header image

Volume 26, No. 1, Art. 3 – Januar 2025

Kritische Anordnungen: Passung von Problem, Lösung und Evidenz in der Herstellung und Erforschung von Regierungstechnologien

Martina Kolanoski

Review Essay:

Tim Seitz (2023). Die Praxis des Nudging: Sanftes Regieren durch Verhaltensexperimente. transcript; 222 Seiten; 40 Euro; https://www.transcript-open.de/isbn/6798

Zusammenfassung: In dem Review Essay zu Tim SEITZ' Buch "Die Praxis des Nudging" untersuche ich dessen Beitrag zur aktuellen Nudging-Debatte und zu den Science and Technology Studies (STS). Ich beleuchte SEITZ' methodologischen Ansatz, der sich durch eine praxeologische Analyse der Herstellung von Nudges, d.h. verhaltensökonomisch raffinierten Denkanstößen, auszeichnet, und zeige, wie er damit die etablierte machtkritische Perspektive der Gouvernementalitätsstudien erweitert. Besonderes Augenmerk lege ich auf seinen doppelten Forschungsfokus: die Untersuchung sowohl der Produktion von Nudges als auch der wissenschaftlichen Wissensproduktion über Nudging. Ich hebe die theoretische Fundierung und die dialogische Verknüpfung von Theorie und Empirie hervor und würdige die gelungene textuelle Performanz des Buches. SEITZ' Arbeit ist aus meiner Perspektive wegweisend für die kritische Analyse komplexer sozialer Problemlösungsstrategien, bei denen es um die praktische Passung von Problem, Lösung und Evidenz geht.

Keywords: Praxisforschung; Gouvernmentalität; Problembearbeitung; STS; theoretische Empirie; textuelle Performanz; Ethnografie, Methodografie

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Von der Machtkritik zur Analyse gesellschaftlicher Problembearbeitung: Tim SEITZ' Beitrag zur Nudging-Debatte

3. Die Entschlüsselung des Forschungsprozesses: SEITZ' zweifache STS-Analyse

4. Forschungspraktische Funktionen von Theorien

5. Textuelle Performanz

5.1 Transparenz

5.2 Minimalismus

5.3 Visualisierung

5.4 Rückbezüglichkeit

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Tim SEITZ' leistet in seinem Buch "Die Praxis des Nudging" einen bedeutenden Beitrag zur aktuellen Debatte um Nudging und eröffnet neue Perspektiven für die Science and Technology Studies (STS) sowie die Gouvernementalitätsstudien. In der wörtlichen Übersetzung bezeichnet ein Nudge einen kleinen Stupser. Mit dem in der Soziologie kritisch betrachteten Konzept werden experimentell vorbereitete Manipulationen der Umwelt beschrieben, die darauf abzielen, auf das Verhalten von Menschen Einfluss zu nehmen. Mit seinem doppelten Forschungsfokus auf die Herstellung von Nudges und die wissenschaftliche Erkenntnis über Nudging hebt SEITZ die Stärke einer STS-Perspektive hervor, bei der die eigenen Erkenntnisse auf sich selbst angewendet werden. Durch diese parallele Ausrichtung des Erkenntnisinteresses bietet das Buch wertvolle Einsichten für ein breites Publikum: sowohl für Lesende, die an der Funktionsweise und Kritik von Nudging interessiert sind, als auch für jene, die sich mit der Reflexion und Analyse von Forschungspraxis an der Schnittstelle von ethnografischer Praxisforschung, theoretischer Empirie und STS auseinandersetzen. [1]

Das Buch ist klar strukturiert und beginnt mit einer Einleitung, in der die Relevanz der Studie und der theoretische Rahmen abgesteckt wird. Im zweiten Kapitel, "Wie Nudging wissen?", verankert SEITZ das Phänomen Nudging in einer sozialontologischen Perspektive. In den folgenden drei Hauptkapitel präsentiert er die Ergebnisse der empirischen Forschung entlang der drei Dimensionen, aus denen ein Nudge praktisch zusammengesetzt ist: "Die Arbeit am Problem", "Die Arbeit an der Lösung" und "Die Arbeit an der Evidenz". In jedem dieser Kapitel werden spezifische theoretische Konzepte eingeführt, um die jeweiligen Aspekte der Nudge-Herstellung zu analysieren. SEITZ schließt mit einem zusammenfassenden Rückblick und einem Ausblick, in dem er die Relevanz der Ergebnisse im Hinblick auf gesellschaftliche Problembearbeitung diskutiert und den weiteren Forschungsbedarf adressiert. [2]

