Volume 6, No. 3, Art. 11 – September 2005
Wie viel Kultur verträgt die Psychologie?
Lars Allolio-Näcke
Tagungsbericht:
"100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Psychologie". 26. bis 30. September 2004, Georg-August-Universität Göttingen, organisiert durch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie
Zusammenfassung: Anlässlich des 44. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Göttingen traten erstmals vermehrt und sichtbar Kulturpsychologen auf, die über die Thematik des Kulturvergleichs durch die internationalen Vergleichsstudien zu Schulleistungen (TIMS, IGLU, PISA) die Gegenstandsunangemessenheit der variablenorientierten Individualpsychologie sowie deren Methodologien und Methoden thematisierten. Zentrale Themen waren hierbei vor allem, die Äquivalenzproblematik (tertium comparationis) ebenso wie das grundsätzliche Kategorialproblem, das mit "Kultur" und ihrer Verwendung einhergeht. Beide Problemfelder werden ausführlich diskutiert und als Lösung eine Hinwendung zu einer kulturbasierten Psychologie, die sich mit Sinn und Bedeutung denn mit abstrakten Kategorien und deren Erfassung mittels psychometrischer Daten beschäftigt, eingefordert.
Keywords: Kulturpsychologie, Kulturvergleichende Psychologie, Kultur, Methodologie, qualitative Forschungsmethoden, quantitative Forschungsmethoden, Sinn, Bedeutung, funktionale Äquivalenz, tertium comparationis
Inhaltsverzeichnis
1. Wilhelm WUNDT, der Kongress und die Kulturpsychologie
2. Methodenkritik – Psychologiekritik
2.1 Das Kategorialproblem: Zum Stellenwert von "Kultur" in der zeitgenössischen Psychologie
2.2 Äquivalenzproblem oder die Frage des tertium comparationis
3. Methoden und Methodologien der Kulturpsychologie
4. Ausblick
1. Wilhelm WUNDT, der Kongress und die Kulturpsychologie
Vielleicht ist es ja Zufall, dass anlässlich des 44. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) eine psychologische Richtung Raum greift, die in ihrer Fasson erstmals 2003 im psychologischen Nachschlagewerk Psychologie von A-Z. Die sechzig wichtigsten Disziplinen erwähnt und in einem Beitrag für den deutschsprachigen Raum vorgestellt wird (vgl. BILLMANN-MAHECHA, 2003). Gemeint ist "die" Kulturpsychologie. Sicher mögen nun einige einwenden, Kulturpsychologie sei eben so alt, wie die DGPs, die vom 26. bis 30. September 2004 in Göttingen ihr hundertjähriges Bestehen feierte. Denn kein anderer als ihr prominentestes Gründungsmitglied Wilhelm WUNDT war es, der in seiner zweiten Psychologie, der gemeinhin als Völkerpsychologie (1921b) bekannten, ein "kulturpsychologisches" interpretatives Paradigma für die höheren psychischen Prozesse gefordert hatte:
"Wenn man die elementaren Gebiete der Psychologie die 'experimentelle Psychologie' nennt und in ihr ein wichtiges Unterschiedsmerkmal von der älteren Psychologie sieht, die sich dieses Hilfsmittels nicht bediente, so ist das gewiß vollkommen berechtigt. Wenn man aber die ganze Psychologie die experimentelle nennt, so ist dies ebenso gewiß eine falsche Bezeichnung, weil es Gebiete gibt, die der Natur der Sache nach dem Experiment unzugänglich sind. Dazu gehört in erster Linie die Entwicklung des Denkens, dazu gehören dann aber auch eine Reihe weiterer damit zusammenhängender Entwicklungsprobleme, wie z.B. der künstlerischen Phantasie, des Mythos, der Religion und der Sitte" (WUNDT, 1921a, S.537). [1]
Diese auf WUNDT verweisende Sicht hat sicher ihren Charme, nicht nur aus ideengeschichtlichen Gründen. Wissenschaftspolitisch ist es zudem äußerst geschickt, diese historische Verknüpfung zu ziehen und sich auf den Begründer der Experimentellen Psychologie (1887) zu stützen, denn das verleiht historische Daseinsberechtigung – auch auf dem Kongress der DGPs. [2]
Von Stephen TOULMINs Vorschlag, Völkerpsychologie mit Cultural Psychology zu übersetzen (TOULMIN, 1981a, S.242; 1981b, S.265), hat sich diese ahistorische Verknüpfung zu einer scheinbar historisch kohärenten Sichtweise entwickelt, die beständig wiederholt wird (vgl. bes. JAHODA, 1992; COLE, 1996; CHAKKARATH, 2003; ECKENSBERGER & PLATH, 2003; LAUCKEN, 2004). Aber Wiederholung schafft noch keine Wahrheit, denn so populär diese Sichtweise auch ist, aus soziohistorischer Sicht ist sie schlicht weg falsch (vgl. ALLOLIO-NÄCKE, 2005). [3]
Wundts Vorstellungen über das Bewusstsein und die Kultur sind äußerst prekär und sein methodisches Vorgehen beschränkte sich weitgehend auf Sekundäranalysen von Kulturartefakten; somit ist es mehr als fraglich, ob er als Begründer der zeitgenössischen Kulturpsychologie reklamiert werden kann, die sich vor allem mit "Zeichen-, Wissens-, Regel- und Symbolsystemen" (BILLMANN-MAHECHA, 2003, S.97), wie sie im täglichen Handeln (re-) produziert werden, beschäftigt (Wundts Arbeit würde man deshalb heute eher unter Kunstpsychologie subsumieren müssen). Statt sich auf WUNDT und die Psychologie zu berufen, sollten die Kulturpsychologen ihre eigentlichen Wurzeln selbstbewusst benennen, die im Wesentlichen in der Cultural Anthropology, darüber hinaus aber auch in der Sprachphilosophie Ludwig WITTGENSTEINs, dem Poststrukturalismus Michel FOUCAULTs und der sowjetischen Tätigkeitspsychologie zu finden sind. Vor allem aber im Anschluss an die Arbeiten der Kulturanthropologen Clifford GEERTZ, James CLIFFORD, Catherine LUTZ, Franz FANON, Renato ROSALDO etc. begründet sich die heutige kulturpsychologische Sicht in den frühen 1990er Jahren und lässt sich im 1. Heft des 36. Jahrgangs des American Behavioral Scientist lokalisieren, das 1992 erschien. [4]
