Volume 23, No. 1, Art. 17 – Januar 2022
Harvey Sacks (wieder-)entdecken: Methodologie, Materialien und Inspirationen
Dominik Gerst, Svenja Heuser & Maximilian Krug
Review Essay:
Robin James Smith, Richard Fitzgerald & William Housley (Hrsg.) (2020). On Sacks. Methodology, Materials, and Inspirations. London: Routledge; 225 Seiten; ISBN (Buch): 978-0-367-11103-8; ISBN (eBook): 978-0-429-02484-9
Zusammenfassung: Harvey SACKS gilt als einer der Pioniere der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Ca. 40 Jahre nach seinem Tod finden sich nun viele seiner zentralen Konzepte und Ansätze in einem Band versammelt und von Autor*innen verschiedener Generationen anhand eigener Forschung dargestellt. Somit ist der Sammelband kein klassisches Lehrbuch zum Einstieg in die ethnomethodologisch-konversationsanalytische Arbeit nach Harvey SACKS, sondern bietet einen Überblick über sein reich- und nachhaltiges Wirken in der forschungspraktischen Anwendung. Die Autor*innen des Sammelbands vereinen in 17 Beiträgen unter anderem soziologische, linguistische und didaktische Ansätze und beweisen mit ihrer interdisziplinären Ausrichtung, wie elastisch das von SACKS geprägte Forschungsprogramm nach wie vor ist. Dem Untertitel des Bandes folgend finden sich in diesem Sinne neben methodologischen Diskussionen und vielfältigen Materialsammlungen auch Inspirationen dafür, SACKS und seine Arbeiten (wieder) zu entdecken und seine Ansätze weiterzuentwickeln.
Keywords: Harvey Sacks; Ethnomethodologie; Konversationsanalyse; Membership Categorization Analysis; Praxistheorie; qualitative Methodologie; Lectures on Conversation
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Über SACKS
2. Die Beiträge des Bandes
2.1 SACKS (wieder-)entdecken
2.2 Schlüsselkonzepte
2.3 Interaktion im Zusammenspiel kategorialer und sequenzieller Ordnung
2.4 Themenvielfalt im SACKS'schen Werk
2.5 Über SACKS hinaus
3. Methodologie, Materialien, Inspirationen: drei Wege, dieses Buch zu lesen
4. Fazit
Zu den Autoren und zur Autorin
Harvey SACKS ist den Sozial- und Kulturwissenschaften vor allem als Begründer der Konversationsanalyse ein Begriff (LYNCH 2000; SIDNELL 2010). Auch als Stifter einer ethnomethodologischen, gegenstandssensiblen Forschungshaltung, d.h. einer spezifischen analytischen Mentalität, hat er den Weg in die Lehrbücher gefunden (HAVE 1990, 2004; VOM LEHN 2018). In den letzten Jahren wird er dazu immer wieder auch als Begründer der Membership Categorization Analysis (MCA) in Szene gesetzt, die je nach Perspektive als Strang der Konversationsanalyse, als Teil der Ethnomethodologie oder als eigenständiges Forschungsprogramm verstanden wird (FITZGERALD & HOUSLEY 2015; HESTER & EGLIN 1997a; HOUSLEY & FITZGERALD 2002; STOKOE 2012). Vor diesem Hintergrund bemerkenswert ist der für einen Pionier der empirischen Sozialforschung – seit jeher muss man sagen – zu konstatierende Mangel an Auseinandersetzungen mit dem SACKS'schen Werk. Die meisten Forschenden begnügen sich damit, SACKS' zentrale und mittlerweile gut bekannten Konzepte für eigene Forschungen oder die Grundlegung von Forschungsprogrammen produktiv zu machen. Tatsächlich hat es bisher nur wenige und punktuelle Versuche einer vertiefenden Diskussion und Einordnung der SACKS'schen Arbeiten gegeben: sei es zur Erhellung der Grundlagen seines Denkens, einer präziseren Positionsbestimmung gegenüber anderen prominenten Protagonist*innen der Soziologie oder auch der Linguistik, zur Rekonstruktion "werksimmanenter" Entwicklungen oder zur Exploration bisher unaufgegriffener Themen (z.B. BOVET, GONZÁLEZ MARTÍNEZ & MALBOIS 2014; COULTER 1976; FITZGERALD 2019; LLEWELLYN 2008; LYNCH 2019; LYNCH & BOGEN 1994; PSATHAS 2014; RAWLS 1989; SCHEGLOFF 1992, 1999; SILVERMAN 1998; WATSON 1994). Dies mag gewiss auch etwas mit dem (für frühe Ethnomethodolog*innen nicht unüblichen) eigenen Gebaren zu tun haben, sich bewusst theoretischer und sogar disziplinärer Einordnungen zu verweigern und zu Lebzeiten primär im Modus des praktischen Forschens in Erscheinung zu treten. Erschwerend kommt hinzu, dass SACKS aufgrund seines frühen Unfalltodes verhältnismäßig wenig publiziert hat und als maßgebliche Quelle seines Schaffens seine als "Lectures on Conversation" (im Folgenden Lectures) (SACKS 1995) publizierten Vorlesungen aus den Jahren 1964 bis 1972 gelten. Aber gerade jede neue Lektüre dieser von Gail JEFFERSON editierten Fülle an Analysen, Einlassungen, Themensetzungen, Reflexionen geht – zumindest für uns – einher mit dem Gefühl, wieder einen bisher unberührten Faden aufgreifen zu können bzw. wieder eine Verknüpfung, eine Konzeptualisierung vor Augen zu haben, die noch keine weitere Diskussion nach sich gezogen hat. [1]
Angesichts dieser Ausgangslage – noch 2019 attestierte Richard FITZGERALD (2019, S.206) ein "lack of sustained attention" insbesondere der Lectures – ist es umso erfreulicher, dass es sich Robin James SMITH, Richard FITZGERALD und William HOUSLEY mit dem Band "On Sacks. Methodology, Materials, and Inspirations" zur Aufgabe gemacht haben, die (Wieder-)Entdeckung von Harvey SACKS als innovativem Sozialforscher voranzutreiben und neue Wege der Ideenaneignung aufzuzeigen. In ihrem Band versammeln die Herausgeber Texte von disziplinär wie auch generational sehr unterschiedlich verorteten Autor*innen, für die SACKS eine zentrale Referenz darstellt. Einige der Beiträge gehen dabei auf das Panel "On Sacks" zurück, das im Rahmen der IIEMCA191) in Mannheim im Juli 2019 abgehalten wurde. [2]
In unserer Besprechung des Bandes wollen wir im Folgenden einerseits einen synoptischen Überblick geben, indem wir die einzelnen Kapitel kurz vorstellen. Andererseits wollen wir die im Untertitel des Bandes angelegten Perspektiven verfolgen und aufzeigen, welchen Beitrag der Band zur Erörterung und Weiterentwicklung methodologischer Fragen liefert, wie SACKS' Umgang mit verschiedensten Materialien als Grundlage für vertiefende Analysen thematisiert und wie gezeigt wird, welche Inspirationen SACKS für heutige Forschungen liefern kann. [3]
