Volume 6, No. 2, Art. 3 – Mai 2005

Rezension:

Stefanie Große

Thomas Kühn (2004). Berufsbiografie und Familiengründung. Biografiegestaltung junger Erwachsener nach Abschluss der Berufsausbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 330 Seiten, ISBN 3-531-14157-0, Euro 29,90

Zusammenfassung: Thomas KÜHN beschäftigt sich in seinem Buch, das die Veröffentlichung seiner Dissertation darstellt, mit Orientierungen und Handlungsstrategien junger Erwachsener zwischen Berufsbiografie und Familiengründung unter den Bedingungen grundlegender gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Sein Forschungsinteresse zielt darauf ab, der Bedeutung von Planungsprozessen zur Familiengründung nachzugehen. Er möchte einen Beitrag zum Verständnis zunehmender Kinderlosigkeit und des Phänomens der Stabilisierung traditioneller Geschlechterverhältnisse im Zuge der Familiengründung leisten. Auf der Grundlage problemzentrierter Interviews und unter Hinzunahme des methodologischen Bezugs zur Grounded Theory wird eine Typologie biografischer Pläne zur Familiengründung (BPF) entwickelt, die als Differenzierung verschiedener Antizipationsformen dient. Diese lebensbereichspezifische Typologie wird mit der im Sfb 186 der Universität Bremen erarbeiteten Typologie der berufsbiographischen Gestaltungsmodi (BGM) verbunden, um eine lebensbereichsübergreifende Perspektive einzunehmen. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass eine Vielzahl der untersuchten jungen Erwachsenen auch fünf Jahre nach Abschluss der Berufsausbildung noch keine konkreten Pläne zur Familiengründung entwickelt haben, obwohl sie einen festen Kinderwunsch besitzen. Dabei zeigt sich, dass mit der Familiengründung für junge Frauen und Männer ein großes Planungsproblem verbunden ist, das sich in Unsicherheiten und Ambivalenzen äußert, die eine Realisierung des Kinderwunsches aufschieben. So nehmen beispielsweise Planungsunsicherheiten zu, wenn beide Partner eine berufliche Karriere verfolgen möchten und hohe Anforderungen an die Ausfüllung der Elternrolle stellen.

Der leitenden Forschungsfrage nähert sich KÜHN in verschiedenen theoretischen Schritten, wobei er sich zunächst mit dem Forschungsstand der Lebenslaufforschung, der Entwicklung eines biografischen Planungsbegriffs, der Berufsbiografie und der Familienplanung bei jungen Erwachsenen auseinandersetzt. Davon ausgehend entwickelt KÜHN ein eigenes methodisches Vorgehen, indem er einen ersten Einstieg in das Datenmaterial über eine computergestützte Kodierung wählt und daran seine Typologie der BPF herausarbeitet.

Insgesamt hinterlässt das Buch einen sehr heterogenen Eindruck: Die Stärken liegen in der Anlage der Studie als Längsschnitt und dem sich daraus ergebenden anspruchsvollen methodischen Untersuchungsdesign. Darüber hinaus ist der Versuch, die Lebensbereiche Beruf und Familie unter Einbezug der männlichen Perspektive verbinden zu wollen, als innovatives Vorgehen zu würdigen. Die Schwächen liegen in der Unüberschaubarkeit der Präsentationsweise, den nicht immer nachvollziehbaren Interpretationen und der an einigen Stellen nicht hinreichenden Berücksichtigung struktureller Wirksamkeiten.

Keywords: Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit, prospektive Längsschnittstudie, Berufsbiografien, Familiengründungsplanung, Grounded Theory, qualitative Datenbank, Typologien

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung in das Thema: Biografien junger Erwachsender jenseits von beruflichen bzw. familiären Differenzierungen

2. Längsschnittstudie und Triangulation – Ein anspruchsvolles Forschungsdesign

3. Biografiegestaltung = Biografisches Handeln + Biografische Planung – Eine sinnvolle Formel?

4. Abschließende Bemerkungen und Fazit

Anmerkung

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einführung in das Thema: Biografien junger Erwachsender jenseits von beruflichen bzw. familiären Differenzierungen

