeiteten methodologischen Überlegungen. Ich beziehe mich diesbezüglich einerseits auf die von NOHL (2016) vorgeschlagene Anwendung der dokumentarischen Methode auf Diskurse: Mit NOHL lässt sich argumentieren, dass über eine solche Analyse zwar auch ein Modus Operandi herausgearbeitet werden kann. Dieser muss aber nicht habitustheoretisch zugerechnet werden, sondern lässt sich auch als organisationsspezifische Logik der Prozessierung von Regeln verstehen (ähnlich MENSCHING 2016a, 2016b). Andererseits kann auf NOHLs (2018b) Überlegungen zu einer dokumentarischen Analyse von Artefakten zurückgegriffen werden, wenn es auch gewisse Grenzen der Übertragbarkeit gibt: Die Dokumente, die ich im Projekt erhoben habe, haben einen anderen Status als die Alltagsdinge (etwa eine Tischtennisplatte), die NOHL (2018b, S.44ff.) in seiner exemplarischen Analyse untersucht hat. Da meine methodologischen Arbeiten zu den Analysen der Dokumente, die ich im Projekt erhoben habe, noch nicht weit genug vorangeschritten sind, muss eine systematische Erörterung dieser Fragen einer späteren Veröffentlichung vorbehalten bleiben. <zurück>

16) Zur Gruppe Tetra gehörten drei Lehrerinnen der Schule, die in den sogenannten Vorbereitungsklassen arbeiteten oder gearbeitet hatten und ansonsten im Grundschulbereich der Schule tätig waren. Es sind Frau Yilmaz (37 Jahre), Frau Bakels (57) und Frau Pompadou (27). Die Namen der Befragten wurden ebenso anonymisiert wie die Namen der Einrichtungen und alle Eigennamen, die in den Interviews und Gruppendiskussionen verwendet wurden. <zurück>

17) Alle Erhebungen im Projekt habe ich selbst durchgeführt. <zurück>

18) Die Gruppe Okta bestand aus zwei Lehrerinnen und einem Lehrer: Frau Ucker (48 Jahre), Frau Behnke (43) und Herr Malchow (37). <zurück>

19) Einen ähnlichen, multi-methodischen Zugang zur Analyse von Organisationen als Aktivitätssystemen wählen im Übrigen HACKEL und KLEBL (2008), wenn auch aus einer anderen paradigmatischen Perspektive. Sie konzipieren für ihre "entwickelnde Arbeitsforschung" einen Ablauf von "leitfadengestützten Einzelinterviews, der Strukturierung der Aussagen mittels Concept-Maps [...] und einer Gruppendiskussion" (Abs. 10). <zurück>

20) Die Mitglieder der Gruppendiskussionen werden dabei nicht, wie in der Dokumentarischen Methode üblich, in erster Linie als Repräsentant*innen eines Milieus adressiert; das hat die forschungspraktische Konsequenz, dass auch solche Diskussionen ausgewertet werden, in denen keine geteilten Orientierungen rekonstruierbar sind: Gerade solche Gruppendiskussionen weisen auf die Existenz unterschiedlicher Logiken der Praxis in derselben Organisation hin und sind aufschlussreich, um die o.g. Abstimmungsprozesse herauszuarbeiten (vgl. hierzu auch MENSCHING 2017). <zurück>

21) Davon unterscheidbar wären Irritationen, von denen die Führungskräfte berichten, die sie selbst im Zuge ihres Eingewöhnungsprozess in die Führungsrolle erlebt haben. <zurück>

22) "Erzählen Sie mir doch mal die Geschichte der Einrichtung, in der Sie arbeiten? Wann ist sie entstanden, wie hat sie sich verändert, unter welchen Bedingungen?" <zurück>

23) Die Richtlinien der Transkription finden sich im Anhang. <zurück>

24) Auch in diesem Abschnitt dokumentiert sich, dass es in Herrn Tentens Perspektive kein Verlust zu sein scheint, dass die kommissarische Schulleiterin die Schule verlassen hat, obwohl sie "von allen ... akzeptiert wa:r und (.) öhm (.) konstruktiv gearbeitet hat ein Jahr lang" (Z.16-17). Das ist eine Homologie zu dem bereits herausgearbeiteten Punkt, dass Veränderungen der Organisation in seiner Sicht durch eine partielle Neutralisierung des organisationalen Gedächtnisses ermöglicht werden. <zurück>