Im Band werden auf 225 Seiten 17 Beiträge inklusive einer Einleitung der Herausgeber versammelt. Durch die Form der Beiträge wird das Ansinnen der Herausgeber und Autor*innen widergespiegelt, sowohl den interdisziplinären Charakter der SACKS'schen Arbeiten aufzuzeigen als auch seine Produktivität für heutige Forschungen herauszustellen. In jedem der Beiträge wird die Fokussierung auf ein Thema bzw. einen Aspekt der Arbeiten von SACKS verknüpft mit der Reflexion über die eigene Entdeckungsgeschichte sowie einem Einblick in die vorangetriebene Weiterentwicklung. Abgerundet wird das Buch durch einen übersichtlich organisierten Index, durch den die Suche nach Begriffen, Konzepten und Personen erleichtert wird. Eine Gliederung nach Schwerpunkten ist anhand des Literaturverzeichnisses zunächst nicht ersichtlich, eine mögliche Lesart für die Abfolge der Beiträge wird aber in der Einleitung skizziert: Danach wird in der Einleitung wie auch in dem darauffolgenden Text (Kap. 1-2) in das Werk Harvey SACKS' sowie die Hintergründe und Ziele der Veröffentlichung eingeführt. In den folgenden vier Texten (Kap. 3-6) erörtern die Autor*innen dann Schlüsselaspekte der SACKS'schen Perspektive, bevor in fünf Texten (Kap. 7-11) das zentrale Verhältnis der kategorialen und sequenziellen Organisation von Interaktionen adressiert wird. In den darauffolgenden sechs Texten (Kap. 12-17) greifen die jeweiligen Verfasser*innen thematische Schwerpunktsetzungen in den Lectures auf. Im letzten Beitrag (Kap. 18) führt der Verfasser schließlich das Denken SACKS' auf neues Terrain. Wir orientieren uns in der folgenden Vorstellung der Beiträge an dieser Struktur. [4]
In der Einleitung konstatieren die Herausgeber ein lange währendes Rezeptionsdefizit der Arbeiten SACKS', dessen eigenständige Soziologie im Vergleich etwa mit Harold GARFINKEL und Erving GOFFMAN erst langsam als solche erkannt wird. Dabei wird SACKS als innovativer Protagonist eines Ansatzes charakterisiert, der bei gelebter Praxis, bei "seemingly trivial social phenomena" (SMITH, FITZGERALD & HOUSLEY, S.1) angesetzt habe. Entgegen einer begrifflich-konzeptuell vormodellierten Annäherung zielte SACKS auf die basale Entdeckbarkeit von Phänomenen ab. Mit dem Verweis auf den diversifizierten Materialreichtum der SACKS'schen Analysen, auf deren Grundlage der Geordnetheit der sozialen Welt nachgespürt wird, unterlaufen die Herausgeber das konventionalisierte Bild von SACKS als Begründer der Konversationsanalyse mit einem ausschließlichen Interesse an sprachlicher Interaktion. SACKS zu folgen bedeute, soziale Ordnung nicht als Produkt eines wissenschaftlichen Puzzles, sondern methodischer Praxis zu begreifen. Dies eröffne den Blick auf die kulturelle "machinery", wobei Kultur im Sinne der Maxime der "order at all points" (SACKS 1984, S.22) weder als aggregiertes Phänomen noch als Containermodell zu denken sei, sondern als "culture-in-action" (HESTER & EGLIN 1997b, S.14), d.h. kulturelle Vollzugswirklichkeit in und durch Praxis. Die Herausgeber betonen SACKS' ethnomethodologisch inspirierten Anspruch, eine andere Art des Soziologie-Betreibens zu finden, bei der Forschende die Perspektive der Teilnehmenden als kompetente Mitglieder einer Gruppe (Members) einnehmen und die Beobachtbarkeit und Erkennbarkeit als geordnetes Phänomen zentral setzen (siehe auch HAVE 2002). Daraus speist sich, was SMITH et al. (S.3) als eine "markedly 'interdisciplinary' analytic creativity" bezeichnen und was sich als Vielfalt der Zugänge, Fragestellungen, Themen, Materialien und methodologischen Reflexionen in den Veröffentlichungen von SACKS, allen voran seinen Lectures, äußert. Weil, so die Herausgeber, dieser Reichtum erst in Ansätzen erkannt, geschweige denn aufgegriffen und produktiv weiterentwickelt wird, formulieren sie den Anspruch für den vorliegenden Band, den Facettenreichtum und die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten schlaglichtartig zu erhellen. Forschende aus verschiedenen Feldern sollen zeigen, wie sie von SACKS inspiriert wurden und werden bzw. wie sich dies in gegenwärtigen Forschungen niederschlägt. Die Herausgeber verstehen den Band nicht als Einführung in das Werk von Harvey SACKS, sondern eher als eine plurivokale Erinnerung an die Originalität und Produktivität seines Schaffens und als einen Aufruf, nicht nur Aspekte des SACKS'schen Werks zu entdecken, sondern diese auch in "new directions in the analysis of communication, interaction, and everyday life more generally" (SMITH et al., S.9) zu überführen. [5]
Eine erste Standortbestimmung leistet Rod WATSON mit seinem Beitrag, in dem er seinen eigenen ethnomethodologischen Sozialisationsprozess skizziert und einen interessanten Einblick in den Formierungsprozess der Manchester School of Ethnomethodology in den 1960er und 1970erJahren gibt. Diese zeichnete und zeichnet sich durch eine dezidiert soziologische, von der Philosophie Ludwig WITTGENSTEINs beeinflusste und ethnografisch umgesetzte Ethnomethodologie aus. Zentral war hier von Beginn an ein integriertes Verständnis von Ethnomethodologie und Konversationsanalyse (siehe auch PSATHAS 2008). In diesem Zuge findet bei WATSON auch eine Bestimmung der SACKS'schen Position im Verhältnis zu GARFINKEL und der Ethnomethodologie statt, über die zentrale Aspekte des Ansatzes von SACKS skizziert werden. Das Verhältnis von SACKS und GARFINKEL thematisierend bezieht WATSON Stellung gegenüber der damals herrschenden und auch heute noch einflussreichen Deutung, wonach GARFINKEL die Theorie der Ethnomethodologie lieferte, während sich SACKS für deren Anwendung auf dem Gebiet des konversationalen Sprachgebrauchs verantwortlich zeigte. Entgegen der Zurechnung "Theorie vs. Anwendung" weist WATSON auf die geteilten Merkmale des Soziologisierens der beiden hin, die darin bestünden, eine anti-relativistische und nicht-ironische Haltung gegenüber dem "common-sense reasoning" (S.15) der Members einzunehmen. Laut WATSON gilt, darauf ein Forschungsprogramm zu gründen, das trotz radikaler Empiriegeladenheit und radikalem Kontextualismus stark konzeptuell ausgerichtet ist. Als zentral identifiziert er den Rückgriff auf die Unterscheidung von Alfred SCHÜTZ zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung (SCHÜTZ 1971 [1953], S.6f.). So stelle SACKS die Frage nach der Möglichkeit von (soziologischer) Beschreibung in Abhängigkeit vom (vorgängigen) Alltagswissen als ein fortlaufend adressiertes Problem dar. Einen Unterschied erkennt WATSON gleichwohl in der Positionierung gegenüber der Mainstreamsoziologie: Während beide einer orthodoxen Soziologie kritisch gegenüberstünden, habe GARFINKEL gerade über die Ausdeutung des konfliktären Verhältnisses zwischen der Ethnomethodologie und der konventionellen Soziologie den Kontakt aufrechterhalten. SACKS hingegen habe nur rudimentäre Teile der Soziologie – insbesondere die Chicago School – als überhaupt kritikwürdig betrachtet und ein gänzlich alleingestelltes interdisziplinäres Projekt angestrebt. Während diese Interdisziplinarität für SACKS selbst zu einem Problem geworden sei – nicht zufällig seien seine Texte vor allem in Sammelbänden erschienen, disziplinäre Journals wären kaum adressierbar gewesen – spricht sich WATSON heute vor allem für einen "inclusive spirit" (S.18) in der Rezeption aus, sodass eine stärkere Zusammenführung der einzelnen Stränge im Werk von SACKS erreicht und die Interdisziplinarität sichtbar gemacht werden könne. [6]
