Volume 23, No. 2, Art. 8 – Mai 2022
Rezension:
Veronika Rosenberger
Julia Franz & Ursula Unterkofler (Hrsg.) (2021). Forschungsethik in der Sozialen Arbeit. Prinzipien und Erfahrungen. Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit (DGSA, Band 23). Opladen: Verlag Barbara Budrich; 285 Seiten; 28€; ISBN 978-3-8474-2493-2
Zusammenfassung: In dem hier besprochenen Sammelband wird der im Jahr 2020 von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit verabschiedete Forschungsethikkodex in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt. Der Kodex gilt als ethische, an UN-Konventionen orientierte Richtlinie, um Forschende anzuleiten, in Selbstverpflichtung und -verantwortung ihre eigene Arbeit zu reflektieren und ein Unbedenklichkeitsgutachten bei einer Ethikkommission zu beantragen. Die Autor*innen besprechen in ihren Beiträgen die ethischen Prinzipien des Kodex und die durch Widersprüche entstehenden Dilemmata facettenreich, praxisnah und lösungsorientiert. Es wird ein Überblick über verschiedene Feldzugänge geboten und Orientierung zur Realisierung eines Forschungsprozesses gegeben. Eine universelle, schrittweise Anleitung für spezifische Felder wird hinsichtlich der Bandbreite möglicher Fälle der Sozialen Arbeit in der vorliegenden Publikation nicht geleistet. Stattdessen werden mit einer Fülle an anschaulichen Praxisbeispielen Möglichkeiten und Weiterentwicklungsbedarfe aufgezeigt und es wird zur Findung einer ethischen Umsetzung in den je konkreten Projekten angeleitet.
Keywords: Forschungsethik; Soziale Arbeit; qualitative Forschung; DGSA; Forschungsethikkodex, Qualitätsmerkmal; ethische Prinzipien; Professionalisierung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Neuland in der Sozialen Arbeit
2. Roter Faden: vom Allgemeinen zum Konkreten
2.1 Teil 1: Einleitung und DGSA-Forschungsethikkodex für die Soziale Arbeit
2.2 Teil 2: Perspektiven verschiedener Kodizes und Forschungsethikkommissionen
2.3 Teil 3: Erfahrungen mit ethischen Herausforderungen in der Forschungspraxis
3. Fazit: aus der Forschungspraxis für die Forschungspraxis
1. Einleitung: Neuland in der Sozialen Arbeit
Die reflexive Auseinandersetzung mit ethischen Prinzipien eines Forschungsvorhabens erhält mit Blick auf eine weiter voranschreitende Professionalisierung der Disziplin der Sozialen Arbeit zunehmende Relevanz. Einen wichtigen Schritt ist die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) gegangen, indem sie 2020 den Forschungsethikkodex für die Soziale Arbeit verabschiedete. FRANZ und UNTERKOFLER schließen mit dem Sammelband "Forschungsethik in der Sozialen Arbeit" und der Erstvorstellung des Ethikkodex der Sozialen Arbeit bzw. seiner Anwendung in Forschungsprojekten eine Lücke in der einschlägigen Literaturlandschaft. Vor meiner Besprechung des Aufbaus und der Inhalte des Buches (Abschnitt 2) sowie meiner Bewertung der Publikation (Abschnitt 3) möchte ich kurz eine thematische Einordnung in das Themenfeld vornehmen, indem der Bedarf des Kodex und des Bandes markiert wird. [1]
Durch die Zunahme von Promotionen und Forschungsprofessuren an Fakultäten der Sozialen Arbeit und der Angewandten Human- und Sozialwissenschaften an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAWs) wird zur theoretischen Fundierung Sozialer Arbeit und zur Professionsentwicklung beigetragen. Forschung wird hier zunehmend von in der beruflichen Praxis tätigen Sozialpädagog*innen durchgeführt, die ihre Berufspraxis empirisch untersuchen (HANCKEN 2020). Menschen und deren Lebensbereiche stehen dadurch im Zentrum des Forschungshandelns, was die Notwendigkeit der ethischen Reflexion impliziert. Die Vorlage einer Unbedenklichkeitsbescheinigung durch eine Ethikkommission ist