Volume 9, No. 1, Art. 19 – Januar 2008
Rezension:
Dirk vom Lehn
Siegfried Saerberg (2006). "Geradeaus ist einfach immer geradeaus". Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz. 303 Seiten, ISBN 13: 978-3-89669-679-3, EUR 29,00
Zusammenfassung: Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat die Soziologie die Lebenswelt von Blinden aus ihren Analysen ausgespart. Analysen von sozialen Begegnungen sind so angelegt, dass sie die visuellen und hörbaren Aspekte der Interaktion fokussieren. Sie ignorieren dagegen die Teilnahme von Blinden an der Alltagswelt und vernachlässigen die soziale Organisation von Interaktionen zwischen Blinden und Sehenden. Diese Ignoranz liegt teilweise darin begründet, dass weitgehend unbekannt ist, wie Blinde den Alltag wahrnehmen. Der blinde Soziologe Siegfried SAERBERG legt mit seinem Buch eine Untersuchung vor, die den "Wahrnehmungsstil von Blinden" herausarbeitet und mit dem von Sehenden vergleicht. Er nutzt die Erkenntnis, die er aus diesem Vergleich zieht, dazu, Interaktionen zwischen Blinden und Sehenden zu analysieren. Er stellt dar, welche Probleme blinden und sehenden Teilnehmenden in Interaktionen miteinander aus der Unterschiedlichkeit ihrer Wahrnehmungsstile erwachsen und welche Strategien sie nutzen, um diese Probleme zu lösen. Das Buch endet mit einer Diskussion der Bedeutung der Untersuchung für akademische Debatten im Bereich der Soziologie des Raumes und des Alltags und betrachtet mögliche Implikationen der Befunde für die Entwicklung einer blinden Kultur, die in einer Welt situiert ist, die derzeit weitgehend durch eine Kultur der Sehenden und deren spezifischen Wahrnehmungsstil geprägt ist.
Keywords: Blinde, Erkenntnis- und Erlebnisstil, Wahrnehmungsstil, soziale Interaktion, Mundanphänomenologie, Multimodalität, Alfred Schütz
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Basis: Wahrnehmungsstil
3. Blinder und sehender Wahrnehmungsstil
4. Soziale Begegnungen zwischen Blinden und Sehenden
5. Zeigen und Deuten
6. Die Dramaturgie des Helfens und Nach-Hilfe-Fragens
7. Perspektiven der Blindheit
8. Resümee
Die Soziologie ist weitgehend eine Wissenschaft von Sehenden für Sehende. Ihre Theorien, Methoden und Analysen befassen sich zumeist mit sozialen Beziehungen zwischen Sehenden; sie benutzen eine Sprache, die das "Sehen" und "Beobachten" von sozialen Beziehungen verkörpert. Dies spiegelt sich in LUHMANNs Beobachtungstheorie ebenso wider wie in Konzepten sozialer Interaktion, wie sie beispielsweise von GOFFMAN (1984, 1986, 1999, 2003, 2005) entwickelt wurden. Nichtsehende, blinde Teilnehmende spielen in soziologischen Theorien und Analysen kaum eine Rolle. Vielmehr verlegen sie sich auf gesellschaftliche Unterscheidungen wie gesund/krank oder behindert/normal und klammern Blindheit aus der gesellschaftlichen Normalität aus (für einige Ausnahmen siehe: GOODE 1994; LÄNGER 2002; MICHALKO 2001; SAERBERG 1990; SCOTT 1969; THIMM 1971). [1]
Die Untersuchung des blinden Soziologen Siegfried SAERBERG arbeitet diesen Unterscheidungen entgegen. Er hat mit seinem Buch eine "lebensweltliche Ethnografie" (HITZLER 1999; HONER 1993) vorgelegt, die rekonstruiert, wie Blinde Räume, in denen und auf die sie wirken, allein und in Interaktion mit anderen Teilnehmenden konstituieren. SAERBERG argumentiert, dass Blinde einen spezifischen "Wahrnehmungsstil" hätten und schlägt vor, diesen mit dem Wahrnehmungsstil von Sehenden zu vergleichen. Diese Herangehensweise erlaubt es SAERBERG, die Wahrnehmung Blinder nicht als defizitär anzusehen, sondern schlichtweg als unterscheidbar von der Wahrnehmung Sehender. Drei Fragen leiten SAERBERGs Untersuchung: wie bewährt sich der blinde Wahrnehmungsstil in sozialen Situationen, welche Probleme treten in sozialen Situationen auf, in denen blinde und sehende Wahrnehmungsstile aufeinander treffen, und wie gehen die Teilnehmenden an diesen Situationen mit diesen Problemen um. [2]
2. Theoretische Basis: Wahrnehmungsstil
SAERBERG beginnt seine Untersuchung mit einer Darstellung der von Alfred SCHÜTZ entwickelten "Theorie der Lebenswelt". In dieser Theorie untersucht SCHÜTZ die Einstellung von Akteuren gegenüber unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen und arbeitet die Strukturmerkmale dieser Einstellung, die er als "Erlebnis- und Erkenntnisstil" bezeichnet, heraus. SAERBERG gibt einen Überblick über das Konzept der Einstellung des alltäglichen Lebens, wie SCHÜTZ es in seinen "Strukturen der Lebenswelt" und einigen seiner Aufsätze (SCHÜTZ 2003; SCHÜTZ & LUCKMANN 1979) ausführt. Laut SCHÜTZ handeln Menschen im Alltag 1. "mit dem Interesse der vollen Aufmerksamkeit" (Bewusstseinsspannung); sie lassen 2. keinen Zweifel an den Gegebenheiten der Wirklichkeit aufkommen (Epoché) und greifen 3. "durch Leibbewegungen in die Aussenwelt" ein (Spontaneität); sie nehmen 4. an, dass Mitmenschen im Prinzip mit einem ähnlichen Bewusstsein ausgestattet sind, sodass intersubjektives Handeln möglich ist (Sozialität), und entwickeln 5. eine Form der Selbsterfahrung, die einerseits in eine soziale Welt eingebettet und andererseits an das Handeln des "freien" Ich gekoppelt ist (Ich-Erfahrung); 6. im alltäglichen Leben diene die Standardzeit als Orientierungsmittel, das die intersubjektive Abstimmung der Zeit ermögliche (SAERBERG S.30-35, 51-54, 63). [3]
