Volume 6, No. 2, Art. 11 – Mai 2005
Rezension:
Katharina Gajdukowa
Christof Beyer (2004). Der Erfurter Amoklauf in der Presse. Unerklärlichkeit und die Macht der Erklärung: Eine Diskursanalyse anhand zweier ausgewählter Beispiele. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 100 Seiten, ISBN 3-8300-1588-7, EUR 38,-
Zusammenfassung: BEYER legt eine diskursanalytische Studie zur Presseberichterstattung über den Erfurter Amoklauf von Robert Steinhäuser vor. Die Anwendung der diskurstheoretischen Analysekategorien von Michel FOUCAULT sowie der diskursanalytischen Kategorien von Jürgen LINK zeigt im Ergebnis, dass die Diskursivierung des Subjekts anhand der Trennung von Normalität und Abweichung vollzogen wird. Dies bildet dann die Grundlage für die Begründung von Konsequenzen des Erfurter Amoklaufs. Dabei steht der Täter als vermeintlicher Prototyp der Abweichung im Mittelpunkt des Interesses, ohne die Grundstruktur der Organisation von Macht und Wissen in Frage zu stellen.
Keywords: Diskursanalyse, Foucault, Link, Gewalt, Desintegrationstheorie
Inhaltsverzeichnis
1. Amoklauf als Angriff auf Normalität
2. Diskursanalytische Theorie und Methodik
3. Empirische Ergebnisse
3.1 Gesellschaftliche Bedeutung des Amoklaufs
3.2 Täteranalyse
3.3 Gesellschaftliche Konsequenzen
4. Resümee
1. Amoklauf als Angriff auf Normalität
Der Amoklauf von Robert Steinhäuser am 26.4.2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium wurde als ein Angriff auf deutsche Normalitätsverständnisse begriffen: "So einer wie Robert Steinhäuser ist doch nicht normal" lautete der Grundtenor der Berichterstattung in den Medien nach dem Gewaltereignis. Der Bremer Kulturwissenschaftler Christof BEYER nähert sich in seiner Magisterarbeit der Konstruktion von Normalisierung aus diskursanalytischer Perspektive. In seiner Fallstudie untersucht er die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Spiegels für den Zeitraum bis zur Berichterstattung über die Trauerfeier für die Opfer des Schulmordes, also bis zum zehnten Tag nach dem Attentat. [1]
BEYER legt mit seiner Fallstudie eine nüchterne Kritik des Verhältnisses von Macht und Wissen vor. Im Ergebnis seiner Studie zeigt er mit einer Kombination der FOUCAULTschen Diskurstheorie und der kritischen Diskursanalyse von Jürgen LINK, dass die Diskursivierung der Subjekte die Konstruktion von Normalität und Anomalität zum Ziel hat. Die Funktion besteht darin, die scheinbar beschädigte Normalität wieder herzustellen bzw. präventiv ein mögliches Abweichen von Normalität zu verhindern. Dies soll durch die Selbstkontrolle der Individuen in ihren jeweiligen Institutionen wie Schule und Familie gewährleistet werden. Dabei erscheint fehlende Frustrationstoleranz als Ursache von Gewalt. Die Diskussion nach dem Amoklauf betrifft laut BEYER nicht die Tat, sondern das "abweichende Verhalten des Täters, das dem Vorfall vorangegangen sei." (S.67) [2]
Der hegemoniale Konsens des Diskurses kontrastiert Normalität und ihre Durchbrechung, wie der Autor in seiner Studie analysiert. Gesellschaftliche Normalität konstruiert sich somit in der Abgrenzung zu Devianz. "Auf der Basis dieser Voraussetzung wird das Wissen um die Wahrheit der Abweichung formuliert" (S.72). Dieses Wissen von der Wahrheit wird von Normalitätsrichtern wie z.B. Medienforschern produziert, die so die Trennung von normal und anormal ermöglichen. "Aus gesellschaftlichen Machtbeziehungen resultierende Unsicherheiten sollen als eigene Unsicherheiten subjektiviert werden, die es zu bewältigen gilt" (S.70). Der Autor arbeitet im Ergebnis heraus, dass die gesellschaftlichen Reaktionen auf den Amoklauf mit einem latent immer vorhandenen diffusen Gefühl von Sicherheitsbedrohung begründet werden. [3]
2. Diskursanalytische Theorie und Methodik