Der Aufbau des Buches spiegelt die Struktur von Nudges wider, die analytisch wie erwähnt in den Dimensionen Problem, Lösung und Evidenz gefasst wird. Diese systematische Gliederung verdeutlicht die Parallelen zwischen der Arbeit an Nudges und der Erstellung wissenschaftlicher Publikationen. Diese erste Übertragung der Analyseergebnisse macht deutlich, dass durch den Fokus auf die praktische Verwobenheit von Problem, Lösung und Evidenz nicht nur wertvolle Einsichten in die spezifische Praxis des Nudging geboten, sondern auch bedeutende analytische Anregungen für andere Praxisfelder geliefert werden, in denen komplexe Probleme bearbeitet und evidenzbasierte Lösungen entwickelt werden. [3]

Den Review Essay gliedere ich in mehrere Abschnitte, um die Besonderheiten von SEITZ' Werk zu beleuchten. Nach der Einleitung folgt zunächst eine Analyse von seiner Abkehr von einer rein machtkritischen Perspektive hin zu einer praxeologischen Untersuchung der gesellschaftlichen Problembearbeitung im Kontext von Nudging (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 fokussiere ich die doppelte STS-Analyse, bei der sowohl die Entstehung von Nudges als auch die Bedingungen der wissenschaftlichen Wissensproduktion über Nudging untersucht werden. Im weiteren Verlauf werden die forschungspraktischen Funktionen von Theorien betrachtet, wobei SEITZ' Reflexion und Anwendung theoretischer Ansätze auf den Forschungsprozess im Vordergrund stehen (Abschnitt 4). Abgeschlossen wird der Essay mit Ausführungen zur textuellen Performanz des Buches, die als besonders gelungene Darstellung der Komplexität und Transparenz der Forschungsarbeit hervorgehoben wird (Abschnitt 5). [4]

2. Von der Machtkritik zur Analyse gesellschaftlicher Problembearbeitung: Tim SEITZ' Beitrag zur Nudging-Debatte

Das Konzept des Nudging erlangte seit seiner Einführung (THALER & SUNSTEIN 2009) kritische Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Gesellschaft. Nudging bezeichnet die Idee, Verhaltensänderungen durch gezielte Denkanstöße zu bewirken. Diese sind experimentell vorbereitete Manipulationen der Umwelt, die darauf abzielen, das Verhalten "sanft" zu beeinflussen, ohne die individuelle Entscheidungsfreiheit zu beschneiden. [5]

Die Debatten um Nudging in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften konzentrierten sich oft auf die Chancen und Risiken dieser Technik, um individuelles Verhalten in eine gewünschte Richtung zu lenken (BAER 2023; ENGEL, ENGLERTH, LÜDEMANN & SPIECKER gen. DÖHMANN 2023; GRÜNE-YANOFF & HANSSON 2009). Zentrale Themen waren hierbei die Effektivität, ethische Vertretbarkeit und die potenzielle Bevormundung der Bürger:innen. Kritiker:innen betonten die manipulative Einflussnahme, den staatlichen Paternalismus, mögliche Einschränkungen von Grundrechten und die Gefahr dystopischer Gesellschaftsverhältnisse (McCRUDDEN & KING 2016; WHITE 2013). [6]

Obwohl FOUCAULT (2004a) nicht direkt von Nudging sprach, beschrieb er in seinen Überlegungen zur Gouvernementalität bereits genau jene subtilen Regierungspraktiken, die später durch Nudging populär wurden. Er zeigte auf, dass Regierungsstrategien zunehmend auf Freiheit und Selbstdisziplinierung ausgerichtet waren, anstatt auf offene Zwangsmaßnahmen zurückzugreifen. In den Gouvernementalitätsstudien wurden diese Gedanken aufgegriffen, und Nudging wurde als Technik zur Förderung freiwilliger, jedoch subtil gelenkter Verhaltensanpassungen kritisiert, bei denen der Unterschied zwischen Freiheit und Lenkung zunehmend verwischte (MULDERRIG 2018). [7]

