Volume 9, No. 1, Art. 27 – Januar 2008
Rezension:
Dagmar Hoffmann
Jean-Claude Kaufmann (2005). Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK, 333 Seiten, ISBN 3-89669-533-9, EUR 19,90
Zusammenfassung: Das vorliegende Buch beinhaltet die Sicht des Soziologen Jean-Claude KAUFMANN auf den vielgestaltigen Begriff Identität und fasst im Wesentlichen die französischsprachige Debatte um das Konstrukt zusammen. KAUFMANN unternimmt den Versuch, eine Theorie der Identität zu entwerfen. Dabei möchte er zum einen an die Klassiker – vor allem FREUD, MEAD und ERISKON und deren Begriffsbestimmung – anknüpfen und zum anderen die Ergebnisse seiner empirischen Studien zum Paarverhalten, zum Alltags- und Familienleben sowie zum Beziehungsglück zum Ausgangspunkt nehmen, um das Individuum in der Gegenwart zu verorten. KAUFMANN beschreibt verschiedene Strategien des Umgangs mit dem "Identitätsdiktat" und verweist auf die Notwendigkeit einer Neuformulierung und Betonung des Sozialen, denn aus seiner Sicht droht bei der ganzen Suche des Individuums nach sich selbst der Verlust von Gemeinsinn und kollektiven Visionen. Das Buch wird dem Diskurs um Identität neue Facetten hinzufügen und sicherlich auch zur Debatte um Individualisierung und Gemeinwohlorientierung beitragen.
Keywords: Identität, Persönlichkeitsentwicklung, Subjektivität, Moderne, Selbstfindung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zum Inhalt
3. Erkenntnisinteresse und Erkenntnisgewinn
4. Empfehlung
Die Frage nach der Identität – der eigenen, der der anderen, der kollektiven oder fremden – bleibt prinzipiell immer unvollständig und damit nicht beantwortbar. Und gerade das macht sie wahrscheinlich so unglaublich spannend und faszinierend. Es liegt ein unwiderstehlicher Reiz in der Auseinandersetzung mit der Frage und der Suche danach, wer man sein will und wer man in heutigen Gesellschaften sein kann. Sehr gern möchte man in die Entdeckung oder Erfindung des Ichs eingeladen und dabei auch an die Hand genommen werden, was die Nachfrage von zahllosen Büchern zur Selbstfindung und Selbstanalyse, der esoterischen Handreichungen und Leitfäden beweist. So hat jede Disziplin ihren ganz eigenen, speziellen "Zugang zum Ich". [1]
Jean-Claude KAUFMANN beschreibt aus soziologischer Perspektive mit einer überaus sympathischen, französischen Leichtigkeit die Suche und die Sehnsucht des Individuums nach Identität in der Moderne. Er unternimmt den – wie ich finde – mutigen Versuch, den heute über wissenschaftliche Kontexte hinaus sehr populären Begriff und das Konstrukt der Identität theoretisch zu verorten und zu operationalisieren. Seiner Ansicht nach ist das Phänomen, dass das Individuum eine Vorstellung von sich selbst hat, kein gegenwartsspezifisches. Neu ist nur, dass diese Vorstellung vom Selbst "einen anderen Platz im Prozess der Konstruktion von Realität" (S.70) eingenommen hat. Seine Konjunktur verdankt der Begriff der Identität nach KAUFMANN lediglich der Tatsache, dass sie heute besonders unsicher geworden sei (S.62). [2]
Die Monografie, deren französischer Titel "L'invention de soi. Une théorie de l'identité" lautet, gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil beschäftigt sich KAUFMANN in einem kurzweiligen Abriss mit der Geschichte der Identität. Hier räumt er zu Beginn seiner Ausführungen ein, dass er den Begriff und seine Genese gern sehr genau erforscht hätte, doch bei dieser Arbeit habe er bald feststellen müssen, dass der Begriff "eine dermaßen disparate Inflation" (S.12) erfahren habe, die es einfach schwierig mache, hier einen erschöpfenden Überblick zu geben. Nach kurzen einführenden Verweisen in die Philosophie und in die formal-gesetzlichen Zwänge von personalen Identitätsmerkmalen kommt der Autor auf die eigentlichen Ursprünge des Identitätskonzepts zu sprechen. Nach KAUFMANNs Betrachtungen ist Sigmund FREUD der Gründungsvater des Begriffs in den Humanwissenschaften (S.27) gewesen. Dieser habe die "moderne Reflexion über die Identität" (a.a.O.) angestoßen, indem er darauf hingewiesen hat, dass das Individuum