Die ständige Bedrohung von Sicherheit und ihre staatliche Kontrolle wird von BEYER als Produktion von Sicherheitsdispositiven erklärt und ins Verhältnis zur Konstruktion von Normalität gesetzt: "Der Ausgangspunkt der Sicherheitsdispositive ist das Normale, wie es empirisch festzustellen ist ..." (S.17). Sicherheitsdispositive sind ein Teil der theoretisch begründeten Analysekategorien dieser Studie, die BEYER verwendet. Daneben erarbeitet BEYER für seine empirische Untersuchung folgende diskursanalytischen Kategorien heraus: Normalitätsrichter, Individualisierungsmechanismen, Disziplinierungsmechanismen, Selbsttechnologien, Wahrheitswillen, Normalfelder und Kollektivsymbole. [4]
Diese Kategorienverwendung begründet BEYER im Theorieteil mit dem Ansatz von FOUCAULT, Diskurse als Instrumente der Normalisierung zu begreifen. Der Normalitätsbegriff als diskurstragende Kategorie hält dabei die Machtbeziehungen intakt, indem durch ihn die Vermittlung von Normalität geschieht: "Normal ist in dem Sinn dasjenige Verhalten, welches keinen unmittelbaren Handlungsbedarf auslöst" (S.18). [5]
Normalitätsrichter beurteilen die Abweichung des Attentäters, sie überprüfen seinen Werdegang auf Normalität. Die Diskursivierung des Individuums dient aus dieser Perspektive der Regulierung von Wahrheit, und zwar durch Ausschließen aus dem Kollektiv des Normalen und durch Einschließung, d.h. Klassifizierung der Andersartigkeit. Der Autor legt dar, dass dies die Voraussetzung der gesellschaftlichen Praxis von Macht ist. Um Abweichung be- und verurteilen zu können, wird eine Definition der Abweichung auf der Grundlage der Normalität benötigt. Das Wissen um die Abweichung begründet strukturell die Machtausübung und umgekehrt. Dies geschieht durch eine Objektivierung, welche durch Messen und Vergleichen – wie bei der schulischen Zensurenvergabe – disziplinierend wirke. Macht wird in diesem Prozess subjektiviert, da das gesellschaftliche Konzept der Sicherheit auf Zurechenbarkeit und die Minimierung von Zufällen ausgerichtet ist: "Es geht um die Anleitung von Subjekten, die sich selbst verwalten" (S.15). Im Ergebnis dieser Form der Produktion von Wissen als Wahrheit erfolgt eine Umdeutung gesellschaftlicher Risiken zu individuellen Abweichungen von der Selbstdisziplinierung, wie BEYER darlegt. [6]
Die Verwendung der diskursanalytischen Kategorien Normalfelder und Kollektivsymbole nach LINK begründet BEYER damit, dass die Erklärungen der Ursachen und Bedingungen des Amoklaufs "Handlungsanweisungen an Institutionen und Individuen ..." enthalten (S.21) und auf solche Basis-Normalfelder verweisen wie Leistung, Intelligenz, Motivation, Sicherheit u.a. (S.18). Kollektivsymboliken des Wissens dagegen werden von Medien benutzt, da sie eine strategische Funktion für "gesellschaftliche und individuelle Versicherungstaktiken von Normalität" (S.21) haben. [7]
Die Ergebnisse seiner Analyse der Diskursorganisation fasst BEYER jeweils in drei Schritten zusammen: Im ersten Schritt rekonstruiert BEYER den Rahmen des Diskurses, in dem die gesellschaftliche Bedeutung der Tat formuliert wird. Im zweiten Schritt wird der Diskurskern – die Täteranalyse – herausgearbeitet. Der dritte Schritt ist der Rekonstruktion der Festschreibung des Verhältnisses von Normalität und Abweichung gewidmet, mit der im Diskurs gesellschaftliche Konsequenzen gefordert und begründet werden. [8]
3.1 Gesellschaftliche Bedeutung des Amoklaufs
Der Autor analysiert, dass beide Printmedien – FAZ wie Spiegel – einen Betroffenheits-Rahmendiskurs produzieren, der um Normalität kreist. Für die FAZ ist das "eine emotionale Einheit von Betroffenen im Diskurs", die gleichzeitig "als die positive Einheit der normalen Gesellschaft angesichts einer schrecklichen, anomalen Tat beschrieben wird "(S.30). Die Analyse BEYERs zeigt, dass in diesem Prozess das Normalfeld Leistung aktiviert und das Scheitern in diesem Feld individualisiert wird. "Die Machtbeziehungen, die dieses Scheitern bedingen, werden dem Diskurs entzogen und durch eine besondere Konzentration auf das deviante Subjekt ersetzt." (S.31) [9]