vermehrt Voraussetzung, um (international) sozialwissenschaftlich publizieren zu können. Durch eine solche Verfahrensprüfung soll gewährleistet werden, dass Forschende im Vorfeld der Durchführung der eigentlichen Studie eine potenzielle Schädigung der Teilnehmenden sowie datenschutzrechtlicher Belange reflektieren. Auch für den Erhalt von Fördermitteln muss in vielen Fällen ein von einer Ethikkommission ausgestelltes Votum eingereicht werden (RAT FÜR SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSDATEN [RATSWD] 2017). In den Bezugsdisziplinen der Sozialen Arbeit wie der Soziologie oder der Psychologie existieren bereits seit mehreren Jahren standardisierte Forschungsethikkodizes mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen (a.a.O.). Die DGSA hat durch die Entwicklung eines sozialwissenschaftlichen Kodex Neuland beschritten, indem sie Forschenden der Sozialen Arbeit ein Instrument zur Reflexion und prozesshaften Auseinandersetzung mit ethisch bedenklichen Punkten ihrer Tätigkeit bereitstellt. Wie der Kodex selbst soll der hier besprochene Band zur ethischen Orientierung für Wissenschaftler*innen und Fördermittelgebende dienen, die während des gesamten Forschungsprozesses zur stetigen Reflexion herangezogen werden können. [2]
2. Roter Faden: vom Allgemeinen zum Konkreten
"Forschungsethik in der Sozialen Arbeit" ist aus einer Arbeitstagung in Würzburg im Jahr 2019 hervorgegangen. Neben einem Vorwort, einer Einleitung und dem abschließenden Autor*innenverzeichnis ist das Werk in drei Teile gegliedert: Der erste Teil besteht aus zwei Fachbeiträgen und ist dem DGSA-Forschungsethikkodex gewidmet. Im zweiten Teil werden in fünf Aufsätzen die Perspektiven verschiedener Kodizes und Ethikkommissionen diskutiert. Im abschließenden dritten Teil wird ein detaillierter Einblick in die Umsetzung in verschiedenen Untersuchungen geboten. Insgesamt umfasst der Band auf 285 Seiten 20 Aufsätze. [3]
Der Aufbau des Buches folgt einem roten Faden. So werden Leser*innen schrittweise tiefer in die Thematik eingeführt, und die zuvor erörterte Theorie wird durch Forschungsbeispiele veranschaulicht. Gleichzeitig gibt es explizite Bezüge zwischen den Beiträgen, auf die in Fußnoten hingewiesen wird. An mehreren Stellen werden partizipative Verfahren als Möglichkeit der Prävention ethischer Probleme von verschiedenen Blickrichtungen aus thematisiert. In dem Sammelwerk wird der Ethikkodex auf gehaltvolle Art und Weise facettenreich behandelt. [4]
2.1 Teil 1: Einleitung und DGSA-Forschungsethikkodex für die Soziale Arbeit
In der Einleitung nehmen die Herausgeberinnen FRANZ und UNTERKOFLER Bezug auf die Hintergründe des Forschungsethikkodex der DGSA. Der Kodex wird als allgemeingültige Richtlinie bezeichnet: "Ein allgemein gehaltener, universal geltender Forschungsethikkodex [...] geht davon aus, dass die aufgenommenen Prinzipien für jegliche Forschung der Sozialen Arbeit relevant sind" (S.13). Demnach seien keine zielgruppen- und feldspezifischen Konkretisierungen, z.B. für wissenschaftliche Untersuchungen mit Kindern, vorgesehen. Nach einem Überblick über die einzelnen Beiträge des Bandes folgt im ersten Teil ein Beitrag von KÖTTIG, THIESSEN, KUBISCH, BORRMANN, RÖH, SPATSCHECK und STECKELBERG, in dem die prozesshafte Entwicklung des Kodex thematisiert und damit verbundene Herausforderungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Die im Kodex enthaltenen Ethikprinzipien seien nicht als abschließend ausformuliert zu verstehen, sondern dienten als "State of the Art" (S.35), von dem aus eine stetige prozesshafte Weiterentwicklung gewollt sei. Anschließend bieten KÖTTIG et al. eine differenzierte Übersicht über den Forschungsethikkodex mit seiner Präambel und seinen einzelnen ethischen Prinzipien. In Fußnoten finden sich weitergehende Erklärungen und anschauliche Beispiele. So wird beispielsweise vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Prinzip des informed consent der Hinweis gegeben, dass Forschende unter Umständen auch Audioaufzeichnungen zur Einwilligung anfertigen könnten und nicht zwingend ein schriftliches Einverständnis erforderlich sei. [5]
