Volume 21, No. 3, Art. 11 – September 2020
Tagungsbericht:
Mei-Chen Spiegelberg
Workshop: Wie riecht das Frühjahr? Invektive Dynamiken digitaler Bildkommunikation als Herausforderung für die qualitative Sozialforschung. Dresden, 24. Januar 2020, organisiert von Professorin Dr. Heike Greschke, Professur für soziologischen Kulturenvergleich und qualitative Sozialforschung in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich 1285 an der TU Dresden und der Sektion Methoden der qualitativen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Zusammenfassung: Im März 2019 veröffentlichte die Baumarkt-Kette Hornbach ein Werbevideo "So riecht das Frühjahr" auf der Online-Video-Plattform YouTube, welches nicht nur zu einer hitzigen Online-Debatte in der Kommentarspalte führte, sondern auch eine transnationale Empörungswelle in verschiedenen Medien auslöste. Anhand des brisanten Medienereignisses wurde der schmale Grat zwischen Humor und Invektivität insbesondere in Bezug auf den globalen Kontext im Rahmen eines interdisziplinär gestalteten Workshops thematisiert. Dabei stand die Diskussion über die methodische Vielfältigkeit, aber auch über Herausforderungen in der Analyse digitaler Kommunikationen im Vordergrund. In diesem Workshopbericht gebe ich einen Überblick über die gemeinsame Arbeit am Material und die Inhalte der Vorträge sowie von deren Diskussion. Das Programm beinhaltete Vorträge zur Invektivitätsheuristik in digitaler Kommunikationsforschung von Heike GRESCHKE, zur ethnomethodologischen Analyse visueller Daten von Ruth AYAß und zur medienlinguistischen Mehr-Ebenen-Kommentaranalyse von Jannis ANDROUTSOPOULOS. Ich zeige, dass aus dem multiperspektivischen Austausch von Methoden und Theorien viele Möglichkeiten zur Untersuchung invektiver Phänomene resultieren.
Keywords: Invektivität; Interkulturalität; Internetkommunikation; Analyse visueller Daten; Membership Categorization Analysis; Kommunikationsanalyse; Kommentaranalyse; YouTube; Hornbach
Inhaltsverzeichnis
1. Ausgangspunkt des Workshops
2. Humorvolle Invektivität oder invektiver Humor im Mediendiskurs? Einführungsvortrag von Heike GRESCHKE (Dresden)
2.1 Skizze der Invektivitätsforschung und das Fallbeispiel "So riecht das Frühjahr"
2.2 Theoretische Überlegung über Anschlusskommunikation im Netz
2.3 Metainvektivität online
2.4 Humorvoll oder invektiv?
3. Was ist an den bewegenden Bildern humorvoll/invektiv? Impulsvortrag von Ruth AYAß (Bielefeld)
3.1 Membership Categorization Analysis der Sequenzen
3.2 Die dritten Akteur*innen: Realitäts- oder Fiktionstopos?
3.3 Eine weitere analytische Ebene: Sound on!
4. Positionierungen im Deutungskampf und deren invektive Dynamiken. Impulsvortrag von Jannis ANDROUTSOPOULOS (Hamburg)
4.1 Wo erkennt man Invektivitätsprozesse in der Medienlandschaft?
4.2 Mit welchen Referenzen wird positioniert? Die Kommentaranalyse
4.3 YouTube als partizipatives Framework
4.4 (Meta-)Invektives Handeln in digitalen Kommunikationen
5. Fazit und Ausblick für die weitere Invektivitätsforschung
1. Ausgangspunkt des Workshops
"Drei weiße, ältere Männer bei der Gartenarbeit, untermalt von sinnlicher Musik. Kamerazoom auf erdige Hände und schweißnasses Brusthaar. Nach der Gartenarbeit ziehen die Männer ihre verschwitzten Kleidungsstücke aus, die unter den Augen zweier Männer in weißen Kitteln gesammelt werden. Anschließend ist ein Fließband zu sehen, die einzelnen Wäscheartikel werden vakuumverpackt und in einem Automaten in einer grauen Fabrikstadt verkäuflich zur Verfügung gestellt. Eine asiatisch aussehende Frau nimmt eine solche Packung aus dem Automaten; sie öffnet die Packung, riecht genussvoll daran und verfällt in Ekstase. Ihr Gesichtsausdruck wird mit der Einblendung von vier Worten kommentiert: 'So riecht das Frühjahr'" (Ankündigungstext zum Workshop).
Der Werbeclip So riecht das Frühjahr1) wurde im März 2019 von der Baumarkt-Kette Hornbach auf der Online-Video-Plattform YouTube veröffentlicht. Er führte nicht nur zu einer hitzigen Debatte in den Online-Kommentaren zum Video, sondern löste auch eine transnationale Empörungswelle in den Medien aus. Beispielsweise lässt sich die Entrüstung auf einer japanischen und koreanischen Petition herauslesen, in der die Unterstützer*innen ihre Abneigung gegen das Video begründeten. In den YouTube-Kommentaren zum Video zeigte sich, dass es sehr unterschiedliche Möglichkeiten gab, die in dieser Werbung enthaltenen Informationen zu verstehen: Während die einen die Idee für witzig und humorvoll hielten, empörten sich andere darüber. Die Verärgerung rührte aus unangenehmen Gefühlen, die der Spot auslöste, wenn Rezipient*innen ihn als invektiv empfanden. Mithilfe des Terminus "Invektivität" werden im Dresdner Sonderforschungsbereich 1285 "Invektivität: Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung" (im Folgenden: SFB 1285) solche Kommunikationen erforscht, die dazu geeignet sind, herabzusetzen, zu verletzen, zu schmähen, herabzuwürdigen, auszugrenzen, bloßzustellen etc. (ELLERBROCK et al. 2017, S.3). In den Forschungsprojekten des SFB 1285 werden die Kommunikationsprozesse zu solchen Phänomenen und die daraus folgenden Effekte in verschiedenen Gesellschaften und Epochen untersucht. [1]
Zur Erforschung mediatisierter Empörung veranstaltete das soziologische Teilprojekt R "Invektive Kodierungen von Interkulturalität: Ethnografische Situationsanalyse in interkulturellen Trainings und Integrationskursen" des SFB unter der Leitung von Heike GRESCHKE einen Workshop, um sich exemplarisch für mediatisierte Empörungskommunikation diesem brisanten Medienereignis mit unterschiedlichen methodischen Verfahren zu nähern. Neben einem Einführungsvortrag, mit dem die konzeptionellen Prämissen des SFB 1285 am Beispiel des Hornbach-Videos von Heike GRESCHKE expliziert wurden, legten die geladenen Gäste Ruth AYAß (Bielefeld) und Jannis ANDROUTSOPOULOS (Hamburg) in ihren Impulsvorträgen den Fokus auf sozial- und sprachwissenschaftliche Analysemethoden. Während Ruth AYAß die visuellen Daten in der ethnomethodologischen Tradition der Mitgliedschaftskategorisierung analysierte, präsentierte Jannis ANDROUTSOPOULOS die Mehr-Ebenen-Kommentaranalyse aus medienlinguistischer Perspektive. Sie zeigten damit verschiedene Analysemöglichkeiten des Verständnisses von Humor und Invektivität im globalen Kommunikationsnetz. [2]
Im Folgenden werde ich die wesentlichen Inhalte der Vorträge nachzeichnen und jeweils im Anschluss die dadurch inspirierten Diskussionen skizzieren. Zuerst werden anhand des Vortrags von GRESCHKE die medien-vermittelten Interaktionen hinsichtlich des invektiven Potenzials im globalen Kontext dargestellt (Abschnitt 2.1), um dann spezieller auf von ihr herausgestellte Herausforderungen in der Analyse einzugehen, die durch die Komplexität der Anschlusskommunikationen im Netz entsteht (Abschnitt 2.2). In Bezug auf Online-Kommunikationen werden die von GRESCHKE angeführten Funktionen und Auswirkungen der Metainvektivität im Abschnitt 2.3 illustriert. Einen besonders interessanten Aspekt, nämlich dass der Differenzierungsgrad zwischen Humor und Invektivität uneindeutig scheint, fasse ich bei meiner Betrachtung der gemeinsamen Diskussion zusammen (Abschnitt 2.4). [3]