SEITZ geht jedoch über diese etablierten Fragerichtungen hinaus. Anstatt sich direkt mit den Chancen und Risiken des Nudging auseinanderzusetzen, leistet er durch seine praxeologische Rekonstruktion des Herstellungsprozesses eine bedeutende Verschiebung der Perspektive und grenzt sich dabei bewusst von den Gouvernementalitätsstudien ab. Mit einer objektzentrierten, praxeologischen Analyse lenkt SEITZ den Blick weg von den Effekten der Nudges hin zu den komplexen und ansonsten nicht sichtbaren Mechanismen, die ihre Herstellung prägen. Mit seiner ethnografischen Studie nimmt er die Lesenden mit in den Arbeitsalltag einer Behaviorial Insights-Agentur, jener verhaltenswissenschaftlichen Labore, in denen diese Regierungstechnologien von der Auftragserteilung bis zur Ablieferung der fertigen Nudges produziert werden. Mit dem Fokus auf den Herstellungsprozess werden Spannungen, Dynamiken und wechselseitige Bedingtheiten sichtbar gemacht, die "Brüchigkeit und Voraussetzungsreichtum" (S.68) kennzeichnen. Dabei werden verschiedene praktische Anforderungen beleuchtet, die ein Nudge als dreigliedrige Verbindung von Problem, Lösung und Evidenz erfüllen muss, um als wirksam zu gelten. [8]

Damit verschiebt SEITZ die in Gouvernmentalitätsstudien getätigte Fokussetzung entscheidend: Statt die gesellschaftlichen Probleme als bloße Mittel der Macht zu identifizieren, als Vorwand, dessen sich Regierende bedienen, nimmt er in seiner praxeologische Analyse die gesellschaftlichen Bezugsprobleme und die konkreten Vollzugsprobleme, die im Rahmen des Herstellungsprozesses des Nudging entstehen, ernst. Es sind die drängenden Probleme unserer Zeit wie z.B. der Klimawandel, durch die deutlich wird, wie wichtig es ist, gesellschaftliche Herausforderungen in ihrer Dringlichkeit als reale Anliegen anzuerkennen, die ernsthafte Lösungen erfordern (SCHEFFER 2022). SEITZ zeigt dabei die Produktivität der analytischen Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen Bezugsproblemen (wie etwa die bessere Umsetzung von Hygienemaßnahmen in der Landwirtschaft oder energiesparendes Bauen im Angesicht des Klimawandels) und den Vollzugsproblemen, die als Herausforderungen im Umsetzungs- und Herstellungsprozess sichtbar werden. [9]

Durch die ethnomethodologische Indifferenz, mit der die Anforderungen und Zielkonflikte der Praktiken im Feld herausgearbeitet werden, demonstriert SEITZ die Potenziale einer Gesellschaftskritik, die sich aus dem wohlwollenden Verstehen der Praktiker*innen und ihrer Bemühungen ergibt. Die Analyse der Herstellung von Nudges und der Bedingungen ihres Gelingens oder Scheiterns ermöglicht es, die Probleme der Teilnehmenden auf unterschiedlichen Ebenen anzuerkennen, nachzuvollziehen, zu unterscheiden und zu beschreiben. So lenkt SEITZ den Blick auf die tatsächliche Praxis des Problemlösens zwischen widersprüchlichen Anforderungen, Lösungsversuchen und Evidenzproduktionen. Er liefert damit eine dringend benötigte Perspektive, bei der die gesellschaftlichen Herausforderungen und ihre Bearbeitung in den Mittelpunkt gestellt werden, statt sie als bloße Vorwände für Machtpraktiken beiseitezuschieben. [10]

3. Die Entschlüsselung des Forschungsprozesses: SEITZ' zweifache STS-Analyse

Anstatt sich nur auf die Produktion von Nudges zu konzentrieren, erweitert SEITZ seinen Fokus auf den Herstellungsprozess der Forschung selbst. Dies geschieht in einer Weise, die für STS typisch ist, aber dennoch selten in ihrer vollen Konsequenz umgesetzt wird. Dort wird der primäre Fokus auf die Produktion von Wissen gerichtet, sodass es möglich ist, den Prozess der Wissensgenerierung, die alltäglichen Forschungspraktiken und die Art und Weise, wie Wissenschaft und Wissensproduktion ablaufen, in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Wird diese "Labor-Perspektive" auf die eigene Forschung angewendet, können Einblicke in das "Wie" der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion transparent gemacht werden. [11]

