Volume 25, No. 2, Art. 5 – Mai 2024
Weil wir eine Fürsorgeverantwortung in der qualitativen Methodenausbildung haben. Von Verletzbarkeiten und diversitätsgerechter Begleitung studentischer Forscher*innen
Udo Dengel & Eva Tolasch
Zusammenfassung: Wir haben in unserer Lehr- und Forschungspraxis die folgenden Beobachtungen machen können: In Interviewprozessen sind Akteur*innen (Interviewende und Interviewte) erstens vulnerabel, zweitens mangelt es an empirischer Forschung zu dem erlebten Doing Interview im Interviewsetting und drittens haben Lehrende eine Fürsorgeverantwortung gegenüber den Studierenden in der praktischen Methodenausbildung (hier: Interview), die in Deutschland kaum angemessen eingelöst wird.
Aufgrund dieser Beobachtungen widmen wir uns dem Ziel, sichtbar zu machen, dass es ein Problem – Verletzbarkeiten und mangelnde diversitätsgerechte Begleitung studentischer Forscher*innen – in der qualitativen Forschung gibt und dass anschlussfähige Betreuungskonzepte zur Problemlösung notwendig sind. Dafür werden wir basierend auf der ethnografischen Strategie des "Entdeckens" (BREIDENSTEIN, HIRSCHAUER, KALTHOFF & NIESWAND 2015, S.13) den Fokus auf empirische Situationen bzw. Herausforderungen der Studierenden bei der Datenerhebung hinsichtlich "Geschlecht und Gewicht" richten und am Ende eine fürsorgliche Praxis in der Lehre als diversitätsgerechte Möglichkeit (an)denken.
Die Überlegungen basieren auf der Auswertung von 79 von 131 Forschungsberichten zum erlebten Prozess des Doing Interview von Studierenden, die ein biografisches Interview mit (ehemals) dicken Personen im Kontext eines Methodenseminars geführt haben. Diskutiert wird als Ausblick, inwiefern eine Kombination von Diversity-Trainings und Supervisions- und/oder Coaching-Angeboten im Rahmen der qualitativen Wissensvermittlung in der (Weiter-)Bildung eine produktive Liaison ergibt.
Keywords: Interviewordnung; Interaktion; Gefühl; Interview; Dicksein; Geschlecht; Care-Verantwortung; Fürsorge; Methodenausbildung; Diversity-Training; Supervision; Coaching
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was passiert(e) im Interview? Stand der Forschung, Kritik, Strategien
3. Wie werden Geschlecht und Dicksein im Interviewsetting hergestellt?
4. Methode: ethnografische Fallberichte in thematisch fokussierter Analyse
5. Geschlecht und Dicksein: empirischer Blick auf die Hinterbühne der Interviews
6. Schlussgedanken
1. Einleitung1)
Viele qualitative Forscher*innen beschäftigen sich mit der richtigen Art und Weise, Fragen zu stellen, mit erfolgreichen Interviewstrategien, aber auch Fehlern und Herausforderungen, wenn die interviewte Person aus der Rolle fällt, mit Anleitungen zum Leitfadenerstellen, mit Ethikfragen und Gütekriterien qualitativer Forschung (HELFFERICH 2011, S.54; ROULSTON 2019, S.5ff.). Hinzukommen, ausgehend von der eigenen Positionierung, Fragen des Aussagewertes von Ergebnissen, um ein weiteres unter vielen Themen zu nennen. Im sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs über die "Qualität qualitativer Daten" (HELFFERICH 2011) mangelt es an einem expliziten machtkritisch-intersektionalen Austausch2) (WINKER & DEGELE 2009) darüber, was es eigentlich bedeuten kann, als Mensch mit einem verletzlichen "Körper-Selbst" (VILLA 2008, S.8) ins Feld3) zu gehen. Damit ist gemeint, zu spüren und wahrzunehmen und je nach Person und Kontext verletzungsoffen gegenüber Stereotypisierungen, Stigmatisierungen, Diskriminierungen, Herabsetzungen und Fremdpositionierungen innerhalb von komplexen ineinandergreifenden Machtverhältnissen am Schnittpunkt von Geschlecht, Klasse, Sexualität, Race und anderer Differenzdimensionen zu sein. Mit dieser Verletzlichkeit umzugehen, obliegt scheinbar ganz selbstverständlich qualitativen Forscher*innen, jedoch häufig ohne ausreichendes Wissen darüber, was ein verletzliches Körper-Selbst (z.B. von Interviewer*innen) für die Forschenden bedeutet. So werden Studierende ohne genügend Vorbereitung in Lehrforschungen und Methodenpraxisseminaren ins Feld geschickt, um qualitative Methoden zu erproben. Methodenausbildende haben dabei eine Verantwortung: nämlich Lernende (z.B. Studierende) angemessen auszubilden und fürsorglich zu begleiten. Sie haben eine Fürsorgeverantwortung, also einerseits die Sorge um die Verletzbarkeit der Studierenden und tragen andererseits die Sorge dafür, dass die Lernenden für die Vulnerabilität der Interviewten sensibilisiert werden.4) [1]
Vor diesem Hintergrund ist unser Ziel, aufzuzeigen, dass ein Problem in der qualitativen Forschung mit den potenziell verletzbaren Studierenden respektive Forschenden im Doing Interview sowie mit der mangelnden Betreuung in der Methodenausbildung besteht und nach Problemlösungen gesucht werden sollte. In diesem Beitrag wollen wir dieses Problem durch die ethnografische Strategie des "Entdeckens" sichtbar machen (BREIDENSTEIN et al. 2015, S.13).5) Dazu werden wir jedoch weder eine vollständige systematische empirische Analyse vorlegen, noch Diversity-Konzepte im Setting der qualitativen Wissensvermittlung in ihrer Anwendbarkeit konkret vorstellen. Vielmehr haben wir die Absicht, eine Diskussion über die "Verletzbarkeiten" der Forschenden auf der "Hinterbühne"6) (GOFFMAN 2011 [1969], S.104) in qualitativen Forschungszusammenhängen unter intersektionalen Vorzeichen anzuregen, um gemeinsam nach Fragen des ethischen, aber auch forschungsbezogenen Umgangs zu suchen. Dabei sehen wir bei Diversity-Coaching- und Supervisionsangeboten sinnvolle Anknüpfungspunkte für eine "fürsorgliche" Methodenausbildung und Methodenbegleitung nicht nur für Studierende, sondern allgemein für qualitativ Forschende, um die Güte der qualitativen Interviewforschung nachhaltig zu fördern und die Qualität des Forschens zu stärken. Es geht uns entsprechend um das Problem der Verletzbarkeit in der Interviewherstellung mit Fokus auf die interviewende Person. Dafür werden wir empirische Situationen bzw. Herausforderungen der Studierenden bei der Datenerhebung beleuchten und am Ende eine fürsorgliche Praxis in der Lehre als diversitätsgerechte Möglichkeit (an)denken. [2]
So legen wir den empirischen Blick auf den "tatsächlichen Verlauf der Interaktion in sozialwissenschaftlichen Interviews" (DEPPERMANN 2013, §27) aus einer ethnografisch-reflexiven Perspektive von Studierenden, die Interviews mit (ehemals) dicken Menschen7) geführt haben. Wir fragen explizit nach der Geschlechter- und Körperdimension (hier Dicksein), weil daran das Verletzungsthema bzw. die "Vulnerabilität"8) (GULOWSKI 2022, §13) besonders virulent wird. Wir werden nicht die Interviewführung allein fokussieren, sondern die Phänomene im Herstellungskontext von Interviews auf (para-)verbaler Ebene einbeziehen, sofern und weil diese von den Studierenden in ihren Berichten thematisiert wurden. Bei der Darstellung der studentischen Forschungsberichte erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Und wir diskutieren mit Ausblick darauf, was die empirische Rekonstruktion dessen, was im Interview aus Sicht der Studierenden passiert, für die empirisch-qualitative Forschungspraxis und auch im Hinblick auf die Fürsorgeverpflichtung der Dozierenden bedeuten kann. [3]
Konkret fragen wir im thematischen Horizont von "Dicksein und Geschlecht" und ausgehend von studentischen Forschungsberichten danach, wie sich interviewende (und interviewte) Personen zueinander positionieren und wie sie die geteilte Situation empfinden. Mit der Fragestellung und dem Design bewegen wir uns auf einem eher überschaubaren Forschungsfeld. So mangelt es an Studien zur konkreten Interaktion zwischen interviewender und interviewter Person (DEPPERMANN 2013; MEY 2000; ROULSTON 2019). Auch gibt es zu körperlich-leiblichen Effekten der Verletzung (z.B. Diskriminierung) wenige, aber interessante Anschlüsse. LOCH (2008) wies in diesem Zusammenhang auf die "unterstützenden Forschungssupervisionen" (§19)9) von HAUBL (2003) und die "kollegiale Beratung" (LOCH 2008, §19) von CONNOLLY und REILLY (2007) hin.10) [4]