Für den Spiegel resümiert BEYER, dass eine nationale Katastrophe beschworen wird: "Aus der Konstruktion der normalen Fassungslosigkeit, welche die Reaktion der ganzen Gesellschaft kennzeichne, resultiert also gleichzeitig die Frage nach dem Anomalen, was die explizit deutsche Normalität durchbrochen habe." (S.50) [10]
BEYERs Rekonstruktion der Täterbeschreibung zeigt, wie dem Attentäter Robert Steinhäuser ein akuter Mangel an Selbsttechnologie zugeschrieben wird. Gewaltphantasien werden in diesem Diskurs nicht als solche in Frage gestellt, da sie als kontrollierbar gelten. [11]
So legt BEYER dar, dass das Attentat Robert Steinhäusers in der FAZ kollektivsymbolisch als "Entgleisung normaler Aggressivität" (S.33) interpretiert wird. "Die 'Phantasie, die Schule niederzufackeln und die Lehrer abzuknallen' ... wird zwar in der FAZ als 'üblich' ... bezeichnet. Der Vollzug dagegen scheint aber als Extremtat ..." (S.34), d.h. als pathologisch und anomal. [12]
Für den Spiegel stellt BEYER fest, dass die Darstellung des Täters in erster Linie seine Denormalisierung beschreibt: "... lange Jahre ein Clown seiner Klasse, ein netter Junge – und am Ende ein Racheengel in eigener Sache, ... von der Bahn abgekommen, gedemütigt, ein Waffennarr, kalt bis ins Herz" (Spiegel, zit. auf S.50). [13]
Der Individualisierungsmechanismus in diesem Diskurs besteht laut BEYER darin, dass das Scheitern das "Kernelement der Diskursivierung des Täters" darstellt (S.52). Hinzu kommen individualisierende Spezialdiskurse, die Persönlichkeitsdiagnosen wie "schizophren" (S.53) oder "narzisstisch" (S.54) als Ursache der Gewalteskalation ausmachen. Wie BEYER zeigt, besteht der psychologische Defekt des Täters in dieser Interpretation darin, das Versagen "als ungerechtfertigte Niederlage zu empfinden und nicht als objektives Ergebnis des eigenen Leistungsvermögens" (S.53). [14]
3.3 Gesellschaftliche Konsequenzen
Das Verhältnis von Normalität und Abweichung wird nach BEYER an der drohenden Gefahr festgeschrieben, die von der abweichenden Persönlichkeit ausgeht. Der Fokus liegt dabei auf fehlenden Bewältigungsmechanismen persönlicher Entwicklungskonflikte. Auch hier wird deutlich, dass die "Schulgewalt als Sicherheitsdispositiv" (S.61) jeden Lehrer zittern lassen muss vor möglichen Gewaltausbrüchen. Dies stellt die Basis für die Forderung und Einrichtung von Interventionen wie Konfliktbewältigungsprogrammen dar. Die dafür notwendige Selbsttechnologie wird als erlernbar begriffen, denn nur so können die Disziplinarmechanismen subjektiviert im Individuum ihre Kontrollwirkung entfalten. [15]
Die gesellschaftlichen Konsequenzen der von BEYER analysierten Trennung von Normalität und Anomalität betreffen in ihrer Konsequenz den Medienkonsum Jugendlicher. In der FAZ wird hierbei differenziert zwischen sinnvollen (Nachrichten, Spielfilme) und gefährlichen Gewaltdarstellungen (Killerspiele). Das PC-Spiel Counterstrike erscheint dabei als ein "Grund der Unauffälligkeit des Täters", weil er sich so in der "Gemeinschaft der Hassenden" (Frank SCHIRRMACHER, zit. auf S.38) verstecken könne. BEYER arbeitet heraus, dass als die hauptsächliche Ursache für den Schulmord nicht das reale Training an der Waffe im Schützenverein gilt, sondern die Gewaltspiele im virtuellen Club. Für das Normalfeld sportliche Leistung im Schützenverein wird eine Verschärfung des Waffenrechtes gefordert, da nicht die Schießsport-Vereine als negativ gelten, sondern der unkontrollierte Zugang dazu. [16]
Die Darstellung der gesellschaftlichen Konsequenzen des Amoklaufs im Nachrichtenmagazin Spiegel läuft laut BEYER darauf hinaus, dass Robert Steinhäusers Medienkonsum als die Grundlage für seinen Beitritt zum Schützenverein dargestellt wird, als wesentliche Ursache für die Tat und den Angriff auf die Normalität der Gesellschaft. Normalitätsrichter wie Medienwirkungsforscher postulieren eine "Wahrheit der Bedrohung" (S.56) der Jugend durch Medien. Die Mediengewalt markiert dabei die Grenze von Normalität, wie BEYER feststellt:
