Volume 24, No. 2, Art. 7 – Mai 2023
Autoethnografie in Todesnähe. Soziologische Arbeit an und mit herausfordernden Identifikationsprozessen
Melanie Pierburg, Thorsten Benkel, Ekkehard Coenen, Matthias Meitzler & Miriam Sitter
Zusammenfassung: Thanatosoziologisch zu arbeiten bedeutet, wissenschaftlich mit Sterben, Tod und/oder Trauer konfrontiert zu sein – was die Lebenswelten der entsprechenden Forschenden keineswegs unberührt lässt. Wir möchten die Selbstthematisierungsdebatte nutzen, um Einblicke in das sozialwissenschaftliche Forschen in Todesnähe zu geben. Dazu stellen wir ethnografische Studien vor, um Besonderheiten der Feldkonturierung, des Feldzugangs und der Feldaufenthalte herauszuarbeiten, die mit der Endlichkeitsthematik zusammenhängen. Darüber hinaus präsentieren wir autoethnografische Vignetten, in denen wir das konkrete thanatosoziologische Arbeiten problematisieren. Was bedeutet es, einen Artikel über das Sterben zu schreiben, wenn man eine Verlusterfahrung verarbeiten muss? Wie behält man ein distanziertes Verhältnis zu dem Phänomen sterbender Kinder bei, wenn man die Nachbarskinder beim Spielen hört? Und wie geht man damit um, ein Tötungsvideo zu analysieren, dessen Hauptfiguren an die eigene Familie erinnern? Die biografisch inspirierten Texte sollen Schlaglichter auf lebensweltliche Momente werfen, die immer Teil des wissenschaftlichen Arbeitens sind und in Todesnähe besondere Evokationen erzeugen können.
Keywords: Thanatosoziologie; Autoethnografie; Ethnografie; Subjektivität; Sterben; Tod; Trauer
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ethnografisches Forschen in Sterbewelten
2.1 Feldforschung in Todesnähe: Zugänge und Erkenntnisse
2.2 Außeralltägliche Routine am Lebensende
3. Thanatologische Autoethnografie
4. Autoethnografische Vignetten
4.1 Erste Vignette: über das Sterben schreiben
4.2 Zweite Vignette: Der Ort, an dem ich über sterbende Kinder schreibe, ist selten so werturteilsfrei, wie er wissenschaftlich sein könnte
4.3 Dritte Vignette: das Getötet-Werden anderer betrachten
In einem wissenschaftlichen Kommunikationsraum über sich selbst zu sprechen, ist bekanntlich riskant. Ein stark an der Idee akademischer Objektivierungsannäherung orientiertes Wissenschaftsverständnis lässt die Subjektivierung von Erkenntnis nicht zu. In der rekonstruktiv ausgerichteten Sparte der sozialwissenschaftlichen Scientific Community wiederum ist das nicht ganz so problematisch, schließlich sind hier Menschen immer Ko-Konstrukteur*innen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die es zu verstehen gilt. Wenn es dann auch noch, wie im Rahmen der FQS-Debatte Von uns selbst sprechen wir! Erkundungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens, einen Aufruf zur Selbstthematisierung gibt, scheint auf den ersten Blick jede Gefahr wissenschaftlicher Selbsteliminierung durch vermeintliche Nabelschau gebannt. Auf den zweiten Blick ist das Risiko allerdings nach wie vor gegeben. Allein die Aufforderung zum selbstbezogenen Schreiben ändert nichts an dessen Fallstricken. Was kann man über sich selbst als Wissenschaftler*in aussagen, das in irgendeiner Form einen wie auch immer gearteten Erkenntnisprozess bereichert? Wen interessieren biografische Idiosynkrasien, welche die Analyse von Phänomenen doch auch im interpretativen Paradigma – zumindest hinsichtlich der Ergebnisse – nicht beeinflussen dürfen? Wird diese Perspektive eingenommen, wird allerdings unterschlagen, dass wir uns immer auch als biografische Subjekte mit wissenschaftlichen Themen auseinandersetzen. Bei der Wissenschaft und der eigenen Biografie handelt es nicht um zwei Sinnsphären, die voneinander unberührt bleiben. Allerdings variiert der Verweisungszusammenhang von wissenschaftlicher Thematisierung und biografischer Perspektive durchaus mit dem Fachgebiet und dem Forschungsgegenstand. [1]
Eine Besonderheit, davon sind wir – die Autor*innen dieses Artikels1) – zumindest überzeugt, stellt der Themenbereich dar, mit dem wir uns sozialwissenschaftlich beschäftigen. Als Thanatosoziolog*innen analysieren wir Phänomene, die in einer Verbindung zu Sterben, Tod und/oder Trauer stehen. Das geht mit ganz unterschiedlichen theoretischen und methodischen Herausforderungen einher und mit einem Spezifikum, das wir für unser Themenspektrum in Anspruch nehmen: Das, womit wir uns wissenschaftlich auseinandersetzen, betrifft jede*n, mit der/dem wir darüber kommunizieren. Auf jeder Tagung sitzen uns Sterbliche gegenüber. Alle Herausgeber*innen, die unsere Texte publizieren, werden irgendwann tot sein, genauso wie unsere Kolleg*innen diesem Schicksal entgegensehen. Und natürlich sind ebenso wir selbst mit dem Horizont der Endlichkeit unserer Existenz konfrontiert. Auch wir Expert*innen für Sterben, Tod und Trauer werden irgendwann nicht mehr Teil der lebendigen Gemeinschaft sein. Was aber vielleicht noch viel schwerer wiegt, ist, dass wir uns auch indirekt mit dem Sterben jenseits unserer Forschung befassen müssen. Wir haben Angehörige und Freund*innen, die sterben. All das kann als biografischer Rahmen verstanden werden, der unsere thanatologischen Studien begleitet und manchmal mehr, manchmal weniger greifbar, fruchtbar oder (hoch)problematisch werden kann. Diese Dimension der Arbeit wird in unseren Artikeln, Büchern und Beiträgen aber, zumindest in den meisten Fällen, nicht dargestellt. Unsere Angst vor dem Sterben, unsere Trauer um verstorbene Angehörige, unsere vielfältigen Vulnerabilitätserfahrungen bleiben unsichtbar. Das ist in vielen Fällen sinnvoll, denn diese biografischen Reflexionen oder gar Einbrüche tun nicht immer etwas zur wissenschaftlichen Sache. Trotzdem sind eben jene Erfahrungen auf einer anderen Ebene relevant. Denn in unserer Forschung setzen wir uns als Sozialwissenschaftler*innen nicht so sehr mit uns selbst auseinander, sondern vor allem mit Anderen, und beim Verstehen dieser Anderen spielen immer auch die eigenen Erlebnisse eine Rolle. [2]
Deshalb soll es in diesem Artikel einmal nicht so sehr um die Anderen gehen. Stattdessen machen wir uns selbst zum Thema, um zu zeigen, dass wir auch als Thanatosoziolog*innen nicht (nur) sachliche Sterbe-, Todes- und Trauerforschende sind, sondern immer und gleichzeitig auch lebensweltliche Akteur*innen, deren Perspektiven auf die Welt mit biografischen Erfahrungen verbunden sind. Um die Verknüpfung von Wissenschaft und Biografie zu fokussieren, stellen wir zunächst unsere Forschung vor, die vor allem ethnografisch ausgerichtet ist (Abschnitt 2). Hierbei möchten wir zeigen, welche spezifischen Potenziale und Herausforderungen mit Ethnografien in Sterbewelten verbunden sind und einen Einblick in unsere wissenschaftlichen Umgangsstrategien geben. Im Anschluss thematisieren wir biografische Aspekte unserer Arbeit. Wie schreibt man über das Sterben, wenn man einen Angehörigen verloren hat? Wie kann mit der wissenschaftlichen Thematisierung von sterbenden Kindern umgegangen werden, wenn man die Nachbarskinder im Garten hört? Wie analysiert man Tötungsvideos, wenn einen die tragischen Protagonist*innen an die eigene Familie erinnern? Es geht uns um das konkrete thanatosoziologische Arbeiten, das immer auch in biografischen Situationen stattfindet. Um diese oftmals versteckten Aspekte wissenschaftlichen Tuns zu repräsentieren, lehnen wir uns an die evokative Autoethnografie (PLODER & STADLBAUER 2013) an, die wir als methodischen Zugang vorstellen (Abschnitt 3). Die darauffolgenden autoethnografischen Vignetten stellen einen gewollten (stilistischen) Bruch zu den vorherigen Ausführungen dar, so wie sich auch Sterben, Tod und Trauer als Differenz zum Und-so-weiter in die Lebenswelt einschreiben können (Abschnitt 4). [3]
2. Ethnografisches Forschen in Sterbewelten
Der Tod stellt eine offensichtliche Grenze für die Mitwirkung am sozialen Leben dar, insofern müsste die empirische Forschung ein ausgeprägtes Interesse an Endlichkeitsphänomenen haben. Das ist allerdings nur sehr eingeschränkt der Fall. Aus einer Insider*innenperspektive zeigt sich, dass Sterben und Tod nicht die wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwird, die der Relevanz dieser Übergangs- und Statuspassagen in den Lebens- und Sterbenswelten von Betroffenen und ihren significant others entspricht (WOODTHORPE 2008). Zwischen der individuellen Betroffenheit sowie der kulturellen Verwurzelung dieser sozial anschlussfähigen und konsequenzenreichen Phänomene und ihrer empirischen Untersuchung klafft eine erstaunliche Lücke. Doch auch wenn in der sozialwissenschaftlichen Forschung Sterben und Tod nicht als zentrale gesellschaftliche Probleme behandelt werden, gibt es durchaus eine thanatosoziologische Forschung. [4]
Wir beschäftigen uns seit Jahren mit entsprechenden Themen. Das tun wir natürlich nicht innerhalb eines forschungsfreien Kontinuums. Wir stehen sogar in einer Forschungstradition, die sich zugegebenermaßen im Gesamtkorpus sozialwissenschaftlicher Arbeiten eher marginal ausnimmt. Fokussiert man auf ethnografische Arbeiten, denen ein besonderer Stellenwert bei der Erforschung von Sterbephänomenen zukommt, finden sich seit den 1960er-Jahren Studien, die auf der Grundlage von teilnehmenden Beobachtungen in Hospizen, Krankenhäusern, Pflegeheimen etc. durchgeführt wurden (DREẞKE 2005; PFEFFER 2005; SUDNOW 1973). Der Überhang ethnografischer Forschungsdesigns mag der Tatsache geschuldet sein, dass Sterben, Tod und Trauer in ihrer kulturellen Vielfältigkeit, Komplexität und Kontextbezogenheit beschrieben werden können. Zwar ist das Kernphänomen von (körperbezogenen) Ähnlichkeiten gekennzeichnet, die oftmals als anthropologische Konstante verhandelt werden, die begleitenden Praktiken, Diskurse, Ritualformen etc. sind aber hochgradig divers (ASSMANN, MACIEJEWSKI & MICHAELS 2005; BENKEL & MEITZLER 2018). So können kontextsensible Verfahren dem Wirklichkeitsaspekt des Todes (für die Lebenden) besser gerecht werden als distanziertere Formen des Forschens. Das in der sozialen Auseinandersetzung bezeugte Sterben eröffnet eine Verstehensebene, bei der sowohl die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Trauer und Verlust ermöglicht als auch das stets implizierte Memento mori in den Vordergrund gerückt wird. Eine Ethnografie, die in Todesnähe (BENKEL 2017) situiert ist, bietet Einsichten in Herausforderungen, Grenzüberschreitungen, Kompensationsmöglichkeiten und -defizite, mit denen Betroffene (Sterbende wie Angehörige) je spezifisch, letztlich aber tagtäglich in stets neuen Konstellationen immer wieder konfrontiert sind. Sterben ist eben Teil alltäglicher Lebenswelten, die sich in spätmodernen Gesellschaften vor allem in Krankenhäusern und Hospizen finden. Dabei werden mit Ethnografien in Todesnähe Einblicke in Sterbewelten generiert, die den Lebenswelten der Ethnograf*innen gegenüberstehen, die sich auf der Grundlage einer Mischung von natürlicher und theoretischer Einstellung in ihnen bewegen. Hierbei drängt sich der gedankliche Transfer von der untersuchten indirekten Sterbesituation auf das zukünftige Pendant auf. Es handelt sich also um ein ethnografisches Unterfangen, in dem die endgültige Zukunft der*des Forschenden Teil der Perspektive auf das Feld sowie der auf das private Leben werden kann. [5]