Viele Autor*innen konzentrierten sich bei Verletzungen bzw. Bewältigungsthemen in der Herstellung des Interviews eher auf die interviewten Personen und weniger auf die Personen, die das Interview führten (etwa LOHNER 2019, S.103). Hier waren es beispielsweise traumatische Erlebnisse, die die interviewte Person im Interview thematisierte, die das zu bearbeitende Problem für alle Interviewbeteiligten und auch mit Blick auf die Auswertung darstellten. Auch wurden heilsame Wirkungen eines Interviews bei traumatischen Erlebnissen der interviewten Person erwähnt und Antworten auf die Frage gegeben, wie sich eine interviewende Person bei traumatischen Erfahrungen der Erzählperson verhalten sollte (etwa ROSENTHAL 2002). Aber inwiefern die interviewende Person verletzbar ist, nicht nur durch erzählte gewalttätige Lebensgeschichten wie Vergewaltigung, Töten, Misshandeln etc., sondern auch durch die interviewte Person in der direkten Interaktion, wird in der aktuellen Diskussion selten explizit betrachtet (etwa MÜLLER 2009, S.143ff.). Ebenso wurde z.B. das Doing Gender im Interviewprozess untersucht (etwa GRENZ 2009), während der Umgang mit Dicksein in Interviews bisher kaum im deutschsprachigen Raum thematisiert wurde, wobei es mit Blick auf den internationalen Forschungsstand beispielsweise autoethnografische Arbeiten gibt (etwa SMAILES 2014). [5]
Im Folgenden leiten wir mit einer allgemeinen Kritik des Forschungsstandes zu qualitativen Interviews (Abschnitt 2) über zu unserer theoretisch-konzeptionellen Herangehensweise (Abschnitt 3), um dann in Abschnitt 4 das methodologisch-methodische Vorgehen zu explizieren. In Abschnitt 5 geben wir Einblick in unsere Analysen und Ergebnisse: die interpretierten und kategorisierten Zeichen vergeschlechtlichter Konstruktionen und damit einhergehende Verletzungen von Studierenden bzw. Forschenden sowie der emotionale Umgang damit. In Abschnitt 6 plädieren wir für mehr Verantwortung gegenüber den ins Feld geschickten Studierenden und schlagen Diversity-Trainings und Supervisions- und Coaching-Programme sowie deren Kombination je nach Forschungssituation vor. [6]
2. Was passiert(e) im Interview? Stand der Forschung, Kritik, Strategien
Uns interessiert, was Studierende in der vergeschlechtlichten und verkörperten Ko-Herstellung eines Interviews erleben, und was dies für die Methodenausbildung heißen kann. Um sich dieser Frage zu nähern, lohnt es sich, einen Blick auf die Interviewproduktion bzw. Interviewpraktik als Datenquelle zu werfen. In den letzten 50 Jahren hatten, so ROULSTON (2019), Methodolog*innen für "interactional studies of interviews" (S.5) unterschiedliche Forschungszugänge eingesetzt, um zu erforschen, "what actually goes on in interviews and what this means for the analysis and representation of data for the purposes of social research" (a.a.O.). Dabei haben neben ethnomethodologischen und konversationsanalytischen Zugängen auch Women's Studies, Feminist Studies und die Critical Race Theory eine bedeutende Rolle gespielt (ECKERT 2021, §2). [7]
In diesen Studien hatten Autor*innen beispielsweise mit Blick auf "social practices of interviewing" (ROULSTON 2019) darauf aufmerksam gemacht, dass es ein Irrtum war, qualitative Methoden als Instrumente zu sehen, mit denen die soziale Wirklichkeit der interviewten Personen neutral, d. h. gleichsam von Forschenden ungestört, unreflektiert und losgelöst vom Setting, abgebildet werden kann. MRUCK und MEY (1996) bezeichneten dies als "Fortleben des Phantoms der Störungsfreiheit" im Falle qualitativer Methoden, und zwar "auf Seiten qualitativer Forschungspraxis in Gestalt der Ausklammerung der Subjektivität der Forschenden und ihrer Einflussnahme im Forschungsprozess und auf die Produktion von Forschungsergebnissen [...] und auf Seiten qualitativer Methodologien durch deren weitgehende Vernachlässigung der Kontextualität von Forschung" (S.5). In diesem Zusammenhang wird die Vorstellung sichtbar, dass Forschende beforschte Personen schlicht mit dem richtigen Regelwerk befragen müssten, um objektive und damit von Störungen bereinigte Daten zu generieren. Auch qualitative Verfahren werden in dieser Perspektive so betrachtet, als ob eine unmittelbare Einsicht in die Lebenswirklichkeit der Befragten möglich wäre (ROULSTON 2019, S.7). Damit ist gemeint, "dass die Forschenden die Illusion haben, distanziert – wie durch ein Fernglas – soziale Wirklichkeit beobachten zu können, statt anzuerkennen, dass sie unmittelbar in die Datenproduktion involviert sind"11). Generiert werden interpretativ Lesarten, die die Aussagen der befragten Personen als neutrale Informationslieferant*innen ohne angemessene Berücksichtigung des Kontextes gelten lassen. Gegen diese durchaus noch immer praktizierte, wenn auch erkenntnistheoretisch überholte Position bzw. Sichtweise gab es berechtigte Einwände, beispielsweise methodisch grundlegend in der "Reflexive[n] Grounded Theory" (BREUER 2009) mit der Figur der "leibhaftig-personal-soziale[n] Forscherperson-in-Interaktion" (BREUER 2003, §23) oder in der konstruktivistischen Grounded-Theory-Methodologie nach CHARMAZ (2006). Mit spezifischem Blick auf eine reflexiv-interaktionistische Interviewforschung seien ECKERT und CICHECKI (2020) genannt. [8]
Hier beziehen wir uns insbesondere auf das nicht zu ignorierende Zutun der Forschenden im Feld.12) So ist alles, was erzählt wird, von dem Kontext und den Akteur*innen unter Berücksichtigung des jeweiligen spezifischen Feldes abhängig. Dies bedeutet: Ich erzähle meine Biografie meiner Mutter anders als meiner Chefin. Auslassungen, Neuzusammensetzungen, Sympathien und Antipathien und andere Relevanzsetzung, vergangenheitsfixierte Neuerzählungen, Verteilung unterschiedlicher Deutungsmacht im Raum, um nur einige Techniken bei der Neu- bzw. Anderserzählung zu nennen, sind wirklichkeitskonstituierend (siehe "Selektions- und Filterungsmechanismen" bei der sozialkritischen Aktenanalyse nach MÜLLER [1980, S.41]). Erwartungen, Wünsche und Zwänge strukturieren das Feld je nach individueller Eingebundenheit: die sinnvolle Erzählung, das Handeln, Denken, Sprechen und Erleben13). Das vermittelte Wissen und die Bedeutsamkeit des Wissenswerten in der Erzählung sind personen-, situations- und feldabhängig (WETTERER 2009). Und auch die Frage, wie und was in welchem Interesse gefragt und beantwortet wird, ist nicht frei von Macht respektive Ideologien (KOVEN 2014). [9]
Auch wenn sich dem "Phantom der Störungsfreiheit" (MRUCK & MEY 1996) und zum Teil immer noch eindimensionalen Perspektiven auf Interviews vielfältig entgegengestellt wird, fehlt es hierzulande auch heute noch an "interaktionsanalytischen Forschungen zum [qualitativen] Interview" (DEPPERMANN 2013, §27) und insbesondere dazu, was in Interviews mit den körperlich-leiblichen Effekten passiert (ECKERT 2021). Dabei wäre die "Erforschung der Interaktion im Interview [...] gerade aus methodologischer Perspektive dringend geboten" (DEPPERMANN 2013, §27). Ferner wird in Anlehnung an DEPPERMANN eine empirische Basis benötigt, um zu zeigen, wie methodische und methodologische Regeln und Handlungsanweisungen zur Interviewpraxis in der sozialen Praxis der Interviewdurchführung wirkungsmächtig werden. Diesen Herausforderungen wollen wir uns unter der Geschlechter- und Gewichtsfrage widmen, indem wir uns einigen Interviewereignissen ("What the hell is going on here?" (GEERTZ 1983 [1973] zit. n. AMANN & HIRSCHAUER [1997, S.20]) anhand ethnografischer Selbstberichte von Studierenden zuwenden. Die Studierenden haben diese Selbstberichte als Prüfungsleistung am Fachbereich der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences in einem Modul zum Thema "Diskriminierung" verfasst. [10]
Wir beschäftigen uns mit der vergeschlechtlichten interaktiven Ko-Konstruktion der Interviews aus Sicht der Studierenden, die das Interview geführt haben. Auf der Analyseebene verweisen wir in diesem Zusammenhang auf Leib-Körperlichkeit als Datum. Der Gegenstand der Untersuchung wird so eindeutiger: Es geht um das "Interview", aus dem heraus die Leib-Körperlichkeit der Protagonist*innen von ihnen selbst reflektiert wird. [11]