In den folgenden vier Beiträgen thematisieren die Autor*innen zentrale Grundpfeiler der SACKS'schen Arbeiten, wobei insbesondere das Verhältnis von SACKS zur Ethnomethodologie geklärt und ein enges Verständnis von Konversationsanalyse herausgefordert wird. Den Auftakt machen Michael MAIR und Wes SHARROCK mit ihrer Aufschlüsselung des Verhältnisses von Handlung, Bedeutung und Verstehen als zentralen Konzepten der SACKS'schen Soziologie. Diese würden bei SACKS zusammengeführt in einem ethnomethodologischen und stark von WITTGENSTEIN beeinflussten Verständnis von Praxis als methodisch erreichter, geordneter Tätigkeit, als in der Praxis angelegter Erkenn- und Beobachtbarkeit von geordneten Tätigkeiten und konkordanten "praxiologies of perception" (MAIR & SHARROCK, S.20). Dies erachten die Autoren als Alternative zu integrationistischen und reduktionistischen Bedeutungstheorien, mit denen Forschende die beobachtbaren Handlungen und Bedeutungen trennten und dann Theorien formulierten, wie diese zusammenhingen. Mit einem ethnomethodologischen Fokus auf Handlung und Bedeutung als "internally related" (S.24) erscheint für MAIR und SHARROCK Bedeutung demgegenüber nicht als theoretisches Problem der Soziologie, sondern als praktisches Problem für Handlungsbeteiligte. Eine soziologische Beschreibung ziele nach SACKS vor diesem Hintergrund darauf ab zu zeigen, wie Handlungen von und für Members beobachtbar gestaltet, wie sie als "etwas" erkannt und als Fälle von Aktivitäten behandelt würden. Die Erkennbarkeit von Dingen als Dinge solle nach SACKS folglich nicht intellektualisiert, sondern praxeologisiert werden; auf diese Weise gerate, so MAIR und SHARROCK, das geteilte Alltagswissen als Grundlage von Weltwahrnehmung in den Blick. Damit gelangen die Autoren zur Charakterisierung der von SACKS verfolgten Soziologie als "natural observational science" (LYNCH & BOGEN 1994, S.65), mit der er im Modus einer naiven und unmotivierten Beobachtung die Komponenten komplexer Aktivitäten identifizieren und ihr Zusammenwirken beschreiben wolle. Interessant ist an dieser Stelle die von MAIR und SHARROCK hervorgebrachte Warnung, dass die Soziologie mit ihrer Hinwendung zur Videoanalyse drohe, wieder zu einer "sociology of the spectator" (S.29) zu werden. Der große Verdienst von SACKS indes besteht den Autoren zufolge darin, Zugänge zum komplexen Verhältnis von Handlung, Bedeutung und Verstehen zu liefern, dieses in und durch Sprachgebrauch realisierte Zusammenspiel aufzuschlüsseln und dabei zu problematisieren, was es bedeutet, Dinge "zu sehen". [7]
Andrew P. CARLIN skizziert im nachfolgenden Beitrag den Ansatz von SACKS als Konglomerat verschiedener Prinzipien und Praktiken, die er als "Sacks's Plenum" (CARLIN, S.32) beschreibt, das insbesondere gegen eine vereinfachende Rezeption innerhalb der Konversationsanalyse als Disziplin gerichtet sei. CARLIN zeichnet nach, wie er im Rahmen der Manchester School und insbesondere durch die Weiterentwicklung der SACKS'schen Arbeiten durch WATSON für eine ethnomethodological conversation analysis sensibilisiert wurde, die sich nicht auf die Beschäftigung mit einzelnen sequenziellen und kategorialen Phänomenen herunterbrechen lasse, sondern eine "radical, real-world sociology" (CARLIN, S.33) verkörpere. Der Begriff des Plenums sei dabei von GARFINKEL geliehen und bezeichne die Lücke zwischen sozialer Ordnung und der Erklärung sozialer Ordnung, die nur durch soziologische Theorie gefüllt werden könne. SACKS bringe an dieser Stelle neben der Hinwendung zur Praxis eine Methodologie der Demonstration, ein Bündel an analytischen Prozeduren, die Herausbildung einer ethnografischen Sensibilität sowie das Changieren zwischen formalen und "quiddity-based" (CARLIN, S.34) Analysen in Stellung. Neben der Identifikation dieser Stützpfeiler der SACKS'schen Perspektive ist der Beitrag von CARLIN vor allem dann erhellend, wenn er die als "organizing devices" (S.37) bezeichneten SACKS'schen Praktiken des Beschreibens aufzählt und damit zeigt, dass SACKS seine Erklärungskraft nicht aus der analytischen Überhöhung in Form einer Etablierung von Inkongruenzperspektiven auf Phänomene gewonnen hat. Seine Erklärungskraft liegt laut CARLIN hingegen in der deskriptiven Präzision, die den maßgeschneiderten Zugängen zu Settings und Praktiken auf Augenhöhe mit den Members abgerungen werde. Die auf diese Weise aufgestellte Analyse "from within" (S.35) lasse sich, so CARLIN, gut am SACKS'schen Verständnis von Kontext ablesen. So spielten Kontexte als Setting eine Rolle, wenn sie als beobachtbare Strukturierung einer Aktivität als Teil des Phänomens von den Teilnehmenden thematisiert würden und nicht, indem sie als soziologisch heraufbeschworene Hintergrundressourcen der Analyse dienten. CARLIN schließt das Kapitel mit der Skizze eigener Arbeiten, in denen das SACKS'sche plenum mobilisiert wurde, um information work und Bibliografieren in Bibliothekskontexten ebenso wie das Warten in öffentlichen Räumen als Teil einer öffentlichen Interaktionsordnung auszuweisen. Deutlich wird hier CARLINs Lesart, nach der er die Ethnomethodologie und die Konversationsanalyse zusammendenkt und dabei der Manchester School folgt, in der SACKS vor allem im Hinblick auf die Frage nach sozialer Ordnung und die Reflexion forschungspraktischer Probleme gelesen wurde und wird. [8]
Im folgenden Beitrag rückt Jack BILMES mit der Frage nach Bedeutung in Interaktionen einen weiteren Forschungsfokus von SACKS in den Mittelpunkt. Ausgehend von der Beobachtung, dass objektive Ausdrücke zur Beschreibung von sozialen Prozessen unerreichbar seien, weil diese Begriffe selbst einer indexikalen Organisation folgten, nähert sich der Autor der Frage, wie "occasioned semantics" (BILMES, S.52), also situationsgebundene Bedeutungen, entstehen können. Die Frage sei aus ethnomethodologischer Perspektive interessant, weil dort Bedeutung als instabil gelte und für jede Situation neu ausgehandelt werden müsse. In diesem Zusammenhang diskutiert BILMES die für das Forschungsprogramm der ethnomethodologischen Konversationsanalyse immer wieder relevante Frage der Bedeutung von kulturellem Wissen als Analysegrundlage. Er zeigt in diesem Zuge, dass SACKS sowohl explizit auf kulturelles Wissen referierte als auch konstatierte, dass Kategorien keinesfalls feste Bestandteile eines kulturellen Inventars seien. Spannend an BILMES' Beitrag ist damit vor allem, dass er sich einem semantischen Problem aus pragmatischer Richtung nähert. Dazu macht er unter anderem SACKS' Ansatz der Kategorisierungsanalyse produktiv. Dieser Ansatz wird im Beitrag knapp skizziert und anhand von drei Beispieltranskripten illustriert. Neben diesem Überblick zur MCA und dem Herausarbeiten der Bedeutung dieses Ansatzes zeigt BILMES auch Grenzen und Schwächen in SACKS' Arbeiten auf, z.B. die fehlende Unterscheidung zwischen "kind of"- und "part of"-Beziehungen zwischen Kategorien (BILMES, S.49). [9]