An seine Darstellung des Erlebnisstils des Alltags anschließend zeige SCHÜTZ, wie sich in dieser Einstellung zur Wirklichkeit die räumliche, zeitliche und soziale Struktur konstituiert. SAERBERG ist insbesondere an der Struktur des Raumes in der alltäglichen Einstellung interessiert. Er stellt die Aufschichtung des Raumes dar, wie sie SCHÜTZ in verschiedenen Veröffentlichungen entwickelt hat. Im Zentrum stehe der Leib des Akteurs. Von ihm her entfalteten "sich allererst alle räumlichen Gegenstände"; von hier aus könne zwischen "Hier" und "Dort" unterschieden werden. Um den Leib herum zögen sich Zonen, die in unterschiedlicher Weise erreichbar seien. In die primäre Wirkzone könne beispielsweise unmittelbar eingegriffen werden, während der Einfluss auf die sekundäre Wirkzone die Verwendung von Technik notwendig mache. Andere Zonen seien dagegen nur potenziell erreichbar und in erlangbare Reichweite zu bringen. Indem sich Menschen über die Zeit hin durch den Raum des Alltags hindurchbewegten und in ihm handelten, entwickelten sie ein Wissen über den Raum (S.35-41). [4]
Obwohl aus den Arbeiten von SCHÜTZ hervorgehe, dass er die Sinnesmodi als Grundelemente jeder Situation und als "Grundelemente des Wissensvorrats" betrachtet (S.42, 47), habe er "die Art und Weise der sensorisch-leiblichen Wahrnehmung [...] nur in der ihm für diesen Zweck als ausreichend erscheinenden Kürze [behandelt]" (S.47). Er betrachte Wahrnehmung, so SAERBERG, als "Anwendung von Erfahrungsschemata, die in einem zeichenhaften Deutungsprozess zwischen Subjekt und Welt statthaben" (S.48). [5]
SAERBERG argumentiert, dass SCHÜTZs Mundanphänomenologie "vor der leiblich wahrnehmenden Konstitution der Erfahrung halt macht" (S.49). SCHÜTZ gebe seiner Theorie der Lebenswelt eine kognitive Wendung und blende so die Bedeutung der körperlich-leiblichen Existenz für die Erfahrung der Welt aus (S.49). SAERBERG sieht in MERLAU-PONTYs "Phänomenologie der Wahrnehmung" einen Versuch, die Leiblichkeit der Wahrnehmung zu erfassen, der für seine weitere Untersuchung von Nutzen ist. MERLAU-PONTY entwickele eine "Konzeption von Einheit und Differenz der Einzelsinne und ihrem Zusammenspiel in der Konstitution der "intersensorischen Welt" (S.55). Jeder Sinn habe eine eigene Weise der Raumkonstitution; "ein jeder Sinn im Inneren der großen eine kleine Welt" (MERLAU-PONTY 1964, S.260, zitiert nach SAERBERG, S.55). Anschließend an seine Darstellung von MERLAU-PONTYs Konzept der Sinneswahrnehmung führt SAERBERG den Begriff "Sinnesfeld" ein, der der von SCHÜTZ vernachlässigten Leiblichkeit der Wahrnehmung Rechnung tragen soll. Sinnesfelder "formen Welt und sind geformt von Welt innerhalb eines räumlichen Kontextes" (S.55). [6]
Diese Abarbeitung der theoretischen Konzepte von SCHÜTZ und MERLAU-PONTY bieten SAERBERG die Basis für die Entwicklung des Begriffs des "Wahrnehmungsstils". Mit seiner Hilfe will SAERBERG erkunden, wie Sehende und Blinde den Alltag erfahren. Anders als SCHÜTZ, der Wahrnehmung weitgehend als ein Verhalten auffasst, spricht SAERBERG von "wahrnehmendem Handeln" (S.56). [7]
Wahrnehmung werde durch das gesamte an die leibliche Existenz gekoppelte Sensorium vollzogen. Die Zusammensetzung des Sensoriums bestimme, wie das Verhältnis des Leibes zur räumlichen Umgebung gestaltet sei. Demzufolge gebe, so SAERBERG, der "Wahrnehmungsstil Blindheit" wie auch der Wahrnehmungsstil von Sehenden "eine direkte Antwort auf das sensorisch-leibliche Inmitten-Welt-Sein des Menschen" (S.57). An das spezifische "Leib-Welt-Verhältnis" anschließend entwickelten Menschen, ob sie sehen, riechen, hören können oder nicht, ein Routinewissen, das es ihnen erlaube, in ihrem Alltag zu handeln und zu interagieren. SAERBERG argumentiert, dass wir bisher nur sehr wenig darüber wissen, wie Teilnehmende diese Handlungen und Interaktionen vollziehen und sozial organisieren, und noch viel weniger über die Organisation der Handlungen und Interaktionen von Teilnehmenden, die durch unterschiedliche Wahrnehmungsstile mit dem Alltag verbunden sind. [8]