das eigene Ich durch den identifikatorischen Austausch mit dem, von dem es umgeben ist, strukturiert. Der eigentliche und wahre "Entdecker" des Begriffs der Identität ist hingegen auch für KAUFMANN Erik ERIKSON, der sich aufgrund seiner eigenen Biografie Zeit seines Lebens der Identitätsfrage gewidmet hat. ERIKSON hat – das stellt KAUFMANN zurecht heraus – das prozessuale Verständnis der Identitätsausbildung FREUDs aufgenommen und "öffnete es konkreter zum sozialen Kontext hin" (S.30). Im Mittelpunkt der ERIKSONschen Betrachtungen steht die phasenspezifische Ausbildung der Identität im Kindes- und Jugendalter, die jeweils kontext- und personenabhängig erfolgt und mitunter krisenhaft verlaufen kann. ERIKSON1) ging, so die Interpretation KAUFMANNs2), davon aus, dass dieser Entwicklungsprozess mit der Ausbildung der Identität als Produkt seinen Abschluss finden könne. "Prozesse werden dabei nur in dem Maße akzeptiert, wie sie die Vorstellung erlauben, dass am Ende ein Ergebnis erreicht werden kann: die einzigartige, wahre, stabile Identität …" (S.31). George Herbert MEAD hat für ERIKSONs Überlegungen – so KAUFMANN – die ein oder andere Vorlage geliefert, wobei er kaum von Identität, sondern eher vom Selbst gesprochen hat. Der Begriff Identität war zu seiner Zeit auch noch nicht geläufig. Das Selbst ist für MEAD aber nicht statisch – so der Autor – und nicht nur substanziell gewesen, sondern es war für ihn vorrangig ein "immenser Prozess" (S.33). Demzufolge kann das Individuum als ein "umfangreiches System aus internen Interaktionen unter Einfluss einer sozialen Umgebung [begriffen werden], die selbst wiederum zutiefst von einem bestimmten historischen Kontext geprägt ist" (S.33). Der Aspekt der Historizität wird in der heutigen Rezeption MEADs nach Auffassung von KAUFMANN leider häufig vergessen. [3]
Gleichwohl folgte durch die Aufklärung über Persönlichkeit, Selbst und Identität durch die drei genannten Wissenschaftler ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrittweise eine intensive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Erscheinungsformen, und die Thematik hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Die Frage nach der Identität wird gegenwärtig im wissenschaftstheoretischen Kontext hochgradig ausdifferenziert behandelt, wobei die Unsicherheiten gegenüber den empirischen Wahrheiten – so möchte ich anmerken – zu überwiegen scheinen. KAUFMANN ist zugutezuhalten, dass er mit seinem Buch nun versucht, in der Vielfalt der Begriffsbestimmungen die Einheit zu suchen. Er nennt dies den "schwache[n] Konsens" (S.41). Demzufolge lässt sich zunächst konstatieren, dass Identität immer ein subjektives Konstrukt ist. Die jeweilige Identität hat in der konkreten Realität immer einen "Identitätsaufhänger" (hier verweist KAUFMANN im Verlauf des Buches auf GOFFMAN, siehe KAUFMANN, S.93), d.h. es gibt immer ein "unumgehbares Ausgangsmaterial der Identifizierung" (S.41), mit dem das Individuum situativ korrespondiert und in einen Zusammenhang gebracht wird. Seine "Identitätsarbeit" steht unter Beobachtung und wird positiv oder negativ von den Beteiligten sanktioniert. Für KAUFMANN bleibt hiermit aber das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in diesem Prozess der Selbstfindung unbefriedigend und ungeklärt. [4]
KAUFMANN bemüht sich im ersten Teil des Buches sehr darum, den Ausgangspunkt bzw. den Ursprung für das Phänomen der Identität auszumachen. Dieser bleibt trotz der vorgenommenen sozialtheoretischen und soziohistorischen Bezüge letztendlich nur ungenau bestimmbar. Er ist – wie KAUFMANN rekonstruiert – durch die Umstrukturierung der Arbeitsgesellschaft resp. der Industrialisierungsprozesse und einer zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft von Staats wegen gelenkt und verordnet worden, wobei es einer längeren Übergangsphase bedurfte, in der das Individuum mehr und mehr sich auf dieses Diktat einlassen konnte. KAUFMANN hält für sich fest, dass sich eine stärkere Akzentuierung der individuellen Sinn- gegenüber der Existenzfrage für die Mehrheit der Bevölkerung deutlich ab Mitte des 20. Jahrhunderts abzeichnete. Das Individuum sei ab diesem Zeitpunkt mehr und mehr zum Subjekt geworden. Diese Entwicklung sei für den Einzelnen mit Freiheiten und auch Zwängen einhergegangen, denn sei keine leichte Aufgabe – so KAUFMANN (S.84) – dem eigenen Leben Sinn zu verleihen. Die Frage der Identität resp. die Subjektwerdung ist für den französischen Soziologen eng mit der Herstellung von Sinn verknüpft. Dies stelle eine der Hauptaufgaben des Individuums der Moderne dar und leider auch eine Herausforderung mit