Obwohl gerade Ethnograf:innen die Reflexion der eigenen Positionalität und Subjektivität sowie die transparente Darlegung des Forschungsprozesses forderten (BIRKHOLZ, BOCHMANN & SCHANK 2020; SCHWARTZ-SHEA & YANOW 2012; SCHWEITZER 2022), verschwindet die Fabrikation ethnografischen Wissens meist weitgehend in einer "Blackbox". Selbst bei Autor:innen, die durch STS sensibilisiert sind, führt diese "Bereinigung" dazu, dass die Prozesshaftigkeit des Forschens unsichtbar bleibt (WIEDMANN, WAGENKNECHT, GOLL & WAGENKNECHT 2020a). In Arbeiten der sogenannten Methodografie werden qualitative Methoden der Sozialwissenschaften in ihrer praktischen Umsetzung untersucht. Dabei wird der primäre Gegenstand in der Regel außen vor gelassen (MAIR, SHARROCK & GREIFFENHAGEN 2022; MEIER ZU VERL 2018). Ausnahmen stellen Untersuchungen wie die von Larissa SCHINDLER (2012) dar, die in ihrer Betrachtung von Visualität als Gegenstand und Methode die doppelte Relevanz für die soziale und wissenschaftliche Praxis aufgezeigt hat. Ebenso werden in den Beiträgen des Sammelbandes "Wie forschen mit den 'Science and Technology Studies?'" (WIEDMAN, WAGENKNECHT, GOLL & WAGENKNECHT 2020b; exemplarisch KOCKSCH 2020) wichtige Ansätze geliefert, auf deren Leitfrage die Arbeit von Tim SEITZ eine weitere Antwort bietet. [12]

Denn SEITZ zeigt die Stärke der STS-Perspektive in der Verwobenheit seiner beiden Gegenstände. Es gelingt ihm, das gewonnene Wissen über Nudging (Output) im Lichte seiner Entstehungsbedingungen, den Beobachtungs-, Übersetzungs- und Darstellungspraktiken (Input) zu verorten und ihre Wechselwirkungen zu beschreiben. Dadurch schafft SEITZ einen Beitrag, der über die herkömmliche STS-Forschung hinausgeht und bei dem er das Potenzial der STS-Perspektive zur Reflexion und Transparenz des eigenen Erkenntnisprozesses voll ausschöpft. [13]

Im Weiteren sollen zwei besondere Stärken des Buches hervorgehoben werden: Dies ist zum einen die gelungene Darstellung der Beziehung zwischen Theorie und Empirie, wobei Theorien unterschiedliche Funktionen erfüllen: Durch sie wird die Analyse strukturiert und sie werden zugleich durch die empirischen Befunde weiterentwickelt. Zum anderen schafft SEITZ durch eine beachtliche textuelle Performanz, komplexe Zusammenhänge klar und präzise darzustellen, ohne die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes zu vereinfachen. [14]

4. Forschungspraktische Funktionen von Theorien

SEITZ nutzt seine ethnografische Studie zum Nudging als Plattform zur Auseinandersetzung mit grundlegenden sozialtheoretischen Fragen. Dabei durchleuchtet er die theoretischen Fundamente verschiedener Autor:innen und entwickelt so Schritt für Schritt einen methodologischen Zugang zu seinem Gegenstand. Im Hinblick auf die unterschiedlichen forschungspraktischen Funktionen schlage ich vor, die theoretischen Grundlagen von der "eigentlichen" theoretische Empirie (KALTHOFF, HIRSCHAUER & LINDEMANN 2008) zu unterscheiden, mit der die Analyse im Hauptteil aufgebaut ist:

"Im Lichte formativer Objekte lässt sich also jede beobachtete Situation daraufhin befragen, worauf die hier und jetzt stattfindende Arbeit gerichtet ist, auf welchen vorher geleisteten Arbeitsepisoden sie aufbaut und welche nachfolgenden sie ermöglicht. Dem Beobachter erlaubt dies begründbare Selektivität [...] sowie nach und nach ein Verständnis des beobachteten Geschehens. Es erscheint dann nicht nur als eine Aneinanderreihung von Arbeitsepisoden zu Situationsketten, sondern auch als eine Versammlung von Objekt-Karrieren" (S.60). [15]

Im Ergebnis zeigt die Analyse der reichhaltigen empirischen Daten, dass Nudging ein fortlaufender Anpassungsprozess und eine Bearbeitung von Passungsproblemen ist, bei denen Verschiebungen im Hinblick auf verschiedene praktische Anforderungen deutlich werden. Insbesondere ersetzt SEITZ damit ein vordefiniertes Phasenmodell mit einem Modell, in dem die kontinuierliche und parallele Arbeit an Problem, Lösung und Evidenz in allen Phasen beschrieben wird: "Wir sprechen nun von der 'frühen', der 'mittleren' oder der 'späten' Phase der Herstellung eines Nudges, in denen jeweils alle Komponenten in ihrem jeweiligen (frühen, mittleren oder späten) Stadium vertreten sind" (S.196). Auf diese Weise zeigt er die dynamische Beziehung zwischen den Komponenten eines Nudges und hebt die tiefgreifende praktische Verwobenheit von Problem, Lösung und Evidenz hervor, wobei jede Veränderung eines Elements Auswirkungen auf die anderen hat. [16]