3. Wie werden Geschlecht und Dicksein im Interviewsetting hergestellt?
Um sich den Verlauf der Interviews aus Sicht der Studierenden unter Berücksichtigung der Geschlechter- und Gewichtsfrage zuzuwenden, ist es sinnvoll, den Doing-Standpunkt zu betrachten. Dieser Standpunkt eröffnet uns auch die Möglichkeit, Gefühle von Interviewbeteiligten einzufangen und transparent zu machen. Den Interviewverlauf durch das Tun respektive Erleben – das Doing – zu rekonstruieren, realisieren wir über die Analyse des Geschehens auf der "Hinterbühne" (GOFFMAN 2011 [1969], S.104) der studentischen Forschungsberichte als ethnografischem Datenmaterial. Mit der Hinterbühne bezeichnen wir in Anlehnung an GOFFMAN das, was beim Interview normalerweise ohne Publikum stattfindet; angefangen beim Zugang bis hin zum Verlassen des Settings14). Publikum steht dabei für die Öffentlichkeit, also z.B. die Lesenden der veröffentlichten empirischen Ergebnisse, die aber keinen Einblick in den Raum haben, in dem das Interview entstanden ist. [12]
Uns interessiert, wie das Körperlich-Leibliche durch das Doing Interview (re)konstruiert wird. Das bezieht alles mit ein, was aus Sicht der Studierenden an Interaktionen und auch emotional um und während des Interviews bzw. in der Begegnung mit der zu interviewenden Person thematisiert worden ist. Wir sprechen hier deshalb von "professioneller Intimität" (BUSCHMEYER & TOLASCH 2014). Es ist ein professioneller Raum, der zwischen den Akteur*innen in einer intimen und nicht öffentlichen Sphäre – Face to Face – stattfindet. [13]
Dieses Machen bzw. dieser Herstellungsprozess ist zutiefst fragil bzw. störanfällig. Zum Beispiel sind die Fragen der interviewenden Studierenden nicht passend oder es stimmt schlicht die Chemie zwischen Interviewenden und Interviewten nicht. Auch kann es vorkommen, dass der Raum durch andere Akteur*innen gestört wird (siehe dazu z.B. den Abschnitt "Schwierige Interaktionsdynamik", HELFFERICH 2011, S.142ff.). Und es werden unterschiedliche Differenzdimensionen wie Geschlecht, Klasse, Race und z.T. auch Alter relevant, letzteres insbesondere, wenn Studierende jünger als ihre Interviewpartner*innen sind. [14]
Wir knüpfen im Folgenden an die Dimension Geschlecht an, um beim Doing des Interviews insbesondere die Vergeschlechtlichungsprozesse soziologisch-empirisch zu betrachten. Nach SCHOLZ ist die "Interviewsituation ... [unter anderem] hinsichtlich der Geschlechterkonstruktion nicht voraussetzungslos. Hier treffen Individuen aufeinander, die jeweils einen geschlechtlich markierten Körper haben, denn Geschlecht wird einverleibt und verkörpert" (2004, S.240). Sie ist ein vergeschlechtlichter bzw. verkörperter "Herstellungsprozess ..., in dem sich die [in unserem Fall: (ehemals) dicken] Erzähler*innen in Interaktion mit den Forschenden in Formen von Selbsterforschung, Selbstherstellung, Selbstbehauptung und Selbstdarstellung (ver-)äußern" (MEY 2000, S.148). Zu berücksichtigen ist, dass sich Geschlecht am Schnittpunkt weiterer Differenzierungskategorien durch spezifische und nicht einfach veränderbare kulturelle Denkhorizonte im Sinne sozialer Ordnungen auszeichnet: Doing Gender while Doing Interview while Doing Fat versperrt sich dem Verständnis, dass individuell u.a. ein Geschlecht oder gar Körper (hier ist damit Dicksein gemeint) – während des Interviews – nach beliebiger Vorstellung der Person gemacht werden kann. Dieser Herstellungsprozess unterliegt institutionellen Praktiken. Darstellung und Attribution in ihrem Zusammenwirken sind dabei wesentliche Komponenten des Passings (GARFINKEL 2013): So müssen insbesondere das Geschlecht und der Körper angemessen dargestellt und von den Interaktionsteilnehmenden attribuiert werden, um durch geschlechtlich konnotierte Mimik, Gestiken, Handlungen, Formen etc. im Interaktionsprozess zumeist eindeutig "Mann" oder "Frau" zu werden. Inwiefern der vergeschlechtlichte und auch der dicke Körper dabei von Bedeutung ist, wollen wir rekonstruieren. [15]
Mit Blick auf das Material versprechen die aus der Interaktion mitgenommenen (Selbst‑)Wahrnehmungen und (Selbst-)Reflexionen der studentischen Interviewenden Aufschluss zu geben über sie selbst in ihrem Zugang zum Feld, zu den Beforschten und zu den Kontexten, in denen sie sich (gemeinsam) befanden. Teil (je)der Ethnografie ist es, das Risiko einzugehen, sich selbst in gewissem Maße zu entblößen – eigene Vorurteile preiszugeben und zu reflektieren, um sich ggf. je nach Positionierung im Feld nicht zuletzt an der eigenen Kultur zu "befremden" und in diesem Sinne das Selbstverständliche bzw. die Routinen zu problematisieren (AMANN & HIRSCHAUER 1997, S.14). Zudem ist es der Körper der interviewenden Person (im Kontakt zu den Interviewten und der Umgebung), durch den wahrgenommen wird und Situationen erfahren werden, und der so selbst zum Gegenstand der Untersuchung werden kann. An dieser Stelle hilft es, die Interaktion phänomenologisch weiterzudenken: Bei gleichzeitiger Anwesenheit von forschender Person und Beforschten kann und sollte der Leib/Körper in jeder Interaktion mitgedacht werden (POFERL & SCHRÖER 2022, vgl. auch zum Zusammenhang von biografieanalytischem Forschen und Spüren DEMMER 2016). Das heißt, Forschende können den Leib/Körper der anderen (Beforschten) höchstens beobachten und über ihre Handlungen interpretieren. Wenn Forschende in ein Setting eingreifen, sind sie in der leiblichen Kommunikation mit Beforschten jedoch zugleich als Leib/Körper Mithandelnde und damit Forschungsobjekte. Dies ist insbesondere in ko-präsenten15) Interviewsituationen von Interesse: Intensive Interaktion bzw. Kommunikation, die an vermeintlich geistigen – vom Leib/Körper abgrenzbaren – Verhandlungen nicht Halt machen kann, beeinflusst körperlich wahrnehmbare Erfahrungen des Verarbeitens und (neu) Positionierens.16) Genau das ist in den studentischen Forschungsberichten der interviewführenden Studierenden enthalten und bildet die Grundlage unserer Analysen. [16]
4. Methode: ethnografische Fallberichte in thematisch fokussierter Analyse
Insgesamt lagen 131 Berichte aus dem Zeitraum 2012-2017 von Bachelor-Studierenden der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences vor, die ein Interview mit einem (ehemals) dicken Menschen durchführten und das Setting sowie auch das Interview selbst ethnografisch beschrieben haben. Die Auswertung der Berichte erfolgte im Rahmen des Forschungsprojekts "Geschlechterordnungen der Diskriminierung dicker Körper. Eine Untersuchung der Biografien von Menschen mit hohem Körpergewicht".17) [17]
Die Berichte waren Teil einer Prüfungsleistung im Modul "Soziale Ungleichheitslagen und Diskriminierungserfahrungen – biografieanalytische und ethnografische Forschungsansätze". Der Kurs ging über ein Semester und die Studierenden erhielten eine intensive Schulung in den angewendeten Methoden. Sie hatten die Aufgabe, unter dem Titel "Diskriminierungen von Menschen mit hohem Körpergewicht" einen Forschungsbericht zu verfassen. Die Berichte umfassten zwischen sieben und zwölf Seiten und bestanden in der Regel aus vier Abschnitten: ethnografisches Protokoll, sequenzieller Bericht des biografischen Interviews, Reflexion des Interviews und antidiskriminierungsrechtliche Einordnung des Falls. Stets vorhanden war der sequenzielle Bericht und/oder Teile davon, in denen das subjektive Erleben rund um das Interview verschriftlicht wurde. Hier standen insbesondere die Reflexion des Interviews und das ethnografische Protokoll im Fokus. Uns interessierten die Stellen, an denen die Studierenden über ihr Erleben im Interviewsetting geschrieben haben. Ein ethnografisches Protokoll wurde hier zur Verschriftlichung des körperlich-leiblich Erfahrbaren und Wahrnehmbaren in der Interviewpraxis erstellt. Es ging darum, am Interviewherstellen – Doing Interview – aktiv teilzunehmen und dieses Moment zu versprachlichen. Im ethnografischen Protokoll (Reflexion des Interviews) beschrieben die Studierenden, was während des Interviews im Hinblick auf personen- und feldspezifische Momente geschah. Das ethnografische Protokoll und die Reflexion der eigenen Forschung sollten von den Studierenden unmittelbar nach der Durchführung des Interviews verfasst werden. [18]
Es wurden alle Berichte gesichtet und ihre thematische Relevanz überprüft, aber nicht alle 131 Berichte wurden detailliert ausgewertet, sondern nur die, in denen leiblich-körperliche Befindlichkeiten und/oder Irritationen oder gar Konflikte thematisiert wurden. Dies war bei 79 Forschungsberichten der Fall, die aber nicht alle gleichermaßen gehaltvoll waren: Während in einem Bericht nur ein Satz hierzu zu finden war, gab es in einem anderen Protokoll gleich mehrere Absätze. Wir kennen diese Studierenden, die die Berichte verfasst haben, nicht persönlich und haben sie nicht in der Methodenausbildung begleitet. [19]
