Volume 9, No. 1, Art. 15 – Januar 2008

Rezension:

Matthias Catón & Henrik Schober

Heiko Holweg (2004). Methodologie der qualitativen Sozialforschung: Eine Kritik. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 251 Seiten, ISBN 3-258-06461-X, EUR 38,50

Zusammenfassung: Der Autor liefert einen Beitrag zur vielschichtigen Methodendebatte zwischen der qualitativen und der qualitativen Sozialforschung. Dabei bezieht er klar für die quantitative Variante und den für sie maßgeblichen kritischen Rationalismus Position und entkräftet Argumente, die von der qualitativen Seite vorgebracht werden. Er argumentiert, die Formulierung deduktiv gewonnener Gesetze und Erklärungen sei möglich. Man müsse dies also nicht unter Berücksichtigung der menschlichen Individualität aufgeben und sich auf das induktive Verstehen einzelner Phänomene beschränken. Die prominente Schlussfolgerung, qualitative und quantitative Ansätze könnten sich gegenseitig ergänzen, zieht der Autor jedoch nicht. Er begnügt sich mit einer teilweise recht feuilletonistischen Entkräftung der Argumente seiner "Gegner" und lässt weiterführende Folgerungen vermissen.

Keywords: qualitative vs. quantitative Sozialforschung, kritischer Rationalismus, Methodologie, kausale Erklärung, Deduktion

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Übersicht über die Kapitel

3. Kritik

4. Zusammenfassung und Fazit

Literatur

Zu den Autoren

Zitation

 

1. Einleitung

Das Buch "Methodologie der qualitativen Sozialforschung" von Heiko HOLWEG beschäftigt sich mit qualitativer Forschungsmethodik. Der Titel lässt vermuten, dass es sich um einen Überblick über die Methodik, vielleicht sogar um ein Lehrbuch handelt. Tatsächlich geht es dem Autor darum, wie er in der Einleitung schreibt, zu "zeigen, dass die Anhänger des qualitativen Paradigmas [...] gescheitert sind" (S.14). So widmet sich das Buch primär der Entkräftung der wesentlichen Argumente, die vonseiten der qualitativen Sozialforschung gegen den kritischen Rationalismus vorgebracht werden. Sehr ausführlich wird dargestellt, dass die Forderungen nach "Regel- statt Gesetzesbegriff", "Verstehen statt Erklären" und "Induktion statt Deduktion" nicht haltbar seien. Auf dem Untertitel des Werks – "Eine Kritik" – liegt somit der Schwerpunkt des Buches. Lobenswert ist, dass der Autor mit seiner Absicht nicht hinter dem Berg hält, was bei wissenschaftlichen Werken durchaus nicht selbstverständlich ist. [1]

2. Übersicht über die Kapitel

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Einer kurzen Einleitung folgen die Besprechungen einiger Arbeiten zur qualitativen Methodik, sowie eine Einführung in die deduktive Forschungstheorie. Der dritte Teil widmet sich auf dieser Grundlage einzelnen Kritikpunkten der qualitativen Sozialforschung an der quantitativen Methode, der letzte Teil schließlich besteht aus einem sehr kurzen, dreiseitigen Resümee. [2]