2.1 Feldforschung in Todesnähe: Zugänge und Erkenntnisse
Um die Metaperspektive auf die ethnografisch ausgerichtete Thanatosoziologie zu unterfüttern, möchten wir nun beispielhaft einige Untersuchungen vorstellen, die zu den bereits angedeuteten Selbstbezügen führten. Sozialwissenschaftliche Nachforschungen in einem ganz buchstäblichen Feld, nämlich dem Friedhofsfeld haben sich hinsichtlich der interaktionistischen Perspektive als wenig ergiebig herausgestellt, da der moderne "Totenacker" faktisch nicht als Ort des kommunikativen Austauschs fungiert (auch wenn im Rahmen von Imagekampagnen bisweilen das Gegenteil behauptet wird). Nichtsdestotrotz haben BENKEL und MEITZLER (2013, 2022) beispielsweise in ihren Studien im Hinblick auf die Rekonstruktion der Wandlungsprozesse im Kontext der materiellen Gestaltung gezeigt, dass viele Grabeinrichtungen mittlerweile im Format einer lebensbilanzierenden Kurz- bzw. Kompaktdarstellung errichtet werden. Diese Entwicklung begann in den 1990er-Jahren und lässt sich prima facie als Widerhall durchlebter Individualisierungsentscheidungen der Verstorbenen verstehen. Gleichwohl sind diese Individualisierungen meistens die Produkte von Aushandlungsprozessen der Hinterbliebenen, durch die ausgewählte Aspekte einer verblichenen, aber vermissten sozialen Identität dort hypostasiert werden, wo allein der (unsichtbar gemachte) tote Körper bzw. seine kremierte Form übrigbleibt. [6]
Weitere ethnografische Forschungen fanden u.a. an den an der Bestattungskultur beteiligten Gewerken und in angrenzenden Professionsfeldern wie etwa dem Krankenhaus statt. So eignete sich zur Untersuchung des Bestattungs- und Friedhofswesens aus verschiedenen Gründen ein ethnografischer Zugang – konkret: die beobachtende Teilnahme in Form einer Anstellung bei einem Bestattungsunternehmen (COENEN 2020). Zum einen war es dadurch möglich, Einblicke in Hinterbühnenpraktiken des Bestattens zu erhalten, die sowohl den Hinterbliebenen als auch der Öffentlichkeit und Sozialforscher*innen, die in dem Feld nur Interviews führen, verwehrt bleiben. Durch die Arbeit in Todesnähe und – buchstäblich – Totennähe konnten die Logiken des professionellen Umgangs mit den Verstorbenen eingeübt und das damit verbundene Spezialwissen rekonstruiert werden. Außerdem konnte über die Einnahme einer professionellen Feldposition eine störende Anwesenheit im Feld vermieden werden, was sich bei der Konfrontation mit Trauernden als ein höchstrelevanter Aspekt der Methodenwahl darstellte. Die Partizipation an Bestattungspraktiken und die Inklusion in damit befasste Organisationsgemeinschaften und -strukturen ermöglichte ein Selbst- und Nachspüren leiblich-affektiver Felddimensionen. Nicht nur die Gefühle während der Arbeit auf der Vorderbühne konnten so ausgeleuchtet werden, sondern auch die verschiedenen Grade der Betroffenheit, die sich im Rahmen der beruflichen Sozialisation einstellten (COENEN 2021; KNOPKE 2018). [7]
Andere ethnografische Forschungen wurden in der Pathologie durchgeführt, um in Form einer Vor-Ort-Recherche konkrete ärztliche Aktivitäten an Leichenüberresten beobachten zu können (BENKEL 2018; MEITZLER 2018). Die Forschung in diesem Feld, das abgeschottet ist, da es in einem für Publikumsverkehr unzugänglichen Bereich des Krankenhauswesens angesiedelt ist, verwirklichte sich als Feldforschungsrendezvous auf Augenhöhe. Als Zutrittsbedingung stellte sich nämlich die Notwendigkeit heraus, die wissenschaftliche Neugier durch das Vorweisen entsprechenden kulturellen Kapitals zu beweisen, durch akademische Titel und durch wissenschaftliche Publikationen. Im Sektionssaal selbst wurden die sozialwissenschaftlich Forschenden als Outsider adressiert, denen sämtliche körperlichen Zusammenhänge und daran orientierte Obduktionspraktiken umfassend erläutert werden mussten. So stellte sich die fehlende Mitsprachekompetenz der nicht in den Fachtermini geschulten Ethnografen als gewinnbringend heraus, denn auf diese Weise gelangten sie in eine Lage, von der aus sie bei basalsten Handgriffen um Erklärung bitten und somit vertiefende Einblicke in die Selbsterklärungen der Akteur*innen erhalten konnten. Die im Feld professionell Handelnden lieferten auf diese Weise Ad-hoc-Reflexionen über ihre eigene Position und ihre bald fachliche, bald situativ-problemlösende Kompetenz, die in der unbeobachteten Tätigkeit unter Peers nicht oder nur selten ausbuchstabiert werden. [8]
Dem Umgang mit den Toten vorgelagert ist – zumindest in den meisten Fällen – das Sterben als Übergangsprozess, der sozial gestaltet, verhandelt, bezeugt und begleitet wird. Das institutionalisierte Sterben (KNOBLAUCH & ZINGERLE 2005) als finale Lebensphase, die mit Bedeutung aufgeladen wird und in dem angestrebten Ideal des "guten Sterbens" gipfeln kann, lässt sich u.a. in Krankenhäusern (SAAKE, NASSEHI & MAYR 2019; STRECKEISEN 2001) und Hospizen (COATES 2020; DREẞKE 2005; PFEFFER 2005) beobachten. Die ethnografische Thanatosoziologie ist in diesen Organisationsbereichen konzentriert. Ein davon differenziertes und zugleich assoziiertes Feld sind Ausbildungskurse, in denen Professionelle und Semi-Professionelle in ihre Tätigkeiten in Todesnähe eingeführt werden. Die Ethnografie eines Hospizkurses, durch den Ehrenamtliche auf "das Begleiten" vorbereitet wurden, erwies sich als Unterfangen, in dem die Forscherin weniger stark mit den körperlichen Aspekten von Sterben und Tod – wiederum buchstäblich – in Berührung kam, umso mehr aber auf die Kontingenz des Sterbens als Anknüpfungspunkt von Sinnkonstruktionen und Deutungsaushandlungen stieß (PIERBURG 2021a). Die Sozialität des Sterbens zeigt sich auf besondere Weise da, wo von der Prozesshaftigkeit des Körpers abstrahiert werden kann, weil in einem Hospizkurs im Regelfall niemand stirbt. Da, wo das Sterben als gesellschaftliche Aufgabe definiert wird, muss es auf spezifische Weise als sozial hervorgebracht werden. Sterbende sind dann typische Akteur*innen mit typischerweise nicht typischen Bedürfnissen, die "das Begleiten" als unterbestimmtes Tun anschlussfähig machen. In die damit verbundenen (Deutungs-)Aushandlungen involviert zu sein, ermöglichte es, sie als intersubjektive Herstellungsprozesse zu rekonstruieren (PIERBURG 2021b). [9]
2.2 Außeralltägliche Routine am Lebensende
Die skizzierten Forschungsfelder lassen sich anhand ihrer Eigenlogiken sowie ihrer spezifischen soziologischen Erkenntnismöglichkeiten unterscheiden, ihnen ist aber auch ein grundlegender Aspekt gemein: die Konfrontation mit der Irreversibilität des Todes. Eben dies kann die Perspektive auf das jeweilige Datenmaterial verändern. Insbesondere Forschungsaktivitäten in Hospizen (oder in anderen direkt oder indirekt auf das Sterben ausgerichteten Organisationen) werfen bei Ethnograf*innen früher oder später nolens volens die Frage auf, ob der Moment des Todes ein Datum ist, das sich in den Kanon der Aufzeichnungen einfügen lässt wie jede andere Beobachtung. Das Sterben, egal wie es soziologisch definiert und eingrenzt wird, geht – zumindest in der Spätmoderne – üblicherweise mit einer fundamentalen Krise einher. Die beobachtenden Ethnograf*innen haben ein unhintergehbar instrumentelles Interesse an diesen krisenhaften Situationen, was unabhängig von den besonderen forschungsethischen Herausforderungen als konfliktiv und ambivalent erfahren werden kann (COENEN & MEITZLER 2021). Die immer schon als problematisch diskutierte Doppelrolle von Feldteilhabe mit der Übernahme von Perspektiven sowie Selektionsmustern und distanzierter Beobachtung, der andere Relevanzen unterliegen, erhält hier eine Zuspitzung. Diese Verschärfung kann auf einer anderen Ebene auch damit ausbuchstabiert werden, dass sich Feldforscher*innen in Sterbezusammenhängen von anderen wiederfinden. So befinden sich die beteiligten Akteur*innen an stark asymmetrisch geprägten Standorten: Die Forschenden werden weiterleben und befassen sich mit denjenigen, deren Zukunftshorizont wesentlich verengter ist, in erster Linie deshalb, weil es diese Verengung gibt. Während die Forschungssubjekte sterbend sind, sind die Forschenden lebend. Und diese Beziehung drängt sich im Forschungsprozess reflexiv auf, muss bewältigt, vielleicht sogar in erkenntnistheoretischer Absicht produktiv gewendet werden, wenn die Instrumentalität nicht umsonst sein soll. [10]
Im Prozess der Forschung entwickelt sich oftmals ein weiteres Spannungsfeld, das mit dem oben beschriebenen verbunden ist: Sterben ist einerseits eine gesellschaftliche Routine, es kommt schlicht immer vor und der Umgang damit ist, auch und gerade in spätmodernen Organisationskontexten, ein routinisierter. So ist der Tod auch unspektakulärer Standard, wenn man die Statistik bemüht.2) Im emotionalen Empfinden insbesondere der Angehörigen hingegen steht er häufig synonym für die größtmögliche Katastrophe. Es ist mithin die Frage, ob es in Sterbekontexten etwa aufseiten des medizinischen und pflegerischen Personals eine Routine gibt und wie dem gegenüber in der Situation des Versterbens und damit des Abbruchs jeglicher sozialen und körperlichen Präsenz für die professionellen Kräfte eine Krise aussieht, welche eben auch ethnografisch interessant ist. Um zu verstehen, was es bedeutet, in der "Realität des Todes" (GROẞ & SCHWEIKARDT 2010) den eigenen Berufsalltag zu ordnen, bietet sich ethnografisches Engagement an. Ethnografie in solchen Feldern bedeutet, dass Wissenschaftler*innen sich darauf einlassen, die Alltäglichkeit eines meist nicht in Todesnähe absolvierten Alltags gegen eine entsprechend justierte Erkenntnisposition auszutauschen – im besten Fall mit dem Erfolg einer Sensibilisierung für die Anforderungen, die sich im privaten Zuhause, im Spital, auf der Palliativstation, im Altenheim, im Hospiz usw. ständig ergeben und die dauernd/fortwährend verhandelt und einem Ergebnis zugeführt werden müssen. [11]
Damit verbunden ist die potenzielle affektuelle Betroffenheit der Ethnograf*innen selbst. Verquickungen mit lebensweltlichen Erfahrungen und Befürchtungen lassen sich an Orten, die Sterben, Tod und Trauer manifest und bezeugbar machen, schwerlich verhindern. Insofern stellt sich in Feldern in Todesnähe die Frage, wie die Ethnograf*innen mit den Erfahrungen umgehen, die nicht nur in einem wissenschaftlichen Bezugsraum Wirkung entfalten, sondern auch biografische Relevanzen ausweisen können. Sind die eigenen Ängste und Assoziationen auch Datenmaterial? Oder gilt es, sie zu kontrollieren, um dem jeweiligen Feld wissenschaftlich gewachsen zu bleiben, auch wenn Objektivität kein Gütekriterium ethnografischer Forschung ist, weil das Einlassen auf soziale Situationen Teil der methodischen Ausrichtung ist? Sterben und Tod stehen eben auch den Ethnograf*innen bevor, und die leibhaftige Begegnung damit in Hospizen und Krankenhäusern erhält somit eine konfrontative Dimension, die so in anderen Forschungsfeldern nicht gegeben ist. Die Differenz zwischen biografischen Perspektiven und jenen der im Feld vorfindlichen Berufsakteur*innen birgt ein besonderes Potenzial, gesellschaftliche Wirklichkeit zu beobachten und nachzuvollziehen, gerade weil der eigene Standpunkt nicht (immer) eingeklammert werden kann, schließlich schwingt die persönliche Betroffenheit in finaler Form mit. [12]