Anfang der 1990er Jahre setzte nämlich in den USA eine "Wieder"-Besinnung auf die "vergessenen" Grundlagen der Psychologie ein. Einige Kognitivisten erkannten, dass die kognitive Wende, die das behavioristische Paradigma ablösen und durch eine adäquatere Suche nach Sinn und Bedeutung menschlicher Handlungen ersetzen hätte können, zu nichts anderem geführt hat als zu einer erneuten Sinnentleerung und einem Fetischismus, der sich aus Reduktionismus, Kausalerklärung und Verhaltensprognose speist (vgl. BRUNER, 1997, S.16). Diese erneute Wende psychologischer Theoriebildung wurde von HARRÉ (1992) als second cognitive revolution bezeichnet, firmiert aber auch weitgehend unter dem wichtigeren und treffenderem Begriff der "semiotischen Wende" (semiotic agenda – vgl. SHWEDER & SULLIVAN, 1993, S.499). [5]
Insbesondere der Anthropologe Clifford GEERTZ hat wesentlich dazu beigetragen, dass einige erkenntnistheoretische Grundeinsichten (wieder) akzeptabel geworden sind und sich der semiotische Zugang zum Forschungsgegenstand schnell verbreitete. Fundamental ist vor allem GEERTZ' Einsicht in die Autorzentriertheit und -konstruiertheit von Fremdbeschreibungen – James CLIFFORD hat dafür den Begriff "Writing Culture" (1986) geprägt. Die Beschreibung fremder Kulturen und damit unsere Vorstellung von "Kultur", so lautet diese Einsicht, ist nicht mehr als ein Konstrukt, wie GEERTZ eindrucksvoll anhand der eigenen Forschungsreflexionen deutlich macht (GEERTZ, 1996). GEERTZ und CLIFFORD vertreten damit die weitgehende These, dass Anthropologie (und damit analog auch die Psychologie) ihren Gegenstand nicht repräsentiert, sondern erfindet. Deutlich wird dies, wenn z.B. James CLIFFORD für die Ethnologie feststellt: "Vieles von unserem Wissen über andere Kulturen muss nunmehr als zufällig angesehen werden, als das problematische Ergebnis eines intersubjektiven Dialogs, von Übersetzung und Projektion" (CLIFFORD, 1986, S.217) – gleiches gilt wieder für die Psychologie. Im Anschluss kommt CLIFFORD zu der Einsicht, Kulturen sollten als emergente Systeme verstanden werden, die in diskursiven Aushandlungsvorgängen unscharfe Konturen annehmen. Sie sind prozessuale Produkte der Interaktion zwischen Mensch-Umwelt-Systemen, deren Grenzen freilich erst in diesem Austauschvorgang gezogen und beständig revidiert werden. Genau letzteres ist es, warum vor allem Entwicklungspsychologen im Kontext der semiotischen Wende zu arbeiten begannen, "denn alle kulturellen Unterschiede lassen sich letztlich nur auf Erfahrungen der Menschen in der Zeit, also auf ontogenetische (oder phylogenetische) Prozesse, zurückführen (d.h. auf differentielle Erfahrungen innerhalb verschiedener kultureller Systeme)" (ECKENSBERGER & PLATH, 2003, S.63; vgl. auch JAHODA, 1992). Eben in und mit dieser Welle eines neuen Kultur- und damit auch Personenverständnisses muss die "Wieder"-Besinnung innerhalb der Psychologie gesehen werden. [6]
Der dabei zugrunde liegende Kulturbegriff ist der, der "charakterisiert werden kann als Zeichen-, Wissens-, Regel- und Symbolsystem, das einerseits als kulturspezifisches Fundament den Handlungsraum von Menschen strukturiert, andererseits aber selbst im Vollzug der Handlungs- und Lebenspraxis (re-) konstruiert und verändert wird" (BILLMANN-MAHECHA, 2003, S.97). Diese (Re-) Konstruktion und Veränderung vollzieht sich im Zusammenspiel der verschiedenen intentionalen Welten (vgl. SHWEDER, 1990), also Aneignungen, Interpretationen der "objektiven" Welt, und den intentionalen Personen (vgl. SHWEDER & SULLIVAN, 1993), die von den "objektiven" Bedingungen beeinflusst werden. Der interpersonale Austausch schließlich garantiert den Erhalt und die Entwicklung menschlich kultureller Lebenswelten. Diese "Teilhabe des Menschen an einer Kultur und die Verwirklichung seiner mentalen Kräfte durch eine Kultur", sind es laut BRUNER, "die es unmöglich machen, eine Psychologie des Menschen nur vom Individuum her aufzubauen" (BRUNER, 1997, S.31). Mit einem solchen Fundament ist Kulturpsychologie (zunächst) ein Versuch der theoretischen und praktischen Kritik aktueller (kognitions-/individual-) psychologischer Theorien und Forschung. [7]
2. Methodenkritik – Psychologiekritik
Insofern waren nicht Wilhelm WUNDT und dessen tatsächliche psycho-ethnologische Arbeit das Thema der (Kultur-) Psychologen auf dem 44. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, sondern die seit den internationalen Vergleichsstudien TIMS (BAUMERT et al., 1997), IGLU (BOS et al., 2003) und PISA (PISA-Konsortium Deutschland, 2004) aufgeworfenen Fragen der Qualität verschiedener Bildungssysteme und deren transkulturelle Vergleichbarkeit. Damit sind beide Zentralprobleme angesprochen, mit denen sich dieser Beitrag beschäftigen wird:
Kategorialproblem: Welcher Stellenwert wird "Kultur" in der quantitativen wie in der qualitativen Methodik eingeräumt?