Die Berichte wurden im Rahmen des Forschungsprojekts unter Berücksichtigung des Datenschutzes und der Einwilligung der Studierenden ausgewertet. Der Zugang zu den Daten erfolgte über die Mitarbeit im genannten Forschungsprojekt. Wir haben darauf geachtet, dass die Daten anonymisiert waren und die Studierenden sich gegenseitig nicht erkannten und von außen nicht erkannt wurden. Ihre Berichte trugen aufgrund der selektiven Erzählungen zur Neu-Konstruktion der Biografien von Menschen mit hohem Körpergewicht bei, da bestimme Fragmente herausgegriffen und neu aneinandergereiht wurden. Die Berichte informierten uns damit nur über das Erleben der Interviewsituation der Studierenden. Dabei musste berücksichtigt werden, dass die Verschriftlichung des Erlebens im Forschungsbericht eine Studienleistung war. [20]
Die Forschungsberichte wurden in Anlehnung an FLICK (2002) ausgewertet, der seine Grundgedanken aus der Grounded-Theory-Methodologie nach STRAUSS und CORBIN (1996 [1990]) ableitete. Wir arbeiteten mit dem sogenannten thematischen Kodieren, weil es uns darauf ankam, eng an der Fragestellung orientiert Kategorien zu bilden. Insofern blieben wir auch zuerst am Fall orientiert und arbeiteten noch nicht fallübergreifend: "Der Sinnzusammenhang der Auseinandersetzung der jeweiligen Person mit dem Thema der Untersuchung soll [so lange wie möglich] erhalten bleiben", so FLICK (2002, S.271). Wir fokussierten zunächst den einzelnen Bericht, um an ihm thematisch relevante Bezüge herzustellen. Das half uns, konzeptionell sensibel bezogen auf die Verflechtungen von Ungleichheitsdimensionen wie Geschlecht und Dicksein zu forschen. [21]
Diese Fall(kurz)dokumentationen als Sammlungen thematisch anschlussfähiger interpretativer Hervorbringungen wurden thematisch orientiert analysiert und wiesen fallvergleichend auf Kategorien hin, die wir fallübergreifend verdichteten. So wurden Kategorien gebildet, um etwas theoretisch zu der (gegebenenfalls diskriminierenden) Verletzbarkeit von Forschenden respektive Studierenden im Interviewfeld auszusagen. Wichtig für unser Vorgehen waren neben FLICK z.B. BREUER (2009) und CHARMAZ (2006), an deren reflexive bzw. konstruktivistische Weiterführungen der Grounded-Theory-Methodologie wir anknüpften, indem wir den Fokus auf individuelle Sichtweisen, Werte, Gefühle etc. richteten. Auch die Emotionen, aber auch die reflektierte Sichtweise der Forschenden – gemeint sind hier in erster Linie die Studierenden – erhielten eine wichtige Rolle in unserer Untersuchung. Und wir brachten auch uns als Analysierende in den Forschungsprozess ein, indem wir die vertextlichten Dokumentationen der gefühlten und erlittenen Prozesse im Interview interpretierten. Gleichwohl erkannten wir an, dass wir nur einen Teil der Arbeit leisteten und unsere Irritation über die Texte nur am Rande Teil der Auswertung sein konnte, eben weil wir nicht in der Position waren, unmittelbar dem Risiko der Verletzung ausgesetzt zu sein. [22]
Uns ging es darum, empirische Blitzlichter auf ein bisher vernachlässigtes Thema zu werfen, in dem die machtvollen Positionierungen aus Sicht der Studierenden während der Datenerhebung rekonstruiert wurden. Dabei bestand nicht der Anspruch auf Vollständigkeit. Wir legten das Augenmerk darauf, dass beschriebene Phänomene (Sexualisierung, Vorhaltungen etc.) des machtvollen Positionierens, die durchaus mit Stigmatisierung und Diskriminierung einhergehen können, so oder auch anders vorkommen konnten. So oder eben auch anders, weil die interviewte oder interviewende Person in Macht- und Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus, Klassismus etc. eingebunden war, die auch im Interview wirkungsmächtig waren und damit konkret in Interviewsituationen erfahren werden konnten, aber nicht mussten. Und wie für qualitative Forschung üblich, ging es nicht um die Häufigkeitsverteilung, sondern darum, die individuelle Eingebundenheit sichtbar zu machen. [23]
Als Analysierende griffen wir auf einschlägiges Material zurück, das die Hinterbühne des Interviews zeigte. Das ermöglichte uns, interpretativ nachzuvollziehen, welche interaktiven und inkorporierten Verläufe der Interviewherstellung es in den gegebenen Geschlechter- und daneben auch Gewichtsordnungen gab. Die in der Situation von den Interviewenden selbst beobachteten Gefühle der Annäherung und Abwehr, (Um-)Positionierungen und Verschiebungen sahen wir im und interpretierten wir am (Bericht zum Interview-)Text; ebenso vermuteten wir (interpretativ) strukturelle Rückbindungen der Interviewordnungen. Datum war damit nicht der Körper alleine – er war mithin auch nicht der "Königsweg" (REICHERTZ 2022, S.547) ethnografischer Erkundungen. Er war jedoch (protokollarisch festgehalten) essenzielles Datum zur Untersuchung der Hinterbühne der Interviewherstellung. [24]
5. Geschlecht und Dicksein: empirischer Blick auf die Hinterbühne der Interviews
Wir analysierten die Selbstreflexionen in den Forschungsberichten als ethnografische Selbstberichte: Was war im Interview passiert? Welche Beobachtungen hat der*die Interviewende gemacht? Wie hat er*sie das Interview erlebt? Gab es Irritationen oder Besonderheiten? Thematisiert18) wurden in den ethnografischen Aufzeichnungen beispielsweise das Raumarrangement, Essen, die Charakterisierung der interviewten Person und das Zusammenspiel der eigenen Position als Interviewende*r mit der interviewten Person. [25]
Aus den ethnografischen Aufzeichnungen der Studierenden zum Interviewsetting ließen sich Geschlechterkonstruktionen und ebenso Konstruktionen von Gewicht ablesen. Darüber hinaus waren Reibungen, Positionierungen und Positionszuweisungen zu erkennen, wie z.B. durch Äußerungen zum eigenen Wohl- oder Unwohlbefinden der Interviewenden. [26]
Wir arbeiteten die Kategorien "Sexualisierung" und "Vorhaltungen machen" heraus, die im Zusammenhang von entsprechenden Äußerungen der Interviewten, die wiederum Interviewer*innen emotional verletzten, wichtig wurden Humor und Witz markierten aufseiten der Interviewpartner*innen eigene Umgangsweisen respektive Bewältigungsstrategien mit normativen Setzungen, wie und was man als (un)sportliche*r bzw. dicke*r/dünne*r Mann/Frau* zu sein hat, die sich durch normatives Ausweichen auszeichneten. [27]
Um den Raum inkl. Einrichtung und die Personen zu beschreiben, wurde bei Interviewpartnerinnen anders als bei männlichen Gesprächspartnern der Begriff "Ordentlichkeit" in Bezug z.B. auf die Wohnung oder Kleidung herangezogen. So wurde in einem Bericht nach den soziodemografischen Angaben und der Beschreibung des Feldzugangs protokolliert, dass die Wohnung aufgeräumt sei und viele Familienbilder an der Wand hingen. In einem anderen Bericht wurde auf das "gepflegte Erscheinungsbild" der Interviewten eingegangen. Offenbar war Ordentlichkeit etwas, wodurch diese sich als gute Interviewte und gleichzeitig dicke Person qualifizieren konnten. Sie hatten ihr Leben also (trotzdem) unter Kontrolle. Dies löste bei Interviewer*innen scheinbar Verwunderung aus. Bei den männlichen Gesprächspartnern tauchte die Kategorie "Ordentlichkeit" wie erwähnt hingegen nicht auf. [28]
Auch das Ernährungsnarrativ konnte als vergeschlechtlicht gelesen werden. Während bei vielen männlich Interviewten die "Dickmacher" inkl. alkoholischer Getränke durchaus ohne Problematisierung beschrieben wurden, stellte sich das bei den Frauen anders dar. So wurde beispielsweise bzgl. der Getränke in einem Bericht über einen Interviewpartner nebenher erwähnt, dass während des Interviews ein "Bier" oder auch "Kaffee" getrunken wurde, während es bei einer Interviewpartnerin in einem anderen Bericht ein Wasserglas war. [29]
Zu den "Dickmachern" stand in einem Bericht: "Das Treffen fand pünktlich statt. Wir kauften Spekulatius, Lebkuchen, Tender und Milchschnitte zum Essen sowie zwei Flaschen Erfrischungslimonade zum Trinken ein und liefen gemeinsam zum [...] [Treffpunkt], um das Interview durchzuführen." Offenbar bedurfte die – nach dem derzeitigen Gesundheitsdiskurs – ungesunde Ernährungsweise der beiden Männer (Interviewender und Interviewter), die zusammen eingekauft haben, keine Plausibilisierung; im Gegenteil lasen wir das so, dass sogar gemeinsam "ungesund" gehandelt wurde, ohne dass es zu Irritationen kam. Ob sie sich über die Norm (gesund zu essen) bewusst oder unbewusst hinwegsetzten, war nicht klar. Eine solche Darstellung war jedoch bei weiblichen Interviewten oder Interviewenden nicht zu finden. Vielmehr fanden sich Ausführungen, wenn Ernährung im öffentlichen Raum zum Thema wurde, wann und wo aufgrund von Scham und Stigmatisierungen auf "Dickmacher" verzichtet worden war.