Die Studie "Berufsbiografie und Familiengründung" ist im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs "Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf" (Sfb 186) an der Universität Bremen (1988-2001) entstanden. Inhaltlich trifft Thomas KÜHN mit seiner Untersuchung ein Forschungsthema, das mit der sinkenden Geburtenrate (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT 2002) und dem Wandel der Familienformen in Deutschland (vgl. NAVE-HERZ 2000; OSTNER 1999) ein aktuelles gesellschaftliches Problem thematisiert. Diese Entwicklungen werden in der wissenschaftlichen Diskussion als durchaus konflikthafte Folgen eines grundlegenden Wandels der Lebenschancen und einem im Zuge dieser Wandlungen stetig zunehmendem Zwang zur (selbst-) reflexiven Lebensgestaltung betrachtet (vgl. BECK & BECK-GERNSHEIM 1993). Kritisch diskutiert werden in verschiedenen modernisierungstheoretischen Konzeptionen die damit einhergehenden Ambivalenzen und unintendierten Nebeneffekte. GIDDENS (1991, S.80) bringt diese Problematik zum Ausdruck, indem er formuliert: "Modernity confronts the individual with a complex diversity of choices and, because it is non-foundational, at the same time offers little help as to which options should be selected". [1]

Trotz dieser veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine Vielzahl von biografischen Unsicherheiten mit sich bringen können (vgl. WOHLRAB-SAHR 1993; ZINN & EßER 2002), werden von jungen Erwachsenen bezüglich der Lebensbereiche Beruf und Familie rationale Entscheidungen und Planungen erwartet. Die Tatsache, dass diese Entscheidungs- und Planungsprozesse im Zuge reflexiver Modernisierung (vgl. BECK, GIDDENS & LASH 1996) und vor dem Hintergrund der Komplementarität beider Lebensbereiche (vgl. LEMMERMÖHLE, GROßE, SCHELLACK & PUTSCHBACH 2005) ebenfalls Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten hervorrufen, ist für KÜHN der Anlass, sich der Bedeutung dieser Planungsprozesse für die Biografiegestaltung zuzuwenden. In der Anlage seiner Studie geht er mit HEINZ davon aus, dass empirische Forschungsarbeiten zu diesem Themengebiet sich bisher im Rahmen von "Revierabgrenzungen zwischen Erwerbsbereich und privatem Lebenszusammenhang, wie sie in der Berufs- und Industriesoziologie einerseits und der Familiensoziologie andererseits üblich sind" (HEINZ 1995, S.62) verortet haben. Dem entgegenwirkend gelingt es KÜHN mit seiner Konzeptualisierung, sich aus den Grenzen der ausschnitthaften Betrachtung der jeweiligen Fachperspektive zu lösen (vgl. S.15f) und biografisches Handeln junger Erwachsener im Ganzen zu untersuchen. Der Autor geht davon aus, dass sich die Lebensperspektiven junger Erwachsener nicht einseitig isoliert auf den beruflichen und/oder den privaten Lebensbereich beziehen, sondern auf unterschiedlichste Weise miteinander verknüpft sein können und sich in einer dementsprechenden empirischen Untersuchungsanlage wiederfinden müssen. [2]

2. Längsschnittstudie und Triangulation – Ein anspruchsvolles Forschungsdesign

Das Datenmaterial der Untersuchung stammt aus dem Projekt "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit" des Sfb 186. Im Rahmen dieses Projekts wurden qualitative und quantitative Verfahren miteinander trianguliert, um (Berufs-) Biografien junger Erwachsener, die eine duale Ausbildung absolviert haben, untersuchen zu können. Insgesamt steht KÜHN in seiner Untersuchung Datenmaterial aus acht Jahren zur Verfügung (Beginn 1989), wobei jeweils im Abstand von drei Jahren qualitative Interviews und quantitative Fragebogenerhebungen mit jungen Erwachsenen geführt wurden. Qualitative Daten sind in drei der vier Befragungswellen mit dem problemzentrierten Interviews nach WITZEL (2000) erhoben worden. Die Auswahl der Befragten (n=91) aus der Gesamtheit des Samples erfolgte theoretisch begründet auf der Grundlage der quantitativen Fragebogenerhebung (vgl. S.36ff). [3]

Die Auswertung der problemzentrierten Interviews lehnte sich an das methodologische Verfahren der Grounded Theory an (vgl. STRAUSS & CORBIN 1996). Sowohl im Hinblick auf die Auswertung der Einzelfälle als auch bezogen auf die zentrale Bedeutung von Fallanalysen und Fallvergleichen für die Entwicklung der Ergebnisse orientierte sich der Autor an dem Forschungsparadigma der Grounded Theory. Die Grounded Theory stellt eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie dar, mit der über die Anwendung von verschiedenen systematischen Verfahren (z.B. Theoretical Sampling, verschiedene Kodierprozesse) die Entwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie über ein bestimmtes Phänomen angestrebt wird. [4]

Um sich das für eine qualitative Studie sehr umfangreiche Datenmaterial zugänglich zu machen, griff der Autor im Auswertungsprozess auf eine computergestützte Datenbank zurück (DABIE – Datenbank zur Erfassung biografischer Interviews mit jungen Erwachsenen; vgl. S.42ff). Diese Datenbank beruht auf einem "festen