Der Fokus auf Kategorisierungsprozesse setzt sich auch im Beitrag von Elizabeth STOKOE, Bogdana HUMA und Derek EDWARDS als Forschenden dreier Generationen fort, die sich mit der interaktiven Hervorbringung von Genderkategorien befassen. Ihre Darstellung der Weitergabe ethnomethodologisch-konversationsanalytischer Zugänge zwischen ihnen lässt sich auch als Einblick in die Etablierungs- und Rezeptionsgeschichte der SACKS'schen Arbeiten in der Sozial- bzw. diskursiven Psychologie lesen, womit der dezidiert interdisziplinäre Charakter des Ansatzes adressiert wird (siehe auch DEPPERMANN 2000). In der Verknüpfung dreier Forschungskontexte machen die Autor*innen zudem auch die Relevanz unterschiedlicher Datenquellen (z.B. Meetings, Polizeiverhöre und Telefonverkaufsgespräche) deutlich. Im Zentrum steht jeweils die Verhandlung von Kategorien der Geschlechtsidentität in Interaktionen, die – wie die Autor*innen herausstellen – keineswegs auf Geschlechtsunterschiede oder -konstruktionen reduziert werden sollte (siehe auch KARL 2012). Stattdessen könne mit einer MCA-Perspektive untersucht werden, wie Geschlechterkategorien entstehen, verwendet und verändert würden. Besonders hervorzuheben ist der Bezug zur "Scalability"-Debatte (STOKOE et al., S.70). In deren Rahmen argumentieren die Autor*innen, dass sich mithilfe größerer Datensätze die gleichen Kategorien in vergleichbaren sequenziellen Umgebungen, mit demselben Turndesign und im Rahmen der gleichen Handlungen rekonstruieren ließen. Dies werde sowohl der Analyse von Sequenzen als auch der Teilnehmendenkategorien gerecht. Entgegen der ethnomethodologischen Fokussierung auf einzelne Realisierungen seien dadurch systematische Analysen möglich. Gesellschaftlich relevant werde dieser Ansatz vor allem dann, wenn die Robustheit, aber auch die Variabilität von Genderkategorisierungspraktiken gezeigt werden könne. Das wiederum sei eine zentrale Voraussetzung für sozialen Wandel. [10]
2.3 Interaktion im Zusammenspiel kategorialer und sequenzieller Ordnung
Nachdem STOKOE et al. die produktive Verquickung von Kategorien und Sequenzialität herausgestellt haben, legen die Autor*innen des dritten großen Themenbereichs des Sammelbandes den Fokus konsequenterweise weniger auf MCA und Sequenzanalyse als separate Ansätze, sondern auf deren analytische Verschränkung. Dass beide Ansätze von SACKS zusammengedacht wurden und einander bedingen, zeigen die Autor*innen mit ihren Beiträgen im Sammelband eindrucksvoll. [11]
Im Anschluss an STOKOE et al. kommt Jessica ROBLES im ersten Beitrag des dritten Themenblocks zu dem Schluss, dass die MCA zu sozialem Wandel beitragen könne, indem Kategorien in ihrer Anwendung explizit zum Thema gemacht würden. Dazu müsse die gesellschaftliche Ebene in den Blick genommen und als Funktion bzw. Aufgabe der MCA definiert werden, nicht pauschale Urteile aus der Verwendung von Kategorien abzuleiten, sondern stattdessen Menschen einzuladen, ihre Praktiken zu beobachten. Die MCA werde somit zu einem selbstreflexiven Tool, unempirische Begriffe, Konzepte und Wissensverknüpfungen analytisch zu respezifizieren. Auf diese Weise sei es möglich, Alltagswissen darzustellen und das Präkonzept der "Normalität" und dessen moralische Einbettung aufzubrechen. SACKS' MCA könne so als Mittel verstanden werden, einen Abstand zum Forschungsgegenstand zu gewinnen, ohne sich als Forscher*in mit dem jeweils eigenen Wissen aus der Analyse zu entfernen. Ausgehend von ihrem Kerninteresse an Moral/ität in Interaktion betrachtet ROBLES in ihrem Beitrag das Phänomen normativer Erwartungen, das eng damit verzahnt sei, wie soziale Unterschiede interaktional organisiert würden. Wichtiger Aspekt hierbei sei das geteilte kulturelle Wissen, ohne das weder Interaktion noch die Analyse sozialer Handlungen möglich seien. [12]
Richard FITZGERALD führt in seinem Beitrag die enge Verzahnung von MCA und Sequenzanalyse fort. Ausgehend von einem Interaktionsverständnis als "multilayered texture" (S.95) nimmt FITZGERALD hier besonders ein von SACKS als "omni-relevance" (1995, Bd.1, S.314) beschriebenes Phänomen in den Blick. SACKS verstehe Omnirelevanz als eine mögliche Eigenschaft von Kategorien, die in Interaktionen potenziell immer relevant werden könnten. FITZGERALD rekonstruiert, wie SACKS dieses Konzept in einem mehrstufigen Prozess im Rahmen einer seiner bekannteren Analysen, einer Gruppentherapiesitzung, verdichtete. Neben dem konzeptuellen Fokus demonstriert FITZGERALD damit auch die SACKS'sche Verknüpfung von Forschung und Lehre, indem er zeigt, wie SACKS seine Rezipient*innen in Übungen durch seinen immer tiefer gehenden Analyseprozess navigierte, um einerseits analytische Probleme zu lösen und andererseits eine Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Zugänge zu bieten. Spannend an FITZGERALDs Beitrag ist neben der Analyse omnirelevanter und damit analytisch mitunter schwierig zu fassender Kategorien schließlich auch der Hinweis auf den durchscheinenden autoethnografischen Ansatz bei SACKS. Das eröffnet die Debatte innerhalb der sequenzanalytischen Forschungsgemeinschaft, inwiefern auch bei stark konventionalisierten Gegenständen und formalisierten Analysen das Weltwissen der Analysierenden eingebracht und reflektiert werden sollte. [13]
Während die bisher erwähnten Autor*innen primär an der Verbalisierung von Kategorien interessiert sind, fokussiert Lorenza MONDADA die multimodale Organisation von Teilnehmendenkategorien, also solche Kategorien, an denen sich Teilnehmende einer Interaktion orientieren, die sie interaktiv hervorbringen und denen sie so Relevanz zuschreiben. Sie adressiert explizit die sich gegenwärtig abzeichnende verstärkte Zuwendung zur Körperlichkeit von Interaktion innerhalb von Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, die nicht zu trennen sei von der Mobilisierung von videografischen Daten für derlei Studien. MONDADA leistet dabei vor allem zweierlei: Erstens betont sie die sequenzielle Hervorbringung von Kategorien, und zweitens liefert sie einen analytisch sauberen Beleg, dass eine Multimodal Membership Categorization Analysis ebenso sinnvoll wie möglich ist. Dazu betrachtet MONDADA das device einer geführten Tour, innerhalb dessen sie die membership categories mit den dazugehörenden category-bound activities als verkörperte Praktiken identifiziert. MONDADA zeigt, dass die Organisation der Kategorien besonders dann an die analytische Oberfläche tritt, wenn Interagierende sich Aktivitäten einer anderen Teilnehmendenkategorie bedienen und andere Beteiligte interaktionale Arbeit leisten müssen, um "ihre" Teilnehmendenkategorien wiederherzustellen. [14]
