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Volume 23, No. 1, Art. 23 – Januar 2022

Rezension:

Larissa Krainer

Andrea D. Bührmann (2020). Reflexive Diversitätsforschung. Opladen & Toronto: Verlag Barbara Budrich; ISBN: 978-3-8252-5469-8; 188 Seiten; 20€

Zusammenfassung: Um allen Ebenen, die in dem Buch verhandelt werden, nachzukommen, werden in der Rezension zunächst zentrale erkenntnistheoretische Grundlagen nachvollzogen und es wird auf methodologische Konsequenzen verwiesen, die von Andrea D. BÜHRMANN vorgebracht werden. Im Anschluss daran skizziere ich das im Buch geschilderte Praxisbeispiel in einigen Eckpunkten, ehe ich meine Leseempfehlung begründe. Abschließend umreiße ich weiterführende Konsequenzen, die im Buch (noch) nicht vollzogen erscheinen. Konkret plädiere ich für ein deutlicheres Aufgreifen ethischer Aspekte, eine stärkere transdisziplinäre Ausrichtung sowie eine höhere Aufmerksamkeit für geteilte Lern- und Reflexionsprozesse zwischen denen die forschen und denen, die "beforscht" werden.

Keywords: Diversität; Diversitätsforschung; reflexive Forschung; Methodologie; Wissenschaftstheorie

Inhaltsverzeichnis

1. Diversität als Gegenstand von (wissenschaftlicher) Reflexion

2. Erkenntnistheoretische Grundlagen

2.1 Diversität wird gemacht – selbst wenn angenommen wird, dass sie gegeben sei

2.2 Diversität wird als dispositiver Effekt wirksam

2.3 Diversität wird zur Norm und damit normal

3. Methodologische Konsequenzen

4. Forschende Praxis

5. Lektüreempfehlung

6. Weiterführende Perspektiven: Diversität als Gegenstand transdisziplinärer Reflexion und kollektiver Aufklärung

6.1 Von der Untersuchung des Normalen zur Erforschung von ethischen Normsetzungen

6.2 Transdisziplinäre Reflexionen über Diversität

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Diversität als Gegenstand von (wissenschaftlicher) Reflexion

Diversität ist seit geraumer Zeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Reflexionen geworden. Dies lässt sich sowohl an zahlreichen Monografien und Beiträgen in Fachzeitschriften ablesen als auch an unterschiedlichen Schritten der Institutionalisierung – etwa der Gründung einschlägiger Fachzeitschriften (z.B. Equality, Diversity and Inclusion oder die Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management) sowie von Instituten, die explizit der Diversitätsforschung gewidmet sind (vgl. dazu die Auflistung von Einrichtungen für Diversitätsforschung an Hochschulen in Deutschland von AUFERKORTE-MICHAELIS, LINDE & GROßI 2018). Das thematische Spektrum umfasst sowohl naturwissenschaftliche (Biodiversitätsforschung) als auch kultur- und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu Diversitätsaspekten wie Alter, Geschlecht, Ethnizität, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung/körperliche Beeinträchtigung, Klassenzugehörigkeit, Zugehörigkeit zu Minderheiten oder noch genereller Aspekte kultureller Vielfalt. Beobachtungen dazu erfolgen auf der Mikroebene von Individuen, der Mesoebene der Organisationen und der Makroebene der Gesellschaft. [1]