Die ersten beiden sozialtheoretischen Setzungen dienen als Grundlegung der eigentlichen theoretischen Empirie, die als symmetrisches Wechselspiel von Theorie und Empirie im Hauptteil aufgebaut wird. Theoretisierung fungiert hier als eine von vier Operationen, die die analytische Auseinandersetzung mit dem empirischen Material praktisch anleiten und "in deren Verlauf ein gradueller Übergang vom Konkreten zum Allgemeineren möglich wurde" (S.65).

"In jedem der Kapitel warfen wiederum die Empirie und das jeweils fokussierte Teilobjekt Rätsel und Fragen auf, welche bestimmte theoretische Konzepte in Reichweite brachten [...] Sie dienten mir fortan als 'sensitizing concepts' (Blumer 1954: 7) oder 'Denkzeuge' (Kalthoff, Hirschauer 2022: 343) [...] Weder die Konzepte [...] noch die Aspekte des empirischen Materials, die durch die Konzepte interessant wurden, standen zu Beginn fest. [...] Bei diesem explorativen Theoretisieren ging es mir [...] darum, in entdeckender Absicht 'empirische Perspektiven und theoretische Sehinstrumente in interessante und spannungsreiche Konstellationen' (Schmidt 2012: 31) zu bringen" (SEITZ, S.67). [17]

Derartige "interessante und spannungsreiche Konstellationen" (S.67) gelingen SEITZ beispielsweise, wenn er mit LATOURs "zirkulierender Referenz" (2016 [1999]) die Transformationen entlang der Problemkarrieren rekonstruiert und das Verhältnis von gesellschaftlichem Bezugsproblem und dem im Nudge adressierten Problem als Kette "mehr oder weniger plausibler Übersetzungen" (SEITZ, S,103) sichtbar macht. Mit LURYs (2020) Konzept der "Problem Spaces" wendet er sich gegen die Vorstellung, das Problem als stabile Entität zu begreifen und nimmt eine Sichtweise auf stetig neu geformte Beziehungen ein. Bei der Analyse der Lösungen greift SEITZ auf den prozessualen Umweltbegriff von VON UEXKÜLL (1958 [1934]) zurück, mit dessen Unterscheidung von Umgebung und Umwelt er die verhaltenswissenschaftliche Herausforderung der umweltlichen Manipulation analytisch fassen kann.

"Denn was die Beeinflussten aus ihrer Umgebung machen, lässt sich weder direkt beobachten, noch kontrollieren. Die Praktiker:innen können in die Umwelt der Beeinflussten nichts hineindrücken, sie können nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass etwas hineingezogen wird – und die Beeinflussten können sich immer auch anders verhalten. Dies ist ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses des Nudging und des libertären Paternalismus, dessen Sanftheit (vgl. Bröckling 2017) ich mit Uexküll nun viel besser verstehen kann. Denn es hängt immer vom Lebewesen ab, welchen (Bruch-)Teil der Umgebung es zu seiner Umwelt macht" (SEITZ, S.137). [18]

5. Textuelle Performanz

Die oben genannte Transparenz des Forschungsprozesses ist zugleich ein Schlüsselelement der außergewöhnlichen textuellen Performanz, die der Text erreicht. Textuelle Performanz wurde als eines von fünf Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung identifiziert, wobei sie neben der "elementaren Anforderung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit" wissenschaftlicher Arbeit auch abzielt auf die "Art und Weise, wie kompetent Autorinnen ihre Leser führen" (STRÜBING, HIRSCHAUER, AYAß, KRÄHNKE & SCHEFFER, 2018, S.93; s. auch SCHNEIJDERBERG 2023) und mit ihnen in eine soziale Interaktion treten. Mit respektvoller Hinwendung zur Lesendenschaft gelingt SEITZ dies in mindestens vier Hinsichten: [19]

5.1 Transparenz

Die Bedeutung der Beschreibung des Forschens als praktisches Tun für die textuelle Performanz wird deutlich, wenn der Ich-Erzähler erstmalig ins Gespräch mit seinen Leser:innen tritt (S.15): Hier beginnt die Forschungsreise als Prozess der Erfahrung, der Suche, der praktischen Probleme des Forschenden in der Auseinandersetzung mit Theorie und Empirie und im Bemühen darum, die Reise für andere darstellbar, nachvollziehbar, aber auch erfahrbar zu machen. [20]