Äquivalenzproblem: Welches tertium comparationsis ist das in der Psychologie im allgemeinen und in der Bildungsdebatte im speziellen angemessene? [8]
Dabei werde ich mich mit drei auf den Kongress vorgestellten Beiträgen von (Kultur-) Psychologen eingehender beschäftigen und deren Diskussionen von den "klassischen" kulturvergleichenden Psychologen absetzen: Hermann-Günter HESSE, Klaus BOEHNKE und Lutz ECKENSBERGER. Dass nur drei Beiträge ausführlich diskutiert werden, liegt in der Natur der Sache begründet: Die Disziplin ist noch sehr jung und bisher arbeiten nur wenige Psychologen unter dem Label "Kulturpsychologie". Kultur scheint in der zeitgenössischen Psychologie nämlich ein "Nicht- oder Marginalthema" zu sein – und das sowohl auf dem Kongress als auch innerhalb der DGPs, weswegen vor der Diskussion eine kurze Gesamtcharakterisierung beider als notwendig erschient. [9]
Dass Kultur nur ein marginaler Stellenwert eingeräumt wird, liegt wohl daran, dass Kultur eine Kategorie darstellt, die in einer variablenorientierten Individualpsychologie per se "anrüchig" sein muss, verweist sie doch auf überindividuelle Zusammenhänge und ist beileibe nicht so einfach zu operationalisieren, wie z.B. eine antisemitische Einstellung. War Kultur eines der Zentralthemen der Interpretativen und der Gestaltpsychologie und versuchten vor allen noch die Neobehavioristen, sich umfassend mit Kultur auseinander zu setzen und ihr "einen klar umrissenen physischen Status" (SKINNER, 1978, S.229) zu verleihen, verschwand diese Sichtweise mit dem Aufkommen des Kognitivismus fast völlig aus der Mainstream-Psychologie; Kultur regredierte zu einer bloßen Variable, die zugunsten eines universellen Phänomens zu vernachlässigen bzw. zu kontrollieren wäre. [10]
Dass sich dies auch in der Struktur der DGPs widerspiegelt, verwundert nicht. So hat die Gesellschaft 15 Fachgruppen zu den verschiedensten Themen, wie z.B. der Verkehrspsychologie oder Medienpsychologie, jedoch eine zur Kultur (-Psychologie) gibt es nicht. Kultur wird – wenn überhaupt – als ein den anderen Themen nachgeordnetes Phänomen betrachtet, das hinter die als universell konzipierten psychischen Prozesse zurücktritt. Nicht zuletzt wegen des Fehlens einer solchen Fachgruppe – und wahrscheinlich auch einer zu kleinen Lobby für eine solche – organisieren sich Psychologen, die sich für Kultur als grundlegende Kategorie einsetzen, außerhalb der und parallel zur DGPs, u.a. in der Gesellschaft für Kulturpsychologie. [11]
Diese "Marginalisierung" von Kultur als relevanter psychologischer Kategorie musste sich schließlich auch auf dem Göttinger Kongress niederschlagen. Keines der Forschungsreferate "100 Jahre Psychologie" widmete sich dem Thema Kultur, ebenso wie dieses nicht als relevantes Thema in der Kongresspublikation auftaucht (RAMMSAYER & TROCHE, 2005). Ein Blick auf die Beitragsabstracts jedoch verpflichtet zur Relativierung: In insgesamt 73 Abstracts wird Kultur thematisiert, jedoch zumeist in der nachgeordneten Weise, wie sie weiter unten noch ausführlich kritisiert werden wird. Exemplarisch für diese ungenügende, aber übliche Sichtweise sei auf die Beiträge von TESCH-RÖMER, TOMASIK, CHASIOTIS & HOFER, KÜMMERLING, GREIF, RUNDE & SEEBERG sowie KRONBERGER im Symposium "Kulturvergleiche" und von HOFSTEDE, YAN, STROHSCHNEIDER, KORNADT und TROMMSDORFF im Symposium "Fragestellungen und Methoden kulturvergleichender Psychologie" verwiesen. In diesen Beiträgen wurden interindividuelle Unterschiede nicht auch durch kulturelle Kontexteinflüsse erklärt, sondern Kultur – besser eigentlich das Nationalstaatsprinzip – diente als Beschreibungskategorie für verschiedene Gruppen oder als Restkategorie für ungeklärte Varianzen. [12]
Dennoch gilt dies nicht für alle Beiträge dieser Symposien. So deutete sich bei RENNER, MYAMBO, SALEM und PELTZER ein Versuch an, aus diesem üblichen Verwendungsschema auszubrechen, was ihnen trotz Verweis auf Richard A. SHWEDERs "universalism without conformity" (SHWEDER & SULLIVAN, 1993, S.513f.) dennoch nicht gelang. Heidi KELLERs Kontextualisierung der Entwicklungspsychologie, bei der "nicht davon ausgegangen werden [kann], dass es eine universelle kulturunabhängige Lösung von Entwicklungsaufgaben gibt" (aus dem Abstract; Online-Version; http://www.psych.uni-goettingen.de/congress/dgps2004/ abstracts/show_all.html?abstract_id=327) verwies ebenfalls in eine vielversprechende kulturpsychologische Richtung, denn KELLER versteht "Kulturen als Prioritätssysteme" (ebd.). Schließlich gehören unter diese Nennung die bereits oben erwähnten Beiträge von Hermann-Günter HESSE, Klaus BOEHNKE und Lutz ECKENSBERGER, die nun – wie angekündigt – dargestellt werden.1) [13]
2.1 Das Kategorialproblem: Zum Stellenwert von "Kultur" in der zeitgenössischen Psychologie
Einen guten Überblick der aktuellen Verwendungsbreite des Kulturkonzeptes in den Sozialwissenschaften lieferte Klaus BOEHNKE von der International University Bremen in seinem Vortrag "'Good Practice' in kulturvergleichender Sozialforschung". So lassen sich vier Verwendungsweisen finden: 1. wird Kultur selbst in qualitativen Fallstudien erforscht, z.B. in der cultural anthropolgy/cultural psychology; 2. wird "Kultur als Kontext" betrachtet und somit deren Einfluss auf Strukturen erforscht, z.B. in der qualitative sociology; 3. wird Kultur als Moderatorvariable betrachtet, die ein universelles Phänomen beeinflusst, z.B. cross-cultural psychology; und 4. wird Kultur als unabhängige Variable betrachtet, die einem Menschen ebenso wie ein Geschlecht zugeordnet werden kann, z.B. intercultural communication. [14]