Im darauffolgenden Abschnitt wird die von AYAß vorgestellte Anwendung der Membership Categorization Analysis exemplarisch für das Video dargestellt (Abschnitt 3.1), wobei vornehmlich auf die dort auftretenden "dritten Akteur*innen" fokussiert wird (Abschnitt 3.2). Darauffolgend skizziere ich das Potenzial der Kombinierbarkeit von Bild- und Soundanalyse (Abschnitt 3.3). [4]
Danach wird dargelegt, wie ANDROUTSOPOULOS anhand der Mehr-Ebenen-Kommentaranalyse die Invektivitätsprozesse einerseits in der Medienlandschaft quantitativ (Abschnitt 4.1) und andererseits durch Positionierungen qualitativ untersucht (Abschnitt 4.2), um dann insbesondere auf die YouTube-Infrastruktur als ein partizipatives Framework einzugehen (Abschnitt 4.3). Aufbauend auf der Positionierungsanalyse gebe ich einen kurzen Überblick über die Charakteristika des (meta-)invektiven Handelns in digitalen Kommunikationen (Abschnitt 4.4). In Abschnitt 5 reflektiere ich methodische Möglichkeiten und Herausforderungen in der digitalen Kommunikationsforschung und gebe einen Ausblick für die weitere Invektivitätsforschung. [5]
2. Humorvolle Invektivität oder invektiver Humor im Mediendiskurs? Einführungsvortrag von Heike GRESCHKE (Dresden)
2.1 Skizze der Invektivitätsforschung und das Fallbeispiel "So riecht das Frühjahr"
In ihrem Einführungsvortrag stellte Heike GRESCHKE das Forschungsprogramm des von ihr geleiteten SFB-Teilprojekts vor. Gemeinsam mit ihrem Forschungsteam untersucht sie die Struktur und Funktionalität von Invektivität in interkulturellen Begegnungen, die durch die Zunahme von Migration und der erhöhten globalen Vernetzung zahlreicher werden. In diesem Kontext wird der Fokus insbesondere auf die (Re-)Produktion sowie das Potenzial von Invektiven für die Transformation sozialer Ordnungen gelegt. Da kulturelle Andersartigkeit in interkulturell kodierten sozialen Situationen wahrgenommen und oft auch betont wird, schreiben die an sozialen Situationen Beteiligten einander kulturelle Zugehörigkeiten und deren Eigenschaften zu. Dies eröffnet ein breites Spektrum an invektiven Potenzialen, da die Zuschreibungen der human-differenzierenden Kategorien (HIRSCHAUER 2017) mit kaum veränderbaren sozialen Positionen (etwa wie Ethnie, Herkunft, Geschlecht) verknüpft sind. In Kommunikationen der interkulturell kodierten sozialen Situationen werden daher soziale und normative Geltungsansprüche in einem Deutungskampf um die "richtige" Perspektive ausgehandelt, d.h. kulturell legitimiert und ggf. zurückgewiesen. [6]
Daran anknüpfend finden ähnliche Aushandlungsprozesse in medien-vermittelten Interaktionen statt. Im vorliegenden Fall vertrat das Unternehmen Hornbach auf seiner Webseite die Lesart, dass der Werbespot eine Reflexion der globalen Urbanisierung und der verschwundenen Grünflächen auf "typische H[ornbach] Art" sei und auf "humorvolle Weise mit dem Tabuthema Olfaktophilie ('Geruchsfetischismus')"2) umgehe. Die Medienmacher*innen hätten sich an Werbeproduktionen für nationale Zielgruppen orientiert, jedoch sei der Humor nicht bei allen angekommen. Am 31. März 2019 wurde die Online-Petition gegen "das rassistische und frauenverachtende Unternehmen H[ornbach]"3) von einem Südkoreaner erstellt, der sich selbst in den ersten Sätzen der Petition explizit als solcher benannt. Sie wurde in neun verschiedenen Sprachen veröffentlicht und im Netz verbreitet. In einer ähnlichen Weise wurde ein offener Brief an Hornbach am 24. April 2019 veröffentlicht, in dem dem Baumarktunternehmen anti-asiatischen Rassismus und Sexismus vorgeworfen wurde. Die Kritiker*innen bezogen sich auf die Kolonialgeschichte und den europäischen Imperialismus, die die "asymmetrische[n] Machtverhältnisse zwischen Ethnizitäten maßgeblich geprägt und vertieft [haben] und immer noch zu rassistischen Diskriminierungen [führen]"4). [7]
So hätten sich, wie GRESCHKE darlegte, zwei Positionen verfestigt: die Behauptung von Hornbach, den Werbespot ohne verletzende Absicht gedreht zu haben einerseits und die Einstufung der Werbung als Diskriminierung andererseits. Während Hornbach und dessen Verfechter*innen die Werbeidee als die Ironisierung der verschwundenen Grünflächen und die Umkehrung von Geschlechterklischees bezeichneten, sähen die Kritiker*innen darin die Reproduktion von rassistischen sowie sexistischen Stereotypen. Die konträren Lesarten zeigten die fließende Grenze zwischen Humor und Invektivität im Mediendiskurs. Hierdurch erhöhten sich die Unberechenbarkeit, die Unkontrollierbarkeit und die Anfälligkeit der mediatisierten Kommunikationen. [8]
2.2 Theoretische Überlegung über Anschlusskommunikation im Netz
Ob eine Aussage als Witz oder Beleidigung endet, ob sie zum Lachen oder zu Empörung und Wut anregt, entscheide – so GRESCHKE – die Anschlusskommunikation, in deren Kontextualisierung ein invektiver Akt erst situativ interpretiert werden könne. Daher sei die Analyse der Positionierungen in der Anschlusskommunikation von zentraler Bedeutung. Für die Positionierungsanalyse entwickelt der SFB 1285 ein vorläufiges triadisches Modell, nämlich die Konstellation zwischen Invektierenden, Invektierten und Publikum. Anknüpfend an die Arbeiten von GOFFMAN plädierte GRESCHKE für den konzeptionell offeneren Begriff Dritte als Ersatz für Publikum, da alle Teilnehmenden in Interaktionen immer potenziell eine Rolle verkörperten und daher keine reine Position des Publikums vorhanden sei. Zur Erweiterung der invektiven triadischen Konstellation brachte sie den Teilnahmestatus in Anlehnung an GOFFMAN (2005 [1979]) ein, mit dem das Verhältnis der Sprechenden oder Hörenden zur Äußerung beschrieben werde. Da der Teilnahmestatus situativ sei und sich permanent ändere, sei die Anschlusskommunikation immer unvorhersehbar und unkontrollierbar. In der Analyse des medien-vermittelten Kommunikationsverlaufs werde deutlich, dass eine Information in der Anschlusskommunikation vielfältig verstanden wird. Anders als in einer Face-to-Face-Kommunikation fehlten nonverbale Kommunikationsmittel wie z. B. Mimik und Körpersprache, die das intersubjektive Verständnis von empfangenen und rezipierten Informationen zusätzlich absicherten. Die digitalen Infrastrukturen zwängen die Teilnehmer*innen, entweder komplett auf die Kommunikation zu verzichten (Nicht-Beteiligung) oder persönliche Gedanken und Gefühle in einer gezwungenen Weise zu explizieren (Beteiligung). [9]