5.2 Minimalismus

In bemerkenswerter Klarheit navigiert Tim SEITZ durch die Komplexitäten seines Themas, ohne sich den Lesenden dabei mit einer Überfülle von Wissen zu präsentieren. Das bezieht sich sowohl auf die Auswahl seines empirischen Materials als auch auf den Umgang mit theoretischen Konzepten. Dieser bewusste Minimalismus wird etwa deutlich, wenn er erklärt, dass er auch den Forschungsstand nur im Kontext seines eigenen Erkenntnisinteresses berücksichtigt. Entsprechend erkundet er gezielt "die Spannungen und Brüche [...] die auftreten, wenn man sich als Beobachter zwischen methodologischen Zugängen und sozialtheoretischen Lagern bewegt" (S.33). Seinen Umgang mit einzelnen Theoretiker:innen beschreibt SEITZ als einen Spaziergang mit Riesen (S.34), die ihn jeweils ein Stück begleiteten. Die Metapher verspricht einen ruhigen, von der Hektik des Alltags geschützten Rahmen für den Austausch zwischen empirischer Forschung und theoretischen Konzepten. So bekommt das Theoretisieren einen Ort, eine Zeit, es findet statt, wo konsequent nur eins nach dem anderen stattfinden kann. Entsprechend wird mit voller Aufmerksamkeit jeweils nur einer Person die Bühne gegeben. Die minimalistische Komposition theoretischer Konzepte und empirischen Materials prägt den wohlsortierten Leseeindruck. [21]

5.3 Visualisierung

Ähnlich wie KNOPP (2021) in seiner Analyse der Kartierung von Zeitlichkeiten zeigte, wie Zeitbeziehungen in der Wissenschafts- und Technikforschung visualisiert und erforscht werden können, verdeutlicht SEITZ mit seinen Visualisierungen die Nachvollziehbarkeit komplexer, trans-sequentieller Prozesse. Diese Visualisierungen sind dabei nicht nur Darstellungen von Ergebnissen, sondern integraler Bestandteil der Analyse selbst. Sie ermöglichen es den Lesenden, Beziehungen und Entwicklungen sowie sequenzielle und parallele Abläufe besser zu erfassen und ein tieferes Verständnis zu erlangen. Insbesondere im Kontext der von SEITZ genutzten und weiterentwickelten Konzepte der trans-sequentiellen Analyse tragen die grafischen Darstellungen zu einem bisher vermissten Niveau der Nachvollziehbarkeit bei. [22]

5.4 Rückbezüglichkeit

Im Text wird eine Wechselwirkung zwischen der untersuchten Praxis und der forschenden Praxis beschrieben, wobei die Erkenntnisse aus den empirischen Beobachtungen und Analysen in die forschende Praxis einfließen. Dies wird etwa im Aufbau des Buches sichtbar, der den Aufbau eines Nudges spiegelt. Diese Rückbezüglichkeit wird spielerisch vollzogen und lädt zu weiteren Übertragungen ein. SEITZ behandelt in seinem Buch die Herausforderungen des Forschungsprozesses, der Wissensproduktion und der Darstellung von Erkenntnissen. Er bietet Lösungen an, deren Wirksamkeit sich jedoch erst in der Rezeption durch die Lesenden zeigt. Da diese Rezeption zeitlich versetzt und örtlich verteilt erfolgt, kann sie nicht direkt kontrolliert oder beobachtet werden – ein typisches Evidenzproblem geschriebener Texte. Die Tatsache, dass diese Rezeption in Form von Referenzen, Zitaten oder Rezensionen überhaupt beobachtbar wird, kann jedoch als Hinweis auf die Resonanz des Buches gewertet werden. [23]

In ähnlicher Weise lässt sich SEITZ' analytischer Fokus selbst als Angebot verstehen, das in verschiedenen Praxisfeldern Resonanz finden und weitergetragen werden kann. Sein Ansatz zur Passung von Problem, Lösung und Evidenz ist nicht nur für das Nudging relevant, sondern bietet auch eine wertvolle Heuristik für die Analyse anderer Felder wie der evidenzbasierten Politikgestaltung. In Bereichen wie der Transformations- und Energiewendeforschung, wo drängende Probleme auf erhebliche Evidenzlücken treffen, könnte sein praxeologischer Ansatz als Heuristik dienen, um zu verstehen, wie Entscheidungen in der Praxis getroffen werden, bevor ausreichende Beweise vorliegen. Oft wird in diesen Kontexten auf eine Evidenz zurückgegriffen, die für praktische Zwecke hinreichend erscheint, wohl wissend, dass ihre Gültigkeit erst in der Zukunft neu bewertet werden kann. SEITZ' Analyse bietet daher wertvolle Einsichten, um zu reflektieren, wie Wissen unter diesen Bedingungen produziert und zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht wird, insbesondere in Feldern, die durch Unsicherheit und die Notwendigkeit praktischer Lösungen gekennzeichnet sind. [24]