Ebenfalls eine multimodale Perspektive auf Interaktion einnehmend nähert sich Christian LICOPPE in seinem Beitrag der sequenziell ersten Position in Grußaktivitäten (also jenem Interaktionsbeitrag, der typischerweise einem Gegengruß als zweiter sequenzieller Position zuvorkommt). Anders als in den vorherigen Beiträgen dieses thematischen Bereichs befasst er sich nur untergeordnet mit Kategorien. Stattdessen nimmt er die Arbeiten von SACKS zu Begrüßungen auf und wendet sie auf Face-to-Screen-Interaktionen an. Auffällig sei dabei, dass es in den Daten zu mehreren Begrüßungssequenzen komme, die mit der Aushandlung wechselseitiger Wahrnehmung einhergingen. LICOPPE macht in seinem Beitrag deutlich, dass Begrüßungen nicht nur die soziale Funktion der Gesprächseröffnung erfüllten, sondern in mediatisierten Settings auch als Verfahren fungieren könnten, um mit der Anforderung einer "instantaneous materialization of a potential co-participant" (S.128) umzugehen. Während er damit aufzeigt, wie im Anschluss an SACKS komplexe "appearance events" (S.118) analysiert werden könnten, ist sein Beitrag auch interessant, weil LICOPPE die Beschäftigung von SACKS mit Begrüßungen und Konversationseröffnungen durch das Werk verfolgt und zeigt, wie sich immer wieder Fokusverschiebungen abzeichneten. Entgegen einer homogenisierenden Vorstellung "des" SACKS'schen Ansatzes legt LICOPPE damit eine Lesart der Lectures nahe, bei der Weiterentwicklungen und Fokusverschiebungen berücksichtigt werden. [15]
Elliott HOEY führt im Anschluss daran die multimodale Anwendung der SACKS'schen Sequenzanalyse fort. Einen besonderen Fokus legt er auf den von SACKS, SCHEGLOFF und JEFFERSON (1974) beschriebenen Mechanismus des Sprecher*innenwechsels. Anders als in diesem und vielen weiteren Beiträgen behandelt HOEY die Frage, mit welchen Praktiken Interagierende eben nicht zu nächsten Sprechenden würden: "how to convert 'my silence' into 'your silence'" (S.131). Neben dieser Stille ist für den Autor besonders die Organisation von (Nicht-)Verfügbarkeit und Sequenzabschlüssen relevant. HOEY zeigt also auf, wie die Abwesenheit von Sprache als eine potenzielle Grenze der Konversationsanalyse unter Rückgriff auf die frühe Forschung von SACKS dennoch sequenzanalytisch bearbeitet werden könnte. [16]
2.4 Themenvielfalt im SACKS'schen Werk
Mit den Beiträgen des vierten Themenblocks fügen die Autor*innen ein vielfältiges, aber komplementäres Mosaik thematischer Anschlussmöglichkeiten an die SACKS'schen Lectures zusammen. Sie stellen auf Basis unterschiedlichen Datenmaterials (u.a. Radio- bzw. Telefongespräche oder Klassenrauminteraktionen) die interdisziplinäre Relevanz von Kategorisierungs- und Sequenzanalysen für verschiedenste Forschungsfelder und Erkenntnisinteressen unter Beweis. Hierbei richten Susan DANBY, Sara KEEL und Ricardo MOUTINHO in ihren aufeinanderfolgenden Beiträgen den Fokus auf die Teilhabe von Kindern in Interaktionen und reflektieren eindrucksvoll Möglichkeiten und Grenzen des analytischen Zugangs zu Kind-bezogenen Kategorien aus sowohl Teilnehmenden- als auch Beobachtendenperspektive. Ausgangspunkt ist SACKS' (1995, Bd.1, S.223-266) Annahme, dass Kinder einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft einnähmen, allerdings gleichzeitig sowohl kompetente Beobachtende von als auch kompetente Interagierende in ihrer jeweiligen sozialen Umwelt seien. [17]
DANBY verfolgt in ihrem Beitrag eine qualitativ-sequenzielle Herangehensweise auf Grundlage empirischer Daten aus Erwachsenen-Kinder-Interaktionen, um die Beobachtbarkeit der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser sozialen Strukturen im Verständnis einer sogenannten "kid's culture" (GARFINKEL, GIRTON, LIVINGSTON & SACKS 1982, k.P.) zu demonstrieren. Die Autorin baut damit auf SACKS' Methodologie einer "close observation" (1984, S.25) auf, welche die Welt der Kinder mit der der Erwachsenen zusammenführe. Auf diese Weise macht sie Kindheit als soziales Konstrukt in Ablehnung von Theorien biologischer Entwicklungsphasen verstehbar und für interaktionale Analysen und deren Theoretisierung zugänglich. [18]
KEEL zieht, ebenfalls mit einem empirischen Interesse an Erwachsenen-Kind-Interaktionen im Familienkontext, die Instrumentarien der MCA heran, um die Beobachtenden-Perspektive mit der Teilnehmenden-Perspektive in Einklang zu bringen. Dabei folgt sie dem Ansatz, Kinder analytisch als kompetente Interaktionsteilnehmende zu behandeln. Auf diese Weise zeigt sie, dass Alltagskategorien wie Kind oder kindliches Verhalten (S.146f.) nur dann für Interaktionen und somit für die Analyse relevant werden, wenn die Teilnehmenden sie durch ihre Interaktionsorganisation explizit machten. Hierbei unterstreicht KEEL in ihrer Analyse von "pedagogical sequence[s]" (S.164) insbesondere das Konzept der Omnirelevanz, d.h. eine Orientierung zu jenen Kind-bezogenen Kategorien, die in der Interaktion mit Kindern ordnungsbildend wirkten, auch wenn sie nicht kontinuierlich expliziert würden. Sie lehnt die analytisch vorgeschaltete Einordnung von Erwachsenen als kompetente und Kindern als noch nicht vollständig kompetente Interaktionsteilnehmende ab, was eine Betrachtung der Interaktion und dessen, was Kinder zur Ordnungs- und Sinnbildung beitrügen, erst ermögliche. Zusammengefasst macht KEEL deutlich, welchen Beitrag SACKS zur Kritik an konventionellen Sozialisationstheorien liefert, indem Sozialisation praxeologisch und in Hinblick auf die Teilnahme kompetenter Kinder an ihren eigenen Sozialisationsprozessen betrachtet werden. [19]
MOUTINHO untersucht in seinem Beitrag Lehrer*innen-Schüler*innen Interaktionen, wobei er sich im SACKS'schen Sinne den empirischen Daten "unmotiviert" nähert. Er betrachtet die Klassenraumdaten als "'lived work' practice" (MOUTINHO, S.172), die einzig von den involvierten Interaktionsteilnehmenden hergestellt, aufrechterhalten und autark von den Analysierenden rekonstruiert werden sollten. Im Zentrum stehe dabei das Konzept des Kontextes, das von SACKS ethnomethodologisch umgedeutet worden sei. Um die Komplexität und Flüchtigkeit des in jeder Interaktion implizit oder explizit vorhandenen Kontextes wissend, legt MOUTINHO den Fokus insbesondere auf die Indexikalität von Teilnehmenden-Kategorien, also wie Teilnehmende Kontexte situativ und lokal accountable (GARFINKEL 1967, S.1) machten. Im Setting Klassenzimmer würden manche Kategorien, so MOUTINHO, situativ häufiger relevant gesetzt als andere. Dabei sage die Frequenz einer Relevantsetzung wenig über die situative Bedeutung der Kategorie für die Teilnehmenden aus. So seien zum Beispiel die im Beitrag fokussierten Kategorien Lehrkräfte und Schüler*innen omnirelevant und Teil des die Interaktion konstituierenden Kontexts, da viele – aber eben nicht alle – Handlungen für die jeweilige Kategorie "expectable" (MOUTINHO, S.173) seien. [20]