"Sie [die interviewte Person] versuche, süße Lebensmittel zu vermeiden, und ergänzt, dass sie noch nie in der Öffentlichkeit süße Sachen/Fastfood gegessen habe, weil sie ein Schamgefühl hat: 'Kein Wunder, da steht die Dicke und frisst, auf Deutsch gesagt'. Sie habe nie schlecht dastehen wollen und das mehr Essen verlief eher im Geheimen, 'eher zu Hause, nebenher mit Naschereien'." [30]
Die Interviewer*innen legten an männliche oder weibliche Gesprächspartner*innen bzgl. ihrer "Ordentlichkeit" und ihres dicken/dünnen Aussehens unterschiedliche Maßstäbe an, die im Interview kaum erkennbar waren, sich jedoch in der Einschätzung des Gegenübers und sogar im konkreten gemeinsamen Umgang (gemeinsam Süßes kaufen etc.) widerspiegelten. Unter Einbezug weiteren Materials wäre ggf. weiter zu untersuchen, ob und wie männlich gelesene Personen (insbesondere von männlichen Interviewern) einen "wohlwollenden(eren) Blick" genießen, während weiblich gelesene Personen tendenziell eher "geprüft" werden. [31]
Auffällig war, wie auf das Geschlecht der interviewenden Person Bezug genommen wurde. Entlang einer (heteronormativen) Sexualisierung wurde eine bestimme Form der Männlichkeit hergestellt, wenn, wie im nachfolgenden Fall, ein vielgewichtiger durchaus kräftiger Mann (von einer Frau*) interviewt wurde: "Da ich meinem englischen Interviewpartner entgegenkommen wollte, fragte ich ihn, ob er das Interview lieber auf Englisch oder auf Deutsch halten wolle. Er entgegnete mir, er wolle es auf Französisch halten und lachte dabei." Üblicherweise wird unter Französisch eine von vielen Sprachen verstanden. Im Alltag wird "auf Französisch" auch als Spielart von Sex (Oralsex) verwendet, bei der – in diesem Setting – vermutlich die Frau primär die Lust des Mannes befriedigt. Dies kann insoweit als sexuelle Verdinglichung der Studentin gelesen werden, unabhängig davon, ob sie es selbst in der Situation so wahrgenommen hat. Vor dem Hintergrund des gesamten Berichts schien diese Lesart der Sexualisierung naheliegend. Damit positionierte der Interviewte die Interviewende als potenzielles Sexobjekt und missachtete ihre Position als Frau, Studentin und Wissenschaftlerin, die gerade mit ihm ein Interview führte. Die Sexualisierung könnte als Strategie verstanden werden, das Gespräch machtvoll mitzugestalten (GRENZ 2005; WALBY 2009). Das Körpergewicht schien hier als nicht relevant gesetzt zu werden, es verschwand hinter bzw. mit der Sexualisierung. [32]
In den Berichten wurden ausschließlich Vorhaltungen von männlichen Interviewten gegenüber den weiblichen Interviewenden beschrieben. Ein Fall stach besonders hervor. Die Interviewende schilderte, dass der Interviewte um ein Interview in einer Sporthalle bat. Da sie davon ausging, dass es dort einen Rückzugsort geben würde, willigte sie ein. Über die genauen Absprachen diesbezüglich erfuhren die Lesenden nichts. Die Situation stellte sich laut Bericht wie folgt dar:
"[Er] führte mich [allerdings] in den abgetrennten Teil der Turnhalle. Dieser hatte Tore [...] und Bänke, die an der Seite standen. Er setzte sich auf eine Bank und pfiff zwei Männer zu sich, die sich gerade warmliefen. Er sprach mit ihnen auf Englisch und forderte sie schroff auf, eine weitere Bank gegenüber von seiner Bank zu stellen. Wir setzten uns." [33]
Der Interviewte bestimmte die Situation und die Platzierung der Interviewenden, indem er über den Ort – Raum und Sitzanordnung – entschied. Die Sitzgelegenheit richtete er nicht selbst her, sondern ließ andere auf Befehl seinen Willen ausführen. Damit positionierte er sich den anderen Männern gegenüber als überlegen und disziplinierend. Die Positionierung der Interviewenden zeigte sich wiederkehrend im Material und verunsicherte diese, wie gleich zu Beginn des sequenziellen Berichts über das Interview herauszulesen war:
"Seine Geschichte fängt mit [...] der Gründung eines bekannten [Sport-]Teams [...] an. [...] Durch die Männer, die im Raum trainierten, war ich sehr eingeschüchtert, aber auch durch die Belehrung direkt am Anfang. So konnte ich das Interview nicht so selbstbewusst ausführen, wie ich es geplant hatte." [34]
Die Belehrung hätte sich einerseits auf den Hinweis zu Beginn des Interviews beziehen können, dass sie im Rahmen ihrer Einführung zum Interviewverlauf den Punkt der Anonymisierung der Daten vergessen habe oder andererseits auf die Vorhaltung, dass sie sich nicht vorgestellt hätte: "Als ich meine Forschungsfrage begann, forderte er mich [...] auf, mich erst einmal vorzustellen. Ich stimmte zu und tat dies. [...] Nach meiner kurzen Vorstellung lächelte er und nickte." Er positionierte sie wiederholt als unwissend bzw. inkompetent, als eine Frau, die noch lernen muss, während er sich umgekehrt auf diese Weise als kompetent und ihr überlegen inszenierte. Durch die Techniken der Herabsetzung wurde sie klein – zum Kind – gemacht. Er stellte durch sein Handeln ein autoritäres Lehrer-Schülerin-Verhältnis her, das nicht auf Augenhöhe stattfand, sondern er – der Interviewte – hatte die Macht und sie – die Interviewende – nicht. Die Interaktionen, wie etwa die Mimik (nicken und lächeln), drückten dieses hierarchisierende Verhältnis aus. Ausdruck fand es aber auch in den Vorhaltungen am Ende:
"Dann sagte er, dass ich Glück habe, dass er eine Person sei, die viel von sich erzählt habe. Ich solle, egal vor wem ich stünde, niemals meine Nervosität zum Vorschein bringen, da Menschen dies ausnutzen würden. Es sei wichtig, selbstbewusst zu wirken, auch wenn man das eigentlich nicht sei. Sobald jemand spüre, dass ich kein Selbstbewusstsein habe, könnte dieser die Kontrolle über mich übernehmen und mich negativ beeinflussen. Es gäbe Menschen, die sich hierfür gezielt schwächere Menschen auswählen, um diese zu manipulieren, und davor müsse ich mich schützen. Ich entgegnete, dass ich dies beachten werde und beendete das Interview mit einem Dank. Er stand auf, nahm sogleich seine Trillerpfeife in den Mund und rief die jungen Männer zu sich. [Durch das ungebetene Feedback demonstrierte er mir seine Position im Interview.]" [35]
Der Interviewte positionierte sich als Lehrer und gab ihr ungebetene Verhaltensanweisungen. Er verließ die ihm im Setting eigentlich zugeschriebene Position als Interviewpartner und besetzte die Position eines Psychologen, der sie analysierte und ihr Lebensbewältigungsstrategien an die Hand gab. Er belehrte sie, ihre Position nicht öffentlich zur Disposition zu stellen. Eine Gegenwehr oder der Versuch, sich von der ihr zugeschriebenen niedrigen Position wieder zu befreien, blieb auf den ersten Blick aus. Auf den zweiten Blick wurde sie handlungsfähig, indem sie sein machtvolles Handeln in der Interviewinteraktion in dem vorliegenden Forschungsbericht reflektierte. So stellte er sich über sie und übernahm die Führung des Interviews, wie die Interviewte am Ende selbstreflexiv feststellte. [36]
Vielleicht blieb ihr in der Interviewsituation auch nichts anderes übrig, als sich zurückzunehmen, da sie ein Interview benötigte. Sie war die "Ansuchende", die auf die Kooperation des Interviewpartners hoffte bzw. darauf angewiesen war. Er kooperierte – und darauf wies er explizit hin – aber nicht, ohne zu Beginn seine (sexistisch-patriarchale) Position des zumindest "Nicht-Unterlegenen" klarzumachen. Der Hinweis des Interviewten, die Schwäche der Interviewerin erkannt zu haben, und der zweifelhafte Rat, sich dessen bewusst zu werden, kann darauf hindeuten, dass die weibliche Interviewerin als schwach adressiert wurde – im weiteren Datenmaterial wurde sie zudem als "schmächtig" im Vergleich zu dem Interviewten als (fülligem) Mann beschrieben. Möglicherweise begriff der Interviewte seine Art, mit der Interviewerin umzugehen, auch als humorvoll, ein aus der Distanz unangenehmer Humor, der bisweilen Gänsehaut (bei der Interpretation) hervorrief; ein unangenehmes Gefühl, das der Interviewerin in der Situation der Interviewführung offensichtlich bewusst wurde. [37]