"Von dieser Normalität lässt sich Robert Steinhäuser als problematischer Schüler nicht abgrenzen. Als solcher ist er integraler Bestandteil des Normalfeldes Leistung, das im Diskurs explizit nicht Gegenstand von möglichen Gesetzesverschärfungen oder -änderungen ist. Stattdessen wird verhandelt, wie Jugendliche adäquat mit Problemen innerhalb dieses Normalfeldes umgehen sollten." (S.59) [17]
Zentraler Verhandlungsgegenstand in der Festschreibung von Normalität ist nach BEYER das Wissen um den Täter, dessen Medienkonsum, sein Schulversagen und sein Waffenbesitz. "Als Individualisierungsmechanismen bieten diese Faktoren die Basis für repressive und korrigierende Interventionen" (S.44). So soll zivilisiertes Handeln innerhalb der Machtfaktoren Leistung und Konkurrenz verinnerlicht werden, ohne diese Machtfaktoren in Frage zu stellen. [18]
BEYERs Studie als ein empirischer Beitrag zu den Governemental Studies ist theoretisch fundiert und empirisch nachvollziehbar. Seine Analyse von medial vermittelten Dispositiven als Sicherheitsdispositive ist handwerklich an in der aktuellen Diskursforschung orientiert (JÄGER 2001). "Die Ordnung des Diskurses" (FOUCAULT 1974) hat BEYER mit den dargestellten diskurstheoretischen Kategorien rekonstruieren können. Die Ergänzung um die LINKschen Normalfelder und Kollektivsymboliken stellt eine sinnvolle Möglichkeit zur Exemplifizierung der theoretischen Kategorien dar. Wünschenswert wäre allerdings im Nachwort ein konkretes Beispiel für die diskursanalytische Arbeit, ein Artikel aus FAZ oder Spiegel mit einer beispielhaften Feinanalyse, vielleicht als Grafik oder Tabelle – nicht um die Glaubwürdigkeit der Diskursanalyse zu stützen, sondern um einen tieferen Einblick in eine Werkstatt der Diskursforschung zu ermöglichen (vgl. dazu KELLER 2004, S.113). [19]
BEYER zieht im Nachwort seiner Studie eine Bilanz seiner Ergebnisse, indem er die zwischenzeitlich erfolgten gesetzlichen Maßnahmen wie im Jugendschutz als Konsequenz, d.h. Dispositivierung der von ihm herausgearbeiteten hegemonialen Diskurse darlegt. So konzentriert sich auch der Abschlußbericht der Kommission der Thüringer Landesregierung von 2004 zum Erfurter Amoklauf in seiner Ursachendiagnose auf Themen wie Entwicklungsstörungen und Gesetzeslücken und damit wieder an der Abgrenzung zu Normalität, wie BEYER zeigen kann. [20]
Wie lässt sich BEYERs Studie in der aktuellen Forschung und Publikationen zu den Ursachen und Folgen des Erfurter Amoklaufs einordnen? Er grenzt sich mit seiner Studie zu den zahlreichen wissenschaftlichen und journalistischen Wortmeldungen ab, deren Grundkanon der Desintegration den Täter aus der Normalität herausnimmt. Mit seiner Studie dagegen zeigt BEYER, dass der Amoklauf Teil der Normalität ist. Mit ihm ließe sich schlussfolgern, dass Robert Steinhäuser im Diskurs als Prototyp pathologischer Abweichung quasi entsozialisiert – oder entgesellschaftet – und dabei als Negativfolie des Selbstverständnisses von Normalität funktionalisiert wird. Die von den Kollektiven erlebten Sicherheitsrisiken werden dabei in das Individuum projiziert, es ist der Träger des Risikos. Somit könnte jedes Mitglied der Gesellschaft zum Amokläufer werden, wenn es nicht genug kontrollierbar ist und/oder sich selbst zu kontrollieren weiß. [21]
In den Debatten nach dem Amoklauf lässt sich eine Polarisierung von Kollektiv- und Individualschuld beobachten (GAJDUKOWA 2004). Während KritikerInnen wie Ines GEIPEL (2004) die ostdeutsche Gesellschaft mit ihrer fehlenden Integrationsfähigkeit als Verantwortliche für den Amoklauf ausmachen, gab sich die Erfurter Öffentlichkeit frei von Verantwortung – Schuld hat, wer schießt (HENSEL 2004). BEYERs Studie zeigt, wie mit dem Rahmendiskurs zwar eine kollektive Zuständigkeit konstruiert wird, die Schuld für die Tat aber dem am System Leistung versagendem Individuum zugeschrieben wird. [22]