Im Anschluss daran gelangt Robin James SMITH zu einem Zugang zu und einem Umgang mit den Konzepten "space" und "place" (S.182f.). Inspiriert durch SACKS' Überlegungen zum place talk und speziell zur Ko-Konstruktion raumbezogener Kategorien, beschäftigt er sich mit der räumlichen Situiertheit von Interaktion und den daraus resultierenden räumlichen Kategorien in Aktivitäten sowie deren Wahrnehmung durch die Teilnehmenden in situ. Hierbei baut SMITH auf SACKS' verstreute Arbeiten zu Raumfragen auf, in denen er "place [as] a great vehicle for presenting an orientation to a topic" (SACKS 1995, Bd.1, S.754) verstand, was erst lokal durch die einzelnen Handlungen der Teilnehmenden hergestellt sowie als Teil ihrer sozialen Ordnung und ihres Wissens wahrnehmbar und damit rekonstruierbar werde. Den Beitrag zeichnet vor allem eine gelungene Textexegese von SACKS' Arbeiten zu Raum als interaktionsrelevanter Ressource aus. SMITH führt diesen Ansatz fort und illustriert place/setting bound activities anhand des Beispiels einer Interaktion im Straßenverkehr. [21]
Im vorletzten Beitrag des Sammelbandes widmet sich Kevin WHITEHEAD der Konstruktion von "racial categories" in Beschwerdesequenzen im Setting von "radio call-in shows" (S.198) in Südafrika. Hierbei liegt sein besonderes Augenmerk auf der Art und Weise, wie sich Beschwerende als "Insider" bzw. Mitglieder der Gruppe positionierten ("Categorizing the Categorizer", WHITEHEAD 2009), über die die Beschwerde formuliert würde. WHITEHEAD zeigt, wie über die dargestellte Zugehörigkeit zu einer Mitgliedschaftskategorie die soziale Akzeptanz einer Beschwerde erhöht werden kann. Um zu einem integrierten Verständnis für Interaktions- und Gesellschaftsordnungen zu gelangen, demonstriert er, wie die Arbeiten von SACKS zu einzelnen Sequenztypen ebenso wie spezifischen gesellschaftlich relevanten kategorialen Achsen gewinnbringend verknüpft werden könnten. Wie WHITEHEAD im Anschluss an SACKS zeigt, ist dafür erforderlich, den "'macro' social structures in the details of 'micro' interactions" (WHITEHEAD, S.204) nachzuspüren, statt diese analytisch als abgekoppelte Entitäten zu behandeln. [22]
Mit dem Beitrag von William HOUSLEY endet der Sammelband, nicht ohne zugleich eine vielversprechende Perspektive zum Aufbruch in neue analytische Gewässer aufzuzeigen. Der Autor skizziert, wie mit Rückgriff auf SACKS ein Zugang zum "doing social media" (HOUSLEY, S.208) gefunden werden könne. Mittels der SACKS'schen MCA könne der Blick auf "mundane digital practices" (a.a.O.) und sozio-technische Plattformaktivitäten gelenkt werden. Anders als in den vorherigen Beiträgen, für die Ton- oder Videoaufnahmen als Datenbasis für die analytische Arbeit herangezogen wurden, untersucht HOUSLEY die Ordnungsleistung der Teilnehmenden über digitale Accounts, sogenannte "crowd responses" (S.217), die im Kontext von Social-Media-Diskursen durch das Hervorbingen von Gegenmeinungen ihre Dynamik und Prozesshaftigkeit immer wieder aus sich selbst heraus neu generierten. Durch die Dynamik sozialer Medien würden die Weichen gestellt "to promote, propagate or ignore mundane innovations in membership categorization" (a.a.O.). HOUSLEY nimmt "racist formulations" (S.216) in den Fokus, anhand derer er die Besonderheiten der Sequenzialität und des turn-takings in der Asynchronität schriftlicher Kommunikation herausarbeitet. Der Gebrauch rassistischer Formulierungen werde von den Nachrichtenaustauschenden auf den untersuchten Plattformen als Ressource genutzt, was Analysierende mit einem "inferential apparatus for the practical deconstruction of [this] racist formulations" (a.a.O.) ausstatte. An diesem Beispiel lässt sich schließlich das Argument nachvollziehen, dass Kategorisierungsarbeit im Zentrum digitalisierter Kommunikation steht und die sozialen Medien als Labor für gesellschaftlichen Kategorienwandel fungieren können. [23]
3. Methodologie, Materialien, Inspirationen: drei Wege, dieses Buch zu lesen
Nachdem wir in der gebotenen Kürze die Beiträge des Bandes besprochen haben, wollen auf Aspekte der Zusammenstellung eingehen, die quer zur Anordnung der Beiträge liegen und dem Band seinen spezifischen Charakter geben. Das Buch trägt den Untertitel "Methodology, Materials, and Inspirations" und gibt damit noch vor der Lektüre eine interessante Eigenheit der vorliegenden Publikation preis. So verfolgen die Autor*innen der Beiträge ausgehend von den oben skizzierten Schwerpunktsetzungen den Anspruch, den Beitrag SACKS' in dreierlei Weise zu konturieren. Erstens entsteht durch die Zusammenstellung das Bild von SACKS als einem empirischen "hands-on"-Forschenden, der in fundierter Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Sozialwissenschaften eine originelle und durchaus radikale methodologische Position vorschlägt – oder besser praktiziert. Dazu greifen die Beitragenden zweitens auf einen heterogenen Fundus an empirischen Materialien zurück. Drittens wird deutlich, dass der daraus hervorgehende Ansatz elastisch genug ist, um in verschiedenen Disziplinen und mit Blick auf unterschiedlichste Forschungsgegenstände als Inspirationsquelle zu dienen. [24]
Was SACKS Leistung zur Beantwortung der Frage nach einer sozialwissenschaftlichen, oder präziser soziologischen Methodologie betrifft, zeugen die Beiträge des Sammelbands von der Suche SACKS' nach einer Beobachtungsposition gegenüber der sozialen Welt, von der aus Forschende die accountability der Praxis zum Ausgangspunkt machen und noch in der Beobachtung und Beschreibung der members methods eine Reflexion der Beobachtung und Beschreibung zweiter Ordnung einbeziehen können. Damit wird eine praxeologisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Beobachtungswissenschaft begründet. Die Autor*innen stellen einerseits die Produktivität dieses Ansatzes heraus, wie er sich in SACKS' sequenzanalytischen Studien und darauf aufbauend der ethnomethodologischen Konversationsanalyse als Forschungsprogramm erwiesen hat. Andererseits machen sie deutlich, dass SACKS selbst wesentlich darüber hinausging. Betont wird, dass im Zentrum seiner Auseinandersetzungen nicht ein genuines Interesse an Sprache, sondern an Handlung in und durch Sprachgebrauch gestanden habe. Sprache sei von SACKS als Ansammlung von Methoden und insofern als analytisches Fenster zur Welt der members methods gesehen worden. Im Grunde hat er sich damit als ein früher Praxeologe positioniert, der im Kanon praxistheoretischer Autor*innen wohl deshalb (noch) keine prominente Rolle eingenommen hat, weil sein forschungspraktischer Ansatz nicht ohne vorherige Übersetzungsleistungen theoretisch anschlussfähig gemacht werden kann. [25]