Literatur

Baer, Franziskus (2023). Staatliche Steuerung durch Nudging im Lichte der Grundrechte. Tübingen: Mohr Siebeck.

Bergmann, Jörg R.; Meyer, Christian; Salomon, René & Krämer, Hannes (2019). Garfinkel folgen, heißt, die Soziologie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Jörg Bergmann & Christian Meyer im Gespräch mit René Salomon & Hannes Krämer. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 20(2), Art. 23, https://doi.org/10.17169/fqs-20.2.3289 [Zugriff: 3. Juni 2020].

Birkholz, Sina; Bochmann, Annett & Schank, Jan (2020). Ethnografie und Teilnehmende Beobachtung. In Claudius Wagemann, Achim Goerres & Markus B. Siewert (Hrsg.), Handbuch Methoden der Politikwissenschaft (S.325-350). Wiesbaden: Springer VS.

Engel, Christoph; Englerth, Markus; Lüdemann, Jörn & Spiecker gen. Döhmann, Indra (Hrsg.) (2023). Recht und Verhalten. Tübingen: Mohr Siebeck, https://doi.org/10.1628/978-3-16-163449-9 [Zugriff: 2. März 2024].

Felsch, Philipp (2015). Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 bis 1990. München: C.H. Beck.

Foucault, Michel (2004a). Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 (hrsg. V. & M. Senellart). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2004b). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I (hrsg. V. & M. Senellart). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Garfinkel, Harold (2002 [1967]). Studies in ethnomethodology. Malden, MA: Polity Press.

Grüne-Yanoff, Till & Hansson, Sven Ove (2009). Preference change: Approaches from philosophy, economics and psychology. Dordrecht: Springer.

Kalthoff, Herbert; Hirschauer, Stefan & Lindemann, Gesa (Hrsg.) (2008). Theoretische Empirie: Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Knopp, Philipp (2021). Mapping temporalities and processes with situational analysis: Methodological issues and advances. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 22(3), Art. 4, https://doi.org/10.17169/fqs-22.3.3661 [Zugriff: 11. Mai 2023].

Knorr Cetina, Karin (1997). Sociality with objects. Social relations in postsocial knowledge societies. Theory, Culture and Society, 14(4), 1-30.

Kocksch, Laura (2020). Knowing IT-Security Emergencies. Die Herstellung von Unsicherheit. In Astrid Wiedmann, Katherin Wagenknecht, Philipp Goll & Andreas Wagenknecht (Hrsg.), Wie forschen mit den "science and technology studies"? Interdisziplinäre Perspektiven (S.175-210). Bielefeld: transcript.

Kolanoski, Martina (2023). Das Forschungsprogramm der Trans-Sequentiellen Analyse. In Martina Kolanoski, Marlen S. Löffler, Carla Küffner & Clara Terjung (Hrsg.), Trans-Sequentiell Forschen (S.1-31). Wiesbaden: Springer VS.

Latour, Bruno (2016 [1999]). Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas (1993). In Birgit Schneider, Christoph Ernst & Jan Wöpking (Hrsg.), Diagrammatik-Reader (S.173-178). Berlin: De Gruyter.

Lury, Celia (2020). Problem spaces: How and why methodology matters. Cambridge: Polity Press.

Mair, Michael; Sharrock, Wes W. & Greiffenhagen, Christian (2022). Research with numbers. In Douglas W. Maynard & John Heritage (Hrsg.), The ethnomethodology program (S.348-370). Oxford University Press.

McCrudden, Christopher & King, Jeff (2016). The dark side of nudging: The ethics, political economy, and law of libertarian paternalism. In Alexandra Kemmerer, Christoph Möllers, Maximilian Steinbeis & Gerhard Wagner (Hrsg.), Choice architecture in democracies: Exploring the legitimacy of nudging (S.75-140). Baden-Baden: Nomos.