3. Thanatologische Autoethnografie
In autoethnografischen Forschungen zeigen sich die oben aufgeworfenen Fragen zur potenziellen Betroffenheit und Verquickung lebensweltlicher Erfahrungen nicht nur in intensivierter Form, sie werden darüber hinaus direkt reflektierbar. Die konfrontative Komponente kann hier beispielsweise dezidiert thematisiert werden, ohne dabei an wissenschaftliche (Sprach-)Konventionen gebunden zu sein. Deswegen beinhaltet diese Herangehensweise für Thanatosoziolog*innen ein spezifisches Reflexions- und (Selbst-)Erkenntnispotenzial. Sie erlaubt aber auch, dem eigenen Betroffensein einen Raum zu geben, ohne dabei einer wissenschaftlichen Instrumentalität unterworfen zu sein, also klare Ergebnisse vorweisen zu müssen. Zumindest die evokative Autoethnografie eröffnet einen Darstellungsspielraum, durch den rationale Zugänge überschritten werden können. Diese Forschungsrichtung soll jetzt methodisch genauer beleuchtet werden, bevor dann autoethnografische Vignetten folgen, mit deren Hilfe veranschaulicht werden soll, was es für Forschende konkret bedeuten kann, mit dem Sterben wissenschaftlich und biografisch konfrontiert zu sein. [13]
Die Autoethnografie von der Ethnografie gesondert vorzustellen, bedeutet, ihr eine Eigenlogik, wenigstens Spezifika zuzusprechen. Was unterscheidet diesen methodischen Zugang aber von klassischen Feldforschungsvarianten? Es kann nicht der Rekurs auf persönliche Erfahrungen sein, wie durch den ersten Bestandteil des Begriffs (auto) suggeriert wird, schließlich ist die teilnehmende Beobachtung der kleinste gemeinsame Nenner aller Arten ethnografischen Forschens. So sind das Erleben und Erfahren der*des Forschenden, mehr oder minder stark gewichtet, immer Teil des Forschungsprozesses. Auch der mittlere Teil des Begriffs (ethno) hilft nicht weiter, denn die Idee der kulturellen Verfasstheit von Erfahrungen ist Teil des theoretischen Repertoires aller ethnografischer Zugänge. Und nicht einmal das Schreiben (grafie) kann als Eigentümlichkeit aufgefasst werden, wenn man an das Ziel der dichten Beschreibung (GEERTZ 1987 [1973]) denkt, das wohl alle Ethnograf*innen umtreibt. Die Eigenheit der Autoethnografie liegt nicht so sehr in ihren methodischen Teilaspekten, sondern vielmehr in deren Ausrichtungen und Relationen – zumindest, wenn man es bei der Differenzierung von Ethnografie und Autoethnografie nicht bewenden lässt, sondern Letztere in weitere Unterkategorien aufteilt und ihre spannendste Variation in den Fokus rückt: die evokative Autoethnografie (BOCHNER & ELLIS 2016). Diese "setzt an den Erfahrungen und dem subjektiven Erleben von ForscherInnen an und wird gern zur Bearbeitung von Themen herangezogen, zu denen die ForscherInnen ein biografisches Nahverhältnis haben" (PLODER & STADELBAUER 2013, S.374). Es stehen also nicht nur Erfahrungen im Vordergrund, sondern solche, die sich durch eine besondere biografische Relevanz auszeichnen und so nicht nur wissenschaftliche Interessen tangieren. Ein aktuelles Beispiel wäre ein Reisebericht, in dem alltagsweltliche Transformationen während der Covid-19-Pandemie beschrieben wurden (PIERBURG 2021c). Hier zeigt sich die Verbindung zum oben aufgeführten kulturellen Aspekt, denn die Erzählung und ihre theoretische Reflexion sollen kein idiosynkratisches Weltverhältnis repräsentieren, sondern individuelle Erfahrungen, in denen sich gesellschaftliche Verhältnisse und – zumindest in diesem Fall – ihre Veränderungen spiegeln. Die persönlichen Erfahrungen werden also in Beziehung zu ihren sozialen Bedingungen gesetzt, sie werden als Ausdruck kulturellen Lebens verstanden. [14]
Eine weitere damit verbundene Besonderheit der evokativen Autoethnografie findet sich im Schreiben über Erfahrungen (ELLIS 2004): Sie nähert sich der Kunst an. Dabei geht es nicht so sehr um die akribische Entfaltung des Erlebten im Sinne einer Dokumentationsgenauigkeit (ein Anspruch, der bei klassischen Ethnografien nicht verhandelbar ist), sondern um eine Darstellung, die auf die Möglichkeit der Identifikation der Lesenden gerichtet ist. So ist das Schreiben der Autoethnograf*innen auf das Leseerlebnis der Rezipierenden gerichtet. Diesen soll allerdings nicht die soziale Welt erklärt werden, sie sollen vielmehr in einen "Dialog" (PLODER & STADELBAUER 2013, S.376) involviert werden, in dem "Bedeutung konstituiert und Erkenntnis gewonnen werden kann". Mit der evokativen Autoethnografie ist also ein "performativer Erkenntnisbegriff" (S.378) verbunden, der über das Schreiben und Rezipieren verwirklicht wird. Hierbei wird die Wahrheit der Texte über ihre Glaubwürdigkeit und nicht über ihre Belegbarkeit mit Daten entfaltet (S.385). Ein guter autoethnografischer Text im Sinne der Evokation ist also einer, in dem ein Phänomen nicht abschließend verstanden, erklärt oder festgeschrieben, sondern in seiner Erlebensdimension und Vielschichtigkeit dargestellt wird, um unterschiedliche Anschlüsse daran zu ermöglichen. Dabei darf aus dem Repertoire der Literatur geschöpft werden. In TILLMAN-HEALYs (1996) autoethnografischen Text über Bulimie wurden u.a. szenische Beschreibungen mit Gedichten verknüpft. Ein weiteres Beispiel für künstlerische Anleihen ist "Laura promoviert. Eine Satire in sieben Aufzügen" (BIRCK 2003), in dem die Wirren eines Promotionsverfahrens in Form eines Theaterstücks beschrieben wurden. [15]
Autoethnografische Texte können also zwischen Wissenschaft und Kunst verortet werden, womit Kritik von beiden Seiten Tür und Tor geöffnet ist (ELLIS, ADAMS & BOCHNER 2010, S.352). Warum also autoethnografische Texte schreiben, die Gefahr laufen, weder in der Wissenschaft noch in der Kunst Anklang zu finden? Eine Antwort könnte sein: Weil dadurch eine Erkenntnisposition eröffnet wird, die in einem starren methodischen Korsett verlorengeht, und darüber hinaus dem Anschein wissenschaftlicher Autorität etwas entgegensetzt wird. Im Rahmen des autoethnografischen Schreibens sind Wissenschaftler*innen ihrem Publikum nicht überlegen qua ihrer Erkenntnisposition, sondern aufgrund dieser mit ihnen verbunden. Schließlich partizipieren sie auch an einem everyday life: Sie machen (außer)alltägliche Erfahrungen und begegnen dem Leben aus der Warte der natürlichen Einstellung, die sich nicht immer in eine theoretische übersetzen lässt oder zumindest unterschiedliche analytische, theoretische, aber eben auch lebensweltliche Anschlüsse ermöglicht. Dies ist wiederum von besonderer Bedeutung, wenn wir uns als Ethnograf*innen mit Sterben, Tod und Trauer beschäftigen. Wir können zwar Hospize, Bestattungsunternehmen, Friedhöfe und Trauercafés aufsuchen, Sinn rekonstruieren und Ergebnisse präsentieren, aber deswegen wissen wir über die Endlichkeit und den Umgang mit ihr nicht besser Bescheid als andere Gesellschaftsmitglieder, die über weniger Expert*innenwissen verfügen. Wir mögen Spezialerkenntnisse generieren – das ist unser Job –, aber diese sind abstrakt und haben vor allem in der Scientific Community ihren Platz. Davon einmal abgesehen sind wir ebenso sterblich wie die, denen wir begegnen. Auch wir können während unserer Trauer- und Verlusterfahrungen den Boden unter den Füßen verlieren, und auch wir fragen uns, ob etwa frühzeitige Gedanken über die Gestaltung des eigenen Grabsteins sinnvoll sind oder nicht; wenn das relevant und umgesetzt werden wird, sind wir schließlich mit dem Sterben konfrontiert oder bereits tot. [16]
Sich mit dem Ende der Existenz zu beschäftigen, ist nicht immer leicht; es ist auch nicht immer schwer, aber es geht mit einer besonderen Verantwortung einher. Wir müssen uns bei all der Objektivierungsarbeit, die auch zum ethnografischen Arbeiten dazu gehört, eine Sensibilität für die Menschen erhalten, die subjektiv betroffen sind. Dazu ist es nötig, die eigenen Gefühle, Irritationen und privaten Reflexionen ernst zu nehmen, um immer wieder zu erfahren, wie wenig wir eigentlich wissen, wie ohnmächtig wir sind – auch wenn wir wissenschaftliches Wissen generieren. Das autoethnografische Schreiben ermöglicht es, diesem Aspekt thanatosoziologischen Arbeitens einen eigenen Platz zu geben; uns auch einmal als Thanatosoziolog*innen zu präsentieren, die es nicht immer besser wissen, sondern ebenso die Endlichkeit und deren Unbestimmtheitsdimension bewältigen müssen. [17]
Nun könnte man diesen Artikel mit dem Anspruch lesen von uns zu erfahren, wie die Verquickung von alltagsweltlicher Betroffenheit und wissenschaftlicher Arbeit, von alltäglichen und wissenschaftlichen Denkleistungen (SOEFFNER 1983) am Beispiel der Thanatosoziologie zu gestalten ist. Diese Frage werden wir in unseren Vignetten auch berühren, ohne indes eine einheitliche Antwort darauf geben zu können. Ebenso wenig können wir typische Transformationsprozesse rekonstruieren, die Aufschluss darüber erlauben, wie sich private Identifikationen mit den Inhalten der Forschung in den Ergebnissen von Beobachtungen und Analysen niederschlagen. Nichtsdestotrotz geben wir in unseren Vignetten Hinweise, welche spezifischen Herausforderungen sich im Rahmen der thanatosoziologischen Arbeit stellen können und was sich im Umgang mit ihnen als relevant herausgestellt hat, auch hinsichtlich der Güte der wissenschaftlichen Resultate. Ein leicht zu identifizierender Aspekt ist das Ringen um eine adäquate analytische Haltung, mit der sich alltagsweltlich verankerte Emotionen nicht unreflektiert in die Schlussfolgerungen einschleichen. Ein anderer besteht darin, die eigenen Identifikationen und Projektionen zu nutzen, um die Relevanz von thanatosoziologischen Forschungsgebieten nicht aus den Augen zu verlieren und die Verantwortung für eine wissenschaftliche Perspektive zu übernehmen, die sich auf Menschen bezieht, welche sich in existenziellen Krisen befinden. Aber nicht in jeder Verzahnung von Betroffenheit und Forschungsgebiet liegt Erkenntnispotenzial. Manchmal spiegeln sich die privaten Probleme schlicht in den wissenschaftlichen. Die Verbindung zwischen diesen beiden Dimensionen lässt sich schließlich nicht abbrechen, sobald Thanatosoziolog*innen selbst zu potenziellen Subjekten thanatologischer Forschung werden; dennoch entsteht hieraus nicht in jedem Fall Wissenschaft. Und auch dieser Zusammenhang kann Teil der Forschung der Todesnähe sein, wie insbesondere mit einem autoethnografischen Zugang nahegelegt wird. [18]
4. Autoethnografische Vignetten