"einem charakteristischen Doublebind. Denn gleichzeitig fordert sie [die Moderne] von ihm das Gegenteil: dass es ein frei denkendes Wesen sei, das nicht zögert, zu fragen und sich selbst über alles zu befragen. Worin liegt da der Widerspruch?, mag man fragen. Darin, dass die Reflexivität einer Logik der Öffnung folgt, das heißt, sie zerstört die Gewissheiten und stellt allgemein anerkannte Tatsachen in Frage, während die Identität unaufhörlich die Stücke wieder zusammenklebt. Sie ist ein beständiges System der Geschlossenheit und der Integration von Sinn, dessen Vorbild die Totalität ist" (KAUFMANN, S.84). [5]
An anderer Stelle erläutert KAUFMANN das Dilemma wie folgt: "Je mehr sich das Subjekt ins Zentrum seines eigenen Lebens stellt, desto mehr lösen sich die Gemeinschaften in den Ereignissen auf, desto mehr sehnen sie sich nach der gesellschaftlichen Umhüllung und nach verlorenen Wertesystemen" (S.87). Individuen suchen, so wird nahegelegt, mitunter ihre Orientierungspunkte in der Vergangenheit (oder auch in kulturfremden Religionen), anstatt sich der Zukunft zuzuwenden. KAUFMANN konstatiert entsprechend: "Auf der Suche nach Rückversicherung und Gewissheiten wirkt die Konterrevolution der Gesellschaft insgesamt anziehender als die Revolution der Identität" (a.a.O.). [6]
Im zweiten Teil des Buches widmet sich KAUFMANN dann den Gegensätzen resp. Antagonismen, die im Kontext von Identität diskutiert werden. Er versucht, das Wesen der Identität näher zu bestimmen und den Begriff der Identität von anderen im Zusammenhang mit Identität verwendeten Begriffen abzugrenzen. Im Wesentlichen geht es ihm darum, deutlich zu machen, dass die Identitätsausbildung weniger autonom, d.h. selbstbestimmt erfolgt, als allgemein angenommen werde. Die Subjektwerdung oder die Bestimmung des Selbst steht – fasst man KAUFMANNs Ausführungen zusammen – eben doch im Zusammenhang mit strukturellen und kulturellen Gegebenheiten. Sie werde nicht zuletzt auch (indirekt) bestimmt durch Geschichte und Traditionen, nach denen sich das Individuum in Zeiten von Unsicherheiten und Diversifizierungen sehne. Sozialisationspfade haben nach Auffassung des Autors unfreiwillig und unbewusst Prägungen vorgenommen, denen sich das Individuum füge oder gegen die es sich mitunter zu wehren versuche. Dies verdeutlicht KAUFMANN z.B. an der Wahl des Lebenspartners bzw. der Lebenspartnerin. Oftmals wisse das Individuum gar nicht um diese Kraft des Antriebs für Entscheidungen, aber handele entsprechend, um Kompensationen und Relativierungen vorzunehmen. Es rebelliere z.B. bei Partnerschafts- oder Berufsentscheidungen gegen die Prägungen und Projektionen der Eltern. KAUFMANN betont, dass die emotionalen Energien und das emotionale Gedächtnis (S.121) bei der Subjektwerdung nicht zu unterschätzen seien. So hält er fest: "Nicht die intellektuell verführerischsten Rollen, sondern die für die Psyche bequemen werden gespielt. Die Identitäten, die als Wertesysteme eingesetzt werden und die Handlung lenken, verleihen dieser Macht nur in der Entfaltung einer emotionalen Energie Gestalt" (a.a.O.). [7]