Die Explikation der verstandenen Information produziere weitere Anschlusskommunikationen, aber sie sei nach LUHMANN (2017 [1995]) auch per se die Anschlusskommunikation, die das Verstehen ausdrückt und dadurch die Information erst erzeugt, die in weiteren Anschlusskommunikationen mitgeteilt wird. Im Fall Hornbachs, so legte GRESCHKE dar, sei die Mitteilung der Informationen einerseits durch verschiedene Interpretationsmöglichkeiten ohne kollektive kulturelle Erfahrungen mehrdeutiger. Andererseits stoße das Informationskonstrukt Humor durch zunehmend komplexe Multimodalität in der Internetkommunikation an seine Grenze, zumal der Werbeclip zum großen Teil mit bildlichen Symbolen operiere. Die Decodierung symbolischer Bedeutungen erfordere eine Auslegungsfähigkeit. Das heißt auch, dass sich die Interpretationsmöglichkeiten erweiterten. Hinzu kämen weitere Fragen, die für die soziologische Analyse noch zu klären seien: Wo genau fängt Analyse an und wo endet sie? Wie lässt sich das mediale Untersuchungsfeld eingrenzen? Welche Charakteristika bestimmen die jeweilige mediale Infrastruktur? Diese Fragen seien nicht nur aus pragmatischen Gründen wichtig, da die für die Forschungsfragen relevanten Elemente aus dem enormen Datenmaterial selektiert werden müssten, sie seien auch ein Teil der Forschung, nämlich der methodischen Reflexion. Aus heutiger Sicht bilde die digitale Öffentlichkeit einen unerschöpflichen Datenpool, der Sozialwissenschaftler*innen leicht zugänglich sei. Die darauffolgenden methodischen Möglichkeiten und Herausforderungen müssten aber auch immer im Forschungsprozess reflektiert werden (GRESCHKE 2020 [2017]). [10]
Die Reaktionen auf das Werbevideo durch die Online-Petition und den offenen Brief ließen sich gut – so GRESCHKE weiter – anhand des Konzepts der Metainvektivität analysieren, unter der ein kommunikativer Akt der expliziten Thematisierung von Invektiven verstanden wird (ELLERBROCK et al. 2017, S.17). Die Legitimität des Humors werde durch die Gegenpositionierung in der metainvektiven Kommunikation zurückgewiesen, gleichzeitig verschaffe das metainvektive Ermächtigungspotenzial eine Diskursposition, die neue moralische Ordnungen einzubringen versuche. Diese Position könne sich etablieren, indem die Anerkennung von weiteren Netzbürger*innen gewonnen werde. Die diskursiven (Meta-)Invektiven würden durch die Duplizierung und das Teilen im Netz potenziert, gleichzeitig verstärke die Anonymität im Netz die Enthemmung und die Ermächtigung der spontanen Subjektivität. Der Auslöser der Empörung sei daher nicht unbedingt der Ausgangspunkt der Kommunikation (der Werbespot selbst und dessen Ideenentwicklung), da die tatsächliche Intention der Ausgangsbotschaft in den weiteren vehementen Aushandlungsprozessen kaum noch eine Rolle gespielt habe. Die Akteur*innen hätten sich stark auf die eigene Ordnungsreferenz bezogen, die erhelle, warum der Spot von einigen als rassistisch, von anderen als humorvoll qualifiziert wurde. Dabei werde der Ausgangspunkt dazu genutzt, in den jeweiligen sprechenden Subjekten nach dem Auslöser oder der Ursache zu suchen. Hiermit biete die Metainvektivität die Möglichkeit, alles zum Gegenstand von Moralisierung und Beleidigung zu machen. Mit anderen Worten bestünden die Auslösemöglichkeiten nicht immer aus der Provokation und expliziten Invektiven, sondern auch aus Kategoriekontrasten oder polarisierungslatenten Deutungen. In Form der "Invektivitätsbehauptung" (SCHARLOTH 2017, S.122) werde Metainvektivität als Waffe genutzt, um sich zu schützen und möglicherweise auch andere zu verletzen. Das zeige den fluiden Status der invektiven Triade, insofern die Invektierten durch die Metainvektiven potenziell selbst invektieren könnten. Dies offenbare die aufgeweichte Grenze zwischen Publikum und Produzent*innen, da die Rezipient*innen über die Sprecher*innenposition verfügten und einen Positionierungszwang auslösen könnten. GRESCHKE argumentierte, dass die Adressat*innen Stellung nehmen müssten, denn das Schweigen potenziere Missverständnisse, die mit dem Verdacht bestimmter Positionierungen einhergingen. Daraus ergebe sich die Annahme, dass die (Meta-)Invektivität auf YouTube die Zwischenposition verschwinden lasse. [11]
Aus den brisanten Mediendiskursen heraus wurde in der anschließenden Diskussionsrunde der vage Differenzierungsgrad zwischen Humor und Invektivität in der Internetkommunikation deutlich. Eine Möglichkeit für die Unterscheidbarkeit der Auffassung bestehe darin, ob Kippelemente im Kommunikationsprozess erkennbar würden. Ich resümiere im Folgenden die aus der Diskussion gewonnene Erkenntnisse: In Werbungen werde oft die Überschreitung von sozialen Konventionen operationalisiert, um den ironischen Effekt auszulösen, wobei der Bruch an diesem Beispiel offensichtlich scheitere, da die Umkehrung der Klischees nicht als Witz verstanden werde. Humor brauche Spielräume, daher müsse die Vereindeutigbarkeit der verschiedenen sinnlichen Eindrücke in der Informationsproduktion geschwächt werden. Dennoch biete die Offenheit das Risiko invektiver Wirkungen. In diesem Zusammenhang handele es sich um den Deutungskampf, welche Darbietungen als humorvolle oder invektive Ereignisse von wem legitimiert oder auch diskreditiert würden. Da die mediatisierten Ereignisse durch ihre globale Verfügbarkeit von verschiedenen kulturellen Zugehörigkeitsgruppen rezipiert würden, würden die sozialen und normativen Geltungsansprüche in Form digitaler Kommunikation von Angehörigen diverser Kulturen ausgehandelt. Dabei zeige sich, dass die Annahme der Austauschbarkeit der Stereotype ebendiese differierenden Wahrnehmungen im komplexen Weltsystem vernachlässige, da die Stereotype durch deren Intersektionalität (Gender, Ethnie, Alter etc.) uneindeutiger würden. Die Uneindeutigkeit der Deutungen – so das Ergebnis der Diskussion – bestehe auch in Sinnüberschüssen der Bilder, die in Anschlusskommunikationen mit "Übersetzungsleistungen" reduziert würden. Aus der visuellen Materialität ergäben sich die Verbalisierung und die Verschriftlichung der Bilder als erforderliche Leistungen der Rezipient*innen, die die sinnlich wahrgenommenen Eindrücke selbst in schriftliche Sprache übersetzen müssten. [12]