Problematisch an den Ansätzen findet BOEHNKE, dass sie alle reduktiv sind und einander ausschließen, indem sie ausschließlich auf unterschiedlicher Analyseebene arbeiten (Individuum, höherer Aggregatsebene, wie z.B. Ermittlung von Scheidungsraten etc.). So leidet der universalistische Ansatz daran, konzeptionell deduktiv vorzugehen und somit Top-down-Effekte zu generieren; der Fallstudienansatz wiederum arbeitet konzeptionell induktiv und sieht sich deshalb mit dem Problem von Bottom-up-Effekten konfrontiert, d.h. es kommt zwangsläufig zu einer Konfundierung der unterschiedlichen Analyseebenen und damit zu einer unzulässigen Übertragung von Merkmalen von einer auf die andere Ebene. Zwar haben auch die quantitatven Verfahren in den letzten Jahren ausgefeiltere Methoden, z.B. Mehrebenenmodelle, entwickelt, um solchen Problematiken gerecht zu werden, jedoch darf mit Recht bezweifelt werden, ob ihnen dies vollständig gelingt (vgl. ECKENSBERGER & PLATH, 2003, S.77f.). Folge dieser Konfundierungen sind, wie ECKENSBERGER ausführt, häufig zirkuläre Interpretationen, z.B. wenn kollektivistische Merkmale der Kultur mit denen des Individuums korrespondieren und erstere letztere erklären sollen. [15]
Ein weites Problem besteht in diesem Zusammenhang darin, dass in allen vier von BOEHNKE genannten Varianten gleichermaßen sich die Frage stellt, was denn tatsächlich "Kultur" darstellt. Oft werden nationalstaatliche Grenzen bei der Stichprobenerhebung zu kulturellen erklärt, "Kulturen" konstruiert, deren innere Differenz maximaler nicht sein könnte (z.B.: Inuit, Indianer), und das Formalkriterium Sprache als kulturelle Grundlage zu nehmen, zeigt sich im eigenen Land schon problematisch (Ost-West-Unterschiede; vgl. Klein, 2001). Dass auch noch Problematiken wie die Religionen berücksichtigt werden müssten, vor allem wenn man wie Gisela TROMMSDORFF in ihrem Beitrag "Kulturelle Besonderheiten zum Zusammenhang von Werthaltungen und Familienbeziehungen im sozialen Wandel" Werte der äußerst fragwürdigen Konstruktion "Indonesische Kultur" präsentiert, liegt bei diesem Vielvölker- und Vielreligionenstaat (ca. 250 ethnische Gruppen, 4 Religionen) offen zu Tage. [16]
BOEHNKEs Vorschlag ist nun, die verschiedenen Facetten zu nutzen, um die Nachteile zu überwinden – sein Vorschlag sieht deshalb eine Kombination aus beiden Forschungsansätzen vor: ein Mischansatz, der sowohl qualitative Methoden der Fallstudienforschung als auch quantitative Methoden universalistischer Herangehensweisen ebenso kombiniert wie Ebenen der Nationalgruppe, der Regionalgruppe wie das Individuum selbst. Ziel dieses Unterfangens soll es sein, die universalen Erkenntnisse in Bezug zu den je spezifischen regionalen bzw. kulturellen Ausprägungen zu setzen und einzuordnen. [17]
Anhand einer eigenen Studie "Youth and European Identity" zeigte BOEHNKE denn auch, wie diese Kombination aussehen kann. So stellte er eine "klassische" Fragebogenstudie an 400 repräsentativ ausgewählten Jugendlichen aus sechs europäischen Staaten vor. Um aber nicht zu Fehlinterpretationen (top-down-Effekt) zu gelangen und die Sichtweisen und Interpretationen der je eigenen Kultur der TeilnehmerInnen zu berücksichtigen, wurden mit ausgewählten Personen zusätzlich Tiefeninterviews geführt und aus diesen Items so genannte emische Skalen entwickelt, die die kulturspezifische Sichtweise berücksichtigen sollte. Hierbei ist interessant – und war zu erwaten –, dass nicht alle dieser gefundenen Items in allen Kulturen gleich gute Vorhersagen erlauben. So erwies sich zwar in Deutschland das Item "Teilnahme an Lerneinheiten zu Sitten und Gebräuchen anderer Völker" zur Bestimmung politischer Aktivität als untauglich, dafür in Tschechien als der geeigneter Prädiktor. In Deutschland ist die "Teilnahme an Fundraising-Aktivitäten" das Äquivalent, dass "politische Aktivität Jugendlicher" am besten vorherzusagen in der Lage ist. Anstatt die Skalen zu verwerfen, wurden durch ein theoretisches Sampling – unterschiedliche Items messen ja das gleiche Konstrukt – schließlich nur diejenigen berücksichtigt, die landesspezifisch einen guten Vorhersagewert ergaben. [18]
Auch Lutz ECKENSBERGER vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main (DIPF) ging in seinem aus Zeitmangel sehr kurzem Vortrag "Vom Kulturvergleich zur Kulturpsychologie" auf die Problematik des unklaren kategorialen Status von Kultur ein, wobei er sich auf die bei BOEHNKE als Varianten 3 und 4 benannten psychologischen Verwendungsweisen beschränkte. ECKENSBERGER entfaltete seine Kritik vor allem entlang von Differenzierungs- und Generalisierungsstudien. Während in Differenzierungsstudien Kultur zumeist als "Light"-Version verwendet wird, d.h. Kultur auf einzelne operationalisierbare kulturelle Bedingungen herunter gebrochen wird (z.B. Individualismus vs. Kollektivismus), spielt Kultur streng genommen in den Generalisierungsstudien gar keine Rolle, weil es hier nicht um Kultur, sondern um die Unabhängigkeit der Phänomene von Kultur geht. Insoweit man also von der grundsätzlichen Universalität der psychischen Prozesse ausgeht, bedarf es auch keiner Betrachtung der Kultur als ernstzunehmender Bedingung, denn letztendlich erscheint sie lediglich als Restkategorie, unter die alles subsumiert werden kann, was nicht durch andere Varianzen erklärt wird. Kultur erhielte dann lediglich den Status einer nichtnotwendigen Haut der Zwiebel, die es zu schälen gilt, um das grundsätzlich gleiche Phänomen freizulegen (vgl. POORTINGA et al., 1987). [19]