Andrea B. BÜHRMANN vertieft in ihrem Buch "Reflexive Diversitätsforschung" weniger einzelne Dimensionen der Diversitätsforschung als grundlegender deren Zustandekommen und Konsequenzen. Dafür wählt sie in ihrer Einführung drei wesentliche Zugänge zu Diversitätsforschung im Allgemeinen und reflexiver Diversitätsforschung im Besonderen: 1. stellt sie das Forschungsprogramm der reflexiven Diversitätsforschung, wie es an der Universität Göttingen von ihr verankert wurde, im Sinne einer umfassenden theoretischen Explikation vor; 2. illustriert sie das Vorgehen anhand einer Forschungsarbeit, die sie selbst an der University California durchgeführt hat; und 3. entfaltet sie substanzielle wissenschaftshistorische, wissenschaftstheoretische und methodologische Fundierungen für das Programm. Diversität wird nicht als empirisch vorfindbare Größe verstanden, sondern als Resultat aus unterschiedlichen Differenzierungspraktiken sowie deren Konstruktions- und Rekonstruktionsprozessen, die ebenso erfasst und analysiert werden sollen wie die unterschiedlichen Motivlagen, die zu ihnen geführt haben. Ferner besteht ein zentrales Anliegen für das Programm darin, Wissenschaft selbstreflexiv werden zu lassen, um das Bewusstsein zu schärfen, dass Forschende durch das Setzen von Kriterien der Differenz jeweils am Prozess des doing diversity mitwirken und auch deren (wissenschafts-)biografische Wege nicht ohne Konsequenzen für die jeweilige Perspektivierung des Phänomens bleiben. [2]

Im ersten umfassenderen Teil des Buchs fundiert BÜHRMANN das Forschungsprogramm der reflexiven Diversitätsforschung (Kap. 2) aus historischer, wissenschaftstheoretischer, methodologischer und methodischer Perspektive. Dafür ist, wie bereits erwähnt, die Annahme leitend, dass Diversität nicht oder jedenfalls nur bedingt als empirisch vorfindbare Evidenz vorliegt, sondern aus unterschiedlichen Motiven thematisiert, mitunter gezielt erdacht, gelegentlich auch mit Widerstand versehen wird (wobei sie jeweils auch interessiert, durch wen und weshalb dies geschieht). Insofern wird Diversität konsequent als Phänomen verstanden, "das zunächst in einem Zusammenspiel unterschiedlicher Praktiken und Elemente hervorgebracht wird" (S.12), wobei die statthabenden "Konstruktionsprozesse" (a.a.O.) "wirkliche" wie "wirksame Folgen" hätten bzw. haben könnten (S.12f.). Reflexive Diversitätsforschung soll sich allerdings nicht damit begnügen, "die Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse und Selbstverständlichkeiten zu verdeutlichen, vermeintliche Gewissheiten bzw. Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und/oder bestehende gesellschaftliche Kritik zu dokumentieren" (S.12). Darüber hinaus gehend gilt das Interesse den "Konstruktions-, De-Konstruktions- sowie Rekonstruktionsprozessen sozialer Differenzierungspraktiken" (a.a.O.) und deren praktischen Folgen. Dabei soll – als ein zentraler Kernpunkt der wissenschaftsreflexiven Positionierung – eine für Wissenschaft und Forschung herausfordernde Falle vermieden werden, nämlich selbst Differenzen einzuführen, die Diversität oder Vielfalt ausmachen und damit reale Folgen aufgrund dieser Differenzsetzung auslösen könnten. Da reflexive Diversitätsforscher*innen nicht bei der Beschreibung des Vorgefundenen stehen bleiben und neben dem gewählten Forschungsfeld bzw. der zu erforschenden Praxis auch sich selbst kritisch beobachten sollen, sind in der Lektüre des Buchs (wie auch in der vorgeschlagenen Forschungsmethode) jeweils zwei Ebenen zu unterscheiden und im Blick zu behalten. Im zweiten Hauptteil des Buchs (Kap. 3) stellt BÜHRMANN ein Forschungsprojekt vor, das sie 2014 (mit Nacherhebungen 2017 und 2019) an der und über die University of California (UC), Berkeley, CA durchgeführt hat. Im 4. Kapitel bietet sie ein umfassendes Fazit an. [3]

2. Erkenntnistheoretische Grundlagen

Zunächst werden von der Autorin drei – aus meiner Sicht – zentrale Thesen herausgegriffen, die sie im Buch als erkenntnistheoretische Grundlagen vorstellt und die für den weiteren Gedankengang in methodologischer und methodischer Hinsicht handlungsleitend erscheinen. [4]