Meiner Beobachtung nach wird das Problem der Versprachlichung von "visual experience" (BALL & SMITH 1992, S.55) an dieser Stelle sichtbar, indem die gesehene Welt nun sprachlich beschrieben werden muss. Wie BALL und SMITH argumentierten, sind die visuellen Erfahrungen kulturell geprägt und gesellschaftlich konstruiert. In dem Fallbeispiel begegnen sich verschiedene kulturelle Gruppen oder Individuen und sprechen über die sich vorgestellten Lebenswelten, die durch verschiedene historische Tradierungsprozesse ganz anders ausgeprägt sind (BOLTEN 2019). Inwiefern invektive oder humorvolle Darstellungen im Werbespot gewahr werden, hängt von den kulturellen Lebenserfahrungen ab, die allerdings nur durch die Verbalisierung der Beteiligten ausgetauscht werden können. Daher meint die Figur des/der Dritten nicht nur das Publikum (Kommentar-Leser*innen, Video-Zuschauer*innen etc.), sondern auch eine Referenzgröße in der triadischen Konstellation, um sich und andere zu positionieren. Durch das Publikum – wie in Abschnitt 2.3 erwähnt selbst eine fluide Position – wird dann (Meta-)Invektivität aufgegriffen und reproduziert. Im metainvektiven Kontext kann das Publikum einerseits invektieren, andererseits kann es sich aber auch als invektiert empfinden. Die invektive Triade trägt daher eine hohe Dynamik in sich. [13]
3. Was ist an den bewegenden Bildern humorvoll/invektiv? Impulsvortrag von Ruth AYAß (Bielefeld)
3.1 Membership Categorization Analysis der Sequenzen
Mit ihrem Beitrag "'So riecht das Frühjahr'. Ethnomethodologische Analysen visueller Daten" widmete sich Ruth AYAß der Analysearbeit in Anlehnung an die SACKsche Konversationsanalyse und Membership Categorization Analysis (im Folgenden: MCA). Als analysierter Gegenstand stand der in kleinere Einheiten zerlegte Videoclip im Zentrum. AYAß teilte den Spot zunächst in zwei große Teile: Beim ersten Teil handele es sich um ein sich wiederholendes Motiv (jeweils ein im Garten arbeitender Mann mit ähnlichen äußerlichen Merkmalen in vier Szenen), während der zweite Teil mit einer ostasiatisch aussehenden Frau im beruflichen Arbeitskontext eine zum vorherigen Ausschnitt kontrastive Struktur erzeuge. Hierbei würden die Members und ihre Category Bound Activities sichtbar, indem die Kontrastpaare visuell dominant dargestellt seien. Dabei verbinde die Darstellung zweier andersartiger Automaten die Kontrastierung in zwei Teilen, sodass sich die Reihenfolgen sequenziell erschlössen. Laut MCA zeigen Paarsequenzen die Ordnungsstruktur, dass eine bestimmte Handlung nach einer initiierten Aktivität erwartet wird bzw. zwei dargestellte Handlungen in Folge stattfinden. AYAß zufolge wird bei dem Werbespot allerdings mit dem umgekehrten Sequenzbegriff gearbeitet, der nur im Kontext verstehbar sei. Im Werbeclip ziehen die drei Protagonisten ihre durch die Gartenarbeit beschmutzten T-Shirts aus, und es sind ihre verschwitzten und beharrten Oberkörper zu sehen. Aus der Szene beschrieb AYAß den prägnanten Blickfang als "Schweißspeckfeuchtehaare", die erst in der zweiten Sequenz, welche die durch den Geruch entzückte ostasiatisch aussehende Frau zeigt, etwas potenziell Begehrenswertes würden. Diese Botschaft könne ausschließlich im Kontext erschlossen werden. Standard Relational Pairs würden dazu verhelfen, so AYAß in ihrer Analyse, dass die Verstehbarkeit der Zusammengehörigkeit gewährleistet sei, z.B. könne die Interpretation von kurzen Überschriften durch MCA geleistet werden. Verweisend auf die Textanalyse von Stephan WOLFF (2006) veranschaulichte AYAß anhand der Zeitungsschlagzeile "Ehemann begeht Selbstmord, Frau erwacht aus Koma" (S.260ff.) die Funktion der Standard Relational Pairs: Aus dem zweiten Satzteil gehe nicht hervor, dass die Frau in einer Beziehung zu dem Ehemann im ersten Satzteil stehe. Dennoch würden die zwei Mitglieder (in der Kategorie: Familie) als ein Paar wahrgenommen5). Hingegen führe die Nicht-Zusammengehörigkeit im Fall des Werbeclips zur Irritation, die durch die Herstellung einer Verbindung zum Verständnis des Zusammenhangs gelöst werde. Einerseits liege der Witz in den Kontrastwidersprüchen und der absurd-komischen Zusammenstellung und löse die Assoziationskette aus6), die durch kollektive kulturelle Erfahrungen zum Lachen bringe. Andererseits würden verärgerte oder genervte Reaktionen ausgelöst, wenn der Humor als persönliche Einhegung oder Reproduktion bekannter Ressentiments wahrgenommen werde. Die Werbung bewege sich auf dem schmalen Grat zwischen Humor und Invektive, wodurch sie, zumal im Kontext der digitalen Medien, die Aufmerksamkeit erzeuge, auf die ein Unternehmen im Regelfall abziele. [14]
3.2 Die dritten Akteur*innen: Realitäts- oder Fiktionstopos?
Außer den Protagonist*innen diskutierte AYAß vornehmlich die Zwischenszene, in der – unter den Augen zweier Männer in weißen Kitteln – die von den im Garten arbeitenden Männern ausgezogenen Kleidungsstücke mit einer antiquiert wirkenden Maschine eingesammelt werden. Anschließend ist ein Fließband zu sehen, die einzelnen Wäscheartikel werden vakuumverpackt. In Kombination mit den Landegeräuschen eines Flugzeugs leitet die Kamerafahrt die Rezipient*innen in eine graue Fabrikstadt, dort steht ein Vendingautomat zunächst klein und unauffällig im Bildausschnitt. Dann wird der Blick der Zuschauer*innen auf sein tastaturbedecktes Bedienfeld geführt. Eine ostasiatisch aussehende Frau drückt eine Taste und nimmt eine Wäschepackung aus dem Automaten. Diese Szene komme als der Anknüpfpunkt der beiden Teile, so AYAß, Rezipient*innen "abstrus" vor und rufe Verwunderung hervor. Die kontrastierten Maschinen deuteten einerseits auf die zeitliche Inkongruenz und andererseits auf die ambiguitäre Lebenswirklichkeit, indem sie sowohl als Realitätselement als auch als fiktive Darstellung wahrgenommen werden könnten. Dadurch entstehe ein Spielraum für verschiedene Auslegungen und Assoziationsketten. Absurdität sei im Regelfall (v.a. in der Werbung) ein Mittel, Ironie zu erzeugen, wobei die undeutliche Grenze zwischen Realität und Fiktion eine Festlegung keineswegs gewährleisten könne. Die anscheinend anachronistische Klappenmaschine und der hochmoderne Vendingautomat würden als ein Paar verknüpft, das eigentlich nicht genuin zusammenpasse. Der MCA zufolge wird das verknüpfte Paar, das sich gegenübersteht, als Irritation oder Störung wahrgenommen. Die Suggestion, dass der Kontrast beider Symbole zusammengehört, wirke nicht bei allen gleich und potenziere daher die invektive Aufladung. Anhand ihrer eigenen Untersuchung zu Katastrophenbildern argumentierte AYAß (2018), dass Standard Relational Pairs auch systematisch zerschlagen und neu zusammengefügt würden. Zum Beispiel würden zwei Schuhe als ein Standard Relational Pair erwartet, sodass ein einzelner Schuh auf das Fehlen des anderen und damit auch einen Verlust hindeute und das Gefühl der Verlorenheit hervorrufe. AYAß führte weitere Beispiele dafür an, dass nicht zusammengehörende Gegenstände in Bildern (wie etwa ein Schiff auf dem Haus oder ein Bett auf einem Baum) eine schmerzhafte Kategorie implizierten und emotional aufwühlende Reaktionen erzeugen könnten. In Analogie dazu folgen die nicht zusammenpassenden visuellen Darstellungen in dem untersuchten Videoclip einer spezifischen Ordnungsstruktur, die m.E. als Ausgangspunkt für Zusammenhänge zwischen Invektivität und Emotion dienen. [15]