In Teil II beschäftigt sich HOLWEG mit drei Autoren, die jeweils deutschsprachige Lehrbücher über qualitative Methodik geschrieben haben. Es handelt sich um Siegfried LAMNEK und dessen "Qualitative Sozialforschung" (in der 3. Auflage von 1995, mittlerweile liegt die 4. Auflage von 2005 vor), Ralf BOHNSACKs "Rekonstruktive Sozialforschung" (4. Auflage 2000, mittlerweile 6. Auflage 2007) und Gerhard KLEININGs "Lehrbuch entdeckende Sozialforschung" (1995). Die Abschnitte sind sehr kurz – insgesamt sieben Seiten für die drei Autoren – und entsprechend selektiv sind die jeweils diskutierten Punkte. So wird hinsichtlich des Buches von LAMNEK lediglich dessen Kritik am Positivismus in den Blick genommen, seine Vorstellungen über alternative Möglichkeiten der Verifikation hingegen werden nicht behandelt. Die Werke von BOHNSACK und KLEINING werden auf ihre Wahrnehmung des kritischen Rationalismus' Karl POPPERs (siehe bspw. 1969, 1972) hin untersucht. Auf die Richtigstellungen, die HOLWEG hier für nötig hält, folgt jedoch keine Diskussion der Kernthesen der beiden Autoren. Es schließt sich eine allgemein gehaltene Einführung in die deduktive Forschungslogik an, die anhand der zentralen Begriffe "Kausalität" und "Regel" im Wesentlichen die Grundlagen dieser Methodologie skizziert. Diese Darstellung mag zunächst überraschen, da man sie in einem Buch mit dem Titel "Methodologie der qualitativen Sozialforschung" nicht erwarten würde – zumal dieser Abschnitt fast doppelt so lang ausfällt wie die Behandlung der drei Lehrbücher zur qualitativen Forschung. Mit Blick auf das Anliegen des Buches erschließt sich diese Schwerpunktsetzung jedoch: Der Autor möchte die Leserinnen und Leser hier mit dem nötigen Rüstzeug versehen, um die in Teil III folgende Diskussion der Komponenten des qualitativen Paradigmas nachvollziehen zu können. [3]

Teil III – offenkundig der Hauptteil – beschäftigt sich ausführlicher mit einzelnen Annahmen und Grundüberlegungen qualitativer Methodologie und bringt einige interessante Erkenntnisse zu den Begriffspaaren Regeln und Gesetze, Verstehen und Erklären sowie Induktion und Deduktion. So leuchten beispielsweise die Argumentationen ein, in denen der Autor vor einer zu engen Auslegung des quantitativen Paradigmas warnt. Die Falsifikation eines Gesetzes bedeute nicht zwangsläufig, dass es zu diesem Untersuchungsgegenstand keine Gesetze geben könne. Auch das der Induktion stets innewohnende Problem der Kopplung an Geltungsansprüche wird überzeugend dargestellt. [4]

Diese Beschreibung deutet schon an, dass Teil III auf einer sehr viel breiteren Basis steht als die kurzen Abschnitte in Teil II. Es werden Grundlagen wie beispielsweise das Hempel-Oppenheim-Schema besprochen und auch Randthemen bisweilen sehr ausführlich diskutiert. Allerdings fällt hier zum wiederholten Male der sehr einseitige und negative Argumentationsstil des Autors auf, dessen Äußerungen teilweise ins Polemische gehen. So spricht HOLWEG etwa davon, ein Autor sei "tief im Sumpf der ideologischen Verblendung versunken" (S.63). Dieser für Leser und Leserinnen oft unangenehme Stil wird schon zu Anfang des Buches eingeführt, wo HOLWEG sich ähnlicher Formulierungen bedient, etwa wenn er LAMNEKs Lehrbuch "unseriös" und KLEININGs Argumentation "rätselhaft" nennt, oder BOHNSACK vorwirft, sich mit POPPERs Werk gar nicht beschäftigt zu haben. [5]

Das Resümee am Schluss unterstreicht noch einmal die wesentlichen Punkte der Argumentation des Autors und macht erneut klar, dass dieses Buch in erster Linie als Beitrag zu einer Kontroverse und nicht als Lehrbuch verstanden werden sollte. [6]

3. Kritik

Bereits in der Einleitung erweckt der Autor den Anschein, als wäre die qualitative Sozialforschung dabei, die Wissenschaft zu dominieren. In den meisten Sozialwissenschaften – etwa der Politikwissenschaft oder Teilen der Soziologie – ist jedoch seit Jahren eher ein umgekehrter Trend zu beobachten. [7]