2.1 Diversität wird gemacht – selbst wenn angenommen wird, dass sie gegeben sei

BÜHRMANN verfolgt den Grundgedanken, dass Unterschiede, die gesehen und betont werden, stärker von der Perspektive jener abhängen, die sie einführen, als von historisch konstanten Vorstellungen von Vielfalt oder gar historischen Gegebenheiten, abhängig zu seien. Diesen Grundgedanken untermauert sie mit unterschiedlichen Argumenten. Zunächst zeichnet sie in einer "archäologische[n] Skizze des Redens über Vielfalt" (Kap. 2.1.2.1) historische Linien und Argumentationsstränge der Debatten über Diversität in verschiedenen Wissenschaften nach und benennt dabei jeweils relevant gewordene Differenzierungen wie etwa jene zwischen biologischer und sozialer Diversität (S.33). Insbesondere verweist sie dabei auf Taxonomien aus biologischen Klassifikationen, die der naturwissenschaftlichen Forschung entsprungen und nicht auf Flora und Fauna beschränkt geblieben, sondern auch auf den Menschen angewandt worden seien. Damit seien zugleich grundlegende Differenzen, nach denen bis heute kategorisiert werde, gefunden worden, etwa Geschlechter oder auch Rassen. Vielfach seien solche Differenzierungen im Weiteren von Hierarchisierungen begleitet worden, wie sie sich bis heute in Rassentheorien wiederfänden. Zugleich habe man aber auch bald erkannt, dass in jeder der klassifizierten Subgruppen weitere Differenzierungen hätten vorgenommen werden können und Vielfalt auch als Potenzial zu begreifen sei, wie sich dies etwa in aktuellen Debatten zu Biodiversität oder auch zu Diversität am Arbeitsplatz wiederfinde, wo biologische Diversität um zahlreiche Aspekte sozialer Diversität ergänzt worden sei. [5]

Das erste, an verschiedenen Stellen im Buch unterschiedlich explizit geführte wissenschaftsreflexive Argument lautet dabei: Forschung hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass solche Differenzen überhaupt eingeführt und gefunden worden sind – "man unterstellte Vielfalt" (S.36) – und tue es bis heute, wie BÜHRMANN an positivistischen Perspektiven kritisiert (S.41). Je nach Blickwinkel innerhalb dieser Positionen würden sich die Differenzen allerdings ändern, als mehr oder weniger stabil bzw. veränderbar verstanden werden und Vielfalt selbst erscheine daher als ein mehr oder minder erstrebenswerter Zustand. Dieser Tradition, in der Diversität als gegeben unterstellt werde, ordnet BÜHRMANN organisationstheoretische Perspektiven zu, wie sie vielfach im Feld des Diversity Managements angewandt würden und von denen einzelne exemplarisch erwähnt werden (z.B. GARDENSWARTZ & ROWE 2008). Ergänzend verweist sie auf weitere einschlägige Überblickswerke (etwa MILLIKEN & MARTINS 1996). [6]

Dem positivistischen Diversitätsverständnis stellt BÜHRMANN ein kritisches Diversitätsverständnis gegenüber, das Diversität nicht als gegeben unterstelle und sich bewusst von ersterem abgrenze. Diese Position zeichnet sich BÜHRMANN zufolge dadurch aus, dass Diversität bestehende Machtverhältnisse widerspiegele und in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten produziert bzw. in einem Zusammenspiel unterschiedlicher Praktiken hervorgebracht werde im Sinne eines doing diversity. BÜHRMANN kritisiert in diesem Zusammenhang, dass in einem solchen Verständnis zudem Vorstellungen vorherrschten, die innerhalb einzelner sozialer Gruppierungen Homogenität unterstellten und damit letztlich Stigmatisierungen begünstigten. Dieser Perspektive ordnet BÜHRMANN etwa Critical Management Studies, Gender Studies und Queer Studies zu. [7]