3.3 Eine weitere analytische Ebene: Sound on!
In der anschließenden Diskussion wurde angenommen, dass die visuellen Daten zwar geeignete Analyseeinheiten seien, um die Wechselwirkungen zwischen Humor und Invektivität herauszuarbeiten, dennoch sollten die akustischen Elemente mit ausgewertet werden. Meiner Einschätzung nach kann die zusätzliche Analyse des Sounds den Blick auf die spezifische mediale Konstruktion der Botschaft schärfen, die in diesem Beispiel bemerkenswerterweise durch Töne vermittelt wird. Im Werbeclip wird auf sprachliche Vermittlung verzichtet, stattdessen sind die Handlungen mit sinnlicher, gleichbleibender Musik und einer lasziven weiblichen Hintergrundstimme untermalt. Somit wird die sprachliche Barriere bereits entfernt, gleichzeitig werden durch die auditive Dimension aber andere Deutungsräume kontextualisiert, in denen die Invektiven auch gestützt sein können. Durch das Fallbeispiel wurde ich darauf aufmerksam, dass die visuelle Darstellung durch die stöhnenden Geräusche einer weiblichen Stimme und betörende Musik erotisiert wird. Die Deutung der Bilder beinhaltet nun nicht mehr nur eine ostasiatisch phänotypische Frau, sondern wird mit der Hintergrundmelodie kombiniert und von bestimmten Imaginären abgeleitet. Darauffolgend stellt die konkrete Aneinanderreihung kritische Diskurse über invektives Potenzial bereit, das sich aus Debatten über asiatische Frauen als Sexobjekte weißer Männer (z.B. CHO 2003) herleitet. Auch wenn im Vortrag die Analyse visueller Daten im Fokus stand, herrschte Konsens darüber, dass eine Zusatzdiskussion zur Kontextualisierung der auditiven Wahrnehmung die Konstellation der Invektivität in der multimodalen Kommunikation vervollständigen kann. [16]
Tatsächlich lohnt es meines Erachtens, genau hier weiterzudenken: Die Konstruktion des Hörereignisses bildet die Sinnkohärenz und macht die Kausalität der Geschichte nachvollziehbar, denn der von Dominik SCHRAGE vorgeschlagene Begriff "Sound" für die Analyse der auditiven Ebene steht "für eine bestimmte, wahrnehmbare Eigenschaft eines akustischen Phänomens [... und] verweist auch auf die Situation" (2007, S.155). In diesem Videoclip indiziert er die Artikulation eines bestimmten Musikgenres, dessen Klänge von vielen ähnlich verspürt werden, da zielgruppenspezifische Affektivität erzeugt wird (a.a.O.). SCHRAGE zufolge verstehe ich unter dem Sound den Erlebnisträger, und so wirkt er auch im vorliegenden Fall: Die sinnliche Hintergrundmusik erzeugt ein kollektives Erlebnis, bei dem auf einen bereits vorhandenen Rahmen zurückgegriffen wird. Aber akustische Ereignisse alleine provozieren nicht, sondern evozieren Abscheu erst durch die unpassende Kontextualisierung (in diesem Fallbeispiel durch die Verankerung in einem ethnisch suggerierten Phänotyp). Aus dem gemeinsamen Hervorrufen optischer und auditiver Wahrnehmungen resultiert eine neue Ordnungsstruktur, die nicht erkennbar wäre, wenn die zwei Darstellungselemente getrennt abgespielt würden. Auch wenn sich die Ethnomethodologie bislang vornehmlich auf Text bezieht, ist es einen Versuch wert, ihr von AYAß aufgezeigtes Potenzial für Bildanalysen auch auf Soundanalysen anzuwenden. Dabei kann die Analyse der visuellen und akustischen Elemente in Kombination eingesetzt werden, um z.B. mithilfe der MCA die symbolischen Kategorien in der Ko-Konstruierung (z.B. Relation zwischen den weiblichen stöhnenden Geräuschen und dem weiblichen ostasiatischen Phänotyp oder auch den oberkörperfreien Männern) zu systematisieren. [17]
4. Positionierungen im Deutungskampf und deren invektive Dynamiken. Impulsvortrag von Jannis ANDROUTSOPOULOS (Hamburg)
4.1 Wo erkennt man Invektivitätsprozesse in der Medienlandschaft?
Aus einer medienlinguistischen Perspektive präsentierte Jannis ANDROUTSOPOULOS seine Mehr-Ebenen-Kommentaranalyse, eine Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden. In Anlehnung an den amerikanischen Kulturtheoretiker John FISKE applizierte ANDROUTSOPOULOS die Kartografie von Primär-, Sekundär- und Tertiärtexten, um Standorte von Äußerungen zu verstehen. ANDROUTSOPOULOS nannte drei veranschauliche Beispiele der jeweiligen Textbereiche: Primärtexte seien Produkte der Medien bzw. Unterhaltungsindustrie, die weitere Strukturierungsprozesse der Popkultur abspielten (z.B. Seifenopernserien). Bei Sekundärtexten handele es sich um das Herausarbeiten der Textlesarten (z.B. Berichterstattung). Mit Tertiärtexten werde schließlich die Ebene der Konsument*innen fokussiert (z.B. Potenzial individueller Reaktionen). Zusätzlich präsentierte er die Ergebnisse seiner Recherche in Datenbanken für Presseinformationen (genannte Beispiele: Factiva und Nexis), um einen Überblick über die Quantität und die Diskurse journalistischer Medienberichte zu geben. Im Vergleich zum Begriff "Asyltourismus", den ANDROUTSOPOULOS im Rahmen eines Seminars bearbeitet und zu dem er über 1.000 Ergebnisse gefunden hatte, ergab "So riecht das Frühjahr" nur ca. 50 Treffer. Der Grund könne darin liegen, dass in der Medienberichterstattung nicht die ganze Phrase zitiert wird. Es könne aber auch sein, dass die Medien kaum zu diesem Thema berichteten. Außerdem sei ihm aufgefallen, dass die Empörungswelle in einigen Berichterstattungen überhaupt nicht erwähnt worden sei. Die niedrige Trefferzahl und die häufige Nicht-Thematisierung des Shitstorms zeigten, dass im sekundären Bereich zumeist Videos zusammengefasst und perspektiviert würden, während der tertiäre Bereich, also die Reaktion in den sozialen Medien, sehr pauschal ohne weitere Details beschrieben werde. Daraus ergebe sich die Annahme, dass die Medienlandschaft nicht mehr wie früher stark durch Sekundärtexte geprägt sei. Journalist*innen bezögen sich nicht nur auf Primärtexte, sondern auch mit steigender Tendenz auf Tertiärtexte, z.B. werde die Reaktion in den sozialen Medien heutzutage zunehmend Teil der Berichterstattung. Somit verschiebe sich der tertiäre Bereich auf die Ebene der Sekundärtexte, dementsprechend erhöhe sich der Einfluss der Diskurse im tertiären Bereich auf die Medienlandschaft. Am Beispiel Hornbachs – so ANDROUTSOPOULOS – sei die Wirkung von Sekundärtexten komplett abgeschwächt. Die später erzeugten Spannungen und Invektivitätsprozesse spielten sich ausschließlich zwischen Primär- und Tertiärtexten ab. Dennoch sei in der digitalen Medienforschung zu beachten, dass sich die Kraft des Zirkulationspotenzials im Netz stark ändere. Die Eskalationsdynamik in sozialen Medien sei hoch, da sie als Diskursplattformen eine hohe Metrisierung von Diskursen mit sich brächten, indem unabhängig von der Qualität einzelner Beiträge die Kommunikationsdynamik durch den Algorithmus anhand der Anzahl von Zustimmungsäußerungen ("Likes") und Kommentaren bestimmt werde. Hinzu komme die leichte Zugänglichkeit der Plattformen, sodass Beteiligte die Möglichkeit hätten, in der Kommunikationsaushandlung die Diskurse zu beeinflussen. Somit wären die auslösenden Texte und die Anschlusskommunikation in der digitalen Öffentlichkeit miteinander verschränkt, und dadurch können die drei Ebenen schwer differenziert werden. Ob das theoretische Modell zukunftstauglich ist und inwiefern es angesichts der hohen Kommunikationsdynamik modifiziert werden muss, bleibt ANDROUTSOPOULOS zufolge offen. [18]