Die nun folgenden autoethnografischen Vignetten sollen das Obengenannte leisten: Sie sollen kein thanatologisches Wissen vermitteln, sondern einen Einblick in das thanatosoziologische Arbeiten gewähren, das zugegebenermaßen nicht immer um die Auseinandersetzung der eigenen Endlichkeit kreist. Oft ist es wesentlich trivialer, wenn wir Beobachtungsprotokolle schreiben, Theorien auf Daten anwenden oder Vortragstexte formulieren. Manchmal ist das wissenschaftliche Arbeiten in Todesnähe aber auch mit ganz eigenen Herausforderungen verbunden. Über diese Herausforderungen und uns selbst sprechen wir jetzt, ohne nachträgliche analytische Rahmung. Die Versuche über die Texte Evokationen zu ermöglichen, die unser Arbeitsleben betreffen, sollen für sich stehen. Aus der jeweiligen Perspektive dreier Autor*innen werden spezifische Erfahrungen thanatosoziologischen Arbeitens hinsichtlich der Verzahnung von Berufs- und Privatleben beschrieben. [19]
4.1 Erste Vignette: über das Sterben schreiben3)
Über das Sterben zu schreiben, ist immer dann unproblematisch, wenn es einen nicht betrifft. Man könnte argumentieren, dass einen das eigene Sterben ja sowieso kaum etwas angeht, weil wir in seiner Vollendung als bewusste und handlungswirksame Individuen vergehen. Aber ein langer Sterbensverlauf, alles andere als unüblich in der Spätmoderne, kann einen durchaus belasten – über einen gedehnten Zeitraum. Wolfgang HERRNDORF hat es geschafft, über das Sterben zu schreiben, als es ihn betraf: "Arbeit. Arbeit und Struktur" (2015, S.114). Aber das gelingt wohl nur Schriftsteller*innen seines Kalibers. Über das Sterben zu schreiben, kann aber auch schon, oder vor allem dann, problematisch sein, wenn es einem nicht selbst widerfährt, aber Menschen, die einem nahe stehen. [20]
Da es Teil meiner wissenschaftlichen Ausrichtung ist, schreibe ich über das Sterben – oder wenigstens über Phänomene, die damit zusammenhängen. Ich bin Ethnografin und habe mich in meiner Dissertation mit einem Hospizkurs auseinandergesetzt, mit dem Ehrenamtliche auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden. Der letzte Satz steht so ähnlich in meiner Dissertation. Außerdem kommen Varianten von ihm in einer Unmenge von Abstracts vor, mit denen ich mich auf Vorträge beworben habe. Inzwischen formuliere ich Sätze dieser Art unwillkürlich, wenn ich mich auf meine Dissertation beziehe. Ein Automatismus, der mich geistig in die Anfangszeit meiner Promotion zurückversetzt, als ich noch nicht genau wusste, was ich da eigentlich tat. Und in der ich glaubte, dass das Sterben ein gutes Thema für eine Dissertation sei. Gerade wenn ein Hospizkurs, mit dem Ehrenamtliche auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden, im Zentrum steht. Da wird schließlich nicht gestorben. Auch ein Satz, der mir bekannt vorkommt, ein automatisches Selbstzitat. In einem Hospizkurs wird nicht gestorben – tragische Unfälle einmal ausgeklammert –, man hat da vermittelt mit dem Sterben zu tun. Es kommt auf zwei Arten vor: als Phantom, das antizipiert wird und als Routineerfahrung in Form der Zeug*innenschaft, die reanimiert wird. Neben dem Kurs sterben Menschen tatsächlich, und das immerzu. Schließlich ist das der Grund, in einem Hospizkurs zu sein und Ehrenamtliche*r zu werden. Und wenn dieses Sterben einen selbst betrifft, weil Angehörige für immer gehen, haftet der Thematisierung des Sterbens plötzlich eine potenzielle Konfrontation an. Das Phantom bekommt ein Gesicht, eine Geschichte, ist Teil der eigenen Lebenswelt. Und manchmal blitzt das eigene Gesicht durch. Wenn das Unvorstellbare nahen Anderen passiert, wird es vorstellbar. [21]
Schon als der Hospizkurs begann und ich mich ganz am Anfang meiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung befand, war das Sterben nah; in meiner Familie gab es einen Todesfall. Ich verpasste den ersten Kurstermin wegen der Beerdigung, die ich für nichts auf der Welt versäumt hätte. Es war aber gleichzeitig weit weg, weil ein sehr langes Leben ausgesprochen friedlich zu Ende gegangen war. Der Einbruch in meine Lebenswirklichkeit war total und integrierbar. Trotzdem wurde dieses Sterben während der Anfangszeit der Promotion zum Problem. Ich wollte es nicht instrumentalisieren. Ich wollte zwei Sorten des Sterbens in meinem Leben haben: eines, mit dem ich mich wissenschaftlich distanziert befasste und eines, das für mich eine rein persönliche Bedeutung hätte. Eigentlich wollte ich nur Ersteres, aber das obliegt nicht meinem Egoismus. Mit dem wissenschaftlichen Sterben wollte ich mich qualifizieren. Aus dem persönlichen Sterben wollte ich keinen Vorteil schlagen. [22]
Diese Differenz aufrechtzuerhalten war am Anfang eine Frage der Selektion dessen, was ich auf unterschiedlichen Dokumentationsstufen verschriftlichte. Um im Kurs meine Glaubwürdigkeit darzustellen, sprach ich vom persönlichen Sterben. Aber meine Erzählungen schloss ich aus meinen Beobachtungsprotokollen aus. Selten fand das persönliche Sterben doch Einzug darin – immer dann, wenn ich glaubte, es sei für den Verstehenszusammenhang unabdingbar. In meinen Veröffentlichungen tauchte es nie auf. Die saubere Trennung war zunächst eine Herausforderung und wurde dann auf einen Schlag prekär. Das persönliche Sterben trat wieder ein. Diesmal als Anfang der letzten Lebensphase, die nicht nur von Hochaltrigkeit, sondern durch eine plötzliche Krankheit und einen damit verbundenen Transformationsprozess geprägt war. Völlig unprofessionell erzählte ich davon im Hospizkurs. Ich erhoffte mir Hilfe. Alles andere erschien mir in dem Moment irrelevant. Von einer Begleiterin in spe wurde ich zu einer Zu-Begleitenden. Das persönliche Sterben hatte gewonnen, das wissenschaftliche keine Chance. Ich war in einem merkwürdigen Zustand existenzieller Frustration. Es war ein Kraftakt, das wissenschaftliche Sterben zurückzubekommen; wie Zirkeltraining – draußen im Winter, mit Glasscherben auf dem Boden. Ich fing an, so zu tun, als sei ich noch eine Ethnografin, eine Dozentin, ein Familienmitglied, eine Promovendin, eine Single-Frau in einer Kleinstadt. Bis ich all das tatsächlich wieder war, ich mich neu mit mir selbst, der Welt und meinen Rollen darin arrangiert hatte; eine Kraftprobe mit übersäuerten Muskeln, schmerzenden Knien und einer kaputten Schulter. Es ging weiter. Irgendwann war der Hospizkurs zu Ende, die Protokolle waren geschrieben. Dann verzweifelte ich an der Auswertung und fand schließlich einen Weg, eigentlich mehrere. Ich verteidigte meine Ideen und dachte, ich sei fertig mit dem wissenschaftlichen Sterben. Aber es ging weiter, genauso wie das persönliche. [23]
Es ist 8 Uhr morgens. Heute war es schwer, aufzustehen. Ich schaute auf die Uhr, erinnerte mich an den Beitrag, den ich schreiben muss, aber der Impuls war zu schwach, um mich aufzusetzen. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, blieb an der leeren Decke hängen. Irgendwann stand ich doch auf. Ich machte mir einen Kaffee. Und jetzt sitze ich hier. Draußen ist es noch dunkel. Die Straßenbahn fährt vorbei. Ich sitze vor dem großen Fenster. Ich muss den Beitrag schreiben. Der letzte Sterbebeitrag, ich habe es mir selbst versprochen. Aber dieser eine muss noch sein. Der Laptop ist schon hochgefahren. Mails öffne ich nicht. Ein Konzept für den Beitrag steht bereits. Aber es geht nicht. Die Hände liegen auf der Tastatur, bewegen sich nicht. Ich denke an Dich. Komm schon, Mäuschen. Okay, die Einleitung schaffe ich. Eine Einleitung ist doch das Beste am Schreiben eines Beitrags. Ich fange immer mit der Einleitung an. Da ist das Schreiben noch frisch, da gibt es nicht den Ballast des bereits Geschriebenen. Nur das leere Blatt, und das ist besser als der Textwust des schon Formulierten, über den man immer droht, die Kontrolle zu verlieren. Aber ich kann einfach nicht über das Sterben schreiben. Das Wort drückt auf meine Schultern, schiebt sie nach vorne und unten. Mein Kopf kommt dem Bildschirm näher. Kitchen Story, denke ich. Denn mein Beitrag soll sich doch vor allem um die Ethnografie drehen. Das ist ein Ansatzpunkt. Ich richte mich etwas auf, sehe Deinen braunen Wollpulli und Dein Lächeln. Ich tippe, verliere mich im Feilen an Formulierungen, hoffe, dass das, was ich schreibe, klug und witzig klingt. Vielleicht schreibe ich ein bisschen viel über den Film – selbst für eine Einleitung. Aber Zeile um Zeile entsteht und ein kleines sich weiter aufbauendes symbolisches Universum. Ich fühle mich hier drin ganz wohl, gerade weil es das Subuniversum des Films gibt. Zwei Welten, die sich ganz gut anfühlen. Buchstabenfolgen, mehr oder minder gelungene Formulierungen und Männer in Norwegen. Einer ist Wissenschaftler, er soll eine Beobachtungsstudie durchführen, der andere ist ein Kauz, der beobachtet werden soll und sich dagegen wehrt. Zwei einsame Männer, die die instrumentelle Beziehung, die ihnen die Wissenschaft in der Satire zuordnet, überwinden. Ich halte mich an den Männern fest, an dieser unwahrscheinlichen Freundschaft. Ich tippe. Meine Stimmung wird besser. Ich mache weiter. Ein Satz nach dem anderen. Dann kommen die Mails und der Rest des Tages dran. Es dauert ein bisschen länger, es ist ein wenig schwerer, aber ich bin in meinem Arbeitsmodus. Alles, womit ich mich beschäftige, ist auf Distanz. Abends gehe ich zum Sport. [24]