Was aber, so ECKENSBERGER, wenn Kultur – hier als semiotischer Lebensraum –, nicht eine äußere Bedingung des Verhaltens ist, sondern genuine Voraussetzung, die im Handeln aktualisiert und realisiert wird? Dann müsste folgerichtig jede psychologische Theorie in Rechnung stellen, kulturgebunden oder kulturbegrenzt zu sein, denn auch psychologische Forschung findet in einem kulturellen Handlungsraum statt. Folgt man dieser relativistischen Position, stünde die generelle Vergleichbarkeit psychischer Phänomene in Frage, denn die aus dem jeweiligen Kontext gewonnenen Kategorien könnten unterschiedlicher nicht sein – oder doch nicht? [20]
2.2 Äquivalenzproblem oder die Frage des tertium comparationis
Unvergleichbarkeit läge aber nur dann vor, wenn wie in der (kulturvergleichenden) Psychologie analytische Universalien vorausgesetzt würden/werden. Dann würde dem empirischen Relativ ein numerisches zuzuordnen sein und dimensionale oder strukturelle Äquivalenz (gleichbleibende Intervalle) vorliegen. Die Frage, die an dieser Stelle aufgeworfen werden muss, ist die, ob eine solche Äquivalent für die menschliche Psyche angemessen ist oder nicht. Kulturpsychologen gehen nämlich davon aus, dass Menschen eben nicht, wie (berechenbare) Maschinen funktionieren, sich psychische Phänomene, wie Gefühle, Gedanken, Wahrnehmung und Interpretationen nicht in dimensionalen Äquivalenzen abbilden lassen, sondern je nach dem Bedeutungszusammenhang in dem sie stehen, variabel sind. Bedeutungszusammenhang wäre hier mit Kultur gleichzusetzen und somit Kultur eben nicht "Kontext" oder "Bedingung" von Handeln sondern gleichzeitig auch für Handeln. Ein schönes Beispiel für die Wahrnehmung von Abständen und Gefahren im thailändischen Straßenverkehr anhand eines Samlors, des thailändischen Fahrers eines dreirädrigen Fahrradtaxis, findet sich bei BOESCH (1988). [21]
Verdeutlicht hat zudem ECKENSBERGER dies an einem sehr anschaulichen Beispiel eines Jungen, der auf einem Markt Kokosnüsse verkauft. Dessen mathematische Kompetenz steht in Frage, wenn er in der Schule eine abstrakte Rechenaufgabe (z.B. 6 * 40 = X) lösen soll, ihm dies jedoch nicht gelingt – die formalen Rechenoperationen scheinen nicht durchdrungen zu sein. Gleichzeitig jedoch zeigt sich, dass der gleiche Junge auf dem Markt diese Rechenaufgabe durchaus lösen kann, indem die Fragestellung auf den Verkauf mehrerer Kokosnüsse übertragen wird, weil ein Kunde z.B. sechs Nüsse kaufen möchte, von denen eine 40 Cent kostet. Korrekt verlangt der Junge 2,40 Dollar. [22]
Was ist passiert? Der grundsätzliche Fehler, der hier vorliegt, ist die Verwendung eines falschen Äquivalenzmodells oder wie es sich bei Joachim MATTHES (1992) nennt, eine Nostrifizierungsstrategie. Der Junge war durchaus in der Lage die Rechenaufgabe zu lösen, jedoch spielt das formale Rechnen, wie wir es in der westlichen Schule erlernen, in dessen Kultur nur eine untergeordnete Rolle. Das Rechnen auf dem Markt, ist eine bereits früh erlernte lebensnotwendige Voraussetzung und insofern ist nicht die Schule, sondern der Markt der relevante Bedeutungszusammenhang. Wird nun von unserer Kultur ausgehend, Rechnen in der Schule zugrunde gelegt und mit dem Rechnen in der Schule in der Kultur des Jungen verglichen, so findet kein äquivalenter Vergleich statt, sondern eine Nostrifizierung. So hat MATTHES in seinem Beitrag The Operation Called "Vergleichen" darauf hingewiesen, dass der soziologische (wie auch der psychologische) Vergleich grundsätzlich einer Nostrifizierungsstrategie denn einer Methodologie entspricht, die darauf abzielen sollte, reale Unterschiede zu erfassen und zu vergleichen. Vielmehr stellt die derzeitige Vergleichspraxis kein an der Realität und damit an bestehenden Differenzen orientiertes Vorgehen dar, sondern entspricht vielmehr einer Angleichung des Anderen an ein abstrahiertes und universalisiertes "theoretisches" und akontextuelles Konstrukt. Diese aus den westlichen Gesellschaftsstrukturen gewonnene Vergleichsgröße
"wird in ihren als wesentlich erscheinenden Zügen auf eine höhere Ebene der Abstraktion gehoben, und auf dieser Ebene wird retrospektiv eine Stufenleiter von 'Entwicklung' entworfen. Die projektiv gewonnene 'theoretische' Vergleichsgröße wie die retrospektiv konstruierte Stufenleiter zu ihr hin werden dann als Maße für 'anderes' gesetzt" (MATTHES, 1992, S.81). [23]