4.2 Mit welchen Referenzen wird positioniert? Die Kommentaranalyse
Anhand seiner linguistischen Kommentaranalyse illustrierte ANDROUTSOPOULOS drei erkennbare Positionierungen: In Bezug auf eigene Herkunft, Identität oder Zugehörigkeit hätten die Vertreter*innen der ersten Position die Darstellung des Werbevideos und die verletzende Absicht mit sexistischer und rassistischer Implikation bemängelt. Die Formulierung sei – so ANDROUTSOPOULOS – stark ablehnend und oft aggressiv. Die verschränkte Wortanwendung von disgusting, Hitler und racist in den Kommentaren lege nahe, dass die Personen sich mit den als herabgesetzt erlebten asiatischen Frauen identifizierten und Hornbach als dominant deutsch wahrnahmen. Nationalität werde also als Referenz für die kulturelle Differenz- und Zugehörigkeitsmarkierung im historisch assoziierten Kontext zugeschrieben. Gleichzeitig werde diese Position in Anschlusskommunikationen dafür kritisiert, einen umgekehrten Rassismus reproduziert zu haben. Die Verbalisierung der Herkunft, Identität oder Zugehörigkeit scheine in dieser virtuellen Debatte erforderlich zu sein, um die Legitimationsquelle für Sprecher*innenpositionen zu gewährleisten. [19]
Mit der zweiten Position werde auch Bezug auf die nationale Zugehörigkeit genommen, indem die Poster*innen sich als Deutsche identifizierten. Sie distanzierten sich von der Werbung und brächten ihr Bedauern zum Ausdruck, wehrten sich aber gleichzeitig gegen pauschale Abwertung der Deutschen unter dem Mantel von Rassismuskritik. Während die national-ethnische Identifizierung reflektiert werde, evozierten die Metainvektiven eine Eskalationsdynamik, da in den Kommentaren ebenfalls unterschiedliche Grade an Unhöflichkeit und Beleidigung enthalten seien. So habe z.B. eine Gegenattacke stattgefunden, indem die Kritik und die mit dieser zugeschriebenen Kategorien zurückgewiesen worden seien, um im Anschluss die Gegenposition mit dem Vorwurf des Rassismus zu stigmatisieren7). [20]
Bei der letzten vorgestellten Positionierung zeigten die Poster*innen Befürwortung, Verteidigung, Verharmlosung und Relativierung. Sie hielten die Werbung für witzig bzw. subversiv und versuchten, den Vorwurf des Rassismus zu entkräften. Die damit verbundene sprachliche Kollokation habe – so die Analyse ANDROUTSOPOULOS' – z.T. rassistische und anti-asiatische Tendenzen, was zur Reproduktion der Invektiven (sowohl in den eigenen Äußerungen als auch in den Reaktionen der Gegenposition) führe. Dass Automaten wie die im Video gezeigten tatsächlich existierten, werde als Argument eingebracht, um die Legitimität der Werbung zu unterstützen und so die Rassismuskritik zurückzuweisen. Allerdings werde dieser Argumentation mit der Kritik über die Verallgemeinerung der Automatennutzung in Asien begegnet (siehe auch Abschnitt 3.2). [21]
Aus der Analyse ergebe sich, so ANDROUTSOPOULOS, dass sich die Positionierungen stark auf die nationalen, aber auch regionalen Zugehörigkeitskategorien beziehen, deren Selbstidentifizierung und Deklaration die Autorität für die getätigten Evaluationen verschaffen sollen. Aber die Selbstpositionierungen würden nicht nur durch diese Zugehörigkeiten für die Gruppenbildung markiert, denn die Positionen würden auch aus persönlichen Erfahrungen (etwa wie "ich war in Japan") begründet. Umgekehrt werde die Zugehörigkeitsidentifizierung möglicherweise angezweifelt, wenn das Verhalten den Zuschreibungen der Zugehörigkeitskategorien nicht entspreche. [22]
4.3 YouTube als partizipatives Framework
In Anlehnung an die pragmatistische Linguistin Marta DYNEL (2014) klassifizierte ANDROUTSOPOULOS drei Interaktionskreisläufe auf YouTube: Zunächst würden Interaktionen in einem Video unterstellt, simuliert und angedeutet. In dieser "Level of video interaction" (DYNEL 2014, S.50) gebe es einen Dialog oder Figuren, die die Rezipient*innen ansprächen. Der zweite Interaktionskreislauf sei zwischen "YouTube users who author and upload a video" (a.a.O.). Da Hornbach das Video produziert, verantwortet und auf YouTube hochgeladen hat, sei es nicht nötig, die zwei Handlungen zu separieren. Schließlich betrachtete ANDROUTSOPOULOS den Interaktionskreislauf der Kommentare und stellte fest, dass sich die drei Positionen miteinander verflechten: Während ein*e Sprecher*in (in diesem Fall Hornbach selbst) einen Kommentar poste, ziele "the third party" auf alle Leser*innen (DYNEL 2014, S.50). Allerdings könnten sie sich adressiert bzw. gekennzeichnet wahrnehmen, eine Position, die DYNEL als "ratified hearers" bezeichnete (a.a.O.). Die Umgebung am Beispiel "So riecht das Frühjahr" sei partizipativ strukturiert, da Hornbach sich an den Kommentaren beteiligte. Diese Beteiligung brach jedoch ab, als viele Kommentare (v.a. in koreanischer Sprache) in einer gleichförmigen Abwertungsstruktur (z.B. ähnliche pejorative Wortwahl) auf einmal einströmten. Diese plötzlich verstummende Reaktion von Hornbach könne als Ratlosigkeit interpretiert werden, da eine Notmaßnahme als zügige Reaktion auf die entstehende Empörungswelle durch die Einmischung globaler Akteur*innen in die Debatte nicht mehr habe gewährleistet werden können. Darüber hinaus besitze die Online-Kommunikation das Potenzial, die sprachlichen Interaktionen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg zu zerdehnen und die gesellschaftliche Mobilität zu unterstützen (ANDROUTSOPOULOS 2018). Hierin manifestiere sich die Unberechenbarkeit der verflochtenen Weltnetzwerke, in denen Reaktionen auf einen bestimmten Kontext nicht voraussehbar seien. Und YouTube biete sich als ein leicht zugänglicher Treffpunkt an, der ein partizipatives Framework für alle diskussionsbegierigen Netzbürger*innen ermögliche. [23]
An dieser Stelle möchte ich den Blick dafür schärfen, dass YouTube als eine Video-Sharing-Plattform diese partizipative Form bereits konstituiert aufgrund der im Interface vorgeschriebenen Funktionen (z.B. die Entscheidung der Nutzer*innen selbst, das Video bzw. Kommentare zu favorisieren, kommentieren, archivieren etc.). José VAN DIJCK (2013) betrachtete das Video-Sharing als soziale Praxis, durch die entweder das designierte Publikum adressiert werde, um gemeinsame Interessen auszutauschen, oder durch die Videoproduzent*innen ein breites Publikum erreichten. Im Fall des Hornbach-Videos entsteht hier ein Dilemma: Einerseits ist Hornbach für seine originellen Kampagnen bekannt, welche die Aufmerksamkeit mobilisieren und die Sympathisant*innen wieder und wieder begeistern. Andererseits verbreitet sich das Werbevideo durch das Internet virulent und weltweit, dessen Botschaften jedoch nicht immer mit Wohlgefallen von allen Rezipient*innen perzipiert werden. Die leicht zugängliche Partizipation durch die technische Infrastruktur ist Beleg dafür, dass wir uns in einer "mediatisierten Welt" (KROTZ 2014, S.14) befinden, in der "sich die relevanten Formen gesellschaftlicher Praktiken und kultureller Sinngebung mit Medien verschränken" (a.a.O.). Dabei ist Invektivität kein definitives Charakteristikum bestimmter Epochen, sondern wird als epochen- und kulturübergreifende Art von Kommunikation verstanden (ELLERBROCK et al. 2017). Die invektive Struktur lässt sich somit im Mediendiskurs keineswegs als einzelne, isolierte Analyseeinheit für gesellschaftliche Phänomene