Volume 9, No. 1, Art. 13 – Januar 2008
Rezension:
Wiebke Lohfeld
Sharlene Hesse-Biber & Patricia Leavy (2006). The Practice of Qualitative Research. London: Sage, 403 Seiten, ISBN 0-7619-2827-8, US$ 46,95
Zusammenfassung: Das vorliegende Buch zur "Practice of Qualitative Research" führt in eine Mixtur aus praktischer Anleitung, theoretischer Bestimmung des Gegenstandes, Reflexion von Forschungspraktiken und postmoderner Selbstbestimmung der Autorinnen, sowie in eine Beschreibung qualitativer Forschung als selbstreflexiver Prozess innerhalb der verschiedenen Disziplinen der Human- und Sozialwissenschaften ein. Mittels kreativer, an vielen Stellen gut lesbarer Darstellungsweise verweist das Buch auf methodologische Zusammenhänge und gibt gleichzeitig einen Überblick über die im US-Amerikanischen Raum verbreiteten Methoden qualitativer Sozialforschung. Dass sich das Buch ausschließlich im Kontext des US-Amerikanischen Mainstreams der Qualitativen Forschung lesen und verstehen lässt, sollte unbedingt berücksichtigt werden.
Keywords: Forschungspraxis, US-Amerikanische Ansätze, Postmodernismus, Methoden
Inhaltsverzeichnis
1. Vorbemerkung
2. Was ist Qualitative Forschung?
2.1 Das qualitative Paradigma
2.2 Der Forschungsprozess
2.2.1 Forschungsfragen, Forschungsdesign und Validität
2.3 Forschungsethik
3. Methoden der Datenerhebung
3.1 In-depth-Interview
3.2 Oral history
3.3 Focus group interviews
3.4 Ethnografie
3.5 Content analysis und unobtrusive methods
3.6 Mixed-Methods-Ansätze
4. Datenanalyse und Präsentation der Forschungsergebnisse
5. Schlussbemerkung
Als Rezensentin ist es mir ein Anliegen, auf eine entscheidende Problematik zu verweisen, die sich ergibt, wenn deutschsprachige "qualitativ Forschende" sich mit dem US-Amerikanischen Diskurs in "Qualitative Research" auseinandersetzen. Um nämlich dem hier zur Diskussion stehenden Band gerecht werden zu können, ist es m.E. notwendig, ihn im Kontext seines Entstehungszusammenhanges zu verorten und zu diskutieren. Die Unterschiede der Diskurse auf beiden Seiten des Atlantiks sind zunehmend Gegenstand von Publikationen (z.B. GARZ 2000a; FLICK 2005). Entscheidend für die folgenden Ausführungen scheint mir zu sein, dass sich das Buch von Sharlene HESSE-BIBER und Patricia LEAVY als Versuch verstehen lässt, qualitativer Forschung in ihren Grundzügen auf die Spur zu kommen, die ganz besonders reflektiert, was Uwe FLICK (2005, Abs.14) in seinem Artikel in FQS folgendermaßen zusammenfasst: "Qualitative research therefore becomes—or is linked still more strongly with—a specific attitude based on the researcher's openness and reflexivity". In diesem Zusammenhang versteht sich auch eine sich vollziehende Abkehr von dezidierten Analysemethoden in der US-Amerikanischen Forschungslandschaft, die im Sinne der geforderten Offenheit den Forschungsprozess "einengen" würden. Entsprechend wird Analyse als "intellectual craftsmanship", wie HESSE-BIBER und LEAVY zusammenfassen, beschrieben. [1]
Für den deutschsprachigen Kontext will ich nur kurz anmerken, dass aufgrund der hier vorherrschenden Methoden in qualitativer Forschung (z.B. Narrationsanalyse, Tiefenhermeneutik, Qualitative Inhaltsanalyse, Objektive Hermeneutik etc.) sowie deren theoretisch sich fundiert argumentierten Anwendungen in der Forschungspraxis innerhalb der Human- und Sozialwissenschaften sich ein Buch wie das von HESSE-BIBER und LEAVY nahezu abenteuerlich darstellt. Es ist ein "Querschuss" zum deutschsprachigen Forschungskontext, indem es die Lesenden auffordert, selbstreflexiv zu sein, und zwar mit der Überzeugung, dass die jeweiligen Weltbilder der forschenden Personen maßgeblich den gesamten Forschungsprozess beeinflussen und vice versa; eine Wechselwirkung, die nach Meinung der Autorinnen unbedingt bei einem qualitativen Forschungsunternehmen im Zentrum der Diskussion um die "richtige(n)" Methode(n) stehen sollte. Ziel bleibt dann, anders als in weiten Teilen des deutschsprachigen Kontexts, die Selbsterkenntnis und damit verbunden dann auch die Erkenntnis über "die Anderen", kritisch zu thematisieren und auch zu publizieren1). Kurz: es findet sich eine deutlich andere Forschungskultur, aber auch eine andere Publikationskultur (im Sinne einer von Sage Publications gesteuerten Kultivierung der qualitativen Forschung im US-Amerikanischen Raum2)), die ich hier nicht ausführlich darstellen kann, aber worauf es doch wichtig erscheint hinzuweisen. Schließlich zeigt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Ungenauigkeit der Begrifflichkeiten in "Qualitative Research", was sich auch in dem vorliegenden Band wiederfindet. So wird einmal von "qualitative research", dann von "social research" (S.34) oder von "qualitative practice" gesprochen. Und es herrscht eine Tendenz vor, sich zu qualitativer Forschung zu "bekennen", was gleichzeitig ein ganzes Weltbild und eine Haltung impliziert, "to listen to the data, as we say, and follow it so that, in the end, [...] a research design [...] is best able to 'speak' " (S.21). Mit den Worten von Norman DENZIN in der letzten Ausgabe des "Handbook of Qualitative Research" kann man festhalten: "the social sciences and the humanities become sites for critical conversations about democracy, race, gender, class, nation-states, globalization, freedom, and community" (DENZIN & LINCOLN 2005, S.3). Oder anders ausgedrückt: Weltbilder und die Position der Forschenden zu weltpolitischen und sozialpolitischen Themen rücken derart in den Vordergrund, dass qualitative Forschung zu einer Art "Weltbild-an-sich" avanciert, in dem Methoden dann "a set of interpretive, material practices" werden, "that makes the world visible" (DENZIN & LINCOLN 2005, S.3). [2]
GARZ hat die Entwicklung der qualitativen Forschung im US-Amerikanischen Raum gar als "Bewegung" gekennzeichnet, die "postmoderne Inhalte mit relativistischer Forschung in einem wahrheitsvergessenen und dafür kontextversessenen methodischen Sinn [verbindet]" (GARZ 2000a, S.162). Uwe FLICK hat sich dagegen weniger pointiert ausgedrückt, als er die Unterschiedlichkeit der Diskurse in seinem Artikel über "Qualitative Research in Sociology in Germany and the US" benennt: "This diversification in qualitative research is intensified by the fact that for example German and Anglo-American discussions are engaged in very different topics and methods and that there is only limited exchange among both" (2005, Abs. 20). [3]
Im Hinblick auf diese deutlich kritisch zu verstehenden Markierungen will diese Rezension den Versuch unternehmen, das Buch "The Practice of Qualitative Research" von Sharlene HESSE-BIBER und Patricia LEAVY im Kontext seines Diskurses zu sehen, welcher mit dem Engagement deutschsprachiger Forscherinnen und Forscher zunehmend in deren Diskursen reflektiert wird, z.B. FQS-Ausgabe "Qualitative Forschung in Europa: Eine Bestandsaufnahme" (KNOBLAUCH, FLICK & MAEDER 2005). [4]