Humor, der sich häufig in Form von Komik und Witzen innerhalb des Interviews äußerte, wurde auf unterschiedliche Weise durchaus auch explizit als Positionierungsstrategie im Material beschrieben. Es ging dabei um die Strategien in der Interaktion von Interviewenden/Interviewten im Interview. Während männlich und weiblich gelesene Interviewte häufig von Humor als Handlungsstrategie im Umgang mit dickenfeindlichen Kommentaren, Handlungen etc. erzählten, fiel auf, dass "tatsächlich" die vorliegenden Berichte von den Frauen* stark durchtränkt sind von Krisen-Narrativen (Krankheiten wie Krebs, Scheidung etc.), die bei den Lesenden bei der Durchsicht der Berichte nicht zu Heiterkeit führte. Hier bekundeten Interviewer*innen eher Unbehagen, was auf ungleiche soziale (Geschlechter-)Positionen am Schnittpunkt von Dicksein und Humor hinwies. In einigen Berichten der männlich gelesenen Interviewten waren zumindest Humor-Narrative, die zum Lachen bringen (könnten) – ob man den Humor nun teilen mag oder nicht – ablesbar. Am Ende hieß es in dem Bericht eines Interviewers zu einem Interview mit einem Mann:
"Ich bedankte mich herzlich bei [...] [dem Interviewten] für das Interview und bat ihn, ein paar Fragen zum Interview zu stellen. Er lachte laut und sagte, dass er alles bereits erzählt habe. [...] er blieb bei seiner Meinung und lehnte die Antwort auf meine Nachfragen höflich ab, mit der Begründung, dass er seit über einer Stunde nichts außer Süßes gegessen habe und es 'lebensgefährlich' für mich wäre, wenn er Hunger habe [sein Humor im Allgemeinen und auch über sich selbst war bemerkenswert]. Somit endete das Interview." [38]
Offenbar brach der Interviewte mit der Sprecherwartung des Interviewenden durch sein überraschendes Bezugnehmen auf die Situation bzw. sein Körpergewicht, was den Interviewenden beeindruckte. Der Interviewte inszenierte sich in der Erzählung als kannibalisch und spielte in gewissem Sinne – nicht nur – mit der stereotypischen Adressierung, Dicke seien "gefräßig". Inwiefern das Zitat auch eine sexualisierende Konnotation hatte, blieb an dieser Stelle offen. Deutlich wurde aber: Der Interviewte spielte auch mit den Machtverhältnissen bzw. Hierarchisierungsprozessen im Interviewsetting. Aus der unterlegenen Position heraus – er wurde aufgefordert, Stellung zu beziehen –, wurde Humor genutzt, um sich in eine höhere Position zu bringen und die machtdurchdrungenen Interaktionsverhältnisse in Bewegung zu setzen (ROSE 2017, S.124). In diesem Sinne trifft das, was ROSE zur Funktion des Witzes in Narrativen ausführte, auch auf die Situationskomik zu: Es war eine "Interaktions- und gleichzeitig soziale Ordnungsressource" (a.a.O.) im Kampf des Eigen- und Fremd-Positioniert-Werdens in Interviewarrangements. [39]
Wir rekonstruierten im Rahmen unserer Untersuchung, wie Studierende die sozial erlebte Praxis des Interviewmachens in Ordnungen zunächst des Interviews selbst und gleichzeitig des Geschlechts und des Körpers (Dickseins) am Schnittpunkt anderer Ordnungen beschrieben. Dabei handelte es sich um eine Ko-Konstruktion der interviewenden und der interviewten Person auf der Hinterbühne, die in einem Spektrum zwischen Anerkennung, Stigmatisierung und Diskriminierung stattfand. Für einige interviewende Studierende ging dies mit Belastungen einher, die durchaus verletzend waren. [40]
Die exemplarische Analyse der v.a. geschlechtsbezogenen erlebten Interaktionsordnung entlang von Körpergewicht (Dicksein) zeigte, dass es einen Unterschied gab bezüglich des Geschlechts als soziale Position von Interviewenden und Interviewten (vgl. auch GRENZ 2005, 2009): Männlichkeit wurde hergestellt, indem Normen flexibilisiert wurden (etwa Hinwegsetzen über die Gesundheitsnorm), was für Frauen offenbar nicht gleichermaßen möglich war (Essen wurde z.B. aufgrund von Stigmatisierungsängsten ins Private verlagert). Es stellte sich die Frage, inwiefern Frauen sich beim Essen und durch das Essen versteckten und Räume aufgrund von Stigmatisierungen und Diskriminierungen nicht einnahmen. Darüber hinaus – und das wurde v.a. auf der Hinterbühne sichtbar – wurden aber im Rahmen der Interaktion machtdurchdrungene Positionierungsarbeiten der männlichen Interviewten deutlich: Sexualisierung, Vorhaltung und Humor waren vor allem männlich codierte Bewältigungsstrategien zur Mitgestaltung des Interviewarrangements. Diese Positionen waren innerhalb des Interviewsettings als Strategien zu lesen, womit Machtverhältnisse in der Interaktionsbeziehung der Akteur*innen im Interview und auch außerhalb des Interviews verschoben, aufgelöst, angefochten etc. werden konnten. Ebenso wurden von den Studierenden – unabhängig ob weiblich oder männlich – andere Kriterien herangezogen, um Menschen mit hohem Körpergewicht zu positionieren. Während bei Frauen beispielsweise Ordentlichkeit (saubere Wohnung, gepflegtes Erscheinungsbild) als wiederkehrendes Kriterium zur Orts- und Personenbeschreibung dominierte, war es bei Männern breiter gefächert, ohne auf Ordentlichkeit Bezug zu nehmen. [41]
Diese Positionierungen und Positionszuweisungen, die von den Studierenden ethnografisch reflektiert wurden, spiegelten wesentliche Verletzungsgefahren (u.a. Stigmatisierung, Diskriminierung) im Interview wider, denen beide Beteiligte ausgesetzt waren. Das könnte damit abgetan werden, dass jede Interaktion Gefahren in sich birgt und dass es Forschenden qua Profession ohnehin obliegt, sich mit riskanten und manchmal heiklen Situationen auseinanderzusetzen – sonst gäbe es kein Problem und eine Forschung wäre möglicherweise ohne besondere Relevanz. Jedoch waren die Studierenden darauf nicht besonders vorbereitet. Vielleicht gab es, wie derzeit in der Lehre üblich, für in diesem Fall studierende Forscher*innen kaum ein unterstützendes Angebot. [42]
Für uns sind Irritationen des Aufeinandertreffens von Studierenden mit Interviewpartner*innen sicherlich ein willkommenes Datum – im Übrigen auch für die Selbstanalyse der Studierenden. Gerade Personen, die noch zu forschen lernen, benötigen aus unserer Sicht eine besondere Unterstützung in Form von Aussprachen und der Bearbeitung ihrer Emotionen, mit der sie meist allein gelassen werden, wie sich auch in dieser Sequenz eines Berichts zeigte: "Ich muss zugeben, dass mich dieses Interview tagelang beschäftigt hat." Dieses Problem der mangelnden Unterstützung verstehen wir nicht als individuelles, sondern als ein strukturelles Problem der Lehrkonzeption. [43]
Zu reflektieren wäre also, inwiefern Interviews emotionale Effekte haben bzw. aus ihnen psychische Belastungen für die Interviewführenden resultieren. Dieses Thema findet aus unserer Sicht im deutschsprachigen Raum zu wenig Beachtung: Es sollte diskutiert werden, inwiefern es an Maßnahmen zur Reflexion über Fürsorgeverantwortung für Forschende und auch Interviewte fehlt. Im internationalen Raum ist es an einigen Forschungsorten schon State of the Art, dass beispielsweise bei stark belastenden Forschungsthemen (etwa Gewalterfahrung oder Kriegstraumata) Mediationen in Forschungsprojekten, finanziert durch Drittmittelgebende und Universitäten, angeboten werden.19) In Deutschland findet sich neuerdings für (Post)Graduierte ein Forschungssupervisionsangebot (BLANK 2021). Die Diskussion und die Einrichtung von konkreten Maßnahmen an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen ist aus unserer Sicht überfällig. [44]