betrachten, da sie sowohl in den sozialen und kulturellen Wandel als auch in den Wandel der Medien eingebettet ist. Illustrativ hierfür erwähnten ELLERBROCK et al. Beschämungspotenziale im Theater und eine skandalisierte Buchveröffentlichung, deren invektive Auswirkungen sich qualitativ voneinander unterschieden, auch wenn es sich bei beiden Medien um Invektivpotenziale handele. Die gesellschaftlichen Phänomene hinsichtlich der durch die innovative Technologie erweiterten Medienformen in der Netzwerkgesellschaft können im Zusammenhang mit einer "mobile[n] Privatisierung" (GÖTTLICH 2007) reflektiert werden. Laut der These von Udo GÖTTLICH steht sich die Konstellation von Privatheit und Öffentlichkeit nicht mehr gegenüber, vielmehr wird die Grenze insbesondere in sozialen Medien aufgeweicht. Private Trivialitäten können hiermit für die Öffentlichkeit zugänglich werden, welches den kommunikativen Wandel entlarvt. Mit diesem Wandel wird die Beziehung zwischen Akteur*innen und Medien umgestaltet. Dadurch realisiert sich das Invektive in einer eigenen, charakteristischen Form. Die Strittigkeit eines potenziell invektiven Akts auf YouTube wird durch das partizipative Framework und tendenziell polarisierte Positionen verstärkt. Der Streit um die Deutungshoheit über Invektive stellt sich hier anders als z.B. in einem Briefverkehr zwischen zwei Personen dar, da die Adressierung der (Meta-)Invektive durch die Beteiligung von mehreren Personen benötigt wird. Das zeigt, dass die YouTube-Plattform als kommunikatives Medium die Formen und Strukturen der Invektiven prägt. Umgekehrt beeinflussen die invektiven Wirkungen auch die Bedienbarkeit von YouTube, indem die Nutzer*innen mit der hier geschehenen invektiven Kommunikation umzugehen versuchen, sei es durch den Verzicht auf weitere Kommentare oder die Übernahme der invektierenden bzw. invektierten Rolle als Reaktion darauf. [24]
4.4 (Meta-)Invektives Handeln in digitalen Kommunikationen
Mittels der Positionierungsanalyse zeigte ANDROUTSOPOULOS ein dynamisches Phänomen auf, dem in Hinblick auf Metainvektivität nachzugehen sich auch über den Workshop hinaus lohnen würde. Ich rekurriere auf das begriffliche Verständnis von Joachim SCHARLOTH (2018), nach dem kommunikationsethische Postulate (z.B. Lizenz, soziale Normen und Werte) u.a. in metainvektiven Äußerungen relevant gesetzt werden, um Geltungsansprüche explizit zu begründen. Wer wem nun rassistische Äußerungen vorwerfen darf, hängt damit zusammen, inwiefern die Sprecher*innenpositionen legitimiert werden. Offensichtlich wird in diesem Fall bei der ersten Position stark auf national-ethnische Zugehörigkeiten zurückgegriffen, während bei der zweiten Position moralische Vorstellungen in Anspruch genommen werden, indem eine defensive Haltung gegen den Rassismusvorwurf aufgezeigt wird. Daraus ergibt sich ein Deutungskampf im metainvektiven Handeln um die Deutungshoheit über gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Diese Möglichkeit, soziale Ordnungen erneut zu verhandeln, sehe ich ähnlich wie SCHARLOTH in der Metainvektivität. Invektive werden durch die Metainvektivität möglicherweise reproduziert, und die Grenzverschiebung zwischen invektiven und nicht-invektiven Äußerungen wird in der Betrachtung globaler Zusammenhänge dynamischer. Dies bedarf einer weiteren Ausführung und weiterer Untersuchung. [25]
In Hinblick auf die Legitimität der Sprecher*innenposition wird die Authentizität der Selbstzugehörigkeitsordnung in digitalen Kommunikationen auf besondere Weise thematisiert. Da Anonymität Identitäten schwer erkennbar macht, kann die Selbstidentitätsbehauptung durchaus herausgefordert werden, und dabei dient die authentische Zugehörigkeitsidentifizierung als Ressource für die legitimatorische Sprecher*innenposition. Im Fallbeispiel musste daher eine Asiatin in Kommentarspalten darauf hinweisen, wie eine Asiatin sein soll und sich verhalten muss. Eine hiervon abweichende Asiatin kann in der Internetkommunikation von anderen Asiat*innen, die sich bestimmte Verhaltensnormen zuschreiben, zurückgewiesen werden. Die Zurückweisung der geäußerten Zugehörigkeit stabilisiert die eigene Position (die richtigen Asiat*innen) und zementiert die Deutungsmacht gegen die Pluralisierung von diversen Ordnungen. Daran anschließend werden die vielfältigen Positionierungsmöglichkeiten bezüglich verschiedener Zugehörigkeitskategorien (etwa Beruf, Familienrolle, Alter etc.) auf den primären Topos, der gerade im Diskurs priorisiert wird, eingeschränkt. In diesem Zusammenhang müssen die Positionierungen präzise deklariert werden, indem eine relationale und situierte Identität im Kommunikationskontext hervorgebracht wird. Im Fall Hornbachs explizieren die Akteur*innen in den Kommentaren vorwiegend ihre national-ethnische bzw. regionale Zugehörigkeit, deren Status ihre Sprechlegitimität über Invektive gewährleistet. Die verfügbaren Positionierungen werden auf polarisierende Weise reduziert (Nicht- vs. Zugehörigkeit), und dadurch wird ein Antagonismus im Aushandlungsprozess der Ordnungsvorstellungen anhand invektiver Modi etabliert. Das Bestreben nach der Authentizitätserkundung der Gesprächspartner*innen zwingt insbesondere in sozialen Medien zur Stellungnahme mit Offenlegung der Zugehörigkeitsidentität, gleichzeitig werden alle Beteiligten in dichotomischer Weise inkludiert bzw. exkludiert. [26]
5. Fazit und Ausblick für die weitere Invektivitätsforschung
Das interdisziplinäre Format des Workshops ermöglichte einerseits ausgiebige Auseinandersetzungen und andererseits multiperspektivischen Methoden- und Theorieaustausch, wodurch ein Gesamtbild eines mediatisierten Ereignisses entstand. In den Impulsvorträgen wurden analytische Perspektiven offeriert und je bestimmte Phänomene in der digitalen Kommunikation fokussiert. Dabei ging es weniger um die Anwendungsmöglichkeit der einzelnen Methoden, sondern eher um ihre Kompatibilität und Komplementarität: Man kann z.B. durch die Analyse visueller Daten aus ethnomethodologischer Perspektive erfahren, wie die Ordnungsstruktur durch die Bildproduzent*innen organisiert, systematisiert oder demoliert wird, um einen erwünschten sozialen Effekt zu erzielen. Die Alltagsakteur*innen werden bereits als kompetente Mitglieder vorausgesetzt, die den Ordnungen nachgehen und dies für andere erkennbar und verstehbar machen. Allerdings begegnen sich Menschen mit verschiedenen Zugehörigkeitsidentitäten in digitalen Kommunikationen, die im globalen Kontext enorm dynamisch geworden sind. Dass auf die Zugehörigkeitskategorien zurückgegriffen und dadurch eine invektive Konstellation gestaltet wird, kann mittels der Kommentaranalyse herausgearbeitet werden. [27]