KAUFMANN betont, dass Identität nur als Prozess begriffen werden kann, und dass der Begriff Identität eigentlich irreführend und zweifelhaft sei (Fußnote 1, S.123). Kontinuierlich verändere der Identitätsprozess "seine Perimeter durch ebenso unvorhersehbare wie extreme Variationen. Er gibt Sinn zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und der Sinn ist sehr flüchtig" (S.124). KAUFMANN ist es ein wichtiges Anliegen, deutlich zu machen, dass der Prozess der Selbstwerdung bzw. die "Erfindung" des Ichs ein überaus komplexer und variabler Vorgang ist, der sich weder aus der Eigen- noch Fremdperspektive fassen lasse. Eine Differenzierung von individueller und kollektiver Identität erscheint ihm auch wenig sinnvoll, denn das Selbst konstituiere sich nicht isoliert und allein, sondern immer über andere und im Bündnis mit Kollektiven bzw. über die kollektiven Identifizierungen, die als Ressourcen genutzt würden. "Die kollektive Identifizierung beginnt [...] in den winzigen Erweiterungen des Selbst innerhalb der vertrauten Welt. Zwei Personen genügen zur Gründung einer Gruppe" (S.131). [8]
Identität wird erwiesenermaßen (vgl. z.B. die empirische Arbeit von MEY 1999) über die Erzählung von sich selbst hergestellt, dabei ist nach KAUFMANN das Ego bemüht, stets den roten Faden in der Biografie zu spinnen und die Facetten und Brüche der Biografie funktional zu vereinheitlichen. "Das Ego versucht, die zersplitterten Teile seines Lebens und seiner Gedanken wieder zusammenzukleben" (S.169). Dabei mache es sich – so die weiteren Ausführungen KAUFMANNs – jedoch eigentlich etwas vor, denn die "Selbstbilder sind von ihrer Flexibilität ohnegleichen" (S.177) und würden aus Gründen der Selbstachtung immer in der einen oder anderen Weise retrospektiv "zusammengebastelt", sodass ein einigermaßen homogenes, mit Sinn erfülltes Bild entstehe. Diese Identität nennt KAUFMANN die biografische und narrative. Sie passt zu der von KEUPP et al. (2006) beschriebenen "diskursiven Konstruktion" der eigenen Geschichte und assoziiert ferner auch die "Selbst-Narration" (a.a.O., S.101ff.). Ihr gegenüber stehe die unmittelbare Identität, die "im Zentrum präziser, ganz konkreter Kontexte" (a.a.O.) relevant werde. KAUFMANN charakterisiert sie wie folgt: "Sie ist eher starr (zieht das Bild der Erzählung vor), kontextabhängig und punktuell, momentan und pragmatisch. Das Problem, das gelöst werden muss, ist das des aktuellen Handelns" (S.178). KAUFMANN bezeichnet sie als "identité ICO". Die Abkürzung steht für die Anfangsbuchstaben der Begriffe immédiate, contextualisé, opératoire. Die Identität wird, so KAUFMANN, zu einer Bedingung des Handelns, sie wird "zum Filter, der das Handeln bestimmt" (S.213). Mit anderen Worten: das, was man macht, macht das eigene Menschsein bzw. das eigene Bild, die eigene Persönlichkeit aus. Und was man macht und ggf. auch sagt, folgt entsprechend dem, was bzw. wer man sein möchte. Diese Arbeit am Selbst ist für KAUFMANN nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale, da das Individuum sich in der Situation des Handelns und Seins auch wohlfühlen müsse. Sicherlich gebe es genügend Momente im Leben eines Menschen, in denen das Machen und vor allem Reagieren nicht gesteuert werden könne, in denen Gefühle des Unwohlseins und der Scham die angestrebte Identität empfindlich stören. Mit diesen "Unfällen" müsse sich das Individuum dann versöhnen oder aber versuchen, durch erneute "Arbeit" am Ich den Schaden wieder zu beheben. Der Antrieb für diese Arbeit am Selbst – so interpretiere ich KAUFMANN – ist die Wahrung und Achtung des Selbst. [9]
Im letzten Drittel des Buches versucht sich KAUFMANN auf die Neuformulierung des Sozialen durch die Identität zu konzentrieren und den sozialen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu beschreiben, denn "Identität ist keine private, persönliche Frage" (S.211), sondern sie steht für den Autor eng im Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten und sozialen Positionierungen in der Gesellschaft. KAUFMANN greift die von A.O. HIRSCHMAN (1970) in einem anderen Kontext verwendeten Begriffe voice, exit und loyality auf und benutzt sie, um Idealtypen zu modellieren, die wiederum die Sozialität der Identität verdeutlichen sollen. Hiernach verleihen sich diejenigen eine Stimme (voice) in der Gesellschaft, die mit dem Diktat der Identitätsbildung nicht so recht klarkommen, d.h. die nicht ausreichend über Ressourcen verfügen, um ihr Selbst in