Wie dies in der aktuellen Forschung praktiziert wird, verdeutlichte Hermann-Günter HESSE vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main (DIPF), der eines der prominentesten Foren auf dem Kongress nutzen konnten, um seine Expertise vorzustellen: ein Positionsreferat mit dem Titel "Internationale Schulleistungsvergleiche und interkulturelle Lehr-Lern-Psychologie. Zwei einander fremde Forschungsstränge – ein Plädoyer für ihre Integration". Das dringendste theoretische Problem zeigt sich in der (ideologischen – HESSE sprach von einer normativen Komponente) Ausrichtung der aktuellen internationalen Schulleistungsstudien, indem sie ein Konzept der White Anglo-Saxon Protestants (WASP's) zur grundlegenden Kategorie erheben, ohne deren transkulturelle Validität zu prüfen: die angloamerikanische Konzeption der literacy, die als "Beherrschung der Muttersprache in Wort und Schrift, den sicheren Umgang mit mathematischen Symbolen und Modellen und die Beherrschung naturwissenschaftlicher Grundkenntnisse" gefasst wird. Völlig berechtigt merkte HESSE an, dass die Prüfung der transkulturellen Validität jedoch unerlässlich wäre, um überhaupt vergleichen zu können. Nur in dem Falle, "dass innerhalb eines jeden Landes, die erfassten Kompetenzen zur Vorhersage einer erfolgreichen Lebensführung beitragen", könnte das literacy-Konzept als tertium comparationis fungieren. In vielen Ländern aber spielt es keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle, so dass "der Ausgang einer solchen Validitätsprüfung wahrscheinlich zu einer kulturellen Gruppierung der Funktionalität der Grundkompetenzen führen wird"; sprich: In Ländern in denen die institutionalisierte Schule einen zentralen Stellenwert für die gesellschaftliche Position eines jeden hat, wird das literacy-Konzept einen hohen Stellenwert haben und somit werden hohe schulische Leistungswerte erkennbar sein; in Ländern, in denen die schulische Bildung in ihrer Bedeutung hinter der Alltagsbildung, die im alltäglichen familialen oder ökonomischen Kontext erworben wird, zurückfällt, wird das Konzept nur wenig geschätzt werden und somit werden die gemessenen Leistungswerte niedriger sein. So lautet denn das Fazit HESSEs: "Diese Ergebnisse sind zweifelsohne instruktiv, aber war etwas anderes zu erwarten?" Nein. [24]
Da der taxonomische Ansatz offensichtlich aus theoretischem als auch methodischem Blickwinkel heraus problematisch ist, forderte HESSE ein Umdenken hin zu einem funktionalen, d.h. prozessorientierten Ansatz. Funktional heißt für HESSE, zu kontextualisieren, zu fragen, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Schule und schulische Bildung in den einzelnen kulturellen Kontexten besitzen. So trägt Schule in der südlichen Sahara (später exerzierte er noch das "paradox of Confucian heritage education" in Asien durch) "weder etwas für die Bewältigung alltäglichen Lebens noch für die Anforderungen des späteren Erwachsenenlebens in der Lokalen Gemeinschaft bei", wie von dort ansässigen Kritikern bemängelt wird – die im übrigen weltweit zu finden sind und aktuell an ihren eigenen indigenen Psychologie arbeiten (vgl. KIM, 1997). Die Funktion der Schule ist hier demnach eine ganz andere: Sie "bildet für ein Leben in der Stadt und im westlichen Ausland aus. Schulischer Unterricht ist nach diesen Kritikern eine Ursache für die Landflucht". Offensichtlich entspricht Schule in der südlichen Sahara nicht dem, was Schule in unseren Kontexten darstellt. Insofern müsste man davon sprechen, dass sich beide Schulen wie Birnen und Äpfel zueinander verhalten. Ist diese prozess- oder funktionsorientierte Herangehensweise weitgehend neu und revolutionär für die Psychologie, so kann mit der Soziologie gesprochen, dieses Erkenntnis als "alter Hut" bezeichnet werden. Hier kennt man schon seit geraumer Zeit den Begriff des "funktionalen Äquivalents". Dieser geht nämlich nicht von der phänomenologischen Äquivalenz aus (europäische Schule = Schule in der Subsahara), sondern von der funktionalen Übereinstimmung, d.h. das Rechnen auf einem Marktplatz einer Oase entspricht dem Erwerb bestimmter mathematischer Kenntnisse durch unseren Mathematikunterricht, wie in ECKENSBERGERs Beispiel angeklungen. [25]
Dass unter einem solchen Blickwinkel "Schule" und "Schule" in unterschiedlichen Kontexten nicht mehr verglichen werden können, sondern vielmehr "traditionelles" Lernen und Lernen in der "modernen 'westlichen' Schule", die sich darin unterscheiden, dass ersteres "durch aktive Partizipation in der Gemeinschaft", letztes durch individuelle Orientierung, Kopflastigkeit und Dekontextualisierung stattfindet. Wenn demnach Lernen der Grundfertigkeiten in unterschiedlichen Kontexten (situiert) und in soziale Erfahrungen und Lernsituationen eingebettet ist, "dann ergibt sich für die internationalen Vergleichsstudien das Problem, funktional äquivalente aber inhaltlich verschiedene Instrumentarien zu entwickeln", will man der interkulturellen Konstruktvalidität Rechnung tragen. In Konsequenz bedeutet dies, "Lernen nicht mit Hilfe des Vergleichs interindividueller Lernzuwächse zu messen, sondern Lernleistungen auf die lokalen Anregungsbedingungen und -einschränkungen zu beziehen". [26]