2.2 Diversität wird als dispositiver Effekt wirksam

Dem dichotomen Verständnis stellt BÜHRMANN ein reflexives Diversitätsverständnis zur Seite bzw. gegenüber, in dem Diversität "als dispositiver Effekt" (S.46) bzw. "Effekt dispositiver Praktiken" (S.26) verstanden wird. Dabei greift sie sowohl auf eigene Arbeiten im Bereich der Dispositivforschung zurück, rekurriert aber grundlegend auf FOUCAULT (1978), dessen "Dispositive der Macht" in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Forschungsrichtungen als Reflexionsfolie aufgegriffen wurden und insbesondere zu Erweiterungen im Kontext der Diskursanalyse in Richtung Dispositivanalyse geführt haben (vgl. exemplarisch BÜHRMANN & SCHNEIDER 2007, 2008; JÄGER 2013; KELLER 2007; PAULUS 2015). Praktiken des Unterscheidens führten demnach zu Diversität als dispositivem Effekt, und reflexive Diversitätsforschung mache sich auf, nicht bei den jeweiligen Spezial- oder Inter-Diskursen über Diversität und deren Analyse haltzumachen. Zudem bestehe ein wichtiges Ziel darin, auch die Formen der Propagierung und Problematisierung von Diversität zu analysieren, und zwar unabhängig davon, ob Diversität als gegeben oder gemacht gedacht werde. In beiden Fällen würden nämlich real wirksame (und damit gegebene) Phänomene wie insbesondere Diskriminierung sichtbar, die stets darauf ausgerichtet sei, die einen auf- und die anderen abzuwerten, einzugrenzen und auszuschließen. [8]

2.3 Diversität wird zur Norm und damit normal

In einem umfassenden Diskurs bietet BÜHRMANN eine Skizze dessen an, wie sich Normalitäts- und Normierungsansprüche historisch entwickelt und wie sich aufgrund wachsender Notwendigkeit oder Dringlichkeit, das Andere wahrzunehmen, die Grenzen des Normalen verschoben hätten. In weiterer Folge seien diese auch in statistischer Betrachtung erweitert worden: von Protonormalismus über flexiblen Normalismus hin zu inklusivem Normalismus, was anschaulich an Normalverteilungskurven illustriert wird (S.58, 59, 66, Kap. 2.1.2.2.1). Als Fazit lässt sich mit auf den weiteren Weg nehmen: Diversität scheint immer normaler zu werden bzw. mitunter auch schon zur Norm geworden zu sein, wobei aus diesem Kapitel auch zu lernen ist, dass jedes Normalitätsverständnis wiederum ein spezifisches Diversitätsverständnis erzeugen kann. [9]

3. Methodologische Konsequenzen

Reflexive Diversitätsforschung nimmt – wie Diversitätsforschung generell – ihren Ausgangspunkt in beobachtbaren Differenzen. Dabei soll es nach BÜHRMANN allerdings weniger darum gehen, Unterscheidungen zu begründen, sondern darum, Logiken der Begründung zu erforschen und zu analysieren (S.47). Die Falle, selbst durch Forschung Differenzen einzuführen, soll durch eine kontinuierliche "Reflexion der eigenen Kriteriologie" (S.50) umschifft werden. [10]

In methodologischer Hinsicht wird in der reflexiven Diversitätsforschung das Konzept der Intersektionalität aufgegriffen, das nicht auf scheinbar klare Differenzen beschränkt ist, sondern bei dem auch deren Verschränkungen und Zusammenwirken (z.B. im Sinne von Verstärkungen durch Ethnie, Geschlecht, Alter, Integration am Arbeitsmarkt) in den Blick genommen werden (Kap. 2.2.1). In methodischer Hinsicht zeigt sich das Programm insofern flexibel, als Methoden dem Untersuchungsgegenstand, dem jeweiligen Forschungs- und Praxisfeld sowie der Fragestellung angepasst werden sollen und insbesondere plurale wie relationale Zugänge (quantitativ, qualitativ, Mixed Methods) willkommen sind, die allerdings jeweils wiederum vor und in ihrer Anwendung reflektiert werden sollten (S.80f.). [11]