Balance zu bringen und ausreichend Achtung zu erhalten. Sie würden zu Außenseiter(inne)n, zögen sich in die "schützende Unsichtbarkeit" (S.224) zurück und flüchteten sich in "gewöhnliche Leidenschaften" oder auch Süchte (Implosion). Oder aber sie opponierten, machten mit Krawallen auf sich aufmerksam wie etwa die Ausgegrenzten in den französischen Vorstädten bzw. sie stigmatisierten diejenigen, die noch ärmer und sozial schwächer sind als sie selbst (Rebellion). Über die Ausgrenzung anderer Menschen – in der Regel Schwächerer – definieren sie sich, so KAUFMANN, und werten sich auf. Sie kollektivieren sich mit ihresgleichen und nutzen die Gruppenzugehörigkeit als Ressource und Behauptung ihres Selbst. [10]
Des Weiteren verweist KAUFMANN auf diejenigen, die auf das "Identitäts- und Selbstverwirklichungsdiktat" der Moderne mit Rückzug (exit) reagieren. Diese Typen stellen ihr Handeln nicht stets in Frage, sondern sie ließen sich im Prinzip vom Leben lenken, ohne es ständig kritisch und reflexiv zu hinterfragen. Das Individuum ziehe sich auf die "inneren Determinationen" (S.243) zurück und es "genügt fast, sich tragen zu lassen, indem man in Gedanken wiederholt, was man macht, um zu sein, was man ist" (a.a.O.):
"Einfach sein, was man ist, was man macht, schützt vor der Erschöpfung und den Gefahren eines Lebens, das von der Selbsterfindung beherrscht und von den Bildern und Empfindungen durcheinander gebracht wird. Daher muss man in Gedanken das Handeln durchgehen, bis man dem konkreten Alltag am nächsten kommt …" (S.245). [11]
Und die Zeit und das Leben vergingen dann einfach, seien ausgefüllt mit Automatismen und Routinen. "Sein, was man ist, die Wiederaufnahme einer alten volkstümlichen Weisheit – das ist heute ein Versuch des Widerstands gegen die Selbsterfindung, die so viel enttäuschte Träume, Gewalt, Schreie, innere Zusammenbrüche, Süchte verursacht" (S.247). KAUFMANN resümiert, dass insbesondere die weniger Gebildeten und die aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenen Alten in diesen – ich nenne es – Routinen und stereotypen Abläufen leben, die ihnen aber durchaus Befriedigung und eine wichtige Struktur im Leben geben. Ihr schematisches Alltagshandeln kann meines Erachtens als stilles und beharrliches Opponieren gegen die Anforderungen der sich modernisierenden Gesellschaft ausgelegt werden. [12]
Loyality zeigen nach Auffassung von KAUFMANN hingegen die besser Gebildeten, die das "Spiel um eine optimierte Identität" mitspielen und alle Energien aufwenden, um die Wahrung ihrer Selbstachtung nicht zu gefährden und mittels kognitiver Schablonen ihrem Leben Sinn zu verleihen. Diese Typen seien meist an Institutionen angebunden, in denen sie ihre Position behaupten wollen. Sie seien die Etablierten in der Gesellschaft, die ihre Ressourcen zu nutzen wissen. Was sie gefährden könne, sind die Aufstiegsprojektionen und das Streben nach Macht. "Immer höhere Positionen zu erreichen ist oft nur ein Mittel, um das Gefühl zu stabilisieren, dass man wenigstens ein bisschen existiert (S.292f.). Insbesondere in akademischen Bereichen fänden sich diese Individuen, die große Leidenschaften für ihre Arbeit entwickeln und von ihrem "Entdeckungsauftrag" überzeugt seien; die dann aber häufig enttäuscht darüber seien, dass ihre Arbeit und ihre Person in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen und anerkannt würde, wie sie es sich gewünscht und für berechtigt gehalten hätten. Andererseits erleben sie – so der Autor – mitunter auch Identitätsverwirrungen, wenn sie etwa mit großen Preisen ausgezeichnet würden. Diese verursachten dann eine Veränderung "ihrer Geometrie" und als neue Perimeter hätten sie einen etwas künstlichen und instabilen Charakter. KAUFMANN verweist immer wieder auf die Diskrepanzen, die dem Individuum widerfahren, weil es sich mit der Produktion und Rezeption des Selbstbildes einverstanden erklären müsse, was im Prinzip nicht gelinge. Das Dilemma sei, dass "es dem Ego nicht nur nicht gelingt, dass seine möglichen Selbste anerkannt werden, sondern dass es sie