Diesen Fragestellungen geht SAERBERG mit einem Mix an Methoden nach. Der Methodenmix schließt eine Art Autoethnografie ("Beobachtende Teilnahme") ebenso ein wie Interviews, Krisenexperimente mit Sehenden in Dunkelexperimenten, Erinnerungsprotokolle und Tonaufnahmen von sozialen Interaktionen mit Sehenden. Diese Herangehensweise an seine Fragestellungen erlaubt es SAERBERG, eine spezifische Perspektive auf den Wahrnehmungsstil Blindheit zu entwickeln und zu ergründen, wie Interaktionen verlaufen, wenn Blinde auf Akteure treffen, die auf einen anderen Wahrnehmungsstil rekurrieren (S.59-85). [9]
3. Blinder und sehender Wahrnehmungsstil
Zahlreich sind die Debatten über die Bedeutung der unterschiedlichen Sinne für die menschliche Orientierung und das Wirken in dem und auf den Raum (LOEHNHOFF 2001). Der häufig theoretische Charakter dieser Debatten verstellt unglücklicherweise einen Zugang zu der Wahrnehmungspraxis, durch die die Beziehung zwischen Akteuren und Umwelt fortlaufend praktisch hergestellt wird. SAERBERGs Analyse des Wahrnehmungsstils von Blinden legt wesentliche Aspekte der Wahrnehmungspraxis offen. Anhand von Beispielen seiner Handlungs- und Orientierungspraxis zeigt SAERBERG, wie unterschiedliche Sinnesfelder an der Konstitution des Raumes, in dem Blinde handeln, beteiligt sind. Hier kann SAERBERGs Darstellung nur in Auszügen nachvollzogen werden. Doch eine genauere Lektüre seiner Darstellung lohnt sich.
"Ich stehe im Haus. Hier noch relative Stille. Fenster und Türen sind geschlossen. Nur der Kühlschrank summt links neben mir, eine Uhr tickt schräg hinter mir, eine Fliege brummt vor mir. Ich bin in einem Raum ohne Hall …" (S.90).
[…]
"Draußen ist ein völlig anderer Grundklang: Vor mir, jenseits der Balkonbrüstung, im Radius von ca. 100 Grad, der Klang der Landschaft. Nicht als kontinuierlich klanglich ausgefüllter Raum, sondern als einer mit Lücken zwischendrin. Hinter mir, die andere Hälfte des Klangfeldes, das Haus, dumpf, still, die weich klangschluckende Holzwand …" (S.91).
[…]
"Der Grundklang ist hier der eines Tales mit Weiden und Gehölzen, die Mischung aus Vögeln, vereinzelten Weidetieren, einzelnen Fahrzeugen und dem entfernten Grundbrummen des Verkehrs. Dazu das feine Echo aus der Tiefe, Stimmen von Menschen und Tieren" (S.92) [10]
Diese drei kurzen Fragmente stammen aus einem Transkript, das SAERBERG seiner Analyse der "leibzentrierte[n] Konstitution eines intersensorisch orientierten Raumes" (S.90) voranstellt. Sie illustrieren sehr schön SAERBERGs Methode sowie seine Beobachtungen und Befunde. [11]
Der Blinde1) handele in einer Welt, die er sich hörend, tastend und riechend erschließt. Er wisse jeweils, welches Sinnesfeld in welcher Art und Weise für ihn und seine Handlungen relevant sei. Von besonderer Bedeutung sei dabei das Hören (S.118-122). Anhand der Geräusche, die er wahrnimmt und vom "Grundklang" eines Raumes unterscheidet, könne er den Raum um sich herum strukturieren. Der Grundklang eines Raumes erlaube dem Blinden, "topologische Grundtypen" zu identifizieren (S.94-95). Er betrete beispielsweise einen großen schallenden Raum und erkenne an den Geräuschen um ihn herum, dass es sich um eine Bahnhofshalle handele. Aufgrund von früheren Erfahrungen wisse er, wie unterschiedliche Räume miteinander verbunden sind und wie er zur Rolltreppe und auf den Bahnsteig gelangt. [12]
Beim Gehen benutze der Blinde häufig einen sogenannten Langstock. Dieser diene ihm als "eine Art dritte Hand, die den Boden abtastet" (S.99). Der Stock sei jedoch nicht nur ein Tastinstrument, sondern werde (wie auch bestimmte Schuhe) dazu benutzt, Geräusche zu produzieren, die dem Blinden bei seiner Orientierung im Raum hülfen. Wie das Hören, so sei auch das Tasten durch eine Vielschichtigkeit charakterisiert. Getastet werde nicht nur mit der Hand oder dem Langstock, sondern auch mit den Füßen. Der Tasteindruck werde durch Empfindungen auf der Haut ergänzt, die durch Luftbewegungen hervorgerufen werden (S.114-115). [13]
Diese Luftbewegungen werden unter anderem durch "Bewegungen" anderer Passanten und Vehikel erzeugt, die dem Blinden Ressourcen für die Orientierung zur Verfügung stellten. Diese Geräuschbewegungen folgten, so SAERBERG, gewissen "Bahnen" (S.104-108), wie beispielsweise Straßen und Passagen, die dem Blinden Anhaltspunkte gäben, wo er sich befindet. [14]
SAERBERG stellt analytisch die Bedeutung der verschiedenen Sinnesfelder getrennt voneinander dar, hebt jedoch immer wieder hervor, dass Wahrnehmung durch eine Integration des Sensoriums zustandegebracht werde. Seine Analyse des blinden Wahrnehmungsstils dient ihm als Ausgangspunkt für einen Vergleich mit dem sehenden Wahrnehmungsstil. Seine Daten stammen hier aus Experimenten mit Sehenden an Dunkelveranstaltungen und aus Interviews. [15]