2. Was ist Qualitative Forschung?
In den folgenden Ausführungen werde ich der Gliederung des Buches in großen Zügen folgen und durch die einzelnen Kapitel führen. Allerdings werde ich unterschiedliche Schwerpunkte herausgreifen, die meiner Einschätzung nach die Stärken des Buches und dessen Beitrag für Lehrende und Studierende hervorheben sollen. [5]
Zunächst soll die Struktur des Buches dargestellt werden. In einem Abschnitt über die "Pädagogik" des Buches (S.IX-X) betonen die Autorinnen unter anderem den Stellenwert der didaktischen Konzeption von "The Practice of Qualitative Research". [6]
HESSE-BIBER und LEAVY beziehen sich auf eine "front-stage"- und "back-stage"-Aufteilung in ihrem Bemühen, keine weitere Zusammenfassung über qualitative Forschung zu schreiben oder lediglich Methoden darzustellen, sondern eine Zusammenführung von Erfahrungswerten aus der Forschungspraxis vorzunehmen, in dem sie auf Beispiele aus eigenen vergangenen Forschungsprojekten zurückgreifen oder Erfahrungsberichte anderer Forscherinnen und Forscher aus den Sozialwissenschaften nutzen (sie nennen diese Beiträge "behind-the-scenes-boxes"). Um den gesamten Text auch als Lehrtext für Studierende einsetzen zu können, haben HESSE-BIBER und LEAVY jedem Kapitel ein Glossar hinten angestellt, in dem Schlüsselbegriffe lexikonartig erklärt sind. Dieses wird jeweils durch eine Liste aktueller Internetplattformen zu qualitativer Forschung und einer Literaturliste ergänzt. Damit ist jedes Kapitel in sich geschlossen und es bietet sich tatsächlich an, die einzelnen Kapitel als Einheiten für Lehrveranstaltungen zu nutzen. Gerade die zusammenfassenden Fragen am Ende jeden Kapitels ermöglichen es, das Buch auch als Arbeitsbuch aufzufassen. Wie sich dies alles inhaltlich zueinander verhält, wird im Folgenden noch ausführlicher betrachtet; vorweggenommen sei, dass sich durch die Struktur des Bandes allerdings durchaus Redundanzen und Widersprüche ergeben, aber auch ausgesprochen anregende weiterführende Fragestellungen. [7]
Um sich der Frage zu widmen, wer qualitative Forschung aus welchen Beweggründen und mit welchen Zielen durchführt und welche forschungspraktischen Konsequenzen daraus folgen, hinterfragen HESSE-BIBER und LEAVY – in deutlicher Abgrenzung zu quantitativen Ansätzen – im ersten Abschnitt ihres Buches das Paradigma von qualitativer Forschung. Dabei gehen sie in einem ausführlichen Teil auf forschungsethische Fragen ein. [8]
Ein weiterer Abschnitt wird Methoden der Datenerhebung gewidmet, in welchem die für die Autorinnen relevant erscheinenden Methoden In-depth-Interview, Oral History, Focus group interviews, ethnography, content analysis und der Ansatz des mixed methods research vorgestellt werden. Jeder Ansatz wird im Einzelnen ausführlich behandelt. Die Autorinnen behalten die Struktur bei, in der sie eigene Erfahrungen mit dem Diskurs und den Berichten anderer Forschender verbinden und am Ende eine Liste von Fragen zusammenstellen, die den jeweiligen Inhalt der Kapitel reflektieren. [9]
Die Fragen aus dem ersten Teil werden in Bezug zu den einzelnen Methoden der Datenerhebung im zweiten Teil des Buches wieder aufgegriffen: Wer erhebt was zu welchem Zweck? Ist die ausgewählte Form der Datenerhebung vereinbar mit dem jeweiligen Weltbild? Werden die Untersuchten im "richtigen" Verhältnis gesehen? Das Buch befreit sich an keiner Stelle von der Notwendigkeit tiefergehender Reflexion, die für die Autorinnen als unverzichtbarer Teil zur eigenen Forscherinnenpersönlichkeit und – konsequenterweise – zu der der Zielgruppe "Leser/Leserin" gehört. [10]
Auch der dritte und letzte Teil des Buches zur Analyse und Repräsentation von qualitativen Daten ist dem Paradigma "critical engagement" untergeordnet. Den Autorinnen zufolge besteht die besondere Aufgabe der Forschenden darin, sich in intimer Weise auf das erhobene Datenmaterial einzulassen. Im Zentrum des Analyseprozesses stünden dann "issues of power and control over the interpretation process" (S.356). [11]
Darüber, was qualitative Forschung ist, finden sich verschiedene Beschreibungen ("craft", "interdisciplinary landscape", "truly unique"). Insgesamt bleiben die Bestimmungen von qualitativer Forschung, wie bereits erwähnt, recht unkonkret. Darüber hinaus fehlt ein Bezug zu neueren Veröffentlichungen, wie z.B. dem 2004 erschienenen Band "A Companion to Qualitative Research" (herausgegeben von FLICK, VON KARDORFF & STEINKE 2004a), dessen Einleitung (FLICK, VON KARDORFF & STEINKE 2004b) einen systematischen Überblick bietet, den HESSE-BIBER und LEAVY sicherlich für eine gute Orientierung hätten ihrerseits "nutzen" können, um ihre Ausführungen über Paradigmen der qualitativen Forschung sinnvoll zu ergänzen. Da HESSE-BIBER und LEAVY auf eine solche Einführung verzichten, zeigt sich erst sehr schleppend, worauf die Autorinnen im Grunde hinaus wollen: nämlich auf eine reflektierte Positionierung qualitativer Forschung im Kontext verschiedener Forschungstraditionen und in Abgrenzung zur quantitativen – ihrer Ansicht nach immer noch die Sozialwissenschaften dominierenden – Forschungsrichtung. [12]
HESSE-BIBER und LEAVY legen Paradigmen qualitativer Forschung ausgehend von den folgenden Fragen her an: "what is knowable, who is a knower, and how we come to know" (S.5). Ihrer Einschätzung nach sei es unerlässlich, zunächst über epistemologische Standorte und daraus folgende Forschungspraxen zu sprechen, bevor sie die einzelnen Methoden qualitativer Forschung im Detail darstellen. Grundvoraussetzung für jede Form qualitativer Forschung – und damit ist schon ein erstes Paradigma angesprochen – ist, dass sie holistisch ausgelegt sei. Es heißt in der Einführung dazu:
"When we say that the craft of qualitative research involves a holistic approach, we mean that the practice of qualitative research is reflexive and process driven, ultimately producing culturally situated and theory-enmeshed knowledge through an ongoing interplay between theory and methods, researcher and researched" (S.5). [13]
Dass die holistische Beschaffenheit qualitativer Forschung letztlich dazu führe, zu einem vollkommen neuen Denken über soziale Realität zu gelangen, scheint den Autorinnen folgerichtig. Ein solches "neues Denken" ergebe sich vor allem in deutlicher Unterscheidung zu traditionellen positivistischen Ansätzen, eben den quantitativen, wie sie deutlich hervorheben. [14]
Dazu sei kritisch angemerkt, dass sie die Diskussion etwas überspannen, schließlich herrscht schon einige Zeit darüber Einigkeit, dass qualitative Forschung "has now achieved the status of a paradigmatic 'normal science' " (FLICK, VON KARDORFF & STEINKE 2004b, S.3) bzw. dass sie zumindest eine ernstzunehmende Position innerhalb sozialwissenschaftlicher Methoden und Methodologien erreicht habe (vgl. KRAIMER 2000; vgl. auch z.B. DENZIN & LINCOLN 1998; FLICK, VON KARDORFF & STEINKE 2000; BERG 2001 und CROTTY 1998). Dennoch unternehmen HESSE-BIBER und LEAVY in ihrem Buch nochmals den mühsamen Versuch, qualitative Forschung und quantitative Forschung voneinander abzugrenzen und qualitative Forschung vom holistischen Standpunkt her zu bestimmen. Dabei geraten sie leider in etwas schwammige Darstellungen, die lediglich durch das Heranziehen von konkreten Beispielen aus der Forschungspraxis an Konturen gewinnen. Allein von den Zuschreibungen, die qualitativer Forschung hier gegeben werden, wird kaum verständlich, was gemeint ist. Es heißt z.B.:
"A qualitative researcher might interpret [...] data by looking for themes grounded in the respondent's words. This qualitative approach to interpretation requires the researcher to tend to the text and spend time with the respondent's words in order to construct a critical theme that is derived from the perspective of the respondent" (S.8). [15]
Was dann überraschenderweise den markanten Unterschied zwischen qualitativer und quantitativer Forschung bildet, ist folgendes: "Qualitative researchers are concerned with text and words as opposed to numbers" (S.8). Ohne Zweifel sind HESSE-BIBER und LEAVY bemüht, die Frage nach den Paradigmen qualitativer Forschung an der Wurzel anzupacken. Dabei passiert es aber, dass der Diskurs über die Vielfalt von qualitativer Forschung, deren theoretische Begründung und historische Entwicklung, in einem Nebel von unterschiedlichen Definitionen und Sichtweisen verschwindet. Gerade das Bemühen, die Paradigmen qualitativer Forschung für eine breite Leser(innen)schaft verständlich zu verfassen, verführt die Autorinnen dazu, in geradezu naiver Weise Forschungstraditionen zu polarisieren. [16]
Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen sei hier hervorgehoben, dass die Stärke der Ausführungen zum Thema "Paradigmen" insbesondere darin liegt, dass jene theoretischen Positionen dezidiert behandelt werden, die oftmals im US-Amerikanischen Diskurs als "Pro-Positionen" schon vorausgesetzt sind. [17]
Unter diese holistischen Ansätze fassen HESSE-BIBER und LEAVY: 1. Postpositivismus, 2. Phänomenologie und 3. Ethnomethodologie. Davon nochmals zu unterscheiden seien 4. die feministischen theoretischen Perspektiven, die alle vorläufigen Perspektiven herausforderten. So heißt es z.B.: "Feminists generally reject the positivist and post-positivist 'view from nowhere' assumed by traditional scientific 'objectivity' in favor of creating a 'view from somewhere' – that is, an engaged view" (S.26). Schließlich werden 5. kritische theoretische Perspektiven als grundlegende Positionen für die Praxis qualitativer Forschung genannt. [18]
Im folgenden Kapitel über den Forschungsprozess verdeutlicht sich, was HESSE-BIBER und LEAVY mit einer umfangreichen Darstellung der Forschungsparadigmen bezweckten. Die verschiedenen Paradigmen sind, so die Autorinnen, "windows into the reality" (S.45). Der Forschungsprozess kann ihrer Ansicht nach nur dann überhaupt beginnen, wenn eine Verortung der Forschenden stattgefunden hat, also geklärt wurde, welches Fenster in die Realität geöffnet werden soll. [19]
Interessanterweise entfernen sich HESSE-BIBER und LEAVY von ihrer vorherigen Einteilung und kehren zurück zu einer weitaus grundlegenderen Vorbestimmung einer philosophischen Erschließung sozialer Realität, die im Grunde in einem Schritt vorher hätte erwähnt werden müssen. [20]
Sie bestimmen anhand von Fragen eine "philosophical substructure" des Forschungsunternehmens:
"What is the nature of social reality?
What is the nature of the individual? (Our concept of social reality/humanity or ontology)?
How is knowledge constructed?
Who can be a knower?