Das permanente Reflektieren des eigenen forschenden Handelns wird nicht nur methodisch verankert, sondern auch wissenschaftstheoretisch fundiert, wobei auch auf historisch relevante Werke wie etwa jene von Ludwik FLECK oder Thomas KUHN Bezug genommen wird. Als Folien werden eine situative Reflexivität (Auswirkungen biografischer und disziplinärer Voraussetzungen, die Forschende mitbringen, S.86f.), eine methodische/methodologische Reflexivität (Auswirkungen des Forschungsdesigns, S.87f.) sowie eine erkenntnispolitisch-ontologische Reflexivität (Auswirkungen epistemologischer, ontologischer oder normativer Positionen, die von Forschenden vertreten werden, S.88f.) vorgeschlagen, um jeweils "'gute' Gründe für Entscheidungen im Forschungsprozess" angeben zu können (S.89). [12]

4. Forschende Praxis

Wer sich primär für Beispiele aus der Forschungspraxis interessiert, wird mit dem zweiten großen Teil des Buches – der Schilderung eines Projekts, das BÜHRMANN unter anderem während eines Gastaufenthaltes in Berkeley durchgeführt hat – bedient (Kap. 3). Das "Multi-Level-Design" der Untersuchung umfasste die folgenden Instrumente und Methoden (Kap. 3.2.2):

Die Daten wurden jeweils in Bezug auf die folgenden Dimensionen ausgewertet:

Diese "empirisch-praktische Explizierung der theoretischen Überlegungen" (S.90), die auch ausgekoppelt lesbar ist, soll hier nicht im Detail nachvollzogen werden, für Interessierte führe ich aber die aus meiner Sicht zentralen Inhalte kurz an:

5. Lektüreempfehlung

Ehe ich abschließend den Versuch unternehme, die reflexive Diversitätsforschung in einigen Aspekten weiterzudenken, soll hier eine persönliche Einschätzung der Lektüre angeboten werden, wobei diese aus der Perspektive einer philosophisch und kommunikationswissenschaftlich gebildeten, wissenschaftstheoretisch und methodologisch interessierten, inter- und transdisziplinär forschenden Wissenschaftlerin erfolgt. Hervorzuheben sind aus meiner Sicht die folgenden Blickwinkel, die im Buch ausgearbeitet werden und es empfehlenswert machen:

Mit einem Buch, in dem zugleich Programmatisches wie Pragmatisches bereitgestellt wird, muss freilich auch ein nicht zu unterschätzender Balanceakt geleistet werden:

6. Weiterführende Perspektiven: Diversität als Gegenstand transdisziplinärer Reflexion und kollektiver Aufklärung

Abschließend möchte ich zwei Gedanken ausführen, die Fragen berühren, die im Buch noch wenig behandelt erscheinen und eventuell Anregungen für eine Weiterentwicklung bieten könnten. Dies geschieht aus der Perspektive der Interventionsforschung und der Prozessethik, zumal sich mir aus der Lektüre des Buchs anregende Verbindungen und gemeinsame Entwicklungspotenziale erschlossen haben. [18]