Diese Dunkelexperimente erinnern an GARFINKELs (1963) Krisenexperimente. SAERBERG stellt dar, dass sich die Sehenden hier nicht mehr auf ihr Alltagswissen verlassen können und zunächst hilflos der ungewohnten Umwelt ausgesetzt sind. Sie stocherten mit einem Langstock ausgestattet in der Gegend herum, bis sie allmählich Fuß fassten. Blinde hingegen hätten in Dunkelveranstaltungen keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren und würden als Führer der Sehenden eingesetzt (S.122-125). [16]
Dieser Rollentausch von Blinden und Sehenden in Dunkelveranstaltungen zusammen mit den Interviews, die SAERBERG mit Sehenden durchgeführt hat, dienen ihm als Basis für einen Vergleich des blinden und sehenden Wahrnehmungsstils. Er stellt fest, dass bei der Raumorientierung Sehender nicht-visuelle Sinnesfelder wie das Hörfeld nur eine untergeordnete Bedeutung hatten. Der optische Sinn bestimme, welche Relevanz Objekten und Ereignissen in der wahrgenommenen Umwelt zugemessen werde (S.131). Und bei Tätigkeiten, die in der "wirkenden Nahzone" ausgeführt werden, leite das Auge die Handbewegungen (S.132). Blinde hingegen benutzten hierbei die andere Hand, um beispielsweise zu vermeiden, dass sie sich beim Brotschneiden die Finger verletzen. [17]
Für meinen Geschmack überzieht SAERBERG hier sein Argument ein wenig. Seine Analyse des sehenden Wahrnehmungsstils unterschätzt die Beteiligung anderer Sinnesfelder beim Gehen und anderer Tätigkeiten. Es kann angenommen werden, dass sehende Teilnehmende die Methoden der Wahrnehmung, die sie anwenden, wenn sie sich im Alltag bewegen und in ihm wirken, in Interviews – wenn überhaupt – nur unvollständig in Worte fassen können. Detaillierte Analysen von praktischen Alltagstätigkeiten und des Verhaltens in öffentlichen Räumen, die sich visueller Methoden bedienen, können hier eventuell einen wichtigen Beitrag leisten (KNOBLAUCH, SCHNETTLER, RAAB & SOEFFNER 2006). Ebenso wäre es vielleicht angebracht, für die Erfassung des Wahrnehmungsstils Sehender ähnliche autoethnografische Methoden zu verwenden, wie sie SAERBERGs Untersuchung des blinden Wahrnehmungsstils zugrunde liegen; dies ist von SAERBERG allein natürlich nicht zu leisten. [18]
4. Soziale Begegnungen zwischen Blinden und Sehenden
In den vergangenen Jahren ist in der Soziologie und verwandten Disziplinen ein zunehmendes Interesse an der Organisation von sozialen Begegnungen zu beobachten. Eine wachsende Anzahl von Untersuchungen, die sich insbesondere auf Film- und Videoaufnahmen stützen, hat minutiös die Bedeutung körperlicher, visueller und verbaler Handlungen für die Organisation sozialer Begegnungen herausgearbeitet. Sie arbeiten die Struktur dessen heraus, was HERITAGE (1984) als "Architektur der Intersubjektivität" bezeichnet hat und zeigen, wie Teilnehmende durch Körperbewegungen oder Äußerungen eine Reziprozität der Perspektiven herstellen (z.B. ATKINSON & HERITAGE 1984; GOODWIN 1981; KENDON 1990). SAERBERG nutzt diese Untersuchungen als Ausgangspunkt für eine Analyse von sozialen Begegnungen zwischen blinden und sehenden Teilnehmenden (S.133-138). [19]
Er stellt fest, dass die Herstellung einer Reziprozität der Perspektiven in sozialen Situationen, in denen Blinde und Sehende aufeinander treffen, problematisch sei (S.179). Für Blinde sei der Raum ein "wilder Raum", "weil er konversationell noch nicht für die Bedürfnisse und Eigenarten eines Blinden kultiviert", "und das heißt in unserem Zusammenhang, nicht in wechselseitig aufeinander eingestelltem Gewohnheitswissen ritualisiert" sei (S.162). Blinde müssen zusätzliche Arbeit leisten und Strategien entwickeln, um ihre Perspektive mit der von Sehenden in Einklang zu bringen (S.163). [20]
Am Beispiel des "Nach dem Weg Fragens" arbeitet SAERBERG Strategien heraus, die Blinde anwenden, um ein Gespräch mit einem Sehenden zu initiieren, wenn ihr Ziel ist, eine Wegauskunft zu erlangen (S.170-176). Er argumentiert, dass ein Hauptproblem für Blinde darin bestehe, zunächst einmal die Aufmerksamkeit auf sich und das eigene Handlungsprojekt zu lenken. Was Sehende durch einen kurzen Blick erreichen, verlange von Blinden aufwendigere Handlungen, die von Sehenden teilweise als Tabuverletzungen angesehen werden könnten. In einigen Situationen können Blinde nahe stehende oder vorbeilaufende Teilnehmende kurz berühren und dabei eine Grußformel verwenden. In anderen Situationen können sich Blinde Passanten direkt in den Weg stellen und sie dabei durch fortlaufendes Sprechen auf das eigene Anliegen aufmerksam machen. Eine weitere Strategie blinder Akteure sei es, die Sprechrichtung an die sehender Teilnehmender anzupassen und sozusagen einen Blickaustausch zu simulieren. Diese Strategie könne nur erfolgreich sein, wenn blinde Teilnehmende sie mit verbalen Äußerungen, wie dem "andauernden Sprechen" oder "verbalen Kontaktanzeigen", verbinden. Durch andauerndes Sprechen und verbale Kontaktanzeigen versuchten Blinde, die Aufmerksamkeit Sehender auf sich zu lenken. Sie würden so produziert, dass sie, so die Hoffnung aufseiten der Blinden, von Sehenden gehört würden. [21]