What can be known? (Our view of epistemology)?" (S.46) [21]
Sie mahnen anschließend an, dass diese Fragen einer methodologischen Antwort bedürfen, die sich in konkreten Methoden niederschlagen sollte. Diese Antwort bleiben die Autorinnen im gesamten (!) Buch allerdings schuldig. Zwar werden systematisch die vorherrschenden Paradigmen für die Entwicklung methodischer Ansätze benannt: zunächst konstruktivistisch-interpretativ, kritisch und feministisch (nach DENZIN & LINCOLN 1998), sowie positivistisch, interpretativ und wiederum kritisch (nach NEUMANN 2003). Aber eine konkrete Bezugnahme auf vorherrschende qualitative Methoden wird nicht vorgenommen. Wie im gesamten Buch werden auch hier Ansätze genannt, um zu zeigen, dass – je nachdem, welches Fenster in die Realität gewählt wird – "certain assumptions concerning the nature of reality and the individual (ontology), [and] the type of theory (methodology) they employ" (S.48) die Forschung beeinflussen. [22]
Damit ist man dann bei einer zentralen Aussage des gesamten Buches – und wiederum bei einer postmodernen US-Amerikanischen Haltung: "Paradigms or worldviews are neither right nor wrong; one way of seeing is another way of not seeing" (S.49). Methoden avancieren also zu nützlichem Handwerkszeug der Forschenden, die sich deren Bezugsetzung von sozialer Realität, Forschungsinteresse und konstruierter Selbstbestimmung aussetzen. [23]
2.2.1 Forschungsfragen, Forschungsdesign und Validität
Die Art und Weise, wie Individuen die Welt wahrnehmen und mit Sinn besetzen, hat demnach Auswirkungen auf die Erschließung der Wirklichkeit in einem Forschungsprojekt. Was HESSE-BIBER und LEAVY in ihrem Kapitel über den Forschungsprozess auf den Punkt zu bringen versuchen, findet sich bei Michael CROTTY (1998) in einer übersichtlichen Tabelle zusammengefasst: nämlich der Zusammenhang von Epistemologie, Theorie, Methodologie und Methode als sich gegenseitig informierend und aufeinander aufbauend (vgl. CROTTY 1998, S.5). Die positivistische Grundposition von CROTTY ist jedoch nicht die eingenommene Haltung von HESSE-BIBER und LEAVY. Während er eine Welt voraussetzt, welche sich unabhängig von Bewusstseinskonstruktionen bewegt, sehen die HESSE-BIBER und LEAVY gerade die Herausforderung qualitativer Forschung darin, den Zusammenhang von konstruierter Wirklichkeit der beforschten Welt einerseits und der Welt der Forschenden andererseits explizit zum Thema zu machen. [24]
CROTTY (1998, S.6) fasst seine Grundposition folgendermaßen zusammen:
"Objectivism is the epistemological view that things exist as meaningful entities independently of consciousness and experience, that they have truth and meaning residing in them as objects (objective truth and meaning, therefore), and that careful (scientific?) research can attain that objective truth and meaning". [25]
HESSE-BIBER und LEAVY fokussieren dagegen jenen Zugriff auf die Wirklichkeit als wechselseitigen Prozess konstruktivistischer Interpretation auf Seiten der Beforschten und der Forschenden. [26]
Folgerichtig ist entsprechend die Darstellung über das Finden einer Forschungsfrage im Forschungsprozess. Ich will dies an einem Beispiel aus dem Buch verdeutlichen: Die Soziologin Diane VAUGHAN untersuchte Wendepunkte in Liebesbeziehungen, nachdem sie selbst geschieden worden war. Die eigene Erfahrung von Trennung wurde so zum Ausgangspunkt eines eigenen Forschungsprojektes (S.51ff.). Darüber hinaus wird in einem der "behind-the-scene"-Beiträge deutlich, was im US-Amerikanischen Kontext qualitativer Forschung als Ausgangspunkt für Forschungsprojekte ausgesprochen populär ist: das Interesse, mit Forschung aus dem "Elfenbeinturm" der Wissenschaft hinauszutreten und den Betroffenen (also den Beforschten) eine Stimme zu geben (vgl. z.B. LAWRENCE-LIGHTFOOT & HOFFMANN-DAVIS 1997). HESSE-BIBER und LEAVY lassen hierzu den Soziologen David KARP über seine Erfahrungen mit der Forschung über Depression sprechen: "[…] It takes up about five feet of our shelf at the library, and there isn't one voice, no tone word from a person who actually suffers from depression. I said, 'Wow, I've got a thing to do here'. That was the start" (S.55). [27]
Unabhängig von einem erfahrungsbezogenen oder themenbegründeten Forschungsbeginn stellen HESSE-BIBER und LEAVY die konkrete Erarbeitung des theoretischen Diskurses für einen Forschungsprozess als maßgebliche Aufgabe dar. Dafür skizzieren sie einen sehr hilfreichen Fragenkatalog (S.56). Schließlich verfolge die Sichtung der vorhandenen Literatur ein wesentliches Ziel: den Forschungsprozess auf dem Weg der "Entdeckungen" zu begleiten; sie soll in keinem Fall den offenen Prozess eng führen oder gar einfrieren. [28]
Den allgemein zu prüfenden "To-Do's" folgen Ausführungen über die Validität qualitativer Forschung, die ich hier nur knapp zusammenfassen werde. Insgesamt spiegelt sich darin ganz deutlich die Haltung im US-Amerikanischen Forschungskontext wider: "validity is a process whereby the researcher earns the confidence of the reader that she or he have 'gotten it right'. Trustworthiness takes the place of truth" (S.66). [29]
Im deutschsprachigen Kontext wird in diesem Zusammenhang von der "intersubjektiven Nachvollziehbarkeit" der Forschungsergebnisse gesprochen, die sich auf das "methodisch kontrollierte Fremdverstehen" (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1976) bezieht (vgl. STEINKE 2000, S.324ff.). Dass die Frage der Validität für die Anwendung von Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung diskutiert werden kann, findet bei HESSE-BIBER und LEAVY keinen Niederschlag. Sie referieren einen Ansatz (KVALE 1996), der sich vor allem auf die Rezeption von Forschungsergebnissen stützt: "(1) validity as the quality of craftmanship, (2) validity as communication, and (3) validity as action" (S.62). [30]
Hinsichtlich der Generalisierbarkeit von Ergebnissen aus qualitativer Forschung beziehen sich die Autorinnen wiederum auf David KARP, der in seinem Kommentar zusammenfasst: "No study is self-contained from beginning to end. Every study, whether it's a statistical study, or an in-depth interview study, with 50, 60, 100, 200 people, is going to have limitations in terms of generalizability" (S.69). [31]
Die Darstellung des Forschungsprozesses erfolgt entlang der Überlegungen des Samplings, wobei die Autorinnen auf die Grounded-Theory-Methodologie nach GLASER und STRAUSS (1967) verweisen. In einem ausgewiesenen Kasten werden die einzelnen Schritte des Samplings vorgestellt. Diese Zusammenfassung basiert auf Arbeiten von Janice MORSE (1995). Sie gibt den Lesenden eine kurzschrittige Anweisung an die Hand, ohne theoretisch zu überfrachten. [32]
In diesem Kapitel wollen HESSE-BIBER und LEAVY vor allem ein Bewusstsein schaffen "for the importance of the ethical dimension in the research process" (S.109). Dafür ziehen sie ein Beispiel heran, das die Problematik ethischer Aspekte im Forschungsdesign und -prozess deutlich herausstellt: die Tuskegee Syphilis Studie3) aus den 1930er Jahren, in deren Verlauf die Proband(inn)en nicht ausreichend aufgeklärt wurden und über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten die notwendige und lebensrettende Behandlung mit Antibiotika nicht erhielten (S.83ff). [33]
Das extreme Beispiel verdeutlicht den Lesenden die Bedeutung einer klaren Position im Forschungsprozess für ethische Fragen. Die Autorinnen geben darüber hinaus einen Überblick über bestehende Gesetze und Vereinbarungen in Nordamerika, die sowohl die Forschenden als auch die Beforschten schützen sollen. [34]
Die Vorstellungen Herbert GANS' (1982), dass Forschende im Forschungsprozess und im "Feld" neutral zu bleiben haben, wird von HESSE-BIBER und LEAVY als Irreführung bezeichnet. Sie folgen in ihrer Darstellung der Position von Ann OAKLEY (1981), die sich dafür ausspricht, die Kluft zwischen Forschenden und Beforschten mit "Einfühlung" und "Gefühl" zu überbrücken. Dass auch eine solche Position nicht ganz unstrittig ist, wird ebenfalls thematisiert (S.93ff.). Daraus folgt den Autorinnen zufolge ein ethisches Dilemma, welches sich kaum auflösen lässt. Nichtsdestotrotz wird folgender Rat erteilt:
"Researchers are human just like everyone else. Accordingly, we all bring our own likes, dislikes, emotions, values, and motivations to our research projects. It is unrealistic to expect that you will always like those you research, or that you will always naturally feel 100% engaged. This being said, bear in mind that it is you, the researcher, who has initiated this process and involved others (your subjects). Consider this carefully as you contemplate your ethical obligations to your research participants, but as you think through these issues, do so with your own 'humanness' in mind—be realistic and fair to all involved" (S.97). [35]
Mit einer so skizzierten Grundhaltung stimmen HESSE-BIBER und LEAVY in den Kanon einer vielfach vertretenen Grundhaltung im US-Amerikanischen Kontext qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschung ein. Schließlich erfolgt in vielen Publikationen schon seit den 1990er Jahren zunächst eine explizite Selbstreflexion der Forschenden, bevor überhaupt Forschungsergebnisse vorgestellt werden (vgl. BEHAR 1996; LAWRENCE-LIGHTFOOT & HOFFMAN-DAVIS 1997; DeMARRAIS 1998; KRAMP 2004). Beispielsweise wird die Selbstthematisierung als Opfer sexuellen Missbrauchs selbstverständlich einer Studie über sexuell missbrauchte Mädchen vorangestellt oder als Reflexionsfläche hierfür genutzt (so z.B. ROGERS 2006). [36]
Die weiteren Hinweise zur ethischen Verortung im Forschungsprozess sind übersichtlich und hilfreich von den Autorinnen zusammengestellt: z.B. eine Checkliste von Fragen, die sowohl die Perspektive der Forschenden als auch der Beforschten abfragt, sowie beispielhafte Informationsbriefe im Rahmen eines Forschungsprojekts, an denen besondere Punkte deutlich gemacht werden. [37]
Ich werde im Folgenden lediglich kurz auf die einzelnen Methoden eingehen, die von HESSE-BIBER und LEAVY in dem hier besprochenen Buch aufgegriffen werden. Dabei soll der Fokus vor allem darauf liegen, die Darstellung der Methoden zu skizzieren und den Zusammenhang zu den zuvor engagiert von den Autorinnen vorgeführten "Pro-Positionen" qualitativer Forschung zu untersuchen. Als Vorbemerkung meinerseits sei erlaubt zu erwähnen, dass insgesamt zu viel Engagement der Autorinnen in den einzelnen Kapiteln steckt. Sie wollen ganz dezidiert die Methoden anwendungsbezogen erläutern, geraten aber in allzu unsichere Gewässer, wenn sie konkret werden. Grundsätzlich bieten sie zu den Methoden übersichtliche Zusammenfassungen – diese stammen aber zumeist von anderen Autorinnen und Autoren. HESSE-BIBER und LEAVY verweisen in den Kapiteln zu den Methoden einmal mehr auf die wirklich große Schwäche der US-Amerikanischen qualitativen Forschung: der offensichtliche Mangel an Methodologie, die es versteht, Methode bis hin zur Analyse konsequent zu beschreiben. Während viel Aufhebens um die Art und Weise der Datenerhebung, die Involviertheit der Forschenden, der intersubjektiven Konstruktion von Daten usw. gemacht wird, verliert sich das Engagement beim Thema der Analyse von qualitativ erhobenen Daten im Dschungel der "Freestyle-Interpretationen", wie ich es etwas überspitzt nennen möchte. Ungeachtet dieser sowieso im Kontext der Autorinnen schwelenden Schwäche sind sie dennoch bemüht, verschiedene Ansätze darzustellen und teilweise systematisch zu zeigen, wie z.B. mit Interviewdaten bei der Analyse verfahren werden kann. Dass sie sich dabei vielfach wiederholen, liegt zum einen an der Aufteilung des Buches, in dem die einzelnen Kapitel als Lehreinheiten aufbereitet sind, zum anderen aber an der Unausgewogenheit der greifbaren Analysemethoden überhaupt. Dieser letzte Punkt scheint jedenfalls kritisch einzig von dieser Seite des Atlantiks bemerkt zu werden, denn in kaum einer Veröffentlichung aus dem US-Amerikanischen Kontext finden sich Analysemethoden, die über ein "Coding" im Sinne einer Grounded-Theory-Methodologie hinausgehen (vgl. BERG 2001; DENZIN & LINCOLN 2005). [38]
"In-depth interview uses individuals as the point of departure for the research process and assumes that individuals have unique and important knowledge about the social world that is ascertainable through verbal communication. In-depth interviews are a particular kind of conversation between the researcher and the interviewee that requires active asking and listening" (S.119, Hervorhebungen im Original).