nicht klar und wirksam bekräftigen vermag" (S.294). Es lässt sich bilanzieren, dass der Stress um die Selbst(er-)findung also hausgemacht ist oder wie KAUFMANN formuliert: eine "innere Gewalt" (S.294f.) darstellt. Zudem befinde sich das Individuum ständig in einer – ich nenne es einmal – Selbstbefragung und reflektiere das eigene Handeln, den eigenen Habitus, die eigene Position – letztendlich das eigene Dasein – in der Institution bzw. der Gesellschaft. Dies sei anstrengend und führe mitunter zu einer Erschöpfung, die "aus dem tiefsten Inneren der kleinen persönlichen Selbsterfindungsfabrik" (S.303) komme. Das Individuum suche nach "Umhüllungen (der modernen Variante des Rückzugs in die kleinen Welten), wo es sich sammeln kann und wo alle Erschöpfung, es selbst sein zu müssen, für einen Augenblick in Vergessenheit zu geraten scheint" (a.a.O.). [13]
KAUFMANN verweist in seinem Buch immer wieder darauf, dass die Identität in der Gegenwartsgesellschaft eine Revolution erfahre, die uns in eine neue Welt führe,
"während wir noch in den Kategorien der alten Welt denken und die Augen davor verschließen, dass die Zukunft gemäß heutiger Entscheidungen verlaufen wird. Wir tasten uns wie Blinde vor, obwohl die Gefahren, die sich an dieser scharfen Wende der Geschichte abzeichnen, eigentlich eine außerordentliche Hellsicht erfordern […] Zum ersten Mal in der Geschichte werden ihre [die der Welt, Anm. d.A.] Grundlagen Tag für Tag in Frage gestellt, und ihre permanente Rekonstruktion beruht auf einer verschwimmenden Fluidität der individuellen Identifizierungen, die von der unvorhersehbaren Bewegung der Bilder und Emotionen beeinflusst wird" (S.308). [14]
Letztendlich seien wir – ich nehme an, dass KAUFMANN damit die westliche Welt meint – auf die fortschreitende Globalisierung, auf die Konfrontation mit kulturellen Differenzen und sozialen Ungleichheiten nicht gut vorbereitet, ja im Prinzip überfordert. Denn die westliche Welt sei mit zwischenmenschlichen Konkurrenzkämpfen und Anerkennungsdefiziten beschäftigt, es fehle ihr an kollektiven Glaubensüberzeugungen und an Selbstachtung. Und nicht zuletzt mangele es den modernen Gesellschaften an der nötigen Utopie, um ein politisches Programm zu entwerfen und eine künftige Gesellschaft zu erfinden, was mehr oder weniger wohl KAUFMANNs Traum ist. [15]
3. Erkenntnisinteresse und Erkenntnisgewinn
KEUPP et al. (2006) haben einmal gesagt, dass die Verhandlungen über Identität immer insofern spannend und berechtigt seien, weil sie "ein hohes zeitdiagnostisches Potential" (S.8) enthalten. Dies kann den Ausführungen in dem vorliegenden Buch bescheinigt werden, wobei deren Erkenntnis und Wahrheitsgehalt zu diskutieren und noch zu überprüfen wären. KAUFMANNs Theorie der Identität kann aus meiner Sicht als ein Angebot verstanden werden, das Individuum in der modernen Gesellschaft zu verorten und zwar nicht nur im Hinblick auf seine sozialstrukturellen und soziokulturellen Bedingungen, sondern vor allem im Hinblick auf seine "übergeordneten" Aufgaben und Herausforderungen. Diese haben weniger mit dem persönlichen Mikrokosmos und dem "Projekt des schönen Lebens"3) (SCHULZE 1992) als mit der Gesellschaft zu tun, wobei diese weit über Institutionen, Milieus und Grenzen hinweg betrachtet werden sollte. Nach KAUFMANNs Auffassung ist die Suche nach dem Selbst allgegenwärtig, und das Individuum kann sich ihr nur schwer entziehen. Sie dominiere das "Wesen" des Individuums auf vielfältige Weise und fordere viele Energien. Dabei lenke sie auf bedrohliche Weise von zukunfts- und gemeinwohlorientierten Entscheidungen ab. Das Individuum versuche stets, seinem Leben individuell Sinn zu geben, aber weniger am Sinn für die Existenz der Gemeinschaft mitzuwirken. Hier ist für mich fraglich, woher die bindenden Werte und kollektiven Lebensstrategien für die Zukunft, d.h. die Visionen, herkommen sollen. Die Individualisierung ist soweit fortgeschritten, dass ein basaler Wertekonsens für „zukünftige Gegenwarten“4) neu ausgehandelt werden muss. [16]