SAERBERG weist darauf hin, dass Blinden noch eine Reihe anderer Strategien zur Gesprächsinitiierung zur Verfügung stünden. Welche Strategien sie jeweils anwendeten und wie sie diese zum Einsatz brächten, sei zumindest teilweise von idiosynkratischen Vorlieben abhängig (S.176). Weitere detaillierte Beobachtungen wären interessant gewesen, um nachvollziehen zu können, wie die Anwendung dieser Strategien an spezifische Situationen gekoppelt ist, und wie die Strategien von Blinden und Sehenden in und durch ihre Interaktion transformiert werden, um eine Reziprozität der Perspektiven herzustellen. Doch dies hätte wohl den Rahmen der Darstellung gesprengt. [22]
Die Herstellung der Reziprozität der Perspektiven in sozialen Situationen ist ein zentrales Problem soziologischer Interaktionsanalysen. Während sich KENDONs (2004) bekannte Untersuchungen weitestgehend auf Typen von Gesten konzentrieren, haben Analysen, die sich auf den analytischen und methodologischen Rahmen von Ethnomethodologie und Konversationsanalyse stützen, herausgestellt, wie Interaktionsteilnehmende Gesten und andere körperliche Handlungen mit dem Vollzug von verbalen Äußerungen koordinieren und dadurch Intersubjektivität in Situationen produzieren (GOODWIN 2000a; HEATH & LUFF 2000; HINDMARSH & HEATH 2000). SAERBERG weist hier exemplarisch auf die bekannten Publikationen von GOODWIN (1986, 2000b) und KITA (2003) hin. Er stellt heraus, dass in der Interaktion zwischen sehenden Akteuren das Zeigen als visuelle Ressource ein routinemäßig angewandtes Mittel ist, um ein intersubjektives Verständnis von Situationen herzustellen. Für blinde Akteure in Interaktion mit Sehenden sind diese visuellen Ressourcen ebenso wie sprachliche Demonstrativa wie "Hier" und "Dort" nutzlos. [23]
SAERBERG arbeitet eine Reihe von Strategien heraus, die Blinde und Sehende in sozialen Begegnungen anwenden, um mit dieser Inkongruenz der Orientierungsmittel umzugehen. Welche dieser Strategien jeweils zum Einsatz kommen, werde von den Teilnehmenden in Interaktion miteinander ausgehandelt. Zwei eher abrupte Strategien seien physischer Gestalt: Sehende greifen den Langstock und deuten mit ihm in die gemeinte Richtung oder drehen den Körper der Blinden in die gemeinte Richtung. Blinde dagegen verlegten sich zumeist auf explorative Verfahren. Beispielsweise deuteten sie mit der eigenen Hand in eine Richtung und drehten sich in Koordination mit verbalen Korrekturen der Sehenden; in Dunkelveranstaltungen ist dem Autor aufgefallen, dass die blinden "Führer" häufig Umgebungsgeräusche nachahmten und dadurch die sehenden Teilnehmenden in die gemeinte Richtung zu lotsen versuchten. Eine sehr erfolgreiche Strategie sei die "Begleitung", bei der Sehende Blinde von A nach B bringen (S.189-190). [24]
Die Orientierung im Raum sei, so SAERBERG, häufig an die Benutzung topologischer Typen gebunden. Diese Typen könnten entweder allgemeiner oder singulär spezifischer Art sein; sie bezeichneten also beispielsweise entweder "einen Bahnhof" oder "den Bahnhof Zoo", "ein Haus" oder "das rote Haus". Blinde und Sehende hätten einen unterschiedlichen Zugang zu der typologischen Struktur des Raumes. Obwohl beide auf diese Typologien rekurrierten, bereite ihre Verwendung in sozialen Begegnungen sehenden und blinden Teilnehmenden interaktive Probleme. Topologische Typen fänden insbesondere in Beschreibungen von Orten und Wegen Verwendung. Um jedoch Blinden eine brauchbare Beschreibung zu liefern, müssten Sehende die Art und Weise, wie Blinde die Raumstruktur konstituieren, kennen. Da eine solche alltäglich geteilte Wirklichkeit zwischen den Akteuren meist fehle, erwiesen sich intersubjektive Orientierungen im Raum als problematisch (S.192-202). [25]
Obwohl SAERBERG die Handlungsstrategien der Blinden und Sehenden sowie die Art und Weise, wie sie auf interaktive und materiale Ressourcen rekurrierten, um Wegbeschreibungen zu produzieren oder Richtungsangaben zu machen, sehr plausibel darstellt, wäre auch hier eine detailliertere Schilderung wünschenswert. Beispielsweise wäre es interessant zu erfahren, wie Blinde und Sehende diese Aushandlungsprozesse miteinander organisieren. In Ansätzen liefert der Autor dieses Detail, indem er Gesprächssequenzen analysiert. Doch diese Analysen machen zumindest mich als Leser neugierig auf mehr Details, die SAERBERG vielleicht – und hoffentlich – in Folgeveröffentlichungen liefern wird. [26]