KÖTTIG et al. orientieren sich bei den konkreten Umsetzungen der Prinzipien an den Empfehlungen der DEUTSCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT (2019). Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Kodex werden aktuell geltende rechtliche Vorschriften berücksichtigt, allerdings bleibt die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) unerwähnt; diese gilt seit 2018 EU-weit als vorrangig zu beachtende Norm und dient einer europaweiten Vereinheitlichung der Rechtsprechung (BUNDESBEAUFTRAGTE FÜR DEN DATENSCHUTZ UND DIE INFORMATIONSFREIHEIT 2020). Die datenschutzrechtlichen Verpflichtungen, deren Missachtungen zu hohen Strafen für Forschende führen können, sind zwangsläufig in den ethischen Prinzipien angeführt (RATSWD 2020, S.7f.). Eine Erwähnung der DSGVO mit Blick auf das Prinzip des Schutzes der Wissenschaftler*innen wäre aus meiner Perspektive wünschenswert (siehe Abschnitt 4). [6]
2.2 Teil 2: Perspektiven verschiedener Kodizes und Forschungsethikkommissionen
Der zweite Teil des Sammelbands erfüllt, was mit dem Titel "Perspektiven auf Forschungsethikkodizes und Forschungsethikkommissionen" versprochen wird. STROM, eine US-amerikanische Ethikprofessorin, kommentiert den Kodex der DGSA, der auch in englischer Sprache erschienen ist. Sie erläutert die Notwendigkeit einer mutigen und integren Vorgehensweise für Forschende, die unerschrocken Theorien testen und auch zu Misserfolgen aufrichtig stehen sollten und sieht dies im Kern des Kodex umgesetzt. WEBER begründet im Weiteren unter Bezugnahme auf einzelne Artikel des Grundgesetzes die Verantwortung von Wissenschaftler*innen und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit ethischen Prinzipien. Weiterhin betont er, es sei wichtig, Forschungsanträge bei Ethikkommissionen zu stellen. Ausführlich gibt er über die (Nicht-)Aufgaben der Ethikkommissionen Auskunft und verdeutlicht mittels zweier Abbildungen das Verhältnis zwischen Forschungsethos, Berufsethos und dem normativen Geltungsanspruch Sozialer Arbeit. WEBER konstatiert Differenzen zwischen Forschungs- und Berufspraxis, die sich durch unterschiedliche Zielsetzungen und einen Überprüfungsauftrag der Praxis durch die Wissenschaft ergeben könnten. Weiterhin bewertet er den Prozess der Forschung als einen Lernprozess, "[in dem] der bisher zugrunde gelegte Ethikkodex und die entsprechenden Ethik-Richtlinien ihre fortwährende Bewährungsprobe [erhalten]" (S.77). LOB-HÜDEPOHL weist im anschließenden Beitrag darauf hin, dass Ethikkommissionen in der Sozialen Arbeit in ihren Gutachten Empfehlungen aussprächen und keiner gesetzlichen Richtlinie folgten, wie dies in anderen Disziplinen die Regel sei. Die Umsetzung der Handlungsleitlinien sei Aufgabe der Forschenden, Drittmittelgeber*innen könnten jedoch ihre finanzielle Bezuschussung bei einem Bedenklichkeitsbescheid einer Ethikkommission einstellen. Er gibt auch eine knappe Beispielformulierung für einen Antrag. [7]