Zirkeltraining im Park. Mit einer Gruppe, die sich immer anders zusammensetzt. Ich kenne niemanden hier. Aber wir sind buchstäblich eine bunte Truppe. Ich trage fast alles, was ich an Sportklamotten besitze – teilweise übereinander. Rote Schuhe, zwei schwarze Hosen, eine lang, eine kurz, eine grüne Jacke, ein Stirnband und Handschuhe. Lächerlich, aber warm. Die anderen sind ähnlich bunt gekleidet. Es ist alles dabei: der mittelalte, übermotivierte Mann in einer neongelben überteuerten Trainingsjacke, junge Frauen in gemusterten Sportleggings, ein alter Mann, der einen dunkelblauen Jogginganzug trägt und mit niemanden spricht. Mir ist kalt. Ich hüpfe auf der Stelle, beobachte meinen kondensierten Atem. Der Trainer, er sieht aus wie ein freundlicher Christian LINDNER in einem Sportoutfit, baut die Stationen auf. Als er einen Autoreifen über einen Ast hängt, rechne ich mit dem Schlimmsten. Über eine tragbare Box läuft Musik. Heute fängt es mit einem 1990er-Mix an. Im Verlauf des Trainings wird sich die Musik synchron zur sich steigernden Intensität der Übungen über Deutschrap zu einer Art Techno-Schranz entwickeln. Ein paar Leute reden miteinander. Ich tripple daneben auf der Stelle. Der Trainer kommt an mir vorbei und begrüßt mich mit einer Ghettofaust. Wir machen Partnerübungen. Also brauche ich einen Partner. Hier findet man immer einen. Eine junge Frau steht in meiner Nähe. Sie kommt mir wie eine Hünin vor. Lange Beine in schwarzen Leggins, weiße Tennissocken, rosa Schuhe. Über den Kopf hat sie einen gemusterten Schal geschlungen. Sie lächelt ein weißes, freundliches Lächeln in meine Richtung. Match. Der Trainer erklärt die Übungen und dreht dann die Musik lauter: Rhythm is a dancer. "Eins zwei, drei, JEEEETZEE." Wir haben uns inzwischen auf die Stationen verteilt. Meine Trainingspartnerin und ich müssen Wellen mit einem Seil schlagen. Die Übung geht auf die Schultern. Und auf die Kondition. Schon nach ein paar Sekunden atme ich schwerer. Die kaputte linke Schulter tut weh. Ich will nicht mehr. Ich mache weiter. Das Atmen wird schmerzhaft. "Halbzeit", ruft der Trainer. Meine Trainingspartnerin ächzt neben mir. Sie legt das Seil auf den Boden. Ich mache weiter. Meine Bewegungen werden unkoordinierter, die Wellen unförmiger. Ich mache weiter, bis sich das Seil kaum noch bewegt und der Trainer "Stopp" ruft. Die nächste Station. Es geht immer so weiter. Aber meine Trainingspartnerin und ich machen inzwischen Scherze. Überhaupt kommt mir die ganze Gruppe heute freundlich vor. Ich kämpfe mich durch eine Bauchübung; als ich danach nicht direkt aufspringe, um zur nächsten Station zu laufen, reicht mir ein Mitstreiter die Hand und zieht mich hoch. Mitten in der Pandemie eine merkwürdig rührende Geste. Die Frau, deren Namen ich nicht kenne, und ich machen weiter. Wir werfen uns Medizinbälle zu, springen aus einer Kniebeuge über einen gelben Zylinder, ziehen einen Autoreifen in die Höhe. Sie hat bei all dem gute Laune, für sie ist es ein großes Spiel. Ein bisschen von der guten Laune geht auf mich über. Drei Runden. Bei den letzten Ausfallschritten zittern meine Beine und fangen an, sich steif anzufühlen. Das macht nichts, denn meine Trainingspartnerin neben mir fühlt sich inzwischen ein bisschen wie eine Freundin an – und mein Körper wie mein liebster Feind. Ich bin hier. Ein Teil dieser Gruppe, die sich gleich auflösen und nie wieder so zusammensetzen wird. Nach den Stunden alleine zu Hause wirkt jetzt alles ein bisschen wirklicher. Ich sehe etwas schärfer, ich höre alles ein wenig lauter und mein Oberkörper ist ein bisschen aufrechter. [25]
Ich gehe über die matschige Wiese nach Hause. Ich denke an Dich. Und stellte mir vor, dass ich Dir davon erzähle. Dass ich im Park mit Fremden Sportübungen machte, dass die Leute nett seien und ich so endlich mehr unter Menschen sei. Und da kommen die Tränen. Plötzlich und heftig. Weil ich Dir so gerne davon erzählen würde. Aber wenn ich Dich anrufe, kommt die Verbindung nicht mehr zustande. Es ist nur noch Dein Bild neben Deiner Nummer da. In Berlin ist es egal, wenn man in einem Park weint. Jeder macht sein Ding. Ich gehe einfach weiter. Ich tue so, als hätte das Weinen keinen Einfluss auf das, was ich mache. Ich weine nicht. Ich laufe und weine. Das ist ein Unterschied. Und dann betrete ich das Haus und weine. Und dann gehe ich die Treppen hoch und dabei weine ich schon nicht mehr. Und dann mache ich die Tür zur Wohnung auf und das Weinen fühlt sich so an, als sei es lange her. [26]
Ich sitze wieder am Schreibtisch. Das Kapitel über die Sterbedefinitionen ist dran. Ich zitiere Werner SCHNEIDER, beschreibe die Grundlage der Sterbewelten. Es dauert, die Zitate herauszusuchen, die Textstellen zu lesen und zu paraphrasieren. Ich denke an die letzte Sterbewelt, in der ich war. Die Wohnung, das Zimmer, das Bett, Du darin. Ich höre das Knarzen des Bodens, wenn ich zu Dir gegangen bin – oder von Dir weg. Die Angst, Dich zu wecken, das war natürlich absurd. Die Angst, zu stören, das war vielleicht weniger absurd. Ein Ziehen in der Brust, ich habe Sehnsucht. Sehnsucht nach der Zeit, als ich Dich noch besuchen konnte. Die Assoziationen tun nicht einmal weh, es ist, als gäbe es noch eine Verbindung zu diesen letzten Tagen und damit auch zu Dir. Aber es fällt mir schwer, einen nachvollziehbaren Text zu schreiben. Die Sterbewelten wieder als theoretisches Konstrukt, als Konzept auf Distanz zu bringen. Den Assoziationen nicht weiter nachzugehen, sondern den sozialphänomenologischen Kontext zu erklären. Ich lese und tippe, lese und tippe, das Schreiben dauert lang, schmerzhaft lang. Die Sätze dehnen sich und werden kompliziert, ich verliere den roten Faden. Also lösche ich ein paar Zeilen. Ich stehe auf, laufe einmal durch das Zimmer, setze mich wieder und lese weiter. Und dann tippe ich, gehe der neuen Spur nach, hoffe, dass es diesmal kohärent wird. Die alten Zweifel kommen hoch. Wieder sehe ich Dein Lächeln vor mir. Okay, weitermachen. Einen Weg durch die Worte und Gedanken finden, auf Spur bleiben. "An Deck", sagtest Du mal am Anfang der Pandemie. Wir sollten alle paar Tage telefonieren, um zu sehen, ob wir noch an Deck seien. Ich zitiere STADELBACHER. Eine Dissertation über das Sterben zu Hause. Wieder sehe ich die Wohnung vor mir, das Zimmer, das Bett. Der Sessel vor dem Bett. Das Buch mit den Kurzgeschichten, der CD-Player. Das Knarzen des Bodens. Mein Blick auf Dich gerichtet. Diesmal macht es mich traurig. Aber ich brauche nur eine Sterbedefinition, die SCHNEIDER etwas hinzufügt. Also lese ich. Konzentriere mich auf die Beschreibungen. Finde eine Textstelle, die passt und schreibe mein Kapitel weiter. Die Konstruktion der Sätze wird wieder wichtig. Nicht zu viele Einschübe. Nicht zu technisch schreiben, es muss lesbar sein, anschaulich. Die Wohnung rückt in die Ferne. Der Laptop füllt meinen Blick aus, ich denke nur noch über die Ratio der Sätze nach und versuche meine eigene zu entwickeln. Ich merke, dass mein Rücken schmerzt. Aber das Schreiben läuft gerade besser. Jetzt nicht aufgeben, weitermachen. Wie die Übung mit dem Seil. Die Schmerzen aushalten. [27]
Es ist Morgen. Ich sollte schreiben. Aber es geht nicht. Es ist wieder einer tot. Ich gehe zur Trauerfeier. Eine überbordende Rede, die Bestattung. Es ist kalt. Das neue Grab ist nicht weit von Deinem entfernt. Es ist merkwürdig hier, aber nicht bei Dir zu sein. Das anschließende Essen. Ich sitze an einem Tisch. Ich möchte, mit dem Mutter-Sohn-Gespann, das neben mir sitzt, reden. Aber ich kann nicht. Ich formuliere Sätze in meinem Kopf. Woher kannten Sie denn den Toten? Okay, das geht gar nicht. Es ist ja keine Hochzeit. Kannten Sie das Restaurant schon vorher? Ich gebe auf und bleibe stumm sitzen. Um mich herum Schnattern die Trauergäste. Irgendwann kommt der Sohn des Verstorbenen, in guter Gastgebermanier, an meinen Tisch. Wir müssten viel gemeinsam haben, denke ich. Er redet, ich verpasse es, auch etwas zu sagen. Ich will, aber die Worte, die ich mir überlege, passen nicht in das Gespräch. Also sitze ich eingefroren vor dem Monolog, während mich eine Beleidigung trifft, die so nicht gemeint war. Sie erwischt mich trotzdem. Der Monolog verlagert sich weg von mir. Ich sitze alleine an dem Tisch. Das Mutter-Sohn-Gespann ist längst gegangen. Die anderen auch. Und dann tauchst Du auf. Du sitzt mir gegenüber. Du lächelst mich an und sagst, dass ich für Dich immer schön sein würde. Da kommen sie wieder, die Tränen. Aber jetzt kann ich nicht sitzen und weinen. Eigentlich würde ich gerne nur weinen. Stattdessen muss ich nur sitzen. Irgendwann höre ich die Stimme der Freundin des Sohnes des Toten von der anderen Seite des Raumes. "Komm rüber, Melanie. Du musst doch da nicht alleine sitzen." Ich stehe auf. [28]
Der nächste Morgen beginnt spät. Das Aufstehen ist nicht leichter geworden. Aber es ist noch nicht zu spät, um zu beweisen, dass der Arbeitstag funktionieren wird. Das Schwerste ist immer der Anfang. Ich quäle mich zum Laptop, fahre ihn hoch, lese meinen Textwust. Kitchen Story, das klang mal besser beim Vorlesen; Sterbedefinitionen, meinetwegen; jetzt noch Sterbeethnografien. GLASER und STRAUSS, die über die arme Mrs. Abel schreiben, die langsam und qualvoll gestorben ist. Mrs. Abel hat so gelitten, dass sie bei einer OP, die ihr helfen sollte, sterben wollte. Bei der OP ist sie gestorben, vielleicht hat ihr das tatsächlich geholfen. Meine Schultern ziehen nach vorne und unten. Mein Rücken schmerzt. Ich höre mich selbst seufzen. Schreibe weiter. Weitere Ethnografien. Ich vergesse Mrs. Abel und beschäftige mich mit einer ethnomethodologisch ausgerichteten Hospizethnografie, die keine Qualen zum Gegenstand hat. Lesen, schreiben, lesen, schreiben. Einmal denke ich, was soll das alles? Ich könnte es sein lassen. Ich könnte aufstehen und es einfach sein lassen. Du stehst hinter mir, lächelst mich an. Dein brauner Pulli. Deine Brille. Dein Schnurrbart. Deine braunen Augen. Die etwas vorstehenden Zähne. Du lächelst. Okay, dann eben weiter. [29]
4.2 Zweite Vignette: Der Ort, an dem ich über sterbende Kinder schreibe, ist selten so werturteilsfrei, wie er wissenschaftlich sein könnte4)
Als Wissenschaftlerin gelingt es mir nicht immer, Artikel, die im Rahmen "sozialwissenschaftliche[r] Veröffentlichungskonventionen" (ELLIS et al. 2010, S.347) zu fabrizieren sind, unter vollends schreibfreundlichen Bedingungen anzulegen und zu verfassen. Recht regelmäßig empfinde ich beispielsweise aufgrund mehrerer, zeitlich ähnlich gelagerter Abgabetermine eine bedenkliche Hetze beim Schreiben aller zugesagten Schriftstücke. Diese Hetze verlangt mir umso mehr zeitliche Einteilung, thematische Ordnung sowie multiples konsequentes Dranbleiben im Rahmen meiner weiteren wissenschaftlichen Aufgaben ab. Auch das Ziel, die grundlegende These eines Textes im Sinne der herangezogenen Theorie argumentativ schlüssig zu entfalten, kann durch die Zeitnot für den einen oder anderen Artikel erschwert werden. [30]
Diese Hindernisse hätte ich mir beim Schreiben des Beitrags zum Thema "Hospiz" (SITTER 2019) gewünscht. Nichts von den Formen einer verspürten Zeitnot mit daraus folgenden theorie-organisationalen Verkomplizierungen waren diesmal für mich gegeben. Ich konnte schließlich rechtzeitig damit beginnen, mir über den inhaltlichen Aufbau des Hospiz-Beitrags Gedanken zu machen. Ziel und wissenschaftlich-argumentative Struktur des Artikels waren also perspektivisch erfreulich klar; wohl auch aufgrund der mir Struktur schenkenden Tatsache, dass ich den möglichst Aufmerksamkeit weckenden Titel diesmal nicht selbst finden und formulieren musste, da er mir von den Herausgeber*innen eines Glossars in alphabetischer Sortierung bereits vorgegeben wurde. Knapp und eindeutig – eben H wie Hospiz. Allerdings mit einem besonderen Fokus, und zwar bezogen auf die "Räume der Kindheit". Laut Informationen der Herausgeber*innen sollte es ein Beitrag im Sinne eines wissenschaftlichen Essays werden, der im Rahmen des anvisierten Glossars einen recht überschaubaren Umfang aufweisen sollte. Da mit dieser Überschaubarkeit auch kein empirisches Projekt methodisch-methodologisch umfassend dokumentiert werden musste, sollte der Essay insofern zeitlich gut und angenehm, eben schreibfreundlich zu schaffen sein – dachte ich. [31]