In einem längeren Beispiel verdeutlichen HESSE-BIBER und LEAVY, wie weit In-depth-Interviews reichen. Sie fokussieren einen bestimmten Gegenstand, für den die befragte Person Experte/Expertin ist, wodurch zum einen Informationen gesammelt werden können, aber gleichzeitig auch die subjektive Konstruktion der Befragten zum Tragen kommen kann. Darüber hinaus betonen die Autorinnen die besondere Art der Durchführung des Interviews als Konversation, in welcher die Forschenden als aktiv Zuhörende in den Hintergrund treten. [39]
Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Darstellung des In-depth-Interviews als eine Möglichkeit, benachteiligten Gruppen der Gesellschaft – genannt werden Frauen, Farbige, Homosexuelle und Arme – eine "Stimme" (voice) zu geben, da diese oft ungehört blieben. Diese Darstellungsform deckt sich weitgehend mit dem sozialpolitischen Engagement, das sich in der US-Amerikanischen qualitativen Forschung etabliert hat (vgl. DENZIN 2005). [40]
Die vorgenommene Einteilung des In-depth-Interviews (1. structured interview, 2. semi-structured interview, 3. low-structure interview und 4. open-ended interview) gibt einen Überblick über die Möglichkeiten, das In-depth-Interview an die Fragestellung eines Forschungsprojektes anzupassen. [41]
Auf der Grundannahme, dass die Beziehung zwischen Interviewer(inne)n und Interviewten konstitutiv für die Erhebung der Daten ist, basiert die wiederholte Betonung der Reziprozität der Interviewsituation bei HESSE-BIBER und LEAVY. Sie kommen an vielen Stellen darauf zu sprechen, dass der Interviewprozess eine "meaning-making"-Partnerschaft beider Beteiligter sei, beide "co-participants"(S.134) seien, die gemeinsam sozialwissenschaftliches Wissen konstruierten (S.128). Dass sich dabei die sogenannten "power-issues" in die Diskussion spielen, sollte nicht verwundern. Diese Argumentationsweise entstammt der feministisch-postmodernen Position der Autorinnen: es geht um die Notwendigkeit, die Hierarchie zwischen Befragten und Forschenden auszugleichen, um die Frage, ob Forscher(innen) aus reichen Ländern Menschen in armen Ländern befragen dürfen, ob ein Weißer der Mittelklasse eine schwarze Amerikanerin der Arbeiterklasse befragen könne usw. [42]
Warum sich derartige Themen im Kapitel über das In-depth-Interview finden, bleibt meiner Ansicht nach unklar. Mir scheint, die Autorinnen sind dem Text intuitiv gefolgt: jeweils im Zuge des Schreibens haben sich Themen hervorgespielt, die dann mitunter an Stellen platziert wurden, wo sie eigentlich nicht hingehören. Daher liest sich der gesamte Abschnitt über das In-depth-Interview etwas schleppend. Besonders Überlegungen über "doing difference" überfrachten das Kapitel, wiederholen lediglich Aspekte der Forschungsethik oder greifen Fragmente der feministischen Position auf, die ebenfalls an anderer Stelle systematisch aufgearbeitet fruchtbarer gewesen wären. [43]
Während im Allgemeinen Oral History eher als eine übergreifende Methode verstanden wird, die sich anderer Methoden wie z.B. dem In-depth-Interview zur Erhebung bedient (vgl. JUPP 2006), grenzen HESSE-BIBER und LEAVY die Methode der Oral History vom In-depth-Interview ab. Diese Differenzierung basiert vor allem auf der Feststellung, dass In-depth-Interviews – gleich ob halbstrukturiert oder offen – ein bestimmtes Thema in den Mittelpunkt stellten, während Oral History einen offenen Prozess initiiere, der auf die ganze Person und deren Biografie ziele, wobei grundsätzlich alles erzählt werden könne (S.152). Hierzu sei bedeutsam, dass beide partizipierenden Personen im Interview in einen Prozess der Erzählkonstruktion eintreten: "It is a collaborative process of narrative building […] that help us understand individual agency within the context of social and material environment" (S.152-153). [44]
Zu berücksichtigen sei, dass es sich bei den erhobenen "stories" um Erinnerungsprotokolle handle, die entsprechend einer rückbezüglichen Konstruktion unterliegen. Dieser Punkt trifft ebenfalls auf Erzählungen zu, die im Rahmen eines In-depth-Interviews erhoben werden. Dass HESSE-BIBER und LEAVY hier ungenau in ihrer eigenen Abgrenzung werden, ist symptomatisch für weite Teile des gesamten Buches. [45]
Wenn in der Einführung betont wird, Oral History sei "predominantly a feminist method" (S.151), dann gerät man in allzu seichtes Fahrwasser der Argumentation, die wiederum jene benachteiligten Gruppen in den Blick nimmt, die schon im vorangegangenen Kapitel das soziale Engagement unterstrichen haben: "marginalized persons and groups that would otherwise remain untapped" (S.151) – auch Oral History "offers a way of accessing subjugated voices" (S.151). [46]
Der Hinweis, dass es aufgrund des ganzheitlichen Verständnisses der Oral History möglich sei, Wissen über soziale Prozesse zu erlangen, ist nach der ausführlichen Einleitung über Paradigmen qualitativer Forschung, über rahmende Weltbilder usw. anscheinend überflüssig. Aber es gelingt den Autorinnen, diesen Hinweis mit vielen Beispielen aus Forschungsprojekten inhaltlich zu füllen. Für Lesende, die sich nicht nur über Methoden informieren, sondern auch ein Verständnis für deren Anwendung in der Forschung erlangen wollen, sind die Ausführungen gerade im Kapitel über Oral History hilfreich. Denn die Beispiele vermitteln jene Besonderheit von Oral History, die von Philip GARDNER (2006, S.207) folgendermaßen beschrieben wird: Oral History "is predicated upon the centrality of the individual life as the most powerful lens through which may be revealed the complex social contexts within which lives are lived". Entsprechend fassen auch HESSE-BIBER und LEAVY am Ende dieses Kapitels zusammen: "Personal stories can be interlinked with collective memory, political culture, social power, and so forth, showing the interplay between the individual and the society in which she or he lives" (S.189). [47]
In dem Bestreben, hier einen Band vorzustellen, der sich der Praxis qualitativer Forschung widmet, binden HESSE-BIBER und LEAVY wiederholt Anleitungen für die Lesenden ein, die diese für die Erhebung von Daten zurate ziehen können. Für die Methode Oral History skizzieren sie insbesondere das Vorgehen während des Interviews. Über Analysemethoden wird nicht gesprochen. Auch sprechen die Autorinnen nicht von Erhebungsmethoden, sondern von "Forschungstechniken". Diese unterteilen sie in "listening" und "storytelling/narrative style", wobei listening weiter differenziert wird in: 1. Hören der "Story"/"Bedeutung", 2. Hören der "moralischen Stimme", 3. Hören von "Meta-Statements", 4. Hören der "Logik der Erzählung", 5. Hören auf die "eigene Stimme" und 6. Hören von "Stille". Neben der Fähigkeit zuzuhören sollte nach HESSE-BIBER und LEAVY eine hohe Sensibilität für verschiedene Erzählstile der Interviewten vorhanden sein, auch wenn kaum von einer "Forschungstechnik" gesprochen werden kann, wenn es darum geht, "to understand, accept, and embrace different narrative styles" (S.166). Obgleich die Begrifflichkeit – wieder einmal – ungenau ist, wird doch deutlich, worauf die Autorinnen bei der Differenzierung von "Hören" und "Sprechen" zielen: auf die Unvoreingenommenheit der Forschenden und damit auf deren "Entmachtung" im Forschungsprozess. Indem "richtig" hingehört wird – und zwar geschult auf die oben benannten Aspekte hin – könne sich auf der erzählenden Seite des Interviewsettings die "story" frei entfalten. Damit ist die Haltung der Forschenden in Beziehung zu den Beforschten angesprochen. [48]
Nach ETTER-LEWIS (1991) differenzieren die Autorinnen drei verschiedene Erzählstile, nämlich 1. unified, 2. segmented und 3. conversational, einen 4. – episodic storytelling – ergänzen sie selbst. [49]
Was trotz großer Ausführlichkeit nicht geklärt wird ist die Frage, ob sich die zuhörende Person während des Interviews auf die verschiedenen Erzählstile besinnen soll, oder ob es sich um Kategorien für eine Analyse des transkribierten Interviewtextes handelt. Als methodische Anweisungen können diese "Forschungstechniken" jedenfalls kaum verstanden werden – die Bezüge bleiben, wie erwähnt, uneindeutig, die Anweisungen unkonkret. [50]
Aus Sicht der deutschen qualitativen Forschung kann die Darstellung von HESSE-BIBER und LEAVY nur als sehr oberflächlich verstanden werden. Im US-Amerikanischen Kontext aber entspricht diese Form der Darstellung dem allgemeinen Verständnis von qualitativer Sozialforschung: den Menschen eine Stimme geben, "Stories" hören, Machtverhältnisse auflösen; eben jene Aspekte, die ich schon zu Beginn mit einem Zitat von Norman DENZIN angeführt habe. [51]