RIEMANN wirft eine kritische Perspektive auf den Forschungsethikkodex, indem er die praktische Ausgestaltung einzelner Passagen reflektiert. So beanstandet er das Leitprinzip der informationellen Selbstbestimmung, nach dem "nicht mehr Daten erhoben werden [sollen] als für das Forschungsziel erforderlich" (DGSA, S.43). RIEMANN argumentiert mit der Grounded-Theory-Methodologie (GLASER & STRAUSS 1967), bei dem mit der Datenerhebung das Prinzip der Offenheit vertreten werde, um induktiv Theorien bilden zu können. Im Falle von narrativen Interviews nach SCHÜTZE (1983) erfolge durch Erzählaufforderungen die Erhebung von Daten, die im Vorfeld von den Forschenden aufgrund der Strategie der Grounded-Theory-Methodologie nicht intendiert gewesen seien. Weiterhin mahnt RIEMANN vor unbeabsichtigten Auswirkungen der aufgestellten Prinzipien des Ethikkodex und potenziellen Konsequenzen für die Ethikkommission. Durch die standardisierten Leitlinien des Kodex sieht er die Möglichkeit einer Kontrollfunktion und einer Bürokratisierung von Abläufen, die die eigentliche wissenschaftliche Arbeit verkompliziere und Wissenschaftler*innen abschrecken könne. Er befürwortet eine tiefergehende Vermittlung von Wissenschaftskompetenzen an Studierende in Ausbildungsstätten. Den Abschluss des zweiten Teils des Buches bildet ein Beitrag von GRAUMANN, der der Forschung in der Sozialen Arbeit eine große gesellschaftliche Bedeutung zumisst, allerdings sei ihr Anteil aufgrund institutioneller Hindernisse und häufig fehlender finanzieller Förderung im Vergleich zu anderen Professionen vergleichsweise gering: Sozialarbeitsforschung finde insbesondere an HAWs statt, der Schwerpunkt von HAW-Professor*innen liege jedoch oft auf der Lehre, sodass wenig Zeit für die Wissenschaft bleibe. [8]
2.3 Teil 3: Erfahrungen mit ethischen Herausforderungen in der Forschungspraxis
Von Erfahrungen in der Forschungspraxis berichtet HÖBLICH am Anfang des dritten Teils. Bei ihrer Studie zu minderjährigen lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* oder queeren (LSBT*IQ-) Kindern und Jugendlichen habe sich ein Dilemma zwischen der Beteiligung der Adressat*innengruppe am Projekt und dem gleichzeitigen Schutzauftrag ergeben. Die Minderjährigkeit mehrerer potenzieller Teilnehmer*innen habe eine Einwilligung der sorgeberechtigten Personen erforderlich gemacht. Ein damit verbundenes Outing der sexuellen Ausrichtung einzelner Personen vor den Eltern sei mit einem erhöhten Risiko von Gewalt einhergegangen, sodass Einzelne von der Erhebung ihres Schutzes wegen ausgeschlossen worden seien. GRENDEL und SCHULZE sehen im Gegensatz zu den Empfehlungen der DGSA den Bedarf an spezifischen ethischen Prinzipien für die Forschungstätigkeit mit Kindern. Sie führen verschiedene Artikel der UN-Kinderrechtskonvention an, und fordern eine differenzierte Betrachtung von Forschungsethik im Rahmen der Kindheitsforschung. [9]
Auch JAKOB setzt in ihrem Beitrag Teile der UN-Kinderrechtskonvention in Beziehung zum Forschungsethikkodex. Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht sie im Kodex berücksichtigt, weist jedoch auf Umsetzungslücken und Herausforderungen in der wissenschaftlichen Praxis hin. Als Beispiel führt sie die im Kodex aufgestellte Forderung an, die auf "das Einnehmen einer diversitätsbewussten bzw. intersektionalen Perspektive [und] die Reflexion stigmatisierender Adressierungen bzw. reproduzierte bestehende Machtverhältnisse der eigenen Forschung" (S.164) ziele. Ebenso geht JAKOB auf Dilemmata in ethnografischen Studien ein, bei denen z.B. die beabsichtigte Beobachtung des Suchtverhaltens Minderjähriger in Spannung zum Jugendschutzgesetz stehe. Eine bloße Beobachtung durch die Forschenden könne als schweigende Toleranz des Suchtverhaltens und mögliche Schädigung der Zielgruppe interpretiert werden. [10]