Die Indvidualschuld- zieht ebenso wie die Kollektivschuldzuschreibung die Desintegrationsthese zur Erklärung struktureller Gewalt heran. Diese rückwärtsgewandten Kausalitätsannahmen zur Erklärung von Gewaltausübung stehen den Ergebnissen der aktuellen kontextspezifischen empirischen Erforschung von Gewaltphänomenen entgegen, die gezeigt hat, dass es nicht um Desintegration geht, sondern dass sich als Desintegration wahrgenommene Prozesse sozialen Wandels vielmehr als Re-Integration beschreiben lassen. Der Soziologe und Jugendforscher Christoph LIELL analysierte mit rekonstruktiven Ansätzen wie der Dokumentarischen Methode (GAFFER & LIELL 2001) die mehrdimensionale soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns (eben auch Gewalthandelns): Erstens werden als problematisch empfundene jugendkulturelle Einstellungs- und Verhaltensmuster von der Erwachsenenwelt geduldet und akzeptiert. Zweitens bilden lokal dominierende hegemoniale Jugendkulturen den Rahmen und manchmal den Zwang zur sozialen Einbettung und drittens sind die Herstellung und Erprobung von Identitäten und Kollektivitäten im Kontext gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu sehen (LIELL 2002). Die Attraktivität gewaltaffiner Jugendszenen besteht nach LIELL eben darin, dass sich Jugendliche mittels Gewalt soziale Zugehörigkeit erschaffen können, also das Gewalthandeln eine integrierende soziale Ordnung erschaffende Wirkung bekommt. [23]
Aus dieser Perspektive lässt sich wiederum BEYERs Analyse stützen, dass der Amoklauf eben ein Teil der alltäglichen Normalität ist, deren Inhalt und Bedeutung als gemeinsame Praxis vorausgesetzt und nicht hinterfragt wird. Die Beschreibung der gesellschaftlichen Reaktion auf das Gewaltereignis – die Verarbeitung des kollektiven Traumas – als Normalisierungsdiskurs ist dem Forschungsgegenstand durchaus angemessen. BEYERs Studie stellt eine sinnvolle Grundlage für weiterführende Studien dar, um beispielsweise gesellschaftliche Bedingungen der Bedeutung von Normalität als Konstruktion zu beleuchten. [24]
Foucault, Michel (1974). Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Gaffer,Yvonne & Liell, Christoph (2001), Handlungstheoretische und methodologische Aspekte der dokumentarischen Interpretation jugendkultureller Praktiken. In Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann & Arnd-Michael Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis, Grundlagen qualitativer Forschung (S.179-206). Opladen: Leske + Budrich.
Gajdukowa, Katharina (2004). Geschlossene Erinnerungsgesellschaft – oder das ostdeutsche Kollektiv schlägt zurück. Deutschland Archiv, 2, 223-230.
Geipel, Ines (2004). Für heute reichts – Amok in Erfurt. Berlin: Rowohlt.
Hensel, Jana (2004). Schuld hat, wer schießt. Der Spiegel, 5/2004, 26.1.2004, 150-151.
Keller, Reiner (2004). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen (2. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Liell, Christoph (2002). Musik und Gewalt in Jugendkulturen. Vortrag bei der Ringvorlesung "Gewalt und Terror" an der Universität Erfurt 10.12.2002. Verfügbar über: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-1317/liell.html [Zugriff: 10.02.2005].
Katharina GAJDUKOWA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Sie promoviert zum Thema "Gesprächskreise von Opfern und Tätern nach dem Ende der DDR". Dabei arbeitet sie mit Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung in der NetzWerkstatt. In der Friedens- und Konfliktforschung ist sie dem Bereich Post-Conflict-Studies verbunden. In FQS hat Katharina GAJDUKOWA Politische Biografien und sozialer Wandel (hrsg. von Ingrid MIETHE & Silke ROTH 2000) besprochen.
Kontakt:
Philipps-Universität Marburg
Wilhelm Röpke Str. 6/M2
D-35032 Marburg
E-Mail: katharina.gajdukowa@staff.uni-marburg.de
Gajdukowa, Katharina (2005). Rezension zu: Christof Beyer (2004). Der Erfurter Amoklauf in der Presse. Unerklärlichkeit und die Macht der Erklärung: Eine Diskursanalyse anhand zweier ausgewählter Beispiele [24 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 11, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0502112.
Revised 3/2007