Das Beispiel, das von den Autorinnen in der behind-the-scene-box zur Autoethnography (als spezielle Form der Oral History) gegeben wird, bringt jene Aspekte auf den Punkt und skizziert die potenzierte Form der Selbstreflexion der Forschenden, die durchgängig von HESSE-BIBER und LEAVY in ihrem Buch gefordert wird. Carolyn ELLIS, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der University of Florida, schildert darin die Wirkung des autoethnografischen Berichts über ihre Abtreibung im Jahre 1990, den sie 1992 unter dem Titel "Telling and performing personal stories" zusammen mit ihrem Partner Arthur BOCHNER veröffentlicht hat. Wesentlich hieran ist die abschließende Feststellung der Autorin, dass ihr autoethnografischer Bericht einerseits als "pädagogisches Instrument" verstanden werden kann, und andererseits als Hilfsmittel für die Diskussion darüber, wie überhaupt in der modernen Gesellschaft zu leben sei. Die Position von HESSE-BIBER und LEAVY zur Oral History kann in eben diesem Sinne verstanden werden: Ergebnisse von Oral-History-Forschungsprojekten haben im Kontext der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kommunikation eine Funktion, die über Aufklärung hinausgeht und Möglichkeiten tiefer Reflexion über das Leben, generell und einzelner Aspekte, bietet. [52]
Mit ihrem Beitrag zu focus group interviews gelingt HESSE-BIBER und LEAVY eine gelungene Zusammenstellung sowohl der Entwicklung dieses Verfahrens als auch seiner Anwendungsfelder mit den hierbei zu problematisierenden, methodischen Implikationen. Die Darstellung ist durchzogen mit vielen Beispielen aus der Forschungspraxis, sodass den Lesenden ein gutes Nachvollziehen der einzelnen Aspekte des focus group interviews ermöglicht wird. [53]
Focus group interviews werden insbesondere vom Eins-zu-Eins-Interview abgegrenzt, indem die Autorinnen auf den besonders zu berücksichtigenden gruppendynamischen Prozess in der Interviewsituation verweisen. So heißt es z.B.: "In the case of focus group interviews, what any given participant says is mediated by the group and subsequently reflected through the eyes of the others in the group as they continue the conversation" (S.204). [54]
Die Gespräche im Gruppeninterview dienen entsprechend dazu, die "Geschichten der einzelnen" als eine gesamte "Geschichte" zu sammeln. Zwei Ebenen spielen für die Autorinnen dabei eine entscheidende Rolle: 1. der Kontext als "Happening" und 2. interne Prozesse als "Gruppeneffekte". Beide Ebenen informieren sich gegenseitig und spielen sowohl für den Prozess des Interviews als auch für die folgende Analyse eine Rolle. So formuliert auch Bruce BERG (2001, S.125): "Focus group data are group data. They reflect the collective notions shared and negotiated by the group. Individual interview data reflect only the views and opinions of the individual, shaped by the social process of living in a culture" (Hervorhebung im Original). [55]
In einem großen Abschnitt stellen HESSE-BIBER und LEAVY das Design von Forschungsprojekten mit focus group interviews vor. Dabei greifen sie Methodentriangulationen mit quantitativen Verfahren – wie z.B. den Einsatz von standardisierten Fragebögen – auf. Aber auch das Zusammenspiel von Gruppeninterviews mit qualitativen Methoden wird explizit thematisiert (breadth vs. in-depth). Ungeachtet der informativen und argumentatorischen Vielschichtigkeit der Darstellung wiederholen sich hier viele Aspekte aus dem Kapitel über den Forschungsprozess. [56]
Sehr informativ gerade zur Einführung in das Verfahren des focus group interviews sind die Ausführungen der Autorinnen in jenem Teil, der die Rolle des Forschers bzw. der Forscherin thematisiert. Hier werden nochmals grundlegende Aspekte thematisiert, wie z.B. die Vorbereitung des Moderators/der Moderatorin auf ein Gruppeninterview, offene oder eher strukturierte Interviewleitfäden, die "Eröffnungsfrage" des Interviews usw., also Fragen, die in vielerlei Hinsicht auch im Zusammenhang mit anderen Interviewformen in der qualitativen Forschung eine Rolle spielen. Hier gelingt es HESSE-BIBER und LEAVY strukturiert und mit Beispielen den Gegenstand ihrer Darstellungen zu veranschaulichen, was in anderen Abschnitten des Buches eher weniger der Fall ist. [57]
Die oftmals kritische Rezeption des Gruppeninterviews diesseits des Atlantiks kann ich in diesem Kapitel des Buches über die Praxis qualitativer Forschung nicht bestätigt sehen. Allen voran ist sicherlich FLICK (2002) zu nennen, der insbesondere darauf hinweist, dass Gruppendiskussionen zu stark auf den Moment der Erhebung fokussiert und zu unklar strukturiert seien (a.a.O., 2002, S.118). Auch SEIPEL und RIEKER (2003) weisen darauf hin, dass es zu vielfältige und uneindeutige Standards des Gruppeninterviews gäbe und betonen letztlich eher hilflos, dass es eben bei der Anwendung des Gruppeninterviews stets auf den Erhebungszusammenhang ankäme. Andererseits ist, insbesondere bei BOHNSACK (2003), deutlich zu sehen, dass eine Unterscheidung zwischen Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen ratsam ist. Letztere, so scheint mir, entspricht dem, was bei HESSE-BIBER und LEAVY (und im angelsächsischen Raum) mit focus group interviews bezeichnet wird. Diese sind ja ebenfalls – wie bei BOHNSACK referiert – an den Interaktionen innerhalb einer Gruppe interessiert und weniger an der Sammlung von einzelnen Positionen zu einer Thematik. [58]
Augenscheinlich werden in den Ausführungen von HESSE-BIBER und LEAVY viele grundsätzliche Aspekte qualitativer Forschung teilweise wiederholt behandelt. Auch die Ethnografie gibt den Autorinnen (wieder einmal) Anlass dazu, die grundsätzliche Ausrichtung qualitativer Forschung zu benennen: "Ethnographic methods allow you to understand the social reality from the participants' perspective, which is why it remains a staple practice in qualitative inquiry" (S.234). [59]
Das, so sollte man meinen, hat selbst die ungeübte Leser(innen)schaft zu diesem Zeitpunkt verstanden. Über die so geschaffene Basisverständigung darüber, was den Ansatz der Ethnografie bestimmt – die Perspektive der anderen – hinaus, werden, wiederum mit vielen Beispielen veranschaulicht, die historische Entwicklung der Ethnografie als Forschungsansatz, einzelne Schritte zur Durchführung eines Forschungsprojektes, sowie Aspekte der Analyse der erhobenen Daten vorgestellt. [60]
Ethnografie ist – wie häufig (z.B. HOBBS 2006, S.230) vertreten – jene Forschungsrichtung, die auf ein "in-depth understanding of how individuals in different cultures and subcultures make sense of their lived reality" zielt. Das dafür notwendige theoretische Rüstzeug (also die verschiedenen Paradigmen qualitativer Forschung) haben HESSE-BIBER und LEAVY zwar bereits ausführlich in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, nichtsdestotrotz wird nochmals darauf verwiesen, dass es in der Ethnografie wesentlich sei, mit einem interpretativen Ansatz die Welt als sozial konstruiert zu verstehen (S.236). Und ebenso wird nochmals die Entstehung der Daten im Forschungsprozess als soziale Konstruktion aus der Erhebungssituation – oder anders ausgedrückt: aus dem dynamischen Zusammenspiel von Forschenden und Beforschten – betont. HOBBS (2006, S.101) drückt dies ähnlich aus: Ethnografie ist das Produkt eines "cocktail of methodologies that share the assumption that personal engagement with the subject is the key to understanding a particular culture or social setting". [61]
Die einzelnen Phasen eines ethnografischen Forschungsprojektes werden im Anschluss kleinschrittig und ausführlich vorgestellt, angefangen von der Entscheidung für ein bestimmtes Setting, über Fragen der Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit einzelner Forschungsfelder, der Rolle des Forschenden bis hin zur Datenerhebung und Analyse. Besonders hilfreich sind hier die vielen Beispiele und die "behind-the-scene"-Beiträge. Sie machen deutlich, dass sich ethnografische Forschung, wie sie von HESSE-BIBER und LEAVY verstanden wird, in zwei entscheidende Kategorien unterteilt: jene, die zunächst "verstehen" will und jene, die (auch) ein soziales Engagement verfolgt. Insbesondere feministische Ansätze werden in der letzteren Kategorie verortet. [62]
Die Rolle der Forschenden wird für vier mögliche Settings reflektiert: 1. complete observer, 2. observer-as-participant, 3. participant-as-observer und 4. complete participant (S.245). [63]
Wie nun das "Feld" wieder zu verlassen ist, beschäftigt die Autorinnen in einem weiteren Abschnitt. Meines Erachtens zeugt die Thematisierung dieses Themas von größter Sorgsamkeit gegenüber der Forschungstätigkeit, was sehr zu begrüßen ist. HESSE-BIBER und LEAVY betonen, wie wichtig es sei, nach einer gewissen Zeit im Forschungsfeld Strategien zu entwickeln, die die Forschenden wieder aus dem Feld heraustreten lassen. Dafür schlagen sie z.B. ein "Abschiedsritual" vor, nach gewisser Zeit schriftlich Kontakt zu den "Beforschten" mit einer Rückmeldung aufzunehmen oder einen Zeitpunkt für die Rückkehr ins Feld zu vereinbaren. [64]