GERNER und ZÜHLKE besprechen im Anschluss die institutionellen, persönlichen und sozialen Barrieren, die eine selbstbestimmte Teilnahme an einem Forschungsprojekt erschweren könnten. Anhand eines Beispiels verdeutlichen sie den Umgang mit solchen Hindernissen und zeigen Möglichkeiten zur Förderung der Selbstbestimmung. Auch WESSELMANN und SCHALLENBERGER veranschaulichen beispielhaft die Umsetzung der informierten Einwilligung von Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen. MANGIONE reflektiert über Forschungsbeziehungen anhand ihrer Studie mit Angehörigen von Menschen mit Behinderung. Sie skizziert Schwierigkeiten bzw. ethische Dilemmata beim Einbezug von Familienangehörigen, die durch ihre Teilnahme an Interviews für ihre kognitiv beeinträchtigen Kinder als Sprachrohr dienen könnten. [11]
BENNER und LÖHE erörtern die informierte Einwilligung älterer Menschen und diskutieren die Möglichkeit einer mündlichen Zustimmung zum Forschungsprojekt. Sie beziehen sich dabei auf die aktuell geltende Rechtsprechung, zeigen die Grenzen einer ausschließlich schriftlichen Einverständniserklärung auf und betonen das Erfordernis einer prozesshaften Einwilligung. MÜLLER berichtet von einem partizipativen Projekt mit älteren Menschen, die an Demenz leiden. Der Prozess wird unter Bezugnahme auf die Vulnerabilität der Personengruppe exemplarisch reflektiert. Auf Vulnerabilitäten von Adressat*innen nehmen auch KORNTHEUER, AFEWORKI ABAY und WESTPHAL Bezug mit Blick auf Untersuchungen zu Flucht und Behinderung. Diskutiert wird ein partizipativer Ansatz, der insbesondere bei Menschen mit Fluchterfahrung Machtverhältnisse reduzieren und Selbstermächtigung erhöhen könne. Anhand von Photovoice-Projekten verweisen sie auf die Möglichkeit einer Selbstwirksamkeitsstärkung der Personengruppe. Allerdings könnten partizipative Verfahren auch mit Umsetzungsschwierigkeiten verbunden sein und neue Machtverhältnisse reproduzieren aufgrund z.B. eines höheren Wissensstandes der Wissenschaftler*innen. [12]
YALIZ AKBABA und WAGNER betrachten die Positionierung der Forschenden im Feld. Diese seien in strukturelle Ungleichheitsmustern eingebunden, die in dem von ihnen vorgestellten Projekt Rassismus reproduziert haben könnten. Im anschließenden Beitrag geben FRIETERS-REERMANN, KLOMANN, GENENGER-STRICKER und SYLLA Vorschläge, wie mögliche Machtverhältnisse und Rassismus reflektiert werden könnten. Sie verweisen darüber hinaus auf visuelle Methoden, mit denen für Menschen mit Sprachschwierigkeiten während eines Interviews der sprachliche Ausdruck vereinfacht werden könne. Außerdem legen sie Erfordernisse und Vorteile einer partizipativen Forschung dar. Zuletzt beschäftigt sich REITER mit einer möglichen Belastung der Wissenschaftler*innen selbst und fordert eine verstärkte Berücksichtigung im Forschungsethikkodex. Er konstatiert Potenzial über Erfahrungen und Belastungen der Forschenden und eruiert mögliche Schutzmaßnahmen. [13]
3. Fazit: aus der Forschungspraxis für die Forschungspraxis
Für mich als Promovendin der Sozialpädagogik, die sich in ihrer Dissertation mit einer Fülle an forschungsethischen Herausforderungen konfrontiert sieht, kam das vorliegende Werk aufgrund seiner Praxisorientierung wie gerufen: Das Buch erfüllt seinen Zweck und sein Ziel und deckt einen Bedarf in der Sozialen Arbeit. In der einschlägigen Literatur finden sich verschiedene, für die sozialwissenschaftliche Forschung relevante Beiträge – so auch in der FQS-Debatte Qualitative Forschung und Ethik: BÖGELEIN, GOLLA, LEHMANN und LEIMBACH (2021) reflektieren ethische Dilemmata, die sich aus dem fehlenden Zeugnisverweigerungsrecht Forschender ergeben. VON UNGER (2018) setzt sich mit ethischen Herausforderungen (in) der Fluchtforschung auseinander; siehe auch VON UNGER, M'BAYO und NARIMANI (2014) für eine ausführliche Auseinandersetzung mit ethischen Herausforderungen in Forschungsprojekten. Doch allen gemeinsam ist die Bezugnahme auf den soziologischen Forschungsethikkodex, dessen Anwendung für die Soziale Arbeit nicht ausreicht. Den Fokus auf den erstmalig entwickelten Forschungsethikkodex für die Soziale Arbeit hat allein das hier vorgestellte Werk. [14]