Insbesondere gefährdet sind Studierende als Forschende – ihnen obliegt nicht selten, sich zwar theoretisch bis zu einem gewissen Grad vorinformiert zu haben, sich aber eigenständig und unerprobt auf z.T. heikle, problematische oder tabuisierte Felder einzulassen. Nicht nur ist unklar, was ein Interview zu einem solchen Thema bei Interviewten anrichten kann, ebenso sind Studierende in ihrer Position verletzlich – dies war auch aus den Berichten der studentischen Interviewer*innen in der vorliegenden Untersuchung zu erkennen. [45]
Unsere Ergebnisse zeigen, dass es für Noviz*innen der qualitativen Feldforschung wichtig ist, sie auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Sexualisierung, Vorhaltungen, Manipulationen, Stereotypisierungen) hinzuweisen und ihnen Strategien an die Hand zu geben, mit solchen Herausforderungen umzugehen. Aber allein der richtige Kenntnisstand von Strategien wird der Fürsorgeverantwortung, die Lehrende für Studierende (und auch für die von den Studierenden interviewten Personen) haben, nicht gerecht. Hier sollte es aus unserer Sicht individuelle oder gruppenbezogene ggf. externe professionelle Begleitung geben. Jenseits extern eingeworbener Weiterbildung für angehende Forscher*innen erscheint es uns auch sinnvoll, in die Fortbildung der Ausbildenden zu investieren, um Coaching- und/oder Supervisionsstrategien und Diversity-Praktiken zu lernen und sie dann an ihre Studierenden weiterzugeben. Anzudenken sind ebenso Unterstützungsangebote an Universitäten, die alle empirisch Forschenden (inkl. Studierende) erreichen, beispielsweise innerhalb von Methodenseminaren.20) [46]
Ein Zuschnitt auf Studierende (und auch Forschende jenseits von Projektgruppen an Universitäten wie Promovierende) als besonders vulnerable Gruppe fehlt jedoch in der Wissenschaft und speziell für qualitativen Forschung. Aber genau das wäre wichtig, um einen sicheren Rahmen für das vulnerable Forschungs-Selbst zu bieten. Denn "neben spezifischen Themen werden qualitativ Forschende auch durch die methodische Umsetzung (Interviewführung, Erstellung und Auswertung der Transkripte) vulnerabel" (GULOWSKI 2022, §20). Das fürsorgliche Begleiten der Studierenden hilft nicht nur deren Selbstfürsorge21), sondern auch der Sorge um gute Forschung. Dann können machtdurchdrungene Gefühle, die in intersektionell-strukturelle Verhältnisse eingelassen sind, sichtbar gemacht, geteilt und letztlich in den Forschungsprozess z.B. bei der Interpretation einbezogen werden. Wie kann beispielsweise ein Coaching am Schnittpunkt von Diversity-Trainings konkret aussehen? Unser Ziel ist, das "Verletzungsproblem" – hier der Studierenden im universitären Setting – bei der qualitativen Interviewerhebung respektive Forschung sichtbar zu machen und auch den Mangel an fürsorglicher Praxis, um mit diesem Problem umzugehen. Es ist nicht unser Anspruch, ein fertiges Diversity-Coaching oder Diversity-Supervisionsangebot zu präsentieren, aber wir wollen erste Gedanken dazu teilen, um die Diskussion voranzutreiben. Nachfolgend machen wir einen Vorschlag für ein Diversity-Coaching in der Gruppe, das auf methodischen Aspekten des Psychodramas bzw. auch Soziodramas22) basiert, wobei aber auch andere Formen genannt sind (siehe Tabelle). Ebenso ist das Coaching im Einzelsetting möglich (vgl. die "Interviewer-Schulung" u.a. im Hinblick auf die Machtfrage bei HELFFERICH 2011, S.194).
Ziel |
Inhalt |
Methode/Literatur |
Get-together |
Vorstellungsrunde: Personen mit Themen, Methoden und Herausforderungen |
Ggf. mit einer Problematik beim Interview als Fallbeispiel mit HELFFERICH (2011) einsteigen (Erzählstimulus) und als Ausgangspunkt nehmen, um sich als Forschende/Studierende forschungsthematisch vorzustellen |
Theorie-Input: Intersektionalitätsverständnis |
Vermittlung einer Intersektionalitätsperspektive, die als Sensibilisierungs-Brille für den Praxis-Input dienen soll |
Zum Beispiel "Mehrebenenanalyse" nach WINKER und DEGELE (2009) oder "Doing Difference" (WEST & FENSTERMAKER 1995) Praktische Übungen zum Diversity-Training (CZOLLEK, PERKO, KASZNER & CZOLLEK 2019) |
Praxis-Input: Einblick in den Fall |
Falldarstellung und Herausforderungen sichtbar machen durch die interaktive (erzählte, verschriftlichte oder gespielte) Darstellung/Aufstellung körperlich-leiblicher Aspekte bei der Datenerhebung hinsichtlich intersektionalen Macht- und Herrschaftsthemen |
Methoden der Fallrekonstruktion für die Praxis: erzählte, verschriftlichte oder gespielte Praxisdarstellung; z.B. Psychodrama (soziologisch gelesen bzw. eingesetzt) oder Soziodrama, Aufstellungsarbeit (NAZARKIEWICZ & BOURQUIN 2019) oder andere Formen Die Teilnehmer*innen machen sich während der Falldarstellung bzw. Aufstellung bezüglich der (machtvollen) Interaktionsordnung im Datenerhebungsprozess Feldnotizen |
Theorie-Praxis-Input: Forschungswerkstatt 1 |
Auseinandersetzung mit der Frage, was passiert qua Position im Interviewsetting: Die Interaktionsordnung wird unter intersektionalen Vorzeichen für (mögliche) "Verletzungen" durch Stigmatisierung, Diskriminierung, Stereotype etc. gelesen und diskutiert |
Methode des Clusterns, z.B. an der Pinnwand |
Theorie-Praxis-Input: Forschungswerkstatt 2 |
Problemlösungsstrategien werden gemeinsam entworfen |
Methode des Clusterns, z.B. an der Pinnwand |
Tabelle 1: Vorschlag für ein Diversity-Coaching [47]
Möglich wäre, erlebte Fälle im Hinblick auf Verletzungen im Forschungsprozess als Gegenstand des Diversity-Coachings unter der Einhaltung ethischer Aspekte zu reflektieren und nach Lösungsansätzen zu suchen oder, wie oben bereits angesprochen, Verletzungsszenarien als "Trockenübung" im Vorfeld der Datenerhebung durchzuspielen. Ziel soll sein, angehende Forscher*innen für eigene Verletzlichkeiten und Gefährdungspotenziale im Interview zu sensibilisieren. Dabei ist zentral, dass diese sich der (un)gleichen Position(ierung)en im Interviewsetting und der damit einhergehenden Dominanz- und Hierarchieverhältnisse entlang unterschiedlicher Differenzdimensionen wie Geschlecht, Klasse, Race etc. bewusst werden.23) [48]
Wir plädieren wir für eine selbstreflexive, qualitative Forschungspraxis, die Studierende systematisch erlernen. Hier würde vermutlich eine Kombination aus Aspekten des Diversity-Trainings gemeinsam mit Angeboten der Supervision und/oder ein Coaching im Kontext der Methodenausbildung eine spannende Liaison im Rahmen der qualitativen Wissensvermittlung in der (Weiter-)Bildung ergeben. In Zeiten von knappen Finanzen, prekären Beschäftigungen im Wissenschaftsbetrieb und engen Zeitregimen wäre wichtig, dass diese Bildungsmaßnahme strukturell angelegt ist und nicht auf individueller (Selbst-)Verantwortung einzelner lehrender Personen beruht. [49]
Größter Dank geht an Lotte ROSE für den wertvollen Austausch und ein herzliches Dankeschön an Miriam GRUPE für das wunderbare Lektorat. Auch bedanken wir uns herzlich für inspirierende Gedanken und Hinweise, die Eingang in den vorliegenden Beitrag gefunden haben, bei Henrike KATZER, Mike LAUFENBERG, Charlotte NELL, Mariana NOLD und auch Janos SCHWAB im Vorfeld. Ganz besonders zu danken haben wir für kritisch-konstruktive Nachfragen den FQS-Gutachter*innen und Katja MRUCK für die Begleitung im Begutachtungsprozess. Vielen Dank!