Grundsätzlich zeigt sich im deutschsprachigen Diskurs über ethnografische Forschung kein signifikanter Unterschied zum angelsächsischen: Ethnografie wird in die gleiche Forschungstradition (insbesondere GARFINKEL und GOFFMAN) eingeordnet, womit vor allem das methodische Vorgehen bei der Datenerhebung begründet wird (vgl. z.B. BERGMANN 2000, BRÜSEMEISTER 2000). Ethnografische Methoden haben sich hier unter anderem in der qualitativen Schulforschung etabliert, der Untersuchung von Lebenswelten, z.B. von Jugendkulturen (vgl. PFADENHAUER 2005), aber auch in der Biografieforschung (vgl. DAUSIEN & KELLE 2005). Allerdings gehen die Positionen in Bezug auf die Datenanalyse dann wieder verschiedene Wege, was wohl nicht weiter überrascht. [65]
Daten, die im "Feld" erhoben werden, müssen, so die Autorinnen, "gemanagt" werden. Während der Begriff jedoch suggeriert, dass es sich um Ordnen, Systematisieren und Verwalten von Daten handelt, verbinden HESSE-BIBER und LEAVY mit dem "Management" eher verschiedene Formen von Daten, die in den "Datenpool" einfließen: "On-the-fly"-Notizen, "thick descriptions", "data analysis" (gemeint sind eher Interpretationsassoziationen), sowie "personal matters and reflexivity" (S.259). [66]
Insbesondere der Punkt der Datenanalyse wirft nachhaltig Fragen auf; die Verfahrensvorschläge sind, wie schon zuvor erwähnt, aus Sicht der deutschsprachigen qualitativen Forschung eher abenteuerlich. Beispielsweise wird das Analysieren der Feldnotizen als "ethnografisches Puzzle" bezeichnet (S.260), und etwas weiter: "Ethnographic data analysis takes place as an ongoing activity—you gather data, you think about it, you gather more data and you think about it. Data gathering and data analysis proceed as an upward moving spiral toward creating meaning" (S.262). [67]
Viele US-Amerikanische Autorinnen und Autoren verstehen den Prozess der Datenanalyse allerdings in dieser oder einer ähnlichen Weise: Die Festlegung auf einen "richtigen" Weg fällt schwer, die größtmögliche Offenheit und gleichberechtigte Gültigkeit unterschiedlicher Perspektiven und Positionen wird unterstrichen: "There can never be a final, accurate representation of what was meant or said—only different textual representations of different experiences", so Norman DENZIN (1997, S.5, nach EMERSON 2001, S.50). Entsprechend ungenau sind die Vorstellungen von Analyse bei HESSE-BIBER und LEAVY, die sie im Kapitel über Ethnografie skizzieren. Es entsteht der Eindruck, dass es sich hier um eine Methode handelt, die vor allem inhaltlich den Gegenstand anhand der Daten bis zu einem Grad der Sättigung führt und schließlich als "Story" eine Form der Repräsentation findet, die in aller Offenheit auch die Selbstreflexionen der Forschenden abbildet (S.265ff.). [68]
3.5 Content analysis und unobtrusive methods
Den Begriff content analysis mit Inhaltsanalyse zu übersetzen, wäre an dieser Stelle irreführend. HESSE-BIBER und LEAVY bezeichnen mit content analysis einen vollkommen anderen Ansatz als die im deutschsprachigen Raum verbreitete "Qualitative Inhaltsanalyse" (MAYRING 2000). Grundsätzlich unterstreicht dieses Kapitel die Schwäche des Buches und der US-Amerikanischen qualitativen Forschung in Bezug auf die Analyse von Daten in besonderer Weise. Während in früheren Kapiteln des Buches das Thema Analyse von Daten mit Verweis auf das letzte Kapitel, welches sich dem Thema intensiv widme, kurz gehalten wurde, so verfolgen die Autorinnen hier eine andere Strategie: eine Analyse wird exemplarisch durchgeführt. Dafür beziehen sich HESSE-BIBER und LEAVY auf die Interpretation eines Zeitschriftentitelblattes (S.295), ein "semiological reading", wie sie es nennen. Dieses "reading" forciert eine Kontextualisierung des Titelbildes, wodurch dessen soziale Konstruktion aufgedeckt wird. Damit wird die Vorstellung einer naturalistischen Bedeutung des Bildes – einer in ihm selbst liegenden Bedeutungsstruktur – von vornherein unterbunden: Im Zentrum bleibt die kulturelle Konstruktion von "meaning" (S.295). Das konkrete Vorgehen bei der Analyse erscheint als Abfolge von Interpretationen, deren Reihenfolge nicht eindeutig festgelegt zu sein scheint. Nach der Interpretation des Bildes folgt die Interpretation des dazugehörigen Textes. Eine Begründung für das Vorgehen lassen HESSE-BIBER und LEAVY allerdings vermissen, und gerade die wäre doch für ein Verständnis hilfreich, wenn man von Methode spricht. [69]
Dagegen verfolgt die qualitative Inhaltsanalyse (MAYRING 1997), wie sie im deutschsprachigen Raum praktiziert wird, gerade eine systematische Analyse, die regelgeleitet vorgeht. Die Fokussierung auf Kontextualisierung, d.h. den Entstehungszusammenhang von zu untersuchenden Daten (seien es Interviewtranskripte, Bilder, Videoaufzeichnungen) wird zwar explizit thematisiert. Allerdings folgt dem eine am Forschungsgegenstand und der Fragestellung ausgerichtete Kategorisierung, die dem jeweiligen Datenmaterial angepasst und aus ihm heraus erweitert wird. Das Vorgehen ist nur beschränkt offen. [70]
Für HESSE-BIBER und LEAVY besteht content anaylsis aber gerade in einer Offenheit der Analyse, die Bezüge setzen kann zwischen "cultural forms" und "cultural processes", indem sie holistisch vorgeht, d.h. einzelnes mit dem "großen Ganzen" verbindet (S. 281/282). Gemeint ist das Folgende:
"Researchers can analyze the signs or representations produced within a society in order to deconstruct the process of meaning construction that created them. By this we mean that in addition to analyzing isolated texts, researchers can analyze how meaning is constructed within a given text by placement of words next to other words, or images next to other images, or images and words together" (S.294). [71]
Die Analyse selbst folgt entsprechend keiner konkreten Anleitung, obwohl im Weiteren unter der Überschrift "visual research" eine Übung zur Bildinterpretation einer Werbeanzeige mit konkreten Vorgaben angeboten wird. Folgende Aspekte sollten, so die Autorinnen, bei der Interpretation und dem Coding eines Bildes in einem Werbekontext berücksichtigt werden:
primary figure, also jene Figur, die im Bild eine vorherrschende Rolle spielt;
basis for credibility, womit die Begründung gemeint ist, die die Interpret(inn)en für die Entscheidung der Wahl einer hervorstehenden Figur anführen;
role, im Sinne einer sozial-gesellschaftlich bestimmten Rolle der primary figure, sowie
das setting, wodurch der räumliche Kontext der primary figure umrissen wird, und
schließt sich eine Bestimmung des in der Anzeige angebotenen Produkttypus an. [72]
Ferner geben die Autorinnen die Anweisung, die Bildinterpretation unter verschiedenen Perspektiven durchzuführen, also: feministische Perspektive, kritische Perspektive usw. Die abgeleitete Implikation ist weitreichend: Verschiedene Perspektiven führen zu verschiedenen Ergebnissen der Bildaussage, eine im Bild "an sich" liegende Bedeutung ist nicht ermittelbar. Die von HESSE-BIBER und LEAVY ausgeführten theoretischen Bezüge zu Postmodernismus und Postkonstruktivismus haben diese Sicht auf ein methodisches Erschließen von "nonliving forms of data"4) bereits vorgeformt (S.286ff.). [73]
Neben der auf diese Weise qualitativ ausgerichteten Analyse von Daten, welche eben nicht aus einem Interview oder von Beobachtungen herrühren, sondern als Produkte der sozialen Realität als durch diese geformte und diese formende Konstrukte schon vorliegen, beschreiben HESSE-BIBER und LEAVY auch die ursprüngliche Entstehung der content analysis als eine an Inhalten ausgerichtete Form standardisiert-quantitativer Methoden. Content analysis hat sich demnach als eine Methode entwickelt, die "the frequency of appearance of particular elements in the text" (SCOTT 2006, S.40) misst. Die theoretische Verortung der content analysis wird bei HESSE-BIBER und LEAVY zwar nicht explizit benannt, aber es ist ersichtlich, dass von den Autorinnen die Weiterführung der content analysis mit qualitativen Methoden, wie im oberen Beispiel der Bildinterpretation beschrieben, mit den skizzierten postmodernen und poststrukturalistischen Theorien von Jean BAUDRILLARD, Michel FOUCAULT und Jacques DERRIDA begründet wird. [74]
Die Zwiespältigkeit der vorgeführten Argumentation illustriert der folgende Abschnitt:
"We can learn about social life, whether it be norms or values or socialization or social stratification, by looking at the things we produce which reflect macro social processes and our world view. The texts and objects that groups of humans produce are embedded with larger ideas those groups have. Nonliving forms of data generally [are] categorized as 'texts' or 'artifacts', […] the data are 'naturalistic': historical documents, newspapers, magazines, photographs, books, diaries, literature, music, cinema, television, websites, and so forth" (S.286). [75]