Im Sammelband führt diese Positionierung zu einer Problematisierung des rezeptionsgeschichtlich weitreichenden Umstands, dass der mit dem SACKS'schen Werk eng verknüpfte Begriff conversation die Vielfalt der Themen und Zugänge verdecke. So ist die Zusammenstellung vor allem deshalb aufschlussreich, weil die Autor*innen ein Stück weit mit der (insbesondere im deutschsprachigen Raum) etablierten konversationsanalytischen Rezeption brechen und die SACKS'sche Sequenzanalytik durch eine ebenso ausgeprägte ethnomethodologische und kategorisierungsanalytische Grundorientierung kontextualisieren. Sie werben mit ihren Beiträgen für eine integrierte Diskussion von Ethnomethodologie, Konversationsanalyse und MCA, um die Komplexität des Werks (wieder) zu entdecken. Einerseits können Forschende so zu einem adäquateren Verständnis für das vielschichtige Schaffen von Harvey SACKS gelangen und dieses andererseits für eigene Forschungen fruchtbar machen. Dazu gehört mit Blick auf die Methodologie auch, die produktiven Spannungen aufrechtzuerhalten, die bei SACKS teilweise selbst angelegt gewesen waren oder sich in der Weiterbearbeitung ergeben haben: etwa die Frage nach der Adäquatheit von Beschreibungen, das Verhältnis von kategorialer und sequenzieller Interaktionsorganisation, die Beziehung von Praxis und Beschreibung sowie das Verhältnis von In situ-Okkurrenzen gegenüber systematisch angelegten Forschungsdesigns (durch Fallkollektionen). Wird die Rezeption der SACKS'schen Arbeiten mit einbezogen, zeigen die Autor*innen aber auch, auf welche Hürden eine angestrebte Wertschätzung der Werksheterogenität treffen kann. So erweckt die Lektüre verschiedener Beiträge den Eindruck, dass zentrale Begriffe und Konzepte für verschiedene Disziplinen und Forschungskontexte durchaus unterschiedlich "bedeutsam" werden. Besonders betrifft dies wohl den Begriff der sozialen Ordnung, mit dem ganz verschiedene Ordnungsmomente bezeichnet werden. [26]
Auch was die Materialien angeht, werben die Autor*innen des Bandes für ein komplexeres Verständnis des SACKS'schen Werks. "The baby cried. The mommy picked it up" (SACKS 1995, Bd.1, S.236) ist wohl das bekannteste, aber nur eines von vielen Beispielen der Zeugnisse sozialer Interaktion, die SACKS als empirischem Zugang zu den Formen und Strukturen von Interaktion dienten und die interdisziplinäre Bekanntheit erlangten. SACKS' Auswahl empirischer Materialien war ebenso beeindruckend wie vielfältig: Von alltäglichen Beobachtungen bis hin zu medialen Zeugnissen (z.B. Zeitungsartikeln) gelang es ihm durch seine besondere analytische Mentalität, die "trivially obvious details of social life" (S.200) zugänglich zu machen, aufzuschlüsseln und zu systematisieren. Seine Archive reichten von handgeschriebenen Annotationen und Analysen von Werbungen und Postern über Feldnotizen und zufällige Beobachtungen bis hin zu Tonaufnahmen und Transkripten, wie SMITH et al. in ihrer Einleitung darlegen. Alle diese Materialien seien von ihm per se als "good enough" (S.3) behandelt und einer Untersuchung unterzogen worden. Hierbei habe SACKS seine analytische Herangehensweise als mehrschrittigen Prozess zwischen streng deskriptiver Präzision und analytischer Imagination verstanden. [27]
Die Leichtigkeit, Originalität und logische Konsistenz, mit der SACKS an jegliches Material herantrat, haben zahlreiche Forscher*innen inspiriert, und so setzen sich auch die Autor*innen in diesem Sammelband mit den unterschiedlichsten Materialien auseinander. Sie bleiben durch diese analytische Mentalität und den jeweiligen Einfluss seiner Ideen mit SACKS wie mit einem roten Faden verbunden. Sei es in der Auseinandersetzung mit empirischen Daten aus Radio-Interviews, Unterrichtssettings, Fremdenführungen oder Social-Media-Konversationen: Die Autor*innen des Sammelbandes erkennen mithilfe des gewählten SACKS'schen Zugriffs das jeweilige analytische Potenzial der Materialien an, indem sie offen, systematisch und maximal reflektiert daran herantreten. [28]
Die dritte Lesart für den Band ist die der Inspiration, die sich in den Beiträgen in Form biografischer, persönlicher und disziplinärer Rezeptionsgeschichten ausdrückt. Beinahe alle Autor*innen beginnen mit Anekdoten und Berichten darüber, wie sie zur Ethnomethodologie, Konversationsanalyse, MCA und insbesondere zu SACKS' Arbeiten gefunden haben. Auffällig sind dabei besonders die Parallelen in den Biografien. So ist zum einen der Einfluss der Manchester School of Ethnomethodology nicht von der Hand zu weisen, die gleich mehrere der Autor*innen als ihren Startpunkt angeben. Spannend ist zum anderen, dass sich nicht nur mehrere Generationen von Forscher*innen zu dem Band beigetragen haben, sondern dass dabei vielfach auch Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen adressiert werden (z.B. bei STOKOE et al.). Indem die Herausgeber diese unterschiedlichen Generationen im Sammelband vereinen, demonstrieren sie eindrucksvoll, dass das ethnomethodologisch-konversationsanalytische Forschungsprogramm auch fast 50 Jahre nach SACKS' Tod nach wie vor Nachwuchs hervorbringt. Zentral sind dabei immer noch dessen Arbeiten, die in nahezu allen Beiträgen als Hauptinspirationsquelle für die eigene Forschung genannt werden. Jeder Beitrag beinhaltet ein Transkript von SACKS, es wird eine seiner Analysen rekapituliert, ein Abschnitt aus einer der Lectures rezipiert oder ein Hinweis auf seine Materialien geliefert. [29]
In den Beiträgen des Bandes, in denen es auch darum geht, SACKS' Platz im Kontext der Entstehungsgeschichte der Ethnomethodologie zu rekonstruieren, kann der Eindruck einer Mystifizierung seiner Person als genialer und revolutionärer Visionär eines neuen Forschungsprogramms entstehen. Kontrastiert wird das immer wieder durch Hinweisen auf Punkte, die SACKS in seinen Arbeiten als vermutlich nicht relevant erachtet oder die er zu wenig berücksichtigt hat. Diese realistische Lesart von SACKS als bedeutendem, aber nicht mystifiziertem Forscher tut dem Band gut. Denn so ergeben sich neben Forschungsdesideraten vor allem auch spannende Einblicke in Kontinuitäten und Verschiebungen im Zusammenhang mit seinen Lectures und anderen Veröffentlichungen. Sichtbar wird dabei, dass SACKS intensiv mit seinen Materialien gearbeitet hat: Transkripte wurden in anderen Veröffentlichungen erweitert oder reduziert, Analysen verworfen und neue Materialien hinzugenommen. [30]