6.1 Von der Untersuchung des Normalen zur Erforschung von ethischen Normsetzungen

Der von BÜHRMANN gebotene wissenschaftshistorische Ausflug zu Vorstellungen des Normalen erläutert anschaulich, wie sich historisch unterschiedlichste Auffassungen von Normalität ausgebreitet haben, sodass die Erkenntnis unausweichlich erscheint, dass das Normale weder historisch noch kulturell oder sozial als feststehend, sondern weit eher als kontingent begriffen werden kann. Kurz: Das Normale gibt es in dieser Lesart gar nicht, folgt man der soziologisch wissenschaftskritischen Perspektive BÜHRMANNs. Aus philosophischer Perspektive ließe sich hier allerdings noch weiter über Norm- und Wertvorstellungen, letztlich also über Ethik, nachdenken. Die Nähe zu ethischen Ansätzen, bei denen davon ausgegangen wird, dass Normen und Werte keine fixen oder vorgegebenen Klarheiten (absolute Wahrheiten) darstellen, sondern jeweils gesellschaftlich (implizit oder explizit, bewusst oder weniger bewusst) und historisch wie kulturell unterschiedlich entschieden werden, drängt sich förmlich auf. Zu nennen wäre etwa der Ansatz der Diskursethik, in der HABERMAS (1983) davon ausgeht, dass Normen und Werte die "Totalität der naturwüchsigen Geltung" (S.118) einbüßten, sobald der Charakter ihrer Setzung verstanden werde. Ähnliches wird im Ansatz der Prozessethik vorgeschlagen, in dem eine Relativierung von Normen und Werten erfolgt und Prozesse ethischer Wertsetzung als ethische Entscheidungsverfahren begriffen werden (KRAINER & HEINTEL 2010, S.52). Auch KÜNG (2006) vertritt die Auffassung, dass Normen und Werte sich "in einem höchst komplizierten, soziodynamischen Prozess im Laufe der Evolution des Menschen durch den Menschen selbst herausgebildet" (S.14) hätten. Diversität erscheint demzufolge als Norm- oder Wertvorstellung, die im Rahmen jeweils zu identifizierender Instanzen der Normvermittlung (Politik, Religion, Bildungseinrichtungen, Organisationen etc.) propagiert wird und Resultat von getroffenen Entscheidungen ist. Diskutierbar werden dann auch Aspekte des Wertewandels, dem Diversität als Wert oder gar Norm in ihrer Genese der Entwicklung, Tradierung und Veränderung ausgesetzt war und ist, sowie Praktiken der bewussten oder unbewussten, individuellen, organisationalen oder institutionellen Entscheidungsfindung auf der Mikroebene der Individuen, der Mesoebene der Organisationen und der Makroebene der Institutionen oder Gesellschaft. Mit dieser ergänzenden Perspektive könnte der Blick auch noch stärker auf den sich ändernden Einfluss traditioneller wertvermittelnder Institutionen wie etwa Kirche, Familie oder Bildungseinrichtungen gerichtet werden. [19]

6.2 Transdisziplinäre Reflexionen über Diversität

In der Lektüre des Buchs hat mich an mehreren Stellen verwundert, dass BÜHRMANN, obwohl methodologisch und methodisch selbst durch Forschung ausgewiesen (vgl. etwa BÜHRMANN & FRANKE 2018a, 2018b), wenig Bezug auf Diskurse rund um transdisziplinäre Forschung nimmt. Das reflexive Element der reflexiven Diversitätsforschung bleibt weitgehend auf die Forschenden, die Reflexion des forschenden Handelns und dessen Konsequenzen beschränkt. Ein Anliegen, dass auch die handelnden Akteur*innen im jeweiligen Forschungs- oder Praxisfeld über all die relevanten und gestellten Fragen zu reflektieren beginnen, wird – wenn überhaupt – nur implizit erkennbar. Das hat vermutlich auch damit zu tun, dass eher ein Forschen "über" Betroffene als "mit" Betroffenen (Gruppen, Organisationen) geschildert wird, auch wenn ein gewisses Eintauchen und Mitleben (z.B. in Organisationen) methodisch praktiziert wird (so etwa auch in Berkeley). Weitgehend unklar bleibt hingegen, wie mit Forschungsergebnissen in Bezug auf die Betroffenen vor Ort verfahren wird bzw. verfahren werden soll: Werden diese – wie in der partizipativen Forschung (BERGOLD & THOMAS 2012) oder der Interventionsforschung im Sinne einer Rückkoppelung der Forschungsergebnisse (KRAINER, LERCHSTER & GOLDMANN 2012, S.229f.) – mit Betroffenen in Forschungs- oder Praxisfeldern geteilt bzw. einer kommunikativen oder kollektiven Validierung durch Betroffene unterzogen, wie vielfach im Bereich der qualitativen Sozialforschung als Gütekriterium vorgeschlagen (FLICK [2007, S.493], spricht etwa von "member check")? Haben "Beforschte" das Recht, Forschungsergebnisse, die sie betreffen zu kritisieren, zu ergänzen oder richtigzustellen, wenn aus ihrer Sicht etwas missverstanden wurde? Haben sie Gelegenheit, angeregt (und eventuell auch angeleitet, moderiert) durch Forschende über ihr jeweiliges Diversitätsverständnis, ihre Praktiken und ein- wie ausgrenzenden Verfahren zu reflektieren, um selbst zu entscheiden, ob sie diese beibehalten, modifizieren oder gar revidieren möchten, wie es etwa im Design und Anliegen von Interventionsforschung nahegelegt wird (KRAINER et al. 2012, S.231f.)? Die Selbstreflexion der Forschenden ließe sich durch die Perspektive der Menschen im Praxisfeld anreichern und zu einer Vergemeinschaftung von Reflexion ausbauen. [20]