Wird also angenommen, dass die genannten Formen von Daten naturalistisch bzw. "ursprünglich" sind, wie können sie dann in einem postmodernen Interpretationsprozess dekonstruiert verschiedene Bedeutungen erlangen, wie es die Autorinnen an anderer Stelle impliziert haben? In theoretischer Hinsicht wirft dieses Kapitel eher Fragen auf, als dass es diese beantwortet. Auch die Unterscheidung zwischen einem linearen Forschungsprozess mit content analysis in einem quantitativen Design und einem fließenden Prozess der content analysis in einem qualitativen Forschungsdesign führt zu keiner überzeugenden Darstellung. Im Gegenteil: das "flow chart" (S.290) erinnert an eine systematische Darstellung der Grounded-Theory-Methodologie, womit die content analysis als qualitative Methode hier keine Eigenständigkeit erwirbt. [76]
Während sich die Definition im "Dictionary of Social Research Methods" sehr vereinfacht liest, wenn es dort heißt: "The combined use of quantitative and qualitative methodologies within the same study in order to address a single research question" (JUPP 2006, S.179), bemühen sich HESSE-BIBER und LEAVY in ihrem Buch um eine vertiefte Beschäftigung mit Mixed-Methods-Ansätzen: Sie wollen über die Verbindung quantitativer und qualitativer Daten und Methoden hinaus auch Verbindungen verschiedener qualitativer Methoden, z.B. focus group interview mit participant observation, befördern. Obwohl dies sehr zu begrüßen ist, sind die Autorinnen dann in ihrer Darstellung nicht immer begrifflich konturiert. [77]
HESSE-BIBER und LEAVY führen anhand eines Beispieles durch die Thematik und verdeutlichen dadurch, welche Bereiche eines Forschungsprojektes mit welchen methodischen Zugängen erfasst werden können. Dadurch wird das gesamte Kapitel recht ausladend, aber gleichzeitig auch auf einer sehr anschaulichen Ebene den Lesenden gut vermittelt. [78]
Der Sinn einer Verbindung zweier Methoden liegt für die Autorinnen darin, die erreichbaren Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt möglichst vielfältig auszubuchstabieren, wobei "one method enables the other to be more effective, and, together both methods provide a fuller understanding of the research problem" (S.317). [79]
Mit Mixed-Methods-Ansätzen geht gleichzeitig eine scheinbar konkurrierende Verbindung von Paradigmen einher, die sich, den Autorinnen zufolge, unterschiedlich auflösen lasse: zum einen müsse das jeweilige Design eines Forschungsprojektes dem Forschungsgegenstand angemessen aufgebaut sein; hier folgen HESSE-BIBER und LEAVY in ihren Ausführungen einem Modell von David MORGAN (1998), das sie im Detail näher darstellen, auf das hier allerdings nicht näher eingegangen werden soll. Zum anderen könne der "paradigm war" überwunden werden, indem die Paradigmen zwar getrennt voneinander behandelt würden, aber die Bereitschaft da sei, sie wechselseitig zu respektieren und vom jeweils "anderen" zu lernen – sich also die Forschung im Interesse ihrer inhaltlichen Ausrichtung von beiden Seiten inspirieren ließe (S.320ff). [80]
Interessant sind die Schlussfolgerungen aus der eigenen Arbeit der Autorinnen mit Mixed-Methods-Ansätzen, die ein "quantizing" bzw. ein "qualitizing" (S.329ff) beschreiben: entweder sollten computergestützte Verfahren genutzt werden um quantitative Daten qualitativ zu beschreiben bzw. in ein Set von qualitativen Daten zu integrieren, oder qualitative Daten sollten umgekehrt in quantitative Daten transformiert werden mit dem Ziel einer Generalisierbarkeit von Forschungsergebnissen. [81]
Bei diesen Ausführungen bleibt allerdings die Frage offen, inwieweit ein solcher Ansatz mit den eingangs formulierten Paradigmen qualitativer Forschung verbunden werden kann. HESSE-BIBER und LEAVY schlagen hier selbst einen pragmatischen Weg ein, der im Sinne von "whatever works best in any particular research context" (JUPP 2006, S.180) die Mixed-Methods-Ansätze bevorzugt. Entsprechend sei "pragmatism […] a form of methodological pluralism" (a.a.O.). [82]
Ein solcher Pragmatismus sei aber, wie in diesem Falle ein Ausschnitt aus einem "behind-the-ccene"-Beitrag zeigt, nicht unbedingt notwendig, um Wissen zu bilden: Janice MORSE kommentiert die Frage, ob "multimethods" nötig seien, um zu Wissen zu gelangen folgendermaßen: "Nonesense. Fiddlesticks. Basic knowledge also comes from doing qualitative research alone. […] it does not need multi-methods; the funding agencies need multi-methods and some questions need multi-methods" (S.335). [83]
4. Datenanalyse und Präsentation der Forschungsergebnisse
Analysis "can and should be done artfully, even playfully, but it also requires a great amount of methodological knowledge and intellectual competence" (S.344). Mit diesem Zitat lässt sich einleitend das Kapitel zur Analyse qualitativer Daten von HESSE-BIBER und LEAVY zusammenfassen. Grundsätzlich – und an dieser Stelle komme ich nicht darum herum, meine eigene Verwurzelung in der deutschsprachigen qualitativen Sozialforschung zu thematisieren – wird das Thema Analyse bei HESSE-BIBER und LEAVY nicht an je einzelne Methoden gekoppelt, sondern umfasst den Bereich der qualitativen Forschung generell. In vielen US-Amerikanischen Forschungskontexten würde dies in keiner Weise als problematisch betrachtet werden (so findet sich auch in dem seit 1989 regelmäßig wiederaufgelegten Band von BERG keine stringente Zuordnung spezifischer Analysemethoden zu Erhebungsmethoden und damit kein methodologischer Erklärungsgrund (vgl. auch BERG 2001). Analyse wird grundsätzlich als ein interaktiver Prozess verstanden, in dem Themen vom Material her "aufscheinen" und in vertiefender Bearbeitung schließlich zur Generierung einer Theorie führen. [84]
Nun unternehmen HESSE-BIBER und LEAVY den Versuch, in ihrem Buch das Thema Analyse systematisch anwendungsbezogen zu erläutern. Sie gehen von einem Modell aus, welches die Analyse in vier Schritten vollzieht: 1. data preparation, 2. data exploration, 3. data reduction und 4. interpretation. [85]
Den Autorinnen nach besteht der erste Schritt im Transkribieren von Daten, was hier kurz erwähnt werden soll, da sich in der Art und Weise, wie sie diesen Prozess schildern, ihre Haltung deutlich spiegelt. Es heißt dort:
"Transcribing research data is interactive and engages the reader in the process of deep listening, analysis, and interpretation. Transcription is not a passive act, but instead provides the researcher with a valuable opportunity to actively engage with his or her research material right from the beginning of data collection" (S.347). [86]
Es gibt keine genauen und allgemein vereinbarten oder gar begründeten Anleitungen zum Transkribieren – der Prozess bleibt offen, und es ist der Angemessenheit gegenüber dem erhobenen Material überlassen, über die Form der Transkription zu walten. [87]
In diesem Sinne vollziehen sich auch die Schritte des "Codings" und des von HESSE-BIBER und LEAVY in Anlehnung an GLASER und STRAUSS (1967) vorgeschlagenen Memo-Schreibens. Sie folgen einer "strategy for extracting meaning from qualitative data" (S.348), die auf der Grundlage der Grounded Theory von Kathy CHARMAZ (2004) entwickelt wurde. Als wesentliche Prämisse, die den Analyseprozess insgesamt bestimmt, ist die Auffassung der Autorinnen zu nennen, dass Analyse schon in dem Moment beginne, in dem Daten gesammelt werden (S.348). Eine Analyse"ordnung" unter data exploration sieht also folgende Reihung vor: data collection – data analysis – data collection – data analysis – usw.; beschrieben wird ein interaktiver Prozess beider Schritte, wobei nicht erklärt wird, wie eine "analysis" während der Datenerhebung durchgeführt wird. [88]
Konkret benennen HESSE-BIBER und LEAVY ein "am Text klebendes Coding", was schließlich im Zuge des Memo-Schreibens in eine Kategorisierung des Datenmaterials münde. Eine anschließende Interpretation führt am Ende zur "research story" oder zum "narrative". [89]
Dieser hier sehr verkürzt dargestellte Prozess der Datenanalyse wird von HESSE-BIBER und LEAVY sehr anschaulich anhand von Beispielen erläutert. Die grafischen Darstellungen verhelfen zu einem schnellen Erfassen des Gegenstandes und bieten eine gute Einführung in das Thema der Datenanalyse. Sicherlich bleibt vieles offen und es stellt sich die Frage, wann eigentlich das Thema Analyse beginnt – denn das verbleibt bei den Autorinnen im Dunkeln –, aber es scheint symptomatisch für dieses Buch zu sein, dass es letztendlich die Leser(innen) und deren Eigenverantwortung und Denkvermögen in die Pflicht nimmt. Dieses ist auch gefragt, wenn es darum geht zu prüfen, ob die Ergebnisse einer qualitativen Studie gültig sind. Das Kriterium hierfür ist "the internal consistency" (S.359). [90]