Irgendwie fühlte ich voraus, dass es dennoch etwas schwieriger werden könnte; wohl genau deshalb, weil weder externe, mir im Nacken sitzende Zeitfenster noch das methodisch-methodologische Präzisions-Muss mich latent bekümmerten, als vielmehr die bloße Aufgabe, das Thema Hospiz als einen gewöhnlichen Raum in alltäglichen Kinderleben zu thematisieren. Kein Problem, sagte ich mir. Denn als Thanatosoziologin, als die ich mich zu diesem Zeitpunkt immer mehr begriff – stets mit Blick auf Kinder und Kindheit(en) – betrachtete ich diese Schreibaufgabe unaufgeregt als ziemlich selbstverständlich und wichtig zugleich. Eine große Dankbarkeit empfand ich deshalb auch den Herausgeber*innen gegenüber, dass sie mir mit dieser gelenkten und aufmerksamen Themenkombination die Möglichkeit boten, das Hospiz als einen Teil (in) der Kindheit zu diskutieren. Ich konnte also den Blick auf einen Lebensraum von Kindern lenken, der viele neue, sicherlich auch nötige Perspektiven eröffnen würde. Mein Hospiz-Beitrag, so überlegte ich mir, sollte Wachsamkeit für das schärfen, was für und unter Kindheit(en) im Kontext von Sterben, Tod und Trauer noch alles denkbar und genau damit ebenso unbegreiflich sein kann. [32]
Auch wenn man Zeit hat, muss man schließlich irgendwann anfangen zu schreiben. Da ich meine wissenschaftlich-argumentative Struktur des Artikels erfreulicherweise schon gedanklich zusammen- und vorausgesponnen hatte, verlief der Start des Schreibens unterstützend und motiviert. Mir war klar, in welche argumentative Richtung meine Anfangszeilen verlaufen sollten, ich war mit mir stimmig darüber, welche Beispiele ich liefern könnte und warum es auch eine historische Erwähnung der englischen Kinderhospizbewegung und -gründung geben sollte. Meine damaligen Erfahrungen als Gruppenleiterin in einem gemeinnützigen Verein sowie Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche dienten mir bei den essayistischen Schilderungen stets als Veranschaulichung und als eine Basis erfolgter Beobachtungen sowie diskursiven Eingebundenseins. Es fiel mir von daher leicht, über das Hospiz als einen Raum mit gewissen Eigenschaften zu schreiben. Denn diese speisten sich unter anderem und einerseits aus den Gesprächen mit meinen Kolleg*innen und ihren praxisnahen Erzählungen im Rahmen kooperativer Zusammenarbeiten mit Hospizen. Andererseits blickte ich auf die hospizlichen Eigenschaften als Wissenschaftlerin. Der Raum Hospiz konnte also für mich aus zwei Perspektiven heraus wie folgt beschrieben werden: als ein charakteristisch zu skizzierender Ort entlang einer erfahrenen Nähe aus Sicht derjenigen, mit denen ich zusammenarbeitete, und ebenso als ein faktischer Ort, für den es ein empirisches sowie kritisch reflektiertes (Nicht-)Wissen über dahinterliegende Zusammenhänge, Nöte, Strukturen und Motive etc. vorzuweisen gab – und dies immer auch im gesellschaftlichen Kontext gesehen. [33]
Doch bei diesen zu dokumentierenden Eigenschaften konnte ich es nicht belassen. Das Wort Hospiz zwang mich, seinen Raum auch als einen sinnlich erfahrbaren Ort zu beschreiben. Ein Ort also, an dem besondere, auch eigenwillige Erfahrungen mit dem Lebensende gemacht werden – unterstützende, hoffnungsvolle, brutale und häufig auch Erfahrungen mit dem Gefühl des möglichen, baldigen Abschieds. Beim letzteren Aspekt dachte ich an einige Kinder im Trauerzentrum, die mir bei den Gruppentreffen erzählten, warum und inwiefern es schwierig für sie war, dort hinzugehen. Ich erinnere die mich auch heute noch nachdenklich machende Erzählung des damals zehnjährigen Jungen, der mir sehr bildhaft beschrieb, wie er bei den Besuchen seines Papas im Hospiz immer beobachtete, wie die Vögel auf das Fensterbrett geflogen sind. "Da war nichts – da gab es kein Futter, und da war auch eigentlich kein richtiger Platz für die Vögel." Also habe er genau deshalb zusammen mit seiner Schwester und einem weiteren Familienmitglied ein Vogelhäuschen gebaut. Und als der Papa verstarb, haben sie das Vogelhäuschen mit nach Hause genommen. Ich habe ihn damals gefragt, wo das Vogelhäuschen jetzt ist und welchen Platz es gefunden hat. Daraufhin sagte er mir, es stünde nun im Schuppen, und er würde es auch bald verbrennen. Auf meine Frage, warum er es verbrennen möchte, antwortete er mir: "Damit es da oben beim Papa ist." Der Hospizraum – so denke ich heute – ist so vieles mehr. Er ist ein kreativer Raum. Er ist mit Lebens-Sinn gefüllt und mit ganz viel Identität(en) verbunden. Das Vogelhäuschen und der Papa leben also weiter. [34]
Ich hatte weitere Erzählungen der trauernden Kinder im Ohr, während ich versuchte, das sinnlich erfahrbare Hospiz zu Papier zu bringen. Ich beschrieb den Raum Hospiz immer stärker aus der Perspektive und den Erzählungen der Kinder, die an diesem Ort ihre todkranke Mutter an Schläuchen und immer dünner werdend gesehen haben, die ihren sterbenskranken Vater im Hospiz zuversichtlich haben sagen hören: "Es wird alles gut werden, mein Schatz", oder die einen sehr kranken Geschwisterteil immer gemeinsam mit Mutter und Vater besucht und gestreichelt haben. [35]
Ich bemerkte, wie mein Text so langsam an Struktur verlor. Ich musste mich jetzt wieder mehr auf die Seite derjenigen hinschreiben, für die das Hospiz in erster Linie da ist – nämlich für diejenigen Kinder, die sterbenskrank sind und sterben müssen. Ich konnte ja nicht nur über das Hospiz als einen Raum schreiben, den Kinder aufgrund ihrer lebensbedrohlich kranken oder sterbenden Angehörigen betreten und sinnlich erleben; den Raum, den sie mir also aus ihrer Retrospektive als Trauernde verkörpern. Immer wieder ermahnte ich mich, dass ich aufpassen muss: Ich darf nämlich nicht nur von der einen Seite mit den teils tragischen, traurigen Momenten eines Hospizraumes berichten, sondern ich muss auch die positiv erfahrbaren Momente aufzeigen – sowohl für die Sterbenden als auch für die Angehörigen der Sterbenden und für das Hospiz-Personal. Die positiven Seiten sind die leichte(re)n Seiten, die Zuversicht für alle zeigen, welche bei aller Endlichkeit schließlich auch da ist. Gibt es denn diese Seite wirklich, fragte ich mich? Und wenn ja, wie fühlt sie sich an? Weil mir für diese zu findende Antwort die Worte und Geschichten der Kinder fehlten, fehlten mir auf einmal auch die Adjektive und Bilder zum Weiterschreiben. [36]
"Komm' jetzt bloß nicht in die Gefahr, zu konstruieren", ging mir durch meine Gedanken. "Konstruiere also bloß nicht das Hospiz als einen Raum der absoluten Endlichkeit, voll mit Traurigkeit und Schwere. Konstruiere ihn aber gleichzeitig auch nicht als einen romantisch aufgeladenen Ort, an dem bei aller Traurigkeit eben auch Zuversicht, Hoffnung und diese leicht gesagten Dinge herrschen." All diese Vorsicht hinsichtlich möglicher Konstruktion, die mir beim Schreiben auf einmal im Nacken saß, war wissenschaftlich leichter reflektiert, als sie umzusetzen, insbesondere dann, wenn man das schöne Wetter ausnutzt, um im Garten die begonnenen Hospizzeilen an einem Samstagnachmittag weiterzuschreiben. [37]
Im Garten war es angenehm. Ich hatte mich spontan entschieden, fürs Schreiben rauszugehen. Es war zwar noch etwas frühlingsfrisch, aber die Sonne zauberte eine so freundlich warme Farbe da draußen, dass es zum Schreiben warm genug sein müsste – hoffte ich. Ich nahm also meinen Laptop mit und ein hospizbezügliches Buch, in das ich nochmals reinschauen wollte. Um mich warmzuhalten, nahm ich sicherheitshalber auch noch eine bunte Wolldecke mit unter den Arm. Draußen angekommen legte ich Buch und Laptop auf den kleinen Holztisch nur wenige Meter rechts neben dem zart grünenden Apfelbäumchen ab. Die Wolldecke formte ich so in dem schon bereitstehenden Gartenstuhl zurecht, dass ich sie später leicht um die Beine wickeln konnte. Ich freute mich mal wieder über den Anblick der zu blühen beginnenden Kastanie, die mir vorne links in der Ecke mit ihrer majestätischen Größe stets Ruhe und irgendwie Schutz vermittelte. Bevor ich mich in den wollig ausgekleideten Gartenstuhl setzte, entschied ich mich, doch nochmals kurz rein ins Haus zu gehen, um mir auch noch einen Tee zu kochen. "Dann habe ich alles, was ich zum konzentrierten und wärmenden Weiterschreiben draußen brauche", murmelte ich mir gedanklich zurecht. Mit warmer, dampfender Teetasse draußen wieder am kleinen Holztisch ankommend, sah ich weiter vorne geradeaus, wie die zwei Nachbarsmädchen von ihrer Hausterrasse aus schlendernd in den Garten gingen. Ich mummelte meine Beine in die Decke. Das größere Mädchen sah mich nun am Tisch sitzen, und wir beide winkten uns zu. Die beiden gingen aber nicht auf mich zu, und auch ich ging diesmal nicht zum Zaun herüber. In der Regel plaudern wir dort immer sogleich gemütlich, wenn wir uns in unseren Erholung und gleichzeitig verführerische Geschäftigkeit bietenden Gärten sehen; so gemütlich, dass es manchmal schon richtig lange werden konnte. Und sogar so lange, dass mir dann der Vater der beiden vorsichtig, leicht bekümmert und für mich persönlich gar nicht zutreffend einmal sagte: "Wenn sie dich nerven, dann sag es ihnen ruhig." [38]
Sie nervten und nerven mich nicht, und schon gar nicht, wenn ich am Holztisch mit meinem Laptop sitze. Dann wissen sie wohl, dass ich arbeite; dass ich keine Gartenarbeit mache, die zum unbeschwerten Plaudern einlädt, sondern richtige, eben berufliche Arbeit. Die beiden Mädchen machten also ihr eigenes Ding und gingen zu ihrem vom Vater gebauten Hasenhaus. Es kamen noch zwei weitere Kinder dazu, ein Junge und ein Mädchen – bestimmt ihre Nachbarskinder. Es wurde etwas lauter. Im Fangen spielen liefen sie von rechts nach links und quietschten dabei in hoher Stimmlage. Sie liefen in Richtung Zaun zum Holzpferd, das im Wind immer seinen Kopf – fast ein wenig echt – lieblich hin und her bewegt. An diesem Tag war es aber nicht windig. Das Holzpferd stand deshalb bewegungslos da, und der inzwischen aufsitzende Junge musste daher den Kopf des Pferdes mit den Zügeln sehr bewegt, recht kraftvoll mal nach rechts und dann nach links drehen. Ich bekam mit, wie sich nun das andere Mädchen – nicht mein Nachbarskind – ärgerte, weil der Junge wohl für sie schon zu lange auf dem Holzpferd saß. Sie schubste ihm das Bein ruckartig nach rechts weg, zog an den Zügeln, die er noch fest in der Hand hielt und rief weinerlich genervt: "Ich will auch mal!" [39]
Meine Aufmerksamkeit für das Schreiben war trotz der quietschenden Laute und des kindlichen Kampfes um das Holzpferd noch da. Aber so langsam wurde meine schreibfreundliche Gartenbedingung zu einer unfreundlichen. Schreibunfreundlich hieß jetzt auf einmal auch: wenig neutral, nicht werturteilsfrei. Die Sinneseindrücke, die ich hier erhielt, unterliefen mich – so würde es wohl auch SIMMEL (1968 [1908], S.484) formulieren – mit "Stimmung und Gefühl", und sie endeten offenbar in einer affektiv sinnlichen Wertung. Der Ort des Gartens, an dem ich über sterbenskranke, sterbende Kinder und den Raum Hospiz schrieb, wurde deshalb für mich zu einem Ort, der mich davon abhielt, wissenschaftlich neutral weiterzuschreiben. Denn mit den spielenden Nachbarskindern im Garten ahnte und reimte ich mir gedanklich zusammen, was den Kindern im Hospiz fehlt. Ich empfand auf einmal sogar eine Ungerechtigkeit. Was gesunde Kinder hier haben, haben lebensbedrohlich erkrankte dort – im Hospiz – eben nicht. "Das hat doch nichts mit Ungerechtigkeit zu tun", ermahnte ich mich. "Das ist die Realität. Das ist das Leben. Genau das macht das Kinderleben auch gewöhnlich. Gewöhnliche Unterschiede eben." Und wieder musste ich aufpassen, nicht zu konstruieren. Denn auf einmal war ich auch noch wütend auf den von mir eigentlich geschätzten PLATON (Politeia, 335a), dem zufolge man nur dann gut lebt, wenn man eine gerechte Person ist. Sind sterbenskranke Kinder keine gerechten Personen (gewesen)? Sie leben doch nicht wirklich gut. [40]