KAUFMANNs Theorie der Identität basiert im Wesentlichen auf den Erkenntnissen seiner langjährigen empirischen Arbeiten und aus Alltagsbeobachtungen, was mehr als legitim ist. Er bezieht sich in seinen Ausführungen prioritär auf die französische Diskussion um das Konzept der Identität, was verständlich ist. Die Aussparung der deutschen Debatte zur Identität in der Moderne ist aber dennoch mehr als schade, weil sie nicht unlebendig und nicht uninteressant ist (vgl. z.B. KEUPP & HÖFER 1997; WILLEMS & HAHN 1999; MEY 1999; KRAPPMANN 2005; im Überblick EICKELPASCH & RADEMACHER 2004). Dieser Mangel ist bedauerlich, aber geschieht vermutlich nicht absichtlich. Denn welches Werk aus jüngster Zeit ist schon ins Französische oder Englische übersetzt worden? Keines der genannten. Nicht nur hier und da, sondern an vielen Stellen des Buches hätten sich Verweise angeboten, denn es ist ersichtlich, dass die französische Debatte von der deutschen nicht weit entfernt ist. Selbstverständlich könnte man Ver- und Abgleiche von Begrifflichkeiten vornehmen, etwa danach fragen, ob Keupp et al. (2006) mit ihren Abhandlungen über "Identitätskonstruktionen", "Identitätsarbeit" und über "narrative Identität" und mit ihrem Verständnis von "Identität als Ressourcenarbeit" etwas vollkommen anderes als KAUFMANN verstehen. Ebenso hätte man auch den Diskurs um Modernisierungsgewinner(innen) und -verlierer(innen) in KAUFMANNs Theorie einflechten könnten. [17]
Ohne KAUFMANN hier nun zu sehr schmeicheln zu wollen (andere Bücher wie z.B. "Der Morgen danach" oder "Frauenblicke – Männerblicke" haben mir – wenn ich das anmerken darf – weniger gefallen): sein Buch lebt einfach von der Sprache, und dies mehr als vom Inhalt. Wer die deutschsprachige Diskussion um Identität, Identitätskonstruktionen und Identitätsbildung kennt, erfährt nur wenig Neues. Aber KAUFMANN verpackt seinen Diskurs sehr gut und auch sein Bemühen, eine Theorie der Identität entwickeln zu wollen. Letztendlich ist diese Theorie noch nicht vollendet, sondern sie ist im Werden, was aber akzeptabel ist. Das Buch lebt von den Beispielen und von nicht intendieren Aphorismen. So finden sich zahlreiche Kernsätze wie etwa "Die Identität ist eine permanente Erfindung, die aus nicht erfundenem Material geschmiedet wird" (S.106) oder "Man selbst zu sein ist im Übrigen eine grundsätzlich unmögliche Erfahrung, das Individuum manifestiert sich nie im Reinzustand" (S.128). Diese und andere treffend und metaphorisch formulierten Aussagen sind einerseits banal, anderseits eingängig und sie werden in Seminaren vielschichtig diskutiert werden können. Und das ist das Pfund des Werkes, mit dem und warum es insgesamt Freude bereitet, und warum man es gern mehr als einmal zur Hand nimmt. [18]
KAUFMANN macht in seinem Buch viele interessante theoretische Pfade auf, ohne sie konsequent zu Ende zu denken. Oftmals entschuldigt er sich für die schematischen Ausführungen (S.57). Doch dies ist kein Ärgernis, sondern regt am Thema Interessierte zum eigenen, kreativen Denken an und ermutigt sie, sich auf die Ideen KAUFMANNs einzulassen, sie zu beurteilen und auch ggf. zu verwerfen. Dieser Mut zu einem Theorieentwurf (so würde ich die vorliegende Abhandlung bezeichnen) – und auch zum möglichen Scheitern – ist etwas, das ich persönlich bei den zeitgenössischen deutschen Soziolog(inn)en stark vermisse. Hierzulande wird zu gern im "abgesicherten Modus" argumentiert, und empirisch ungesicherte Thesen werden schnell als populärwissenschaftlich und absurd abgestempelt – ich denke dabei z.B. an die ersten Resonanzen auf BECKs Risikogesellschaft – oder aber Theorien werden so kompliziert formuliert, dass es überhaupt erst eine gewisse Zeit braucht, um sie zu verstehen. KAUFMANNs Buch wird hingegen vermutlich breiter, d.h. über Fachkreise hinaus, rezipiert werden, da es verständlich und flüssig geschrieben ist, durch Beispiele auch komplexe Sachverhalte veranschaulicht, auf Subtexte verzichtet und nur begrenzt Vorwissen voraussetzt. Studierende der Geistes- und Sozialwissen-schaften werden ziemlich sicher großen Gefallen an dem Buch finden. [19]