In Bezug auf die Analyse qualitativer Daten mit Computerprogrammen bieten die Autorinnen einen Katalog von Fragen an, die sich Forschende stellen sollten, wenn sie mit Computerprogrammen arbeiten möchten. Sie weisen allerdings auch darauf hin, dass jene Computerprogramme die qualitative Forschung nicht revolutioniert haben, sondern im Vordergrund sollte stehen, ob deren Verwendung Sinn macht und ob die Forschenden diese jeweils (selbst-) kritisch einsetzen können und wollen. Der Verweis auf eine Webseite, von der Software heruntergeladen werden kann, hat mich dann aber befremdet, da er gleichzeitig der computergestützten Auswertung qualitativer Daten Vorschub leistet. [91]
Auf einen letzten Aspekt muss ich als Rezensentin noch abschließend zu sprechen kommen, da er so eng mit der qualitativen Forschung in Nordamerika verbunden ist wie wohl kaum ein anderer: die Präsentation von Forschungsergebnissen. Diese hat vor allem durch die Publikationen von Norman DENZIN und Yvonna LINCOLN z.B. im "Handbook of Qualitative Research" (2005) oder in "The Landscape of Qualitative Reserach" (1998) Aufmerksamkeit erlangt. Uwe FLICK weist in seinem Einführungsband "An Introduction to Qualitative Research" (2002, S.246) zu Recht darauf hin, dass mit der Diskussion über die Präsentation von qualitativen Forschungsergebnissen die Gefahr bestehe, dass sie ihren Status bzw. ihre Wissenschaftlichkeit einbüße, da das Infragestellen der Repräsentation von Ergebnissen qualitativer Forschung diese selbst in Frage stellen könnte. [92]
Wie dem auch sei: es besteht scheinbar die Notwendigkeit, die Art des Verfassens von qualitativen Forschungsstudien zu thematisieren (vgl. HOLLIDAY 2007; WOLCOTT 2001; ELY, VINZ, DOWNING & ANZUL 1997). HESSE-BIBER und LEAVY unterscheiden zwischen den "realistischen" und den "nicht-realistischen" "Geschichten" (tales). Während erstere den traditionellen Schreibstil der Sozialwissenschaften bezeichnen, beziehen sich letztere auf den postmodernen Freiraum des Schreibens – oder anders ausgedrückt: die Problematik, dass nichts mehr als "real" angenommen werden kann. Die Forschenden "schwimmen" quasi in einem Bassin aus verschiedenen Fluida der Wahrheit; es gibt keine Entscheidung, man kann sich nur reflexiv dazu verhalten. So bleibt am Ende: "that you are a storyteller charged with telling the story of another" (S.367). [93]
Auf einer Konferenz zu "Qualitative Methods in Education" im US-Bundesstaat New Hampshire fragte ich bei einem Round Table eine Teilnehmerin – zu diesem Zeitpunkt war sie Doktorandin – wie sie ganz konkret die Interviews, die sie als Grundlage für ihre Dissertation nutzte, analysieren würde. Sie würde ein Interview lesen, wichtige Abschnitte markieren, bei einem nochmaligen Lesen farbig thematische Zuordnungen treffen und in einem letzten Schritt das Interview auseinanderschneiden und die gleichfarbigen Abschnitte einander zuordnen. Für die einzelnen Farben würden dann thematische Kodierungen vorgenommen, die schließlich in eine Einteilung verschiedener Kategorien mündeten, welche für weitere Interviewanalysen vergleichend herangezogen würden. Daraus ergäbe sich eine theoretische Beschreibung des Forschungsgegenstandes mit der "Stimme der Befragten" (voices of the other). So zusammengefasst die Antwort, die ich erhielt. [94]
Während ich die Antwort verhalten schweigend aufnahm, wurde am Tisch frei weiter diskutiert und die befragte Person stellte ihre ersten Ergebnisse inhaltlich vor. Meiner Ansicht nach hätte in dieser Situation eine Nachfrage meinerseits (z.B. nach Erzählstrukturen im Interview) nur Verwirrung gestiftet. [95]
Als interessant für meine Position zeigte sich, dass etwas anders gemacht wurde, als ich es aus meinem bisherigen Forschungskontext kannte. Dieses "Andere" zeigte sich in einem Verständnis von qualitativer Datenerhebung und -analyse, das dem Subjektiven des Forschungsprozesses Vorschub leistete – also der Interaktion der Forschenden mit dem Datenmaterial bei der Erhebung einerseits und der Analyse andererseits. Oder, wie LAWRENCE-LIGHTFOOT (1997, S.13) es ausdrückt: "the self of the portraitist emerges as an instrument of inquiry". Das Selbst der Forschenden wird vielfach zum Dreh- und Angelpunkt einer auf Kontext bezogenen Forschung (vgl. a.a.O., S.41ff.). In dem genannten Beispiel veranschaulicht sich dies anhand einer "Puzzletechnik" der Datenanalyse: Assoziativ und farblich gestaltet werden thematische Verbindungen hergestellt, die aus der Erzählung herausgelöst sind: eben aus Sicht der analysierenden Person. Diese tritt in Kontakt (Interaktion) mit dem zu analysierenden Datenmaterial und sortiert, stellt zusammen, verbindet und unterscheidet einzelne Aspekte. Wie HESSE-BIBER und LEAVY gerade in ihren einführenden theoretischen Standortbestimmungen verdeutlichen, geht es darum, diese Subjektivität zum Thema zu machen, sie in den Forschungsprozess zu integrieren und nicht stillschweigend – und aus ihrer Sicht damit verfälschend – einem Forschungsprojekt zu unterlegen. [96]
Meiner Auffassung nach ist mit dieser Formulierung am besten herausgestellt, worin der markanteste Unterschied zu vielen deutschsprachigen Diskursen in der qualitativen Forschung besteht: in der Explikation des Eigenen, des je Subjektiven. Das, so kann argumentiert werden, bekommt man mit methodischer Strenge in den Griff, oder mit einem "methodologischen Realismus" (OEVERMANN 1991, S.302). Methoden wie die hermeneutische Dialoganalyse, welche darauf setzt, "die Reflexivität in die Methoden selbst einzubauen" (JENSEN & WELZER 2003, Abs.58), verschreiben sich einer methodisch geleiteten Exploration des "Subjektiven" im Forschungsprozess, was einer Berücksichtigung des Erhebungskontextes von qualitativen Daten, insbesondere von Interviews, ähnlich wie HESSE-BIBER und LEAVY es schildern, nahe kommt. [97]
Man stellt sich entsprechend der Unausweichlichkeit "der Verschränktheit von Akteuren" (GARZ & KRAIMER 1994, S.9). Daraus aber ein Programm zur Forschungspraxis entstehen zu lassen, wie es durchgängig paradigmatisch bei HESSE-BIBER und LEAVY geschildert wird, kann meiner Ansicht nach keine Option sein. [98]
Ein reflektiertes Vorgehen sowohl bei der Anlage von Forschungsprojekten als auch bei der Herausbildung einer Forschungspersönlichkeit wird im deutschsprachigen Raum ebenfalls gefordert (vgl. z.B. STEINKE 2000; DRESSEL & LANGREITER 2003; JENSEN & WELZER 2003). Eine umfassende Integration interaktiver subjektiver Bedeutungsherstellung und -verarbeitung in den Forschungsprozess, wie von HESSE-BIBER und LEAVY aufgezeigt, wird hier jedoch nicht in gleicher Konsequenz durchgeführt. Es ist eben anders. [99]
In dem Buch "The Practice of Qualitative Research" von HESSE-BIBER und LEAVY kann man vom deutschsprachigen Kontext her das "Andere" entdecken. Im US-Amerikanischen Kontext wird sich dieses Buch sicherlich als ein gutes Lehrbuch etablieren, was gerade durch den klar strukturierten Aufbau der einzelnen Kapitel als Lehreinheiten Sinn macht. [100]
1) Hinzuweisen wäre an dieser Stelle allerdings auf die beiden FQS-Schwerpunktausgaben zu "Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess" (MRUCK, ROTH & BREUER 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003). Gerade unter jüngeren Wissenschaftler(inne)n haben diese Ausgaben eine große Resonanz gefunden, die von den Herausgebenden als Zeichen gesehen wurde, "dass es sich hier in der Tat um ein drängendes und herausforderndes Problem (qualitativ-) sozialwissenschaftlicher Forschung handelt" (BREUER, MRUCK & ROTH 2002, Abs.6). <zurück>
2) In dem Programm des Verlages Sage Publication ist explizit qualitative Forschung vertreten, u.a. werden die Zeitschriften "Qualitative Inquiry", "Qualitative Research" und "Qualitative Health Research" dort herausgegeben. <zurück>
3) Die Tuskegee Syphilis Studie zur Untersuchung des Verlaufs der Syphilis-Infektion beim Menschen wurde 1932 in den USA durch den United States Public Health Service (USPHS) begonnen. Über nahezu vier Jahrzehnte wurde den in die Studie einbezogenen infizierten Männern keine medizinische Behandlung gegeben, obwohl in den 1940er Jahren Antibiotika zur Verfügung standen, welche die Heilungschancen der Syphilis enorm erhöht hätten. Erst in den 1970er Jahren wurde diese Vorgehensweise von offizieller Seite her gestoppt (vgl. JONES 1993). <zurück>
4) Nonliving forms of data sind in der "Welt" vorliegende Daten, also jene, die nicht im Zusammenhang eines Forschungsvorhabens in einem interaktiven Prozess erhoben werden. Darunter fallen z.B. Werbeplakate, Filme, Bilder. <zurück>
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Wiebke LOHFELD, Dr. phil., Diplom-Pädagogin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pädagogischen Institut der Johannes Gutenberg Universität Mainz. Schwerpunkte in der Forschung sind qualitative Methoden, erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, Einzelfallstudien, Emigration, Aberkennung.
Kontakt:
Dr. Wiebke Lohfeld
Johannes Gutenberg Universität Mainz
Pädagogisches Institut
Colonel-Kleinmannweg 2
D-55099 Mainz
Tel.: 06131-3926931
E-Mail: lohfeld@uni-mainz.de
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