25) Gerade die Bedeutung der Kollektivierung deutet sich auch in dem Hinweis an, dass die kommissarische Schulleiterin "aus dem: Kollegium kam und von allen eigentlich (.) mehr oder weniger irgendwie akzeptiert wa:r" (Z.15-16): Die enge Bindung an das Kollegium und dessen Berücksichtigung waren (neben der selbstläufig oder von den Mitgliedern selbst initiierten Neutralisierung der Geschichte der Einrichtung) in Herrn Tentens Perspektive also weitere Bedingungen der Möglichkeit des erfolgreichen Veränderungsprozesses. <zurück>

26) Die Fusionierung, die in der zitierten Passagen angesprochen wird, wurde durch den Schulträger angestoßen. <zurück>

27) Damit hängt zusammen, dass die Versuche der Lehrerinnen, das abweichende Verhalten der Schüler*innen zu erklären, an mehreren Stellen in eine stereotype Kategorisierung dieser Schüler*innen mündeten, und zwar insbesondere über die Differenzsetzung gegenüber der durch sie verkörperten Schul- und Erziehungskultur. <zurück>

28) Man könnte hier noch ergänzen, dass die Lehrerinnen offenbar gerade die Tatsache, dass sie Verhaltensregeln einführen und durchsetzen – das heißt letztlich die Schüler*innen erziehen – müssen, als Irritation erleben. Dass dies immer wieder artikuliert wurde, mag auch dadurch verursacht sein, dass sie etwas anderes gelernt haben, nämlich die Vermittlung von fachlichem Wissen, das Lehren. <zurück>

29) So führt etwa die Kategorisierung der Schüler*innen als Repräsentant*innen einer fremden Erziehungs- oder Schulkultur dazu, dass die Lehrerinnen ihre eigene Praxis gegen die Anforderung immunisieren, diese Schüler*innen in die schulischen Abläufe zu integrieren. Man könnte hier auch von einer Problemexternalisierung sprechen, mit der Lernprozesse der Lehrerinnen selbst gerade nicht eingespurt werden. <zurück>

30) In Gruppe Okta erfolgte die Bearbeitung der (wie oben gezeigt etwas anders gelagerten) Diskrepanzerfahrung hingegen über eine Veränderung der Selbstwahrnehmung und insbesondere der Positionierung zur eigenen Arbeit: Die Lehrer*innen dieser zweiten Gruppe beschrieben ausführlich ihre Versuche, die Schüler*innen und ihre eigene Tätigkeit weniger problemorientiert zu diskutieren, sondern dabei auf Situationen zu fokussieren, in denen sie nach ihren eigenen Ansprüchen Wirksamkeit entfaltet haben. Zudem berichteten die Lehrer*innen ausführlich davon, dass sie eigenen persönlichen Bedürfnissen nachgehen, um mit den Herausforderungen umgehen zu können, mit denen sie sich in ihrem beruflichen Alltag konfrontiert sehen. <zurück>

31) Frau Yilmaz formulierte hier im Übrigen geradezu das Programm einer "professionelle[n] Lerngemeinschaft" (BONSEN & ROLFF 2006), wie sie in verschiedenen Veröffentlichungen als Mittel der Schulentwicklung diskutiert wird. <zurück>

32) In der Fortsetzung der Passage erwähnte Frau Yilmaz dann, wenn auch nur kursorisch, ein Beispiel (Z.45: "Thema Beispiel Englisch"): Es geht hier offenbar um eine Forderung, die sie und die Kolleg*innen an sich gerichtet fühlen (und die dem Schulleiter oder der entsprechenden Hierarchieebene zugerechnet wird), und die sie mit Blick auf die permanente Be- oder Überlastung zurückweisen (Z.47: "wir sagen wir wollen das nicht") – aber auch: zurückweisen können. Wiederum nimmt Frau Yilmaz hier auf ein anderes Kollektiv Bezug, gegenüber dem sich das Kollektiv der Kolleg*innen offenbar behaupten muss (Z.47: "dass die halt auch merken"). <zurück>

33) Ich orientiere mich an den "Richtlinien der Transkription: Talk in Qualitative Social Research", wie sie BOHNSACK, NENTWIG-GESEMANN und NOHL (2013) für die dokumentarische Methode systematisiert haben. <zurück>

Zum Autor

Dr. Steffen AMLING, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind die empirische Lern- und Bildungsforschung, pädagogische Organisationsforschung, Professions- und Professionalisierungsforschung, Theorie und Empirie der Analyse sozialer Ungleichheit in pädagogischen Kontexten sowie Theorie und Methodologie der rekonstruktiven Sozialforschung.

Kontakt:

Dr. Steffen Amling

Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg
Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften
Professur für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik
Gebäude H1, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg

E-Mail: amlings@hsu-hh.de

Zitation

Amling, Steffen (2021). Modi des Lernens in pädagogischen Organisationen.
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Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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