In fast allen Beiträgen des Bandes ist erkennbar, dass ethnomethodologisch und konversationsanalytisch Forschende sich vor allem aus methodischen Gründen nach wie vor oft mit Sprache im sozialen Kontext beschäftigen, aber nicht darauf beschränkt sind. Besonders nachdrücklich geschieht dies bei der Erweiterung der Datengrundlagen von Audio- zu Videoaufnahmen. Hier wandelt sich das enge Verständnis des Forschungsprogramms von Face-to-Face-Interaktion zu einer weiter gefassten Perspektive, bei der zum einen Sprache nur eine "Nebenrolle" spielt und zum anderen auch Textanalyse und kooperative Praktiken fokussiert werden. Doch auch dabei wird bei aller soziologischen, ethnomethodologischen, konversationsanalytischen und interdisziplinären Anschlussfähigkeit immer wieder die Eigenständigkeit und Originalität des ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Ansatzes betont, der zu immer neuen Auseinandersetzungen mit der Ordnung und Organisation des sozialen Lebens inspiriere. [31]
Mit dem vorliegenden Band haben die Herausgeber eine gelungene Zusammenstellung von Texten zu Aspekten des Werks von Harvey SACKS geleistet, die in dieser thematischen wie disziplinären Breite bisher ohnegleichen ist. Angesichts des in der Einleitung skizzierten Rezeptionsdefizits der Arbeiten von Harvey SACKS ist das ein Gewinn. Denn die Autor*innen schaffen es, einerseits bekannte und etablierte Themen und Perspektiven des SACKS'schen Werkes und ihre Fortführungen in unterschiedlichen Forschungskontexten darzustellen und andererseits auch weniger explorierte Anschlussmöglichkeiten aufzuzeigen – hier seien exemplarisch etwa die Multimodalität von interaktionalem Kategoriengebrauch oder Perspektiven einer kritischen Ethnomethodologie genannt. Im Hinblick auf die zunehmende Verfestigung einer Oppositionsstellung von sequenzanalytischer Konversationsanalyse und Ethnomethodologie birgt der Band wichtige Einsichten und Argumente für eine fruchtbare Reintegration. Hier ergeben sich Schnittpunkte mit jüngeren Auseinandersetzungen mit der Ethnomethodologie (BERGMANN & MEYER 2021; GERST, KRÄMER & SALOMON 2019). Positiv anzumerken ist auch, dass der MCA als drittem auf SACKS zurückgeführten Forschungsprogramm ein bedeutender Platz eingeräumt wird. [32]
Unserer Ansicht nach ist der Sammelband für Einsteiger*innen in ethnomethodologisch-konversationsanalytische Forschungen ebenso geeignet wie für Expert*innen. Die 17 teils sehr kurzen Beiträge (im Schnitt ca. 10 Seiten pro Kapitel) decken eine große Bandbreite der SACKS'schen Arbeiten ab. Der Band kann deshalb ein guter Startpunkt sein, um sich über relevante Themen bzw. Konzepte ethnomethodologischer, sequenz- und kategorisierungsanalytischer Studien zu informieren und einen Blick über den disziplinären Tellerrand zu wagen. Allerdings – und das sollte an dieser Stelle betont werden – ersetzt dieser Band keinesfalls Einführungsliteratur zur Ethnomethodologie oder Konversationsanalyse. Hintergründe und Grundannahmen werden zwar immer wieder explizit eingeführt, erfordern aber zumindest ein Grundwissen oder die Bereitschaft, sich tiefer gehend einzuarbeiten, um die fragmentarisch gehaltenen Beiträge einordnen zu können. Besonders deutlich wird das anhand der Transkriptanalysen, die aufgrund der Kürze der Beiträge häufig eher illustrativen Charakter haben. Dieses vermeintliche Manko wird aber aufgefangen, indem anstelle ausführlicher Analysen ein Update der SACKS'schen Konzepte geboten wird, das unseres Wissens in dieser kondensierten Form einmalig ist. Der Band richtet sich darum vor allem auch an Forschende als Aufruf, SACKS (neu) zu lesen. Er kann auch als Zeichen verstanden werden, dass die Auseinandersetzung mit SACKS und seinen Arbeiten in eine neue Phase eingetreten ist. Die Weichen sind mit der beginnenden Sichtung des SACKS-Archives (FITZGERALD 2019) jedenfalls gestellt. Ob das Buch tatsächlich – wie die Herausgeber als Ziel formuliert haben – als eine Art Katalysator für die Beschäftigung mit den Arbeiten Harvey SACKS' wirken kann oder eher eine Konservation "in aspic" (WATSON, S.17) darstellt, liegt indes bei den Lesenden, denen wir eine Lektüre des Bandes ausdrücklich empfehlen. [33]
1) Dabei handelt es sich um die im Zweijahrestakt stattfindende internationale Konferenz des International Institute for Ethnomethodology and Conversation Analysis (IIEMCA). Das Rahmenthema der in Mannheim stattfindenden Ausgabe im Jahr 2019 lautete Practices. <zurück>
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Zu den Autoren und zur Autorin
Dominik GERST ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen und Doktorand an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind Grenzforschung; Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, insbesondere Membership Categorization Analysis; Wissenssoziologie; qualitative Methodologie.
Kontakt:
Dominik Gerst
Universität Duisburg-Essen
Institut für Kommunikationswissenschaft
Universitätsstraße 12, 45141 Essen
E-Mail: dominik.gerst@uni-due.de
URL: https://www.uni-due.de/kowi/instikom/dgerst.php
Svenja HEUSER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften an der Universität Luxembourg. Der Fokus ihrer konversationsanalytischen Forschung liegt in der multimodalen Betrachtung von Mensch-Technik-Interaktion.
Kontakt:
Svenja Heuser
Universität Luxembourg
Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften
Porte des Sciences 11, L-4366 Esch-sur-Alzette
E-Mail: svenja.heuser@uni.lu
URL: https://wwwde.uni.lu/forschung/fhse/dsoc/people/svenja_heuser
Maximilian KRUG ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Er forscht zu interaktionalen Phänomenen der multimodalen Face-to-Face-Interaktion. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf Koordinationspraktiken multipler Aktivitäten in Theaterproben.
Kontakt:
Maximilian Krug
Universität Duisburg-Essen
Institut für Kommunikationswissenschaft
Universitätsstraße 12, 45141 Essen
E-Mail: maximilian.krug@uni-due.de
URL: https://www.uni-due.de/kowi/mukom/mkrug
Gerst, Dominik; Heuser, Svenja & Krug, Maximilian (2022). Review Essay: Harvey Sacks (wieder-)entdecken: Methodologie, Materialien und Inspirationen [33 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 23(1), Art. 17, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-23.1.3854.