6. Die Dramaturgie des Helfens und Nach-Hilfe-Fragens
Anhand der Analyse von Interviews arbeitet SAERBERG heraus, wie Sehende Blinde wahrnehmen. Er legt dar, dass Sehende Blinde häufig als hilfsbedürftig betrachteten. Im Alltag gehe man ihnen aus dem Weg, um sie nicht noch weiter zu behindern und helfe, wenn sie Hilfe benötigen (S.204-209). Diese Position werfe für Sehende wie für Blinde moralische Probleme auf. Sehende wollten sich nicht aufdrängen, aber gleichzeitig auch nicht als jemand angesehen werden, der oder die Hilfe verweigere; Blinde hingegen müssten sich dankbar für die Hilfe zeigen, ob sie sie angefordert haben oder nicht. Dieses moralische Dilemma lösten blinde und sehende Teilnehmende in Interaktion in der Regel so auf, dass beide ihr Gesicht wahren könnten (S.213). Dabei sei den Blinden vor allem daran gelegen, am Ende der Interaktion als kompetent und selbständig angesehen zu werden. Dies werde durch eine ostentative Lockerheit erreicht – ausgedrückt beispielsweise durch Lachen und Humor (S.218-219). [27]
Zudem zeige sich das Bestreben der Inszenierung von Selbständigkeit darin, dass Blinde die Begleitung der Führung durch Sehenden vorzögen. Begleitung und Führung sind zwei Formen der Koordination zwischen Sehenden und Blinden. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass im Falle der Führung Sehende Blinde körperlich berühren und die Geführten beobachten und durch Instruktionen weiterlotsen. Im Falle der Beleitung hingegen bleiben die Blinden selbständig, während sich beide gemeinsam durch den Raum bewegen. Zwar würden auch im Falle der Begleitung Instruktionen formuliert, doch seien sie hier mit Kommentaren und Reaktionen der Blinden verschränkt (S.197-199, 225-232). [28]
In Interaktion miteinander würden Blinde und Sehende aushandeln, wie Wegbeschreibungen und Richtungsangaben geliefert würden und ob es zu einer Begleitung oder einer Führung komme. Die Interaktionssequenzen endeten, so SAERBERG, zumeist darin, dass Sehende realisierten, welche Mittel der Kommunikation in sozialen Begegnungen mit Blinden geeignet und wie sie einzusetzen seien. Auf diese Weise werde Blindheit normalisiert. Angemessene Formen des interaktiven Umgangs zwischen Blinden und Sehenden würden entwickelt und dem Wissensvorrat hinzugefügt (S.235-241). [29]
Diese Befunde nutzt SAERBERG dazu, eine Fragestellung wieder aufzugreifen, die er zu Beginn seines Buches aufgeworfen hatte: welches sind die spezifischen Voraussetzungen der Intersubjektivität zwischen Sehenden und Blinden? Nach SAERBERG gehen Teilnehmende in sozialen Situationen in der Regel davon aus, dass sie die Umwelt in gleicher Weise wahrnehmen, obwohl dies nicht immer tatsächlich der Fall sei. Diese Annahme beruhe darauf, dass Blinde, wenn sie in Interaktion mit Sehenden treten, ihr spezifisches Routinewissen im blinden Wahrnehmungsstil auf den Wahrnehmungsstil von Sehenden abbildeten. Dadurch und durch die prinzipielle Gleichartigkeit der Bewusstseins- und Leibstruktur der Akteure entstehe sozusagen ein Bereich der Kongruenz zwischen den Wahrnehmungsstilen, die die Interaktion zwischen den beiden Teilnehmenden ermögliche (S.241-242). [30]
In den abschließenden zwei Kapiteln seines Buches vergleicht SAERBERG den Beitrag, den seine lebensweltliche Ethnografie zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Blinden und Sehenden leistet, mit dem der Untersuchung von Carolin LÄNGER (2002) und entwickelt eine Mundanphänomenologie des Raumes. [31]
In seiner Diskussion von LÄNGERs Untersuchung hebt SAERBERG verschiedentlich deren wertvollen Beitrag zur Soziologie der Blindheit hervor. Er moniert jedoch, dass sie eine Unterscheidung von "Blind-Sein" und "Sehend-Sein" aufbaue. Sie erkenne Blindheit nicht als eigenständige Sozialform an, sondern sehe sie stets in einer Welt der Sehenden verankert. Sie argumentiere, Blinde hätten keine eigene Sprache, sondern müssten stets auf eine visuelle Sprache rekurrieren. Daher bilde sich keine blindenspezifische Kultur heraus. SAERBERG hält dagegen, dass die Entwicklung einer blindeneigenen Sprache der Pragmatik des Alltags, in dem Blinde und Sehende aufeinander treffen und miteinander interagieren, entgegen liefe. Im Sinne seiner Untersuchung, die sich mit der Raumkonstitution Blinder befasst, argumentiert SAERBERG, dass die Wahrnehmung des Raumes nicht an das Sehen gebunden sei, sondern durch den jeweiligen Wahrnehmungsstil geprägt werde. Dies heißt laut SAERBERG jedoch nicht, dass die Kultur Blinder sich von Grund auf von der Sehender unterscheide, sondern dass es "[e]ine eigensinnige Blindenkultur auch geben könne, ohne dass sie sich in jedem Fall gegen die sehende Kultur" stelle (S.243-246). [32]