Die Untersuchung der Strukturen und Funktionalitäten invektiven Potenzials in digital vermittelten Kommunikationen bedarf, so ist deutlich geworden, der Zusammenstellung umfassenden Materials, wodurch die Kausalität des mediatisierten Ereignisses nachvollzogen werden kann. Wie bereits in Abschnitt 3.3 erwähnt, wäre eine multimodale Analyse für die zukünftige Arbeit empfehlenswert. Für die Soziologie gewinnen die Sinnlogik der globalen Vergesellschaftung und deren soziale Auswirkungen in heutiger Zeit an Gewicht, deshalb bieten sich die Internetinteraktionen an, um transnationale Verflechtungen zu verstehen. Der digitale Kommunikationsverlauf darf jedoch keinesfalls als der einzige Hauptschauplatz betrachtet werden, er ist einer unter vielen (z.B. Diskurse über Rassismus). Im Hornbach-Beispiel können invektive Dynamiken durch die verbalisierte Empörung in Kommentarspalten in Hinblick auf gesellschaftliche und historische Zusammenhänge herausgearbeitet werden, dennoch sollte die soziale Wirklichkeit "hinter dem Bildschirm" auch berücksichtigt werden. Unter diesem Aspekt empfiehlt GRESCHKE (2020 [2017], S.418) die Nutzung digitaler ethnografischer Methoden, um die "Vorderbühnen" mit den "Hinterbühnen" zu verbinden. [28]
Im Nachgang zum Workshop möchte ich eine neue Überlegung für die Invektivitätsforschung vorstellen. Invektivität hat eine ähnliche Funktion wie Humor, insofern beide In- und Exklusionsprozesse erkennbar machen (BERGER 2014 [1998]). Oft werden Zugehörigkeitskategorien als Ressourcen für Differenzmarkierungen beansprucht. Im Hornbach-Beispiel werden die Zugehörigkeitsidentitäten gezwungenermaßen expliziert, um die eigenen Äußerungen über die Invektiven zu legitimieren. Die fremd-markierten Nichtzugehörigen sind dann nicht in der Lage, die Fremdpositionierung zurückzuweisen, da die ausgewählten Differenzkategorien wie z.B. Ethnie oder Gender schwer änderbar sind. Zusammengeführt mit rassistischem Vorwurf stürzt die Identitätsäußerung wie "as an asian woman" in der Kommentarspalte die westliche (möglicherweise auch männliche) Hegemonie in die Täterrolle, wodurch die Unterstellung, alle Deutsche seien Rassist*innen, legitimiert wird. Umgekehrt wird der Vendingautomat für gebrauchte (Unter-)Wäsche als asiatische Eigenheit beschrieben. Dadurch werden die Asiat*innen dazu gedrängt, diese Skurrilität als asiatisches Spezifikum zu akzeptieren. In diesem Kontext wehren sich einzelne gegen Exklusionsakte, indem sie die eigene Zugehörigkeitskategorie aufdecken und eine klare Grenzlinie für das Sagbare und Nichtsagbare im Glaubensstreit ziehen. Durch die Selektion der Zugehörigkeitskategorien – um Invektive zu berechtigen bzw. zurückzuweisen – wird die Gegenposition delegitimiert; die, die sie vertreten, werden als nicht-zugehörige Personen oder Gruppen exkludiert. Humor funktioniert insofern ähnlich, dass die Exklusion durch die Inklusion der Mitglieder erst erkennbar markiert wird. Wer den Witz nicht versteht, weil er oder sie nicht zur betreffenden "Komikkultur" (BERGER 2014 [1998], S.65-68) gehört und daher die gemeinsamen Erfahrungen nicht teilt, um den Code für das erlösende Lachen entschlüsseln zu können, wird ausgeschlossen. Im Hornbach-Beispiel bedienen die Feldakteur*innen eine der bzw. alle beide Konstrukte, die sich jedoch nicht vereinbaren lassen. Denn sie sind unterschiedlich in der Hinsicht, da Ironie oder Humor die Zuschauer*innen zum Lachen bringen, während Invektivität wütende, sentimentale und unangenehme Emotionen auslöst. Dieser Aspekt, der im Workshop noch nicht weiter beleuchtet wurde, kann anhand der theoretischen Überlegung der kollektiven Emotion (VON SCHEVE & ISMER 2013) geschärft werden, indem in zukünftigen Studien untersucht wird, inwiefern die emotionale Konvergenz zu kollektiven Gedächtnissen führt und wie die Invektivität in der digitalen Kommunikation zur Aushandlung sozialer Normen beiträgt. [29]
Sowohl die Medienforschung als auch die Invektivitätsforschung erfordern eine interdisziplinäre Perspektive innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften, um Phänomene des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Brüche umfassender zu beschreiben. In diesem Sinne sind fruchtbare Auseinandersetzungen über die theoretischen Konzepte und die methodische Reflexion nicht zuletzt einer fachübergreifenden und wissbegierigen Teilnehmer*innenschaft zu verdanken, wie auch mit dem Workshop "Wie riecht das Frühjahr" gezeigt werden konnte. [30]
1) Der YouTube-Kanal "Hornbach Österreich" veröffentlichte an demselben Tag auch das gleiche Werbevideo, dessen Kommentare allerdings aus zeitlichen Gründen nicht mit ausgewertet werden konnten. Die im Workshop diskutierten Daten der Bildanalyse und der Kommentaranalyse beruhen ausschließlich auf dem YouTube-Kanal von "HORNBACH". <zurück>
2) "HORNBACH: Unsere Haltung", https://www.hornbach.de/aktuelles/unsere-haltung/ [Datum des Zugriffs: 2. Juni 2020]. <zurück>
3) change.org: "Wir stehen gegen das rassistische und frauenverachtende Unternehmen HORNBACH", https://www.change.org/p/wolfgang-rupf-wir-stehen-gegen-das-rassistische-und-frauenverachtende-unternehmen-hornbach [Datum des Zugriffs: 2. Juni 2020]. <zurück>
4) MiGAZIN: "Hornbach, wir sind nicht euer Witz!", https://www.migazin.de/2019/04/24/hornbach-wir-sind-nicht-euer-witz/ [Datum des Zugriffs: 2. Juni 2020]. <zurück>
5) An dieser Stelle verwies AYAß auch auf eine Analyse der Zeitungsüberschrift "Girl guide aged 14 raped at Hell's Angels convention" von John LEE (1984, S.69). In seinem Aufsatz diskutierte er anhand des Beispiels, wie die Zusammenstellung einer Zeitungsschlagzeile Leser*innen zu bestimmten Lesarten führen kann. <zurück>
6) Beispielsweise bildeten "kräftige Statuen, Männer in mittlerem Alter, geschnittene Hosen, freie Oberkörper, Körperbehaarung und Gartenrequisiten" eine Mitgliedschaftskategorie, die mit "der ostasiatisch aussehenden Frau, deren geschlossenem 'Business-Outfit', einer relativ dunklen Kulisse und dem beruflichen Arbeitskontext" kontrastiere. AYAß benannte die zwei Kategorien "Gartenidylle" versus "dystopischen Ort". <zurück>
7) Zur Veranschaulichung zeigte ANDROUTSOPOULOS einen Konversationsstrang, in dem eine Person zunächst als "Nazi’s son" bezeichnet wurde. Dieser Vorwurf wurde von jemand anderem als rassistisch bezeichnet, da die Nazi-Zuschreibung alle Deutschen treffe. Dabei wurde zusätzlich mit dem Satz "Thank you for your stupid [o]pinion! Pls don[']t visit us we don[']t need racist people" kommentiert. Hierbei wurde dem oder der Vorwerfenden wiederum Rassismus vorgeworfen. Diese*r wies die Rassismuskritik zurück und schrieb in einer ironischen Weise: "Lol and I can be a rscist[!] to trigger racists". Ich verzichte auf die Darstellung des kompletten Kommunikationsverlaufs aus forschungsethischen Gründen (mehr dazu: LEGEWIE & NASSAUER 2018). <zurück>
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Mei-Chen SPIEGELBERG ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt R "Invektive Kodierung von Interkulturalität: Ethnografische Situationsanalyse in interkulturellen Trainings und Integrationskursen" des SFB 1285 an der Technischen Universität Dresden. In ihrer Promotion forscht sie zu den Aushandlungsprozessen der sozialen Ordnung(-svorstellungen) in Wissensvermittlungssettings der (inter-)kulturell kodierten Invektiven. Ihre Forschungsinteressen sind unter anderen: (Auto-)Ethnografie, transnationale Prozesse, Medien- und Kommunikationssoziologie.
Kontakt:
Mei-Chen Spiegelberg
TU Dresden
SFB 1285: Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung
Chemnitzer Straße 48b
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Tel.: +49 (351) 463-43869
E-Mail: mei-chen.spiegelberg@tu-dresden.de
URL: https://tu-dresden.de/gsw/sfb1285/forschung/teilprojekte/teilprojekt-r/spiegelberg
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