Damit eng verbunden ist das Anliegen, Wissen – und im gegenständlichen Fall auch Reflexion – nicht primär aufseiten der Forschung anzureichern und so zu einer bislang noch nicht angesprochenen möglichen Spaltung beizutragen: einem potenziellen Immer-Reflexiver-Werden der Forschung auf der einen Seite bei anhaltender Reflexionsscheu in der untersuchten Praxis auf der anderen Seite. Die Sorge gilt also einer neuerlichen Differenzsetzung, deren Einführung vermutlich nicht gewollt sein kann. [21]

Die äußerst nachvollziehbaren theoretischen, methodologischen und methodischen Überlegungen aus und zur reflexiven Diversitätsforschung bieten aus meiner Sicht ein großes Potenzial, um Prozesse kollektiver Reflexion auch in der erforschten Praxis anzustoßen, anzuregen, eventuell auch aufzubereiten. Ein (gemeinsames, transdisziplinäres) Forschen, Nachdenken und Reflektieren mit denen, über die oder über deren Organisationen geforscht wird, würde einen aufklärerischen Pfad eröffnen: Personen, Organisationen und Institutionen könnten damit beginnen, den im Buch in der Einleitung geschilderten Kernfragen selbst auf die Spur zu kommen: Was wird wann und von wem als Diversität problematisiert, welche Gruppen werden dadurch gebildet, welche Differenzen erzeugt, welche Gemeinsamkeiten gesucht, und wie werden Differenzen zu realen sozialen Ungleichheiten? Allesamt wichtige Fragen, die uns alle angehen … [22]

Literatur

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Bührmann, Andrea D. & Franke, Yvonne (2018b). Sammelbesprechung: Transdisziplinarität: Versuch einer Kartografierung des Feldes. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 19(2), Art. 22, https://doi.org/10.17169/fqs-19.2.3047 [Zugriff: 6. Januar 2022].

Bührmann, Andrea D. & Schneider, Werner (2007). Mehr als nur diskursive Praxis? – Konzeptionelle Grundlagen und methodische Aspekte der Dispositivanalyse. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 28, https://doi.org/10.17169/fqs-8.2.237 [Zugriff: 5. August 2021].

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Zur Autorin

Larissa KRAINER forscht und lehrt an der Universität Klagenfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Medien- und Kommunikationsethik, Prozessethik, Methodologie und Wissenschaftstheorie inter- und transdisziplinärer Forschung.

Kontakt:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Larissa Krainer

Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft
Universitätsstraße 65-67
A-9020 Klagenfurt

E-Mail: Larissa.Krainer@aau.at

Zitation

Krainer, Larissa (2022). Review: Andrea D. Bührmann (2020). Reflexive Diversitätsforschung [22 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 23(1), Art. 23, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-23.1.3783.

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