HOLWEG behauptet, dass eine Auseinandersetzung der qualitativen Forschung mit der quantitativen nicht stattfinde "und bei qualitativen Sozialforschern weitgehend Unkenntnis über die Auffassungen ihrer Gegner herrscht" (S.14). Dabei ignoriert er jedoch beträchtliche Teile der neueren Forschungsliteratur, die etwa von FIELDING und SCHREIER (2001) überzeugend dargestellt wird. Mit ihren Ausführungen zu den Kombinationsmöglichkeiten der qualitativen und der quantitativen Forschung und den daraus hervorgehenden "hybriden" Ansätzen stellen sie eher den Stand der methodologischen Debatte dar. HOLWEG erwähnt derlei nur sehr punktuell, wenn er etwa auf die Nutzbarkeit qualitativer Untersuchungsmethoden wie Interviews für die quantitative Forschung eingeht. Festzuhalten bleibt also, dass die methodologische Debatte in den Sozialwissenschaften wesentlich weiter ist. Ein früher Meilenstein ist hier das Buch von Gary KING, Robert KEOHANE und Sidney VERBA (1994), das sich mit quantitativer und qualitativer Forschungslogik auseinandersetzt. Die KING et al. kommen zum Schluss, dass beide Meta-Strömungen auf derselben Logik aufbauen und dass die qualitative Schule ihre Forschungsleistung verbessern könnte, wenn sie quantitative Werkzeuge übernehmen würde. Diese etwas einseitige Sicht ist zu Recht kritisiert worden, jedoch bleibt das Buch wegen seiner klaren Argumente und der präzisen Darstellung verschiedener Ansätze ein zentrales Werk. Es inspirierte zudem eine Antwort aus dem Lager der qualitativen Forscher (Henry BRADY & David COLLIER 2004; für eine ausführliche Besprechung siehe CATÓN 2006). [8]

Beide Bücher (KING et al. sowie BRADY & COLLIER) spiegeln zusammen auch heute noch im Wesentlichen den Stand der Debatte zwischen qualitativen und quantitativen Forschenden in den Sozialwissenschaften wider. Während weitgehend Konsens darüber besteht, dass die zugrunde liegende Forschungslogik dieselbe ist, dreht sich die Auseinandersetzung vor allem um drei Bereiche: (1) Wie viele Fälle für eine Untersuchung nötig sind und wie diese ausgewählt werden sollten; (2) wie Theorien aufgestellt, geprüft und verfeinert werden sollten und (3) ob Analysen besser mit einem vorab festgelegten Set von Variablen durchgeführt werden oder ob sie auf einem umfassenden Verständnis von Fällen und ihren Kontexten beruhen sollten. [9]

Um es klar zu sagen: Viele der Argumente, die HOLWEG gegen die von ihm behandelten Lehrbücher zur qualitativen Methodik vorbringt, sind berechtigt. Es ist veraltet, ausschließlich auf Induktion zu setzen, die Existenz von Gesetzen abzulehnen oder Erklärungen nicht zuzulassen, indem auf die Individualität des Menschen verwiesen wird. Zu kritisieren ist allerdings, dass er den Anschein erweckt, "die qualitative Methode" insgesamt zu behandeln, obwohl es sich konkret um eine Auseinandersetzung (im Stile einer Abrechnung) mit drei Büchern handelt. [10]

Der Autor hätte also entweder im Titel deutlich machen müssen, dass es sich um die Abrechnung mit einem sehr spezifischen Teil der qualitativen Methodik handelt, oder der Fokus hätte erheblich ausgeweitet werden müssen. Eine solche Ausweitung hätte HOLWEG wohl gezwungen, seine sehr pauschale Meinung zu qualitativer Methodik zu revidieren, da viele seiner Argumente – wie gesagt – offensichtlich auf einer beschränkten Auswahl beruhen. Dazu gehört etwa die Behauptung, qualitative Methoden lehnten die Existenz kausaler Beziehungen ab. [11]

4. Zusammenfassung und Fazit

Insgesamt ist die Idee, ein vertiefendes Buch zur Auseinandersetzung zwischen qualitativer und quantitativer Methode zu schreiben, sehr lobenswert und nötig. Leider wird der Autor seinem eigenen Anspruch und dem potenzieller Leserinnen und Leser nicht gerecht. Die Auswahl der behandelten Literatur zu qualitativen Methoden ist zu eng. Der Autor scheint mehr an einer Abrechnung mit den behandelten Autoren als an einer ernsthaften Diskussion interessiert zu sein – dies wird auch am teilweise sehr persönlich argumentierenden Schreibstil deutlich. [12]