Insofern ist es nur konsequent, die Rankings der PISA-Erhebungen in Zweifel zu ziehen, indem HESSE sagt, "was 'guter' oder 'schlechter' Unterricht ist, lässt sich generalisiert nicht sagen, so lange nicht der kulturelle Kontext mit genannt wird" (Herv. LAN). Dass er auf diesem Wege zu einer Kritik der (Individual-) Psychologie sowie der kulturvergleichenden Psychologie als spezielle validitätsprüfende Variante allgemeiner Kognitionspsychologie ansetzt, die die Forderungen der Kulturpsychologie wiederholt, dürfte nicht für alle Anwesenden erkennbar gewesen sein. Denn HESSE offenbart nicht seine eigentliche Heimat und seine "Väter", die zwar im Manuskript benannt aber nicht im Vortrag in ihrem innovativen Potential gewürdigt werden: KulturpsychologInnen wie Michael COLE, Gustav JAHODA, Barbara ROGOFF, Sylvia SCRIBNER, Jaan VALSINER und Jerome BRUNER – alles PsychologInnen, die seit den 1980er Jahre dem kognitiven, individualpsychologischen Forschungsansatz den Rücken kehrten. Vor allem letzterer hat mit seinem Buch Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns die Programmatik des HESSEschen Beitrages vorweggenommen: Eine Psychologie, "die Sinn bzw. Bedeutung in den Mittelpunkt stellt, [wird] unweigerlich zu einer Kultur-Psychologie" (BRUNER, 1997, S.16). Sinn und Bedeutung sind es nämlich, die man in den Blick nehmen muss, will man ein funktionales Äquivalent finden. Sinn und Bedeutung sind es auch, die einen kulturellen Lebenszusammenhang ausmachen, die den Handlungsraum bestimmen, dessen Wahrnehmung und Interpretation ebenso wie dessen Bewertung. (HESSE spricht an dieser Stelle von "sozial und kulturell 'geteiltem Wissen'"). Erst diese "Teilhabe des Menschen an einer Kultur und die Verwirklichung seiner mentalen Kräfte durch eine Kultur", sind es laut BRUNER, "die es unmöglich machen, eine Psychologie des Menschen nur vom Individuum her aufzubauen" (BRUNER, 1997, S.31). [27]
Um noch einmal zu differenzieren: Bei den Beispielen handelt es sich um die Missachtung der funktionalen Äquivalenz, wie wir sie in Biologie, Soziologie und Ethnologie, sowie der Bedeutungsäquivalenz, wie wir sie in menschlichen Zusammenhängen finden. Funktionale Äquivalenz würde hier den kollektiven Bedeutungszusammenhang (z.B. soziale Strukturen) betreffen (z.B. Schule vs. Markt), Bedeutungsäquivalenz das Handeln und die dahinterstehenden psychischen Prozesse selbst (Rechnen in der Schule, Rechnen auf dem Markt; Intelligenz- oder Leistungsentwicklung entlang der Bereiche, die für das Leben wichtig sind; literacy-Konzept). Gerade letzteres ist es auch, warum Jerome BRUNER dafür plädiert, Kulturpsychologie müsse Alltagspsychologie sein, denn
"Alltagspsychologie ist die Erklärung einer Kultur für das, was Menschen in Gang hält. Sie umfasst eine Theorie des Geistes, des Eigenen und des Fremden, eine Theorie der Motivation und alles übrige. […] Sie hat es nämlich mit der Eigenart, den Ursachen und Konsequenzen jener intentionalen Zustände zu tun – Überzeugungen, Wünschen, Intentionen, Verpflichtungen […]. Und da sie eine Kultur reflektiert, ist sie auch ein Teil sowohl der Wertungen als auch der Erkenntnisweisen der Kultur" (BRUNER, 1997, S.32f.). [28]
Folgt man diesem Programm, so muss man mit ECKENSBERGER zu dem Punkt kommen, dass die aktuelle variablenorientierte (kulturvergleichende) Psychologie grundsätzlich gegenstandsunangemessen ist, solange sie erstens nicht die grundsätzliche Bedeutung von Kultur für menschliches Erleben und Handeln in Rechnung stellt, zweitens nicht universalisitische Modelle (etisch) zugunsten indigener Sichtweisen (emisch) aufgibt, über die sich dann kommunikativ geeinigt werden muss, und nicht mathematische Verfahren zur Taxonomie (numerische Phänetik) benutzt. Vielmehr sollte die Psychologie weg von einem metrischen tertium comparationis hin zu einem an Bedeutungen angelehnten. Die Taxonomie erfolgt dann nicht mehr mittels Skalen, sondern vielmehr entlang von Bedeutungsstrukturen (z.B. Ziele, Mittel, Ergebnisse, Folgen etc.) und Handlungsprozessen (z.B. Interpretationen, Intentionen, Verstehen, Fühlen, Wissen, Wünschen und Handeln) – eben entlang der Vielfalt menschlicher Lebenswelten. [29]
3. Methoden und Methodologien der Kulturpsychologie
Falls – wie deutlich geworden sein dürfte – die aktuellen statistischen Verfahren und die zugrunde liegende Äquivalenz gegenstandsunangemessen sein sollten, so ist an dieser Stelle zu fragen, welche Verfahren besser wären. Die Antwort: alle Verfahren, die Sinn und Bedeutung zu ihrem Gegenstand machen, denn laut ECKENSBERGER repräsentieren sie die eigentlich genuin psychologische Methoden. Dazu gehören vor allem alle interpretativen Verfahren der qualitativen Sozialforschung – die hier im Forum Qualitative Sozialforschung (FQS) ausführlich diskutiert und vorgestellt wurden und werden. Der Begriff "Sozialforschung" weist schon darauf hin, dass es sich hierbei um ein interdisziplinäres Projekt handelt – und das ist auch gut so und sollte der aktuellen Kulturpsychologie ein Vorbild sein. Diese beruft sich zwar zu Recht auf Prozesse, die dem Psychischen zuzurechnen sind, z.B. Interpretationen, Intentionen, Verstehen, Fühlen, Wissen, Wünschen und Handeln, bedient sich jedoch zur Erfassung dieser psychischen Prozesse kaum mehr ("klassischer") psychologischer Methoden, denn diese wiederentdeckten Gegenstände der Kulturpsychologie sind in den vergangenen einhundert Jahren anderen Wissenschaften überlassen worden, zu denen neben den bei SHWEDER (1990) genannten Disziplinen, wie Ethnologie, Psychologie, Philosophie und Linguistik, bei BILLMANN-MAHECHA (2003) noch Soziologie, Geschichtswissenschaft und kognitive Linguistik hinzuzuzählen sind. Schaut man auf die Methoden und Methodologien, denen sich die Kulturpsychologie tatsächlich bedient, kommen noch Theologie und Literaturwissenschaft hinzu. [30]