Ich schweifte jetzt philosophisch sehr ab. Zeitdruck und Theorielast sind wohl doch irgendwie besser, sagte ich mir, denn sie zwingen mich wenigstens zu Fokussierung, Kontinuität und Konzentration. Doch diese drei Dinge kamen mir gerade abhanden, während ich mich bemühte, meine Aufmerksamkeit davon abzuziehen, über das, was die vier Kinder im Garten im Vergleich zu sterbenskranken Kindern in Hospiz (nicht) machen, tiefer nachzudenken. Ich war auf einmal vieles gleichzeitig: nachdenklich, weil ich das Jammern des Mädchens um das gewünschte Aufsitzen auf dem Holzpferd als überflüssig und nahezu daneben empfand. Ob dieses Mädchen weiß, wie vielen Kindern es gerade richtig schlecht geht, fragte ich mich. Traurig war ich auch. Denn auf einmal saß ich mitten in der Sonne. Ich musste schlucken, weil mich dieser Sonnenschein, der mir so friedlich ins Gesicht fiel, spüren ließ, wie gut es mir ging, und dass es genau in diesem Moment viele Eltern und Kinder gibt, die diesen Sonnenschein sicherlich nicht so wahrnehmen können wie ich, und ihn vielleicht auch ganz und gar nicht genießen möchten. Ich fühlte mich ebenso geplagt von meinem Aufpassen, jetzt bloß nicht pathetisch zu werden aufgrund einer Parteinahme für die sterbenskranken Kinder, denen das sonnige Gartenglück (gerade) verwehrt bleibt. Nun war ich ohne jegliche inhaltliche Struktur. [41]
Meine spontane Idee, im Garten über das Hospiz als einen Raum der Kindheit zu schreiben, mutierte für mich bei den spielenden Nachbarskindern zu einem Paradoxon, zu einer Koexistenz von den Fröhlichen und Gesunden da draußen und den Traurigen und Kranken da drinnen. Doch mit diesem Bild verließ ich die Realität und genau damit das, was sehr gewöhnlich ist für Kindheit(en). Deshalb darf ich mich nicht von dieser Realität entfernen, d.h. von diesen realen Kontrasten und Koexistenzen, forderte ich. "Ich muss hierbleiben und darf nicht weglaufen vor dem, was eben für diese im Garten spielenden Kinder so legitim ist und legitim sein sollte. Kann mir denn Max WEBER hier nicht weiterhelfen?", fragte ich mich. Kann er mir mit seinem Konzept der Wertbeziehung nicht vermitteln, wie ich hier mit meinen Schreibkämpfen neutral umgehen kann? Dass mich die spielenden Kinder im Garten schließlich nicht zu einem moralisierenden Text verleiten? [42]
Die über das reine Forschungsinteresse hinausgehenden Wertbezüge haben doch bei WEBER einen Platz, oder nicht? WEBER (1988 [1904], S.156) formulierte es so, dass es bei der wissenschaftlich fundierten Kritik an der Politik darauf ankäme, "in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewusstsein zu bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird". Nun machte ich kein wirkliches Werturteil und nahm auch keine Kritik der Politik vor, aber in jedem Fall bemaßen sich Teile meiner essayistischen Schilderungen über den sozialen Raum Hospiz in der Kindheit, denen ich einen Wert im Text zutrug, unerwünscht an dem, was ich im Garten sah, empfand und folglich bewertete, nämlich Fröhlichkeit aufgrund des hohen Quietschens und ein für mich unangemessenes und durch mich unangemessen interpretiertes Jammern um ein Holzpferd. Genau dies alles brachte mich schließlich auch zu der normativen Formulierung, dass der Charakter des Raumes Hospiz – "seine so wertvollen Mühen kaum würdigend – nolens volens schwer belastet" (SITTER 2019, S.112) ist. Entsprechende Belastungen müssen und sollen den gesunden, spielenden Kindern im Garten nicht zugemutet werden. [43]
Nun hatte ich ja noch ausreichend – zumindest temporär betrachtet – schreibfreundliche Zeit für den Essay. Also machte ich erst einmal eine Pause. Ich klappte Tisch und Stuhl nach nur 25 Minuten wieder zusammen und faltete die Wolldecke. Ich klemmte mir die Decke unter den Arm und verteilte Laptop, Buch und die nicht ausgetrunkene Teetasse auf meine zwei Hände. Ich ging also erst mal wieder ins Haus – es wurde sowieso kühler. Ich hoffte, dass mir das Schreiben über sterbende Kinder, sollte ich nochmals draußen sitzen, das nächste Mal besser gelingt. Aber vielleicht sind es ja dann die zwitschernden Vögel oder die flinken Eichhörnchen, die mir mit fröhlichem Klang und lustiger Bewegung sinnlich zu Gemüte führen, was sterbenskranken Kindern im Raum Hospiz entgehen kann. [44]
4.3 Dritte Vignette: das Getötet-Werden anderer betrachten5)
Ich kannte euch nicht. Woher auch? Ihr wart nur kurze Zeit am Leben, irgendwo 5.000 Kilometer von mir entfernt. Weder kenne ich eure Namen noch die Namen eurer Eltern. Ich weiß nicht, wann ihr geboren seid. Euer ungefähres Sterbedatum ist mir hingegen bekannt, ebenso wie der Umstand eures Ablebens, dem ich unzählige Male zugeschaut habe. Seitdem haben sich eure Gesichter in mein Gedächtnis eingeschrieben; das eines Säuglings und das eines sieben- bis achtjährigen Mädchens. Wenn ich an euch denke, dann sehe ich vor meinem inneren Auge eure unschuldigen, nichtsahnenden Blicke, durch welche die anderen Bilder, die ich von euch habe, umso schrecklicher für mich wirken. [45]
Die Pandemie führte mich zu euch. Eigentlich war ich drauf und dran, ins Feld zu gehen – ethnografisch zu arbeiten, um möglichst nahe am Gegenstand sein zu können. Mein Gegenstand war das Wissen über Gewalt. Und so bereitete ich mich darauf vor, einmal teilnehmend beobachtend, einmal beobachtend teilnehmend zu erleben, wie ein Wissen über Gewalt erzeugt und vermittelt wird und wie es zur Anwendung kommt. Bei Anti-Gewalt-Trainings und Gewaltpräventionstrainings wollte ich anwesend sein. Doch durch den ersten Lockdown im Rahmen der Coronapandemie blieb mir ein Feldaufenthalt verwehrt. Und so fand ich mich, wie wohl viele Ethnograf*innen, im Homeoffice wieder – weit entfernt von jenen Situationen, denen ich eigentlich beiwohnen wollte. [46]
Dennoch wollte ich mich näher mit dem Thema Gewalt befassen, es wissenssoziologisch ausleuchten. In den Jahren zuvor habe ich mich mit thanatosoziologischen Theorien, Problemen und Forschungsfeldern auseinandergesetzt. Durch das Zusammentreffen dieses Forschungsschwerpunkts und meines neuen Erkenntnisinteresses lag es nahe, dass ich mich auch mit tödlicher Gewalt befasste. An den heimischen Schreibtisch gebunden, bedeutete dies, dass ich im World Wide Web mit den entsprechenden Schlagworten, die semantisch mit dem Begriff "Töten" verknüpft sind, nach empirischen Einsichten, nach Berichten, Bildern und Videos recherchierte. Es bedurfte nur weniger Schlagwortsuchen, bis ich auf eine Homepage weitergeleitet wurde, auf der ich euch sah. [47]
Zunächst habe ich nur von euch gelesen. Auf der Homepage einer unabhängigen Nachrichtenagentur fand ich einen Text, in dem stand, wie du, ein Junge im Säuglingsalter, auf dem Rücken deiner Mutter gebunden warst, während sie zusammen mit einer weiteren Frau und dir, ihrer Tochter, über einen unbefestigten Weg geführt und anschließend mit Gewehrschüssen hingerichtet wurde. Über den Akt der Übertötung, über die mehr als acht Schüsse, die den kleinen Körper des Säuglings trafen und den gezielten Kopfschuss, der auf das Mädchen gerichtet war, konnte ich nichts in dem Online-Artikel lesen, in dem jenes Video eingebettet war, welches eure Hinrichtung zeigte. Der Text nannte den Ablauf des Geschehens, aber nicht diese Details zu eurem Tod. Euch kam darin auch keine herausgehobene Rolle zu. Ihr wart zwei von vier Opfern, die allesamt hingerichtet wurden. Vorher darüber zu lesen, was mit euch geschehen war, bereitete mich also keineswegs auf das vor, was in dem Video zu sehen war. Das geschriebene Wort erzählte euer Sterben in einer ganz anderen Form, als es von dem Smartphone-Video gezeigt wurde, in dem eure Tötungen zu sehen sind. [48]
Bevor ich das Video ansah, bereitete ich mich darauf vor. Ich schaute auf das Videostandbild, welches ich in meinem Browserfenster sah. Es zeigte eine schwarze Frau, die eine blaue Augenbinde trug. Durch den zuvor gelesenen Text war für mich klar, dass dies eine der beiden Frauen sein musste, die erschossen worden sind. Ich hielt inne. War ich tatsächlich bereit, mir anzusehen, wie Frauen und Kinder von Soldaten erschossen werden? Werde ich es verkraften zu sehen, wie jemandem das Leben genommen wird – aus nächster Nähe gefilmt, ohne Verpixelungen oder andere visuelle Nachbearbeitungen und in dem Wissen, dass diese Tötungen tatsächlich stattgefunden haben? Ich stockte. Zunächst richtete ich meinen Arbeitsplatz ein. Ich stöpselte meine Ohrhörer an meinen Laptop und drehte den Bildschirm so, dass meine Frau, die im Nachbarzimmer arbeitete, das Video nicht sehen konnte, wenn sie zufällig den Raum betreten würde. Ich wollte nicht, dass sie – dass irgendjemand – etwas von diesem Video wahrnimmt. Es sollte zunächst von mir allein gesehen werden. Ich hielt noch einmal kurz inne und klickte dann in dem Videoplayer auf Play. [49]
Das Erste, was ich sah, waren appellartige Großbuchstaben: "WARNING: VIDEO DEPICTS EXTREMELY GRAPHIC VIOLENCE AGAINST WOMEN AND CHILDREN". Ich spürte meine Anspannung steigen. Anschließend sah ich die Gruppe von Männern, die euch umringte und die Straße entlangführte. Eure Mütter wurden geschlagen. Ich hörte in französischer Sprache und las im englischen Untertitel, dass ihr gefangen genommen worden seid, dass ihr Mitglieder der Boko Haram gewesen sein sollt und dass das folgende "blutig werden wird". Dass ihr, die ihr noch Kinder wart, ernsthaft als Mitglieder der Boko Haram bezeichnet wurdet, kam mir ungeheuerlich vor. Waren die Täter etwa wirklich der Meinung, ihr hättet euch willentlich einer Terrormiliz angeschlossen? Machte euch die Tatsache, dass ihr Kinder von vermeintlichen Milizionären wart, bereits zu vollwertigen Mitgliedern? Glaubten sie tatsächlich, dass dadurch eure Tötung zu rechtfertigen sei? [50]
Euch nahm ich zunächst gar nicht wahr. Meine Gedanken wurden zu sehr von der gewaltsamen Prozession und der Erwartung vereinnahmt, dass gleich eine Exekution stattfinden wird. Doch dann sah ich euch. Dann sah ich so vieles, was mich noch längere Zeit beschäftigen würde. Ich sah dich, das Mädchen an der Hand ihrer Mutter, wie dir dein T-Shirt über den Kopf gezogen wurde, damit du nichts mehr sehen konntest. Ich sah, wie du dabei von einem Soldaten angepackt und von ihm gelobt wurdest, weil du diesen Befehl befolgt hast. Ich sah, wie du neben deiner knienden Mutter standst, deren Augen verbunden waren. [51]