Meier zu Verl, Christian (2018). Daten-Karrieren und epistemische Materialität: Eine wissenschaftssoziologische Studie zur methodologischen Praxis der Ethnografie. Stuttgart: J.B. Metzler.

Mulderrig, Jane (2018). Multimodal strategies of emotional governance: A critical analysis of "nudge" tactics in health policy. Critical Discourse Studies, 15(1), 39-67.

Scheffer, Thomas (2013). Die trans-sequentielle Analyse – und ihre formativen Objekte. In Reinhard Hörster, Stefan Köngeter & Burkhard Müller (Hrsg.), Grenzobjekte: Soziale Welten und ihre Übergänge (S.87-112). Wiesbaden: Springer VS.

Scheffer, Thomas (2022). Soziologie im Klimawandel. Protokoll des Revisionsbedarfs. WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 19(I2), 3-28.

Schindler, Larissa (2012). Visuelle Kommunikation und die Ethnomethoden der Ethnographie. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 37(2), 165-183.

Schneijderberg, Christian (2023). Konventionen von Gütekriterien empirischer Sozialforschung qualitativ verstehen. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 24(3), Art. 1, https://doi.org/10.17169/fqs-24.3.3994 [Zugriff: 11. Oktober 2024].

Schwartz-Shea, Peregrine & Yanow, Dvora (2012). Interpretive research design: Concepts and processes. New York, NY: Routledge.

Schweitzer, Julia (2022). Zwischen Forschung und Organisation. Zur Reflexion von Subjektivität und rollenbedingter Involviertheit in der (ethnografischen) Hochschulforschung. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 23(3), Art. 6, https://doi.org/10.17169/fqs-23.3.3929 [Zugriff: 12. Oktober 2024].

Shove, Elizabeth; Pantzar, Mika & Watson, Matt (2012). The dynamics of social practice. Everyday life and how it changes. Los Angeles, CA: Sage.

Strübing, Jörg; Hirschauer, Stefan; Ayaß, Ruth; Krähnke, Uwe & Scheffer, Thomas (2018). Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. Ein Diskussionsanstoß. Zeitschrift für Soziologie, 47(2), 83-100, https://doi.org/10.1515/zfsoz-2018-1006 [Zugriff: 15. Februar 2019].

Thaler, Richard H. & Sunstein, Cass R. (2009). Nudge: Improving decisions about health, wealth and happiness. London: Penguin Books.

Von Uexküll, Jakob (1958 [1934]). Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Bedeutungslehre. Berlin: Rowohlt.

White, Mark D. (2013). The manipulation of choice: Ethics and libertarian paternalism. New York. NY: Palgrave Macmillan.

Wiedmann, Astrid; Wagenknecht, Katherin; Goll, Philipp & Wagenknecht, Andreas (2020a). Wie forschen mit den "Science and Technology Studies"?. In Astrid Wiedmann, Katherin Wagenknecht, Philipp Goll & Andreas Wagenknecht (Hrsg.), Wie forschen mit den "science and technology studies"? Interdisziplinäre Perspektiven (S.7-24). Bielefeld: transcript.

Wiedmann, Astrid; Wagenknecht, Katherin; Goll, Philipp & Wagenknecht, Andreas (Hrsg.) (2020b). Wie forschen mit den "Science and Technology Studies"? Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transcript.

Zur Autorin

Martina KOLANOSKI ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt "Fragmentierte Transformationen" am Interdisziplinären Forschungszentrum Ostseeraum (IFZO) der Universität Greifswald. In ihrer qualitativen, rechtssoziologischen Forschung untersucht sie Prozesse der Rechtsentwicklung in der Energiewende im Hinblick auf charakteristische Steuerungs- und Wissensprobleme. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Praxis- und Diskursforschung, ethnomethodologische Rechtsforschung und Transformationsforschung.

Kontakt:

Dr. Martina Kolanoski

Universität Greifswald
Interdisziplinäres Forschungszentrum Ostseeraum (IFZO)
Bahnhofstr. 51, 17489 Greifswald

E-Mail: kolanoskim@uni-greifswald.de
URL: https://ifzo.uni-greifswald.de/zentrum/teams/fragmentierte-transformationen/antje-kempke-1/

Zitation

Kolanoski, Martina (2025). Review Essay: Kritische Anordnungen: Passung von Problem, Lösung und Evidenz in der Herstellung und Erforschung von Regierungstechnologien [24 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 26(1), Art. 3, https://doi.org/10.17169/fqs-26.1.4302.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

Funded by the KOALA project

Creative Common License

Creative Commons Attribution 4.0 International License