All diese Disziplinen haben ein weitgehend ausgefeiltes System an Methodologien und Methoden entwickelt, diese (psychischen) Prozesse wissenschaftlich zu untersuchen: So nutzt die aktuelle Kulturpsychologie hermeneutische Methoden (Philosophie/Theologie), diskursanalytische Verfahren (Literaturwissenschaft/Soziologie), narrative Verfahren (Literaturwissenschaft), ethnomethodologische Verfahren, wie teilnehmende Beobachtung, Dokumentenanalyse etc. (Anthropologie/Ethnologie). Eine einseitige (Wieder-) Aneignung käme somit einer Enteignung und Missachtung der anderen wissenschaftlichen Disziplinen gleich und etablierte gleichzeitig eine hegemoniale Struktur innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, an deren Spitze eine wie auch immer geartete Kulturpsychologie stünde. Ich plädiere deshalb für einen plurivokalen und polyphonen Diskurs (vgl. STAEUBLE, 1996, S.333), d.h. Kulturpsychologie als ein interdisziplinäres Forschungsprogramm offen zu halten (vgl. ALLOLIO-NÄCKE, im Druck). [31]
Den konkreten Forschungsprozess betreffend schließe ich mich ECKENSBERGER an, dass dieser "bifokal", verstehend und objektivierend zugleich sein muss – ein Prinzip, dass bei HESSE unter "transkultureller Validierung", bei SHWEDER (1990) unter "thinking through others" firmiert und schließlich bei STAEUBLE (1990, S.333) als "Plurivokalität und Plurioptik" wiederkehrt. Das heißt, "eine transkulturell konsensuelle Validierung, durch einen Forschungsprozess, der in allen Phasen einer Untersuchung – von der Formulierung der Fragestellung, der theoretischen Klärung der Konstrukte, der Wahl der Untersuchungsmethoden bis hin zur Interpretation – kooperativ von Forschern aus den betroffenen Kulturen realisiert wird" (ECKENSBERGER & PLATH, 2003, S.92). [32]
Aus kulturpsychologischer Perspektive lassen sich zwei Ziele formulieren, die die DGPs wie die Psychologie im Allgemeinen betreffen. Wünschenswert wäre zu Beginn die Eröffnung eines innerpsychologischer Diskurses um den angemessenen Gegenstand und die entsprechenden (psychologischen) Methoden. Dieser sollte nach den von STAEUBLE (1990) formulierten Kriterien der "Plurivokalität und Plurioptik" erfolgen und nicht in einen Monolog münden, wie dies das ehemalige Vorstandsmitglied der DGPs, Werner GREVE, als Diskutant im Symposium "Selbst, Handlung, Kultur: Entwicklungspsychologische Perspektiven" demonstrierte. Zwar forderte GREVE mehr Zeit und Raum zum Diskutieren, zum Zurücklehnen und gemeinsamen Überdenken der psychologischen Gegenstände und Methoden, was angesichts der überfrachteten Symposien auf dem Kongress eine durchaus wichtige Forderung ist. Jedoch gestaltete sich die angekündigte Diskussion mit ihm als ein endloser Monolog, der keine Rückfrage, keinen Zwischenruf, geschweige denn eine Diskussion zuließ. [33]
Darüber hinaus wäre als Fernziel wünschenswert, eine tatsächliche inhaltliche Neuausrichtung der Psychologie zu erreichen, die zwar nicht zur Abschaffung der kognitivistischen Psychologie führen sollte, jedoch deren eingeschränkten Geltungsbereich betont. Aus kulturpsychologischer Sicht wäre es weiterhin wünschenswert zu einer Psychologie zu gelangen, die anerkennt, dass es nicht per se psychische Universalien gibt, die überall gleichsam messbar und vergleichbar sind. Vielmehr bedarf es der Einsicht, dass "die" Psychologie, wie wir sie betreiben, auch nur eine von vielen denkbaren ist, die aktuell unter dem Label "indigene Psychologien" weltweit formuliert werden. Wie dann Vergleichbarkeit hergestellt werden kann und was als Universalia zu gelten hat, wäre dann nicht mehr eine Frage einer einseitigen Definition durch die westliche Psychologie, sondern ein Aushandlungsprozess zwischen den Vertretern der verschiedenen Kulturpsychologien. [34]
1) Dem Beitrag liegt das Vortragsmanuskript Hermann-Günter HESSEs zugrunde, das er mir freundlicherweise überlassen hat; Klaus BOEHNKE war so freundlich mir seine PowerPoint®-Präsentation zu überlassen. Zitate aus den Vorträgen beziehen sich entsprechend, wenn nicht anders angegeben, auf diese Fassungen. Da Lutz ECKENSBERGER weder auf dem Kongress Zeit hatte, mit mir über seine Ausführungen zu sprechen, noch auf meine schriftliche Bitte reagierte, mir sein Manuskript zu überlassen, rekonstruierte ich seine Gedanken aus meinen Mitschriften und ergänzte sie durch Passagen aus dessen gemeinsamem Beitrag mit Ingrid PLATH, der die von ECKENSBERGER seit langem vertretene Position recht gut zusammenfasst. <zurück>
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Lars ALLOLIO-NÄCKE, Dipl.-Psych., geb. 1975; Wiss. Angestellter im DFG-Schwerpunktprogramm Bildungsqualität von Schule am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel. Cand. Prom. mit soziologischer Dissertation über ostdeutsche Identität im Rahmen des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Mitherausgeber der Zeitschrift Psychologie & Gesellschaftskritik. Gründungsmitglied der Gruppe Culture, Development & Psychology an der Freien Universität Berlin. Hauptforschungsgebiete: Identität, Subjektphilosophie, Postmoderne Theorie, Kulturpsychologie. Publikationen zur Ostdeutschen Identität, Kulturpsychologie und Transdifferenz. In einer zurückliegenden Ausgabe von FQS hat ALLOLIO-NÄCKE einen Tagungsbericht geschrieben zu Alltag im Aufbruch. Ein psychologisches Profil der Gegenwartskultur.
Kontakt:
Lars Allolio-Näcke
Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften
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E-Mail: allolio@ipn.uni-kiel.de
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