1) Den KAUFMANN als Alchemisten bezeichnet (S.28f.): "Erik Erikson war derjenige, der genau zum richtigen Zeitpunkt sagte, was gesagt werden musste und es genau so sagte, wie es gesagt werden musste. Aufgrund seiner Kenntnis des freudschen Begriffs der Identifizierung und seiner Öffnung gegenüber dem Gesellschaftlichen seiner Zeit gegenüber wurde er zum Bindeglied und zum Kristallisator der Bedürfnisse seiner Zeit, zum Alchemisten eines Begriffs, der wie durch einen Zauber von überall und nirgendwoher gekommen und dennoch sofort als einleuchtende Tatsache anerkannt worden war" (S.29). <zurück>
2) KAUFMANN stützt sich hier auf die Lesart von LIPANSKY, TABOADA-LEONETTI und VASQUEZ (1990). <zurück>
3) Da dies in meiner Wahrnehmung leider etwas in Vergessenheit geraten ist, möchte ich es hier in Erinnerung rufen. <zurück>
4) Titel des Sammelbandes von HITZLER und PFADENHAUER (2005). <zurück>
Eickelpasch, Rolf & Rademacher, Claudia (2004). Identität. Bielefeld: transcript.
Hirschman, Albert O. (1970). Exit, voice, and loyality. Responses to decline in firms, organizations, and states. Cambridge MA: Harvard University Press.
Hitzler, Ronald & Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2005). Gegenwärtige Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose. Wiesbaden: VS.
Keupp, Heiner & Höfer, Renate (Hrsg.) (1997). Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Keupp, Heiner; Ahbe, Thomas; Gmür, Wolfgang; Höfer, Renate; Mitzscherlich, Beate; Kraus, Wolfgang & Straus, Florian (2006). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne (3. Aufl.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Krappmann, Lothar (2005). Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen (10. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
Lipiansky, Edmond M.; Taboada-Leonetti, Isabelle & Vasquez, Ana (1990). Introduction à la problématique de l’identité. In Carmel Camilleri, Joseph Kastersztein, Edmond M. Lipiansky, Hanna Malewska-Peyre, Isabelle Taboada-Leonetti & Ana Vasquez (Hrsg.), Stratégies identitaires (S.7-26). Paris: Presses universitaires de France.
Mey, Günter (1999). Adoleszenz, Identität, Erzählung. Theoretische methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Köster.
Schulze, Gerhard (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M.: Campus.
Willems, Herbert & Hahn, Alois (Hrsg.) (1999). Identität und Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Dagmar HOFFMANN, Dr. phil., ist Soziologin und vertritt zurzeit die Professur Medien und Kommunikation im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaft der Universität Siegen. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ab Oktober 2007 Gastprofessorin im Rahmen des High Potential Programms "Excellentia" im Department for Arts and Management an der Donau Universität Krems/Österreich. Sie ist zudem Mitherausgeberin der Zeitschrift "Diskurs Kindheits- und Jugendforschung". Ihre Arbeits- und Interessenschwerpunkte sind Medientheorien und Medienforschung, Politische und Pädagogische Soziologie sowie Sozialisationstheorien und Sozialisationsforschung. In zurückliegenden Ausgaben von FQS finden sich Besprechungen von Dagmar HOFFMANN zu Triangulation (FLICK 2004), Liebe (wie) im Fernsehen (hrsg. von IVÁNYI & REICHERTZ 2003) sowie gemeinsam mit Sören BOTT zu Gender und die Konstruktion von Natur und Technik (hrsg. von PASERO & GOTTBURGSEN 2002) und zusammen mit Markus WIEMKER eine Sammelrezension zu Die Fabrikation des Populären. Der John-Fiske-Reader (hrsg. WINTER & MIKOS 2001) und Die Werkzeugkiste der Cultural Studies (hrsg. von GÖTTLICH, MIKOS & WINTER 2001).
Kontakt:
Dr. phil. Dagmar Hoffmann
Universität Siegen
FB 3 / Medienwissenschaft
Adolf-Reichwein-Str. 2
D-57076 Siegen
E-Mail: dagmar.hoffmann@gmx.com
URL: http://www.dagmar-hoffmann.com/
Hoffmann, Dagmar (2007). Rezension zu: Jean-Claude Kaufmann (2005). Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität [19 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 27, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801274.