KÖTTIG et al. weisen darauf hin, dass der Kodex keine ethisch korrekte Anleitung für alle Feld- oder Adressat*innenzugänge leisten könne und dass dieser Anspruch auch nicht verfolgt werde. In diesem Sinne verhilft das Buch zu einem Überblick über ausgewählte Fälle, eine erschöpfende Auseinandersetzung ist aufgrund der Bandbreite möglicher spezifischer Fälle nicht zu erwarten. Alle offenen Fragen und Unsicherheiten können durch die Lektüre des Buches, auch wenn es gehaltvoll und umfangreich ist, nicht beantwortet werden. Die Herausgeberinnen des Sammelbandes sehen die Möglichkeit, auf diesem Orientierungswerk aufbauend die Prinzipien des Kodex für einzelne beforschte Adressat*innengruppen anzuwenden. Anregungen zur Anwendung auf einzelne Felder sind in den einzelnen Beiträgen zu finden. Auch werden verschiedene Blickrichtungen beleuchtet, sodass die Leser*innen einen kontroversen Einblick erhalten und nicht zuletzt angesichts der Fülle an anschaulichen Praxisbeispielen zum Reflektieren ihrer eigenen Arbeit und zu Entscheidungen über die Umsetzung eigener Maßnahmen angehalten sind. [15]
Mit Blick auf den dynamischen Weiterentwicklungsbedarf des DGSA-Forschungsethikkodex rege ich einen dezidierteren Blick auf mögliche ethische Belastungen für Forschende an. Eine Bezugnahme auf die DSGVO, die auf den Schutz aller Forschungsbeteiligten zielt und in der auch Pflichten während des wissenschaftlichen Prozesses begründet werden (z.B. Art.30), kann dem Kodex und gleichzeitig auch dem Buch und Rezipient*innen nutzen. Eine weitere hilfreiche Ergänzung wäre ein exemplarischer Antrag für Ethikkommissionen. Der Anstoß zu einer bundesweit einheitlichen Antragsform käme einer weiteren Standardisierung zugute. Abschließend sei erwähnt, dass der DGSA-Forschungsethikkodex trotz der erwähnten Dilemmata zu Qualitätssicherung beiträgt, indem er Wissenschaftler*innen eine ethische Richtschnur vorgibt. Er ist mit seinem Schwerpunkt auf der Forschungspraxis als Gewinn zu verstehen und wird zurecht als "Meilenstein" (KÖTTIG et al., S.25) bezeichnet. [16]
Bögelein, Nicole; Golla, Sebastian; Lehmann, Lena & Leimbach, Katharina (2021). Wenn die Polizei vor der Tür steht und die Interviewdaten will ... – Situierung, Ethik und Recht qualitativer Radikalisierungsforschung. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 22(3), Art. 3, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-22.3.3681 [Datum des Zugriffs: 30. Januar 2022].
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Von Unger, Hella; M'Bayo, Rosaline & Narimani, Petra (2014). Forschungsethik in der qualitativen Forschung. Reflexivität, Perspektiven, Positionen. Wiesbaden: Springer VS.
Veronika ROSENBERGER (M.A. Soziale Arbeit) promoviert an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg in Kooperation mit der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg und arbeitet nebenbei als Teamleitung in einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung.
Kontakt:
Veronika Rosenberger
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Lehrstuhl Sozialpädagogik
Kapuzinerstraße 16
96047 Bamberg
E-Mail: veronika.rosenberger@uni-bamberg.de
URL: https://www.linkedin.com/in/veronika-rosenberger/
Rosenberger, Veronika (2022). Review: Julia Franz & Ursula Unterkofler (Hrsg.) (2021). Forschungsethik in der Sozialen Arbeit. Prinzipien und Erfahrungen. Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit [16 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 23(2), Art. 8, https://doi.org/10.17169/fqs-22.2.3901.