Die Alltagspragmatik lasse eine solche Trennung von Blind-Sein und Sehend-Sein nicht zu, handeln Blinde und Sehende doch in der gleichen Welt. In erneutem Rückgriff auf seine Untersuchungen von Dunkelveranstaltungen zeigt SAERBERG, wie Sehende die Perspektive Blinder einnehmen und Blinde quasi zu "Mobilitätstrainern" würden (S.252). Dunkelveranstaltungen erlaubten es Sehenden in Gesprächen mit Blinden, die jeweils standpunktgebundenen Relevanzen in ihren Alltag einzuordnen. Der Rollentausch von Blinden und Sehenden in Dunkelveranstaltungen verdeutliche den Teilnehmenden selbst wie auch dem Soziologen, dass in sozialen Begegnungen Intersubjektivität hergestellt werde; sie seien "nach Schütz Orte gelebter Intersubjektivität" (S.247-253). [33]
SAERBERG hatte schon zu Beginn seines Buches darauf hingewiesen, dass SCHÜTZ' Theorie der Lebenswelt die Räumlichkeit nicht als Teil des Erlebnisstils betrachte, sondern sie lediglich im Rahmen der Aufschichtung des Alltags diskutiere (S.35). In seiner Untersuchung sieht er Möglichkeiten, analog zu SCHÜTZ's Zeitanalyse (SCHÜTZ & LUCKMANN 1979; SCRUBAR 1988) eine Typisierung des Raumes zu entwickeln. Demgemäß unterscheidet SAERBERG vier Typen des Raumes: 1. Der "subjektiv innere Raum" oder "lebendige Raum" bezeichnet den Raum in aktueller Reichweite; 2. der "biografische Raum" den der aktuellen und potenziellen Reichweite, "der im Wissen um die Orte meiner Biografie besteht" (S.256) und in dem singuläre Topologien von besonderer Bedeutung sind; 3. der "soziale Standardraum", der mit allgemeinen Topologien im Wissensvorrat sedimentiert ist und 4. der "kosmische Raum", der "das Wissen um Räumlichkeit und Körperlichkeit im generellen, das Wissen und die quantitative Messbarkeit von objektiven Raumstrukturen" (S.259) meint. Diese Typologie könne, so hofft SAERBERG, den Ausgangspunkt für die Entwicklung einer "praxisbezogenen Konzeption einer materiellen Gestaltung von räumlichen Umwelten" (S.259) bieten, die die gelebte leiblich-körperliche Erfahrung in ihrer Beziehung zur sozialen Konstruktion von Raum Ernst nehme (S.260). [34]
SAERBERGs Buch schließt mit "Erzählungen und Perspektiven" blinder Akteure, die er auf Basis von Interviews in idealtypischerweise rekonstruiert hat. Diese Erzählungen sollen pointiert beschreiben, welche anderen Strategien es neben der von SAERBERG präferierten Strategie der Blindheitsinszenierung noch gibt. Sie zeigen, wie Blinde mit sozialen Begegnungen im Alltag umgehen: einige verschaffen sich unter Sehenden Respekt, andere handeln geduldig mit Sehenden Lösungen für Interaktionsprobleme aus, wieder andere sind frustriert und zornig oder entwickeln unterschiedliche "Sprachen" in der Interaktion mit Sehenden, je nachdem, ob sie mit dem Langstock oder mit dem Hund unterwegs sind, manche finden es schwierig, rücksichtsvolle und einsichtige Sehende zu finden, die angemessen mit ihnen interagieren oder weisen darauf hin, dass unterschiedliche Situationen spezifische Herangehens- und Handlungsweisen erfordern (S.262-275). [35]
In den Interviews findet SAERBERG die Ergebnisse seiner Untersuchung weitgehend bestätigt. Er argumentiert, dass diese Ergebnisse nicht nur von akademischer Bedeutung seien, sondern weiterreichende Relevanz auch für die Arbeit von Blindenorganisationen und für das Orientierungs- und Mobilitätstraining hätten. Diese Schlussfolgerungen deckten sich in Teilen mit denen von LÄNGER, die darauf hingewiesen hatte, dass das Mobilitätstraining von optischen Techniken und visuellen Erfahrungsschemata bestimmt sei (S.243). SAERBERG fordert, dass der Dominanz des sehendes Wahrnehmungsstils und dem allgemeinen Konsens, dass der blinde Wahrnehmungsstil defizitär sei, von Blindenorganisationen entgegenzusteuern sei, indem sie Sehenden den blinden Wahrnehmungsstil näher brächten. Blindheit solle nicht als Stigma und Blinde sollten nicht als von Grund auf hilfsbedürftig angesehen werden, sondern als Teilnehmende an sozialen Begegnungen. Dies sei jedoch nur möglich, wenn bei Sehenden ein Gespür dafür entwickelt werde, dass es neben dem sehenden noch andere Wahrnehmungsstile gebe. In diesem Sinne fragt er: "Warum sollten hier nicht Blinde die Lehrer Sehender sein? Denn niemand, sagt, dass immer nur Sehende – oder nennen wir sie 'Normale' – die Lehrer der sogenannten Behinderten sein müssen" (S.285). Um einen solchen Wandel der Perspektive auf das Verhältnis zwischen Blinden und Sehenden zu ermöglichen, sei es, so SAERBERG, jedoch notwendig, bei Sehenden ein Bewusstsein für nicht-visuelle Elemente der Umwelt, für auditive, taktile und olfaktorische Elemente zu schaffen. Hier könnten künstlerische Installationen und Ideen einen wichtigen Beitrag leisten. [36]