Weite Teile der internationalen Literatur zur qualitativen Methode nimmt HOLWEG überhaupt nicht zur Kenntnis, und so fehlen dem Buch entscheidende Teile des qualitativen Forschungsparadigmas, das – anders als der Autor behauptet – durchaus mit Variablen arbeitet und Hypothesen überprüft. Die Kritik an den drei Büchern, die teilweise Standardwerke sein mögen, kann eine systematische Diskussion des heutigen Standes der qualitativen Sozialforschung nicht ersetzen. So werden essenzielle Forschungslogiken wie etwa die des Vergleichens nicht behandelt, obwohl sie für die Sozialwissenschaft Wesentliches geleistet haben. Im Zuge dessen werden spannende Themen wie die Auswahl der Fälle, die Dimensionierung der Variablen, die verschiedenen Grundtypen von Forschungsdesigns oder das Verhältnis von Theorie und Empirie nicht diskutiert. Die aktuelle methodologische Debatte zwischen den Vertretern und Vertreterinnen der quantitativen und der qualitativen Forschung ist sehr viel weiter fortgeschritten, als HOLWEG sie darstellt. [13]

Literatur

Bohnsack, Ralf (2000). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung (4. Aufl.) Opladen: Leske + Budrich.

Brady, Henry E. & Collier, David (2004). Rethinking social inquiry. Diverse tools, shared standards. Lanham, Md.: Rowman and Littlefield.

Catón, Matthias (2006). Rezension zu: Henry E. Brady & David Collier (Hrsg.). Rethinking social inquiry. Diverse tools, shared standards. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 7(2), Art. 30, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-06/06-2-30-e.htm [Zugriff: 4.12.2006].

Fielding, Nigel & Schreier, Margrit (2001). Introduction: On the compatibility between qualitative and quantitative research methods. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(1), Art. 4, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-01/1-01hrsg-e.htm [Zugriff: 27.06.2007].

King, Gary; Keohane, Robert O. & Verba, Sidney (1994). Designing social inquiry. Scientific inference in qualitative research. Princeton: Princeton University Press.

Kleining, Gerhard (1995). Lehrbuch entdeckende Sozialforschung, Bd. 1: Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik. Weinheim: Beltz PVU.

Lamnek, Siegfried (1995). Qualitative Sozialforschung, Bd. 1: Methodologie (3. Aufl.).Weinheim: Beltz PVU.

Popper, Karl R. (1969/1972). Die Logik der Sozialwissenschaften. In Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf, Harald Pilot, Hans Albert, Jürgen Habermas & Karl R. Popper (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (S.103-123). Neuwied: Luchterhand.

Popper, Karl R. (1972/1973). Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Zu den Autoren

Matthias CATÓN ist Programme Officer beim International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA), einer staatlichen internationalen Organisation mit Sitz in Stockholm, deren Aufgabe es ist, die Demokratie weltweit zu fördern. Zuvor war der Politikwissenschaftler als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wahlsysteme, Parteiensysteme, Demokratisierung und Methoden der empirischen Sozialforschung.

Kontakt:

Matthias Catón

International IDEA
103 34 Stockholm
Schweden

E-Mail: matthias@caton.de
URL: http://www.caton.de/

 

Henrik SCHOBER hat Politische Wissenschaft und Soziologie studiert und promoviert derzeit am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Er arbeitet im Forschungsprojekt "Bildungsausgaben im internationalen Vergleich". Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Bildungspolitik, Europäische Integration und die Vereinten Nationen.

Kontakt:

Henrik Schober

Universität Heidelberg
Institut für Politische Wissenschaft
D-69117 Heidelberg

E-Mail: HSchober@t-online.de

Zitation

Catón, Matthias & Schober, Henrik (2007). Rezension zu: Heiko Holweg (2004). Methodologie der qualitativen Sozialforschung: Eine Kritik [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801155.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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