1) Die Reihung erfolgt alphabetisch. Wir sind gleichermaßen Autor und Autorin des vorliegenden Textes. Das Material, auf das Bezug genommen wird, wird zu Beginn des 4. Abschnitts beschrieben. <zurück>
2) Mit dem machtkritisch-intersektionalen Austausch soll darauf verwiesen werden, dass wir die Verflechtungszusammenhänge diverser Ungleichheitsdimensionen (insbesondere Geschlecht und Dicksein) als Sensibilisierungskonzept mitdenken. Das geschieht stets im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie (STRAUSS & CORBIN 1996 [1990]) zur Selbstsensibilisierung im Analyseprozess, gleichzeitig aber auch hinsichtlich unseres Vorschlags (siehe Abschnitt 6), Sensibilisierung für studentische Forscher*innen in Lehr-, Interview- und Forschungsprozesse zu integrieren. <zurück>
3) Feld bezieht sich hier auf den Raum, in dem die Daten bei der Forschung erhoben werden. <zurück>
4) Ebenso haben andere Akteur*innen eine Fürsorgeverantwortung in Forschungskontexten wie beispielsweise Universitäten und Drittmittelgebende gegenüber ihren Mitarbeitenden bzw. geförderten Personen. <zurück>
5) Dass das Problem an Bedeutung gewinnt, wird etwa an der Verbreitung von Ethikkommissionen ersichtlich, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzen. Deutlich wird es aber auch durch die Thematisierung der Forschungsethik in öffentlichen Ausschreibungen wie der "Bonner Ethik-Erklärung" (POELCHAU et al. 2015). <zurück>
6) Siehe dazu die Ausführungen im 3. Abschnitt. <zurück>
7) Wir benutzen hier den Begriff Dicksein jenseits medizinischer Krankheitsselbstverständnisse, die in Begriffen wie Adipositas oder Übergewicht zum Ausdruck kommen. Ebenfalls möglich wäre, von "fat" oder "large, size, and person of size" zu sprechen (GAILEY 2014, S.4) bzw. von Mehrgewichtigkeit und Vielgewichtigkeit. Da Dicksein im Deutschen ein Begriff ist, der für viele geläufig, aber nicht per se stigmatisierend ist und durchaus auch wieder im positiven Sinne angeeignet wird, halten wir diese Begriffswahl für sinnvoll. Das auch, weil dem aktivistischen Begriff fat hier nicht gleichermaßen viel Bedeutung zukommt wie im angloamerikanischen Raum. Damit situieren wir uns in den Fat Studies unter Berücksichtigung des deutschen Kontexts (HERRMANN et al. 2022; SCHORB & ROSE 2017). <zurück>
8) Vulnerabilität geht auf den lateinischen Begriff vulnus [Wunde] zurück und steht hier dafür, dass die Personen im Datenerhebungsprozess – insbesondere durch erzählte Lebensgeschichten, aber auch durch (para-)verbale Adressierungen im Zuge der Interviewproduktion – verwundbar bzw. verletzbar sind. Der Begriff wird inter- und transdisziplinär verwendet. Vulnerabilität kommt bei mikrosoziologischen Untersuchungen im Zusammenhang mit Migration, Kindheit, Geschlecht und Alter vor, aber auch bei Themen wie Katastrophen und Krisen. Es geht um besonders vulnerable Personengruppen aufgrund von Positionierungen in Verhältnissen mit hohem Verletzbarkeitsrisiko. Vulnerable Gruppen sind solche, die häufig strukturell bedingt über eingeschränkte Ressourcen und Teilhabemöglichkeiten verfügen und im besonderen Ausmaß von Stigmatisierungen und Diskriminierungen betroffen sind (VON KÖPPEN, SCHMIDT & TIEFENTHALER 2020). Das könnten beispielsweise Personen auf der Flucht sein, Sexarbeiter*innen, ausländische Haushaltshilfen und Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten, aber auch gewaltbetroffene Personen oder Personen mit Behinderung. In der qualitativen Forschung wurde das Thema oft mit Traumabewältigung im Interviewprozess in Beziehung gesetzt (etwa von GULOWSKI 2022), aber auch mit Arbeiten zu vulnerablen Gruppen als zu Beforschenden (a.a.O.). Weniger stark thematisiert wurde die Vulnerabilität der Person, die das Interview durchführt. Aber gerade im ethnografischen Kontext ist das Thema der Vulnerabilität nicht unbekannt und wurde reflektiert (etwa LEE 1995, S.1ff.; MÜLLER 2009, S.140f.). <zurück>
9) Siehe dazu auch BLANK (2021). <zurück>
10) Mit Bezug u. a. auf die ethnopsychoanalytische Tradition sei an dieser Stelle BREUER (2000) genannt, ebenso zu erwähnen sind die FQS-Schwerpunktausgaben zu Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess (MRUCK, ROTH & BREUER 2002; ROTH, BREUER & MRUCK 2003). <zurück>
11) Das Zitat stammt aus dem schriftlichen Feedback einer begutachtenden Person im Zuge des FQS-Einreichungsverfahrens des vorliegenden Beitrags. <zurück>
12) Siehe auch die Literatur zur so genannten Ko-Produktion der Forschenden im Forschungsprozess (z.B. SCHRÖER 2002) oder zu partizipativen Forschungsansätzen (VON UNGER 2014). Ko-Produktion heißt, dass auch Forschende an der Herstellung der Interviewwirklichkeit aktiv beteiligt sind und niemals völlig neutral sind bzw. sein können. <zurück>
13) Siehe biografietheoretisch auch HAHN (1988) zum Konzept der Biografiegeneratoren. <zurück>
14) Die "Vorderbühne" findet in unserem Beitrag keine Berücksichtigung und dient nur der Abgrenzung. Sie wäre im Rahmen der Auswertung das, was sich auf der inhaltlichen Ebene des Interviews abspielt und, wenn auch selektiv (erzählt, beobachtet), dem Publikum zugänglich ist. <zurück>
15) In SCHÜTZ' Phänomenologie (2004 [1932], S.223) wurde nur in dieser körperlichen Vis-à-vis-Situation die Möglichkeit der Wahrnehmung gemeinsamer Erfahrung zugeschrieben (BONGAERTS 2022, S.170); siehe zu gemeinsamem Erfahren DENGEL (2021). <zurück>
16) Im Anschluss u.a. an LINDEMANN (2019) und MERLEAU-PONTY (1976 [1966]) ist der Leib/Körper der "Vollzugsort", der der Welt zugewendet ist, um zu erfahren und andere wahrzunehmen und so wiederum sich selbst zu objektivieren und zu identifizieren. Der "Feeling Body" (COLOMBETTI 2014) wird aktiv-affektiv angezeigt – wenn auch wahrscheinlich nicht immer bewusst und ist dennoch ein markantes Datum für Forschung. Durch den Leib/Körper werden Ordnungen (re)produziert, nicht zuletzt durch den Akt des Fühlens oder auch Spürens (SCHÜTZEICHEL 2017). <zurück>
17) Das Forschungsprojekt wurde von Lotte ROSE geleitet und im Rahmen des Programms "Frauen- und Geschlechterforschung" des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst gefördert. <zurück>
18) Die Themen wurden nicht von der Seminarleitung vorgegeben, sondern von den Studierenden aus ihrer eigenen Interview-Ethnografie heraus entwickelt. <zurück>
19) Dies zeigte sich im Austausch mit international Promovierenden. <zurück>
20) Siehe in Anlehnung an "Grade – die (Post)Graduiertenakademie der Goethe Universität" Frankfurt/M. das Angebot Forschungssupervision: Forschungsethik/Gewalterfahrungen, das maßgeblich durch die Forschung von BLANK (2021) entwickelt wurde. <zurück>
21) Selbstfürsorge bezieht sich hier darauf, sich um das eigene psychische und physische Wohl zu kümmern. <zurück>
22) Psychodrama ist ein Ansatz, der auf Jacob Levi MORENO (u.a.1964) zurückgeht. Dieser Ansatz wird in Coachings, Trainings etc. verwendet (etwa WILDT 2017, S.175), um durch ausgewählte Szenen, die interaktiv gespielt respektive erlebt werden, Perspektiven für Handlungssituationen zu erhalten. Der Gewinn des Einsatzes des Psychodramas liegt darin, dass die Teilnehmenden eigene Position(ierung)en unter Berücksichtigung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Feld etwa der Interviewordnung diskutieren und reflektieren können. Dabei ermöglicht das Psychodrama einen Zugang, der nicht nur auf der Ebene von Sprache und Interaktionen bleibt, sondern bei dem auch auf der Ebene von Leiblichkeit bzw. des Empfindens verhandelt wird. So wird es möglich, den "gelebten Körper" szenisch ins Zentrum zu setzen, und dies hilft in der qualitativen Methodenausbildung, um die "Verletzungsoffenheit" der Teilnehmenden im Interviewprozess zu verstehen und Lösungsansätze partizipativ zu entwickeln. Von Soziodrama wird dann gesprochen, wenn gesellschaftliche Prozesse im Psychodrama reflektiert werden (NOVY 2008). <zurück>
23) Ebenso könnten in diesem Kontext auch eigene Reflexionen und Vorannahmen der interviewenden Person diversitätsgerecht bearbeitet werden, z.B., wenn Stereotype ins Feld geführt werden. In einem Fall problematisierte nämlich eine interviewende Person die sexuelle Orientierung (hier lesbisch zu sein) der interviewten Person als nicht "normal" und interpretierte sie als Ursache für Vielgewichtigkeit. <zurück>
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Udo DENGEL (Dipl. Soz., Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Forschungszentrum CINTEUS. Seine Arbeitsschwerpunkte sind qualitative Verfahren (insbesondere Grounded-Theory-Methodologie), Migrations- und Identitätsforschung, Soziologie sozialer Ungleichheiten und Zivilgesellschafts- und Engagementforschung. |
Kontakt: Dr. Udo Dengel Sozial- und Kulturwissenschaften Tel.: +49 (0)6619640-4662 E-Mail: udo.dengel@sk.hs-fulda.de |
Eva TOLASCH (MA Soz. und Pol. Wiss., Dr. phil.) ist Professorin für qualitative Gesundheitsforschung und Intersektionalität an der Hochschule Fulda. Arbeitsschwerpunkte sind: Elternschaft, Körpergewicht, Gewalt, Care, Geschlecht, Ernährung, Kindheit, Ungleichheiten. |
Kontakt: Prof. Dr. Eva Tolasch Gesundheitswissenschaften Tel.: +49 (0)661/9640-6404 E-Mail: eva.tolasch@gw.hs-fulda.de |
Dengel, Udo & Tolasch, Eva (2024). Weil wir eine Fürsorgeverantwortung in der qualitativen Methodenausbildung haben. Von Verletzbarkeiten und diversitätsgerechter Begleitung studentischer Forscher*innen [49 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 25(2), Art. 5, https://doi.org/10.17169/fqs-25.2.4034.