Und ich sah dich, den Säugling auf dem Rücken seiner Mutter, wie du in die Kamera geblickt hast, als du den Ort deiner Tötung erreicht hast. Ich sah deine nichtsahnenden Augen, als dir ein Soldat sagte, dass das Folgende wehtun wird, aber deine Eltern ihn dazu gedrängt hätten. Ich sah, wie deine Mutter sich hinkniete, mit dem Rücken zu den Tätern, sodass die Soldaten weder ihr noch dein Gesicht sehen konnten. Ich sah, wie auf euch geschossen wurde. [52]
Ich sah das Mädchen umfallen, und ich sah, wie kurz darauf mehrmals auf den Kopf des Säuglings geschossen wurde, weil er den ersten Schuss überlebt hatte. Ich sah, wie der Schütze nur aufhörte zu schießen, weil die anderen Soldaten ihm zuriefen, dass dieses Kind tot sei. Und ich sah, wie demgegenüber das Mädchen von einem einzelnen weiteren Schuss getroffen wurde, weil es ebenfalls die ersten Treffer überlebt hatte. [53]
Als das Video endete, saß ich eine ganze Weile still vor meinem Laptop. Es ist schwer zu beschreiben, was in diesem Moment in meinem Kopf vorging. Einerseits war da eine große Leere, eine Hoffnungslosigkeit und tiefe Traurigkeit. Ich war wie betäubt und konnte nur regungslos vor mich hinstarren. Andererseits blitzten in dieser Leere immer wieder zahllose Gedanken auf; Gedanken der Wut, des Ekels, der Angst, der Neugier, der Scham und etlicher weiterer Gefühlslagen. Mein Kopf raste. Dieser Moment zwischen Leere und Gedankenflut fühlte sich enorm lang an, doch er dauerte vielleicht nur einige Sekunden. Anschließend schloss ich den Browser, und ich versuchte, die gesamte Situation in meinem Forschungstagebuch festzuhalten und zu beschreiben. Doch jede Formulierung, die ich fand, schien mir im Nachhinein ungenügend. Wie konnte ich das in Worte fassen, was für mich unfassbar schien, was mich schockierte und mich betroffen zurückließ. Ich brauchte eine Pause. Ich brauchte Abstand. [54]
In den folgenden Tagen musste ich immer wieder an das Gesehene denken; selbst zu den alltäglichsten Augenblicken – oder vielleicht gerade erst recht dann? Meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Video zurück. Doch aus irgendeinem Grund waren es vor allem eure beiden Gesichter, an die ich oft denken musste. Schließlich setzte ich mich hin, um das Video zu analysieren. Ein Sequenzprotokoll musste angefertigt werden. Die damit verbundene Sichtung war nicht minder zermürbend für mich. Sie war sogar noch schwieriger zu ertragen. Immer wieder pausierte ich das Video, um das Gesehene zu verschriftlichen. Viele Ausschnitte des Videos musste ich mehrmals ansehen, um sie detailliert transkribieren zu können. Somit sah ich euch auch wiederholt sterben – wieder und wieder. Die Schüsse trafen eure Körper. Doch wie viele waren es? Pause – Zurückspulen – Play. Ein Schuss. Zwei Schüsse. Drei Schüsse. Und noch etliche folgten und ließen mich Mal für Mal ergriffen zurück. Erneut wurdet ihr erschossen. Was haben die Soldaten in diesem Moment gerufen? Pause – Zurückspulen – Play. Wieder lebend vor meinen Augen, wurdet ihr kurz darauf abermals getötet. Was machten die einzelnen Anwesenden währenddessen? Ich musste jede*n Handelnde*n in einem einzelnen Durchgang fokussieren. Pause – Zurückspulen – Play. Tod. Pause – Zurückspulen – Play. Tod. Pause – Zurückspulen – Play. Tod. Immer wieder sah ich eure Tötungen. Jede Pause bildete den Ausgangspunkt, um euch erneut sterben zu sehen. In diesen Pausen lag eine enorm unangenehme Spannung – eine Mischung aus analytischem Interesse, erleichtertem Aufatmen, weil die Bilder anhielten und Angst und Abscheu, wieder auf Play zu klicken und das Video weiterlaufen zu lassen. Jedes Mal wusste ich bereits, was geschehen war – und geschehen wird. Ich wusste auch, wann es geschehen wird, denn in dem Videoplayer, den ich verwendete, konnte ich die Audiospur sehen, die mir darüber Auskunft gab, in wie vielen Millisekunden die Schüsse erfolgen, die euch und eure Mütter treffen sollten. Jene Bilder, deren Sichtbarmachung ich durch das Pausieren des Videos hinauszögerte, kündigten sich somit selbst in den Unterbrechungen in der grafischen Lautdarstellung der Gewehrschüsse an. [55]
In einigen Augenblicken, in denen ich das Video unterbrach und keinen Sound durch meine Kopfhörer übertragen wurden, konnte ich hören, wie meine Frau im Nachbarzimmer mit unserem Sohn spielte, kreischte und lachte. Er war zu diesem Zeitpunkt vielleicht nur ein Jahr älter als der Säugling in dem Video. In diesen Momenten verschwommen für mich die ohnehin durchlässigen Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben, zwischen Feldforschung und Alltag, zwischen Distanz und Nähe und zwischen der Freude am Leben und der Betroffenheit im Angesicht des Todes. Diese Momente verbanden euch und meinen Sohn in meinen Gedanken. Euch sterben zu sehen und zu wissen, dass zur gleichen Zeit mein Sohn ganz in der Nähe quicklebendig war und Spaß hatte, hinterließ in mir eine Spur der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Das fröhliche Kinderlachen, das durch den Türspalt drang und mich sonst ebenfalls fröhlich stimmte, schmerzte mich plötzlich. Es erschien mir als eine große Ungerechtigkeit, dass euch in euren jungen Jahren das Leben genommen wurde – und die Möglichkeit, nun genauso lachen zu können wie mein Sohn. Eine Kaskade der Kontingenzmöglichkeiten ereignete sich in meinem Kopf. Ich dachte daran, dass auch mein Sohn an eurer Stelle hätte sein können. Ich dachte daran, dass ihr womöglich auch einmal genauso fröhlich wart wie er und es auch jetzt noch hättet sein können. Ich dachte daran, dass mein Sohn seine Zukunft vor sich hat, während eure weitere Zeit unter den Lebenden unweigerlich beendet worden ist. Und ich empfand einen tiefen Schmerz, weil mir eure Tötungen durch diese zufällige Verquickung mit meiner Lebenswelt, durch das – im positiven wie im negativen Sinne – herzzerreißende Lachen aus dem Nebenzimmer umso grausamer und ungerechter und einfach nur falsch erschienen. [56]
Wieder und wieder sah ich euch vor meinen Augen sterben. Nochmals und nochmals zählte ich die Schüsse. Ich achtete darauf, welche Kugeln eure zierlichen Körper und welche nah bei euch in den Boden trafen. Ich beobachtete genau, wie die Soldaten, die euch töteten, zuvor mit euch umgegangen und mit euch geredet haben. Durch das wiederholte analytisch-distanzierte Betrachten der Videos und durch Videobeschreibungen und Nachzeichnungen der Videostandbilder wurde es für mich einfacher, mich mit euren Tötungen zu befassen. Doch auch heute noch sträube ich mich, das Video anzuschauen und erneut zu sehen, wie euch die Kugeln treffen. [57]
Ich kannte euch nicht. Woher auch? Auch wenn uns 5.000 Kilometer voneinander trennten und ich eure Namen nicht kenne, seid ihr mir aber sehr nahegekommen. Eure unschuldigen, nichtsahnenden Blicke haben eine tiefe Spur der Betroffenheit in meinem Denken über den Tod und das Leben, und vor allem: über euren Tod und euer Leben hinterlassen. [58]
1) Wir alle gehören dem 2020 als Teil der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründeten Arbeitskreis Thanatologie an. <zurück>
2) Pro Jahr sterben in Deutschland circa 900.000 Menschen, was etwas weniger als einem Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht (STATISTA RESEARCH DEPARTMENT2022). <zurück>
3) Verfasserin: Melanie PIERBURG. <zurück>
4) Verfasserin: Miriam SITTER. <zurück>
5) Verfasser: Ekkehard COENEN. <zurück>
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Melanie PIERBURG arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Dort bietet sie Beratungen im Bereich qualitative Methodenanwendung an. Ihre Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf Möglichkeiten ethnografischer Erkenntnisgewinnung, thanatosoziologische Fragestellungen und die historische Bildungsforschung.
Kontakt:
Melanie Pierburg
Universität Hildesheim
Institut für Sozialwissenschaften
Universitätsplatz 1, 31142 Hildesheim
E-Mail: pierbu@uni-hildesheim.de
URL: https://www.uni-hildesheim.de/fb1/institute/institut-fuer-sozialwissenschaften/soziologie/mitglieder/wissenschaftliche-angestellte/melanie-pierburg/
Thorsten BENKEL ist Akademischer Oberrat für Soziologie an der Fakultät für Sozial- und Bildungswissenschaften der Universität Passau. Er arbeitet insbesondere mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie bzw. damit verbunden in den Feldern Wissens-, Rechts-, Religions- und Kultursoziologie.
Kontakt:
Thorsten Benkel
Universität Passau
Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung
Dr. Hans-Kapfinger-Str. 14d, 94032 Passau
E-Mail: Thorsten.Benkel@uni-passau.de
URL: https://www.phil.uni-passau.de/soziologie/benkel/
Ekkehard COENEN ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultur- und Mediensoziologie der Bauhaus-Universität Weimar. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissens-, Gewalt-, Thanato- und Kultursoziologie sowie die Methoden qualitativer Sozialforschung.
Kontakt:
Ekkehard Coenen
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Medien, Lehrstuhl für Kultur- und Mediensoziologie
Schwanseestraße 143, 99427 Weimar
E-Mail: ekkehard.coenen@uni-weimar.de
URL: https://www.uni-weimar.de/de/medien/professuren/medienwissenschaft/mediensoziologie/personen/wiss-mitarbeiter-ekkehard-coenen-ma/
Matthias MEITZLER ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Eberhard Karls Universität Tübingen und lehrt Soziologie an der Universität Passau. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wissenssoziologie, qualitative Methoden, Mediatisierungsforschung sowie in der Soziologie des Körpers, der Emotionen, des Alter(n)s und des Todes.
Kontakt:
Matthias Meitzler
Universität Tübingen
Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften
Wilhelmstraße 19, 72074 Tübingen
E-Mail: matthias.meitzler@uni-tuebingen.de
URL: https://uni-tuebingen.de/einrichtungen/zentrale-einrichtungen/internationales-zentrum-fuer-ethik-in-den-wissenschaften/team/matthias-meitzler/
Miriam SITTER ist Leiterin des Trauerforschungsinstituts kleine Blume e.V. (in Gründung) in Hannover und Vorsitzende des LÖWENZAHN Zentrums für trauernde Kinder und Jugendliche e.V. Von 2019-2022 war sie Verwaltungsprofessorin für Didaktik der Sozialpädagogik an der Universität Osnabrück. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte berühren u.a. wissenssoziologische Fragestellungen über Trauer in jungen Lebensjahren und die Bedeutung der gewaltfreien Kommunikation in Trauerphasen.
Kontakt:
Miriam Sitter
Trauerforschungsinstitut kleine BLUME e.V. (In Gründung)
Fundstraße 1b, 30161 Hannover
E-Mail: m.sitter@t-kleineblume.de
URL: http://www.t-kleineblume.de
Pierburg, Melanie; Benkel, Thorsten; Coenen, Ekkehard; Meitzler, Matthias & Sitter, Miriam (2023). Autoethnografie in Todesnähe. Soziologische Arbeit an und mit herausfordernden Identifikationsprozessen [58 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 24(2), Art. 7, http://dx.doi.org/10.17169/fqs-24.2.4065.