Siegfried SAERBERG hat mit seinem Buch eine lebensweltliche Ethnografie vorgelegt, die in exemplarischer Weise die Raumkonstitution blinder Menschen herausarbeitet. Die Untersuchung zeigt die spezifischen Charakteristika des blinden Wahrnehmungsstils auf und vergleicht sie mit denen eines sehenden Wahrnehmungsstils. Dieser Vergleich hilft ihm, Probleme, die in der Interaktion zwischen Blinden und Sehenden auftreten zu identifizieren und zu analysieren, welche Strategien verwendet werden, um mit diesen Problemen umzugehen. [37]
Das Buch leistet wichtige Beiträge zur soziologischen Phänomenologie und zu der zur Zeit wiedererstarkenden Soziologie des Raumes sowie zu Disability Studies und zur Soziologie der Hilfe. Neben diesen von SAERBERG selbst an verschiedenen Stellen seines Buches angesprochenen akademischen Feldern leistet seine Untersuchung, so meine ich, einen wichtigen, grundsätzlichen Beitrag zum Konzept der Multimodalität, das derzeit in Teilen der Soziologie und Gesprächsforschung Verwendung findet. Hier wird argumentiert, dass Kommunikation auf unterschiedlichen verbalen und nicht-verbalen "Kanälen" funktioniere. Diese Perspektive auf Multimodalität impliziert eine Trennung von Kommunikationsmitteln und stellt die Seite der "Produktion" von Kommunikation in den Vordergrund, obwohl Analysen natürlich immer darauf hinweisen, dass Produktion und Rezeption ineinander verschränkt sind (z.B. SCHMITT 2007). SAERBERGs Analyse des blinden Wahrnehmungsstils hingegen weist unter Einführung des Konzeptes der Sinnesfelder auf die Multimodalität der Rezeption hin, die nicht auf einer Trennung von Wahrnehmungskanälen beruht, sondern vielmehr auf der gleichzeitigen Wahrnehmung von multiplen Geräuschen, Gerüchen, Empfindungen usw. [38]
SAERBERGs Buch stellt eine vorzügliche ethnografische Untersuchung dar, die den Lesenden, soweit sie nicht selbst blind sind, neue Einsichten in Blindheit und in die Wahrnehmungsweisen Blinder vermittelt und ihr Gespür für die Komplexität der eigenen sehenden Wahrnehmung schärft. Die Erlangung von Wissen über den Wahrnehmungsstil anderer, denen wir Tag-für-Tag in unserer Alltagswelt begegnen, ist ein erster Schritt in Richtung auf eine neue, blindengerechte Kultur. Die Lektüre von SAERBERGs Buch bietet hier reichlich Material. Es wäre zu wünschen, dass diese Untersuchung einen Fortgang findet. Ihre Reichweite könnte eventuell erweitert werden, indem blinde und sehende Soziologinnen und Soziologen miteinander kooperieren, um sowohl die visuellen als auch die nicht-visuellen Aspekte von Handlungen und Interaktionen in die Analyse einzubeziehen. [39]
Das Buch ist all denjenigen zu empfehlen, die sich für eine Soziologie des Alltags und der Wahrnehmung und eine Soziologie des Raumes interessieren. Die Lesenden lernen hier über sehende Wahrnehmung mindestens ebenso viel wie über die Wahrnehmung Blinder. Es ist zu hoffen, dass das Buch nicht nur als eine hervorragende Untersuchung im Bereich der "Disability Studies" angesehen wird, sondern dass es generell in der Soziologie ein weites Publikum findet. [40]
1) Ich folge hier SAERBERGs Verwendung des männlichen Singulars, die daher rührt, dass er ja autoethnografische Methoden verwendet; er ist Forscher und Forschungssubjekt zugleich. <zurück>
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Dirk VOM LEHN (PhD.) ist Research Fellow in "Work, Interaction and Technology", einem Forschungsteam im Department of Management am King's College London. Forschungsschwerpunkte: Soziale Interaktion und Technologie, Besucher- / Rezeptionsforschung und Ausstellungsdesign, Interaktion und informelle Märkte, Ethnomethodologie, Video-basierte Ethnografie. In vorangegangenen Ausgaben von FQS hat Dirk VOM LEHN Besprechungen verfasst zu: Michaela Goll: Arbeiten im Netz. Kommunikationsstrukturen, Arbeitsabläufe, Wissensmanagement und Jörg Strübing: Pragmatistische Wissenschafts- und Technikforschung. Theorie und Methode.
Kontakt:
Dr. Dirk vom Lehn
Work, Interaction & Technology Research Group
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URL: http://www.kcl.ac.uk/wit
vom Lehn, Dirk (2007). Rezension zu: Siegfried Saerberg (2006). "Geradeaus ist einfach immer geradeaus". Eine lebensweltliche Ethnographie blinder Raumorientierung [40 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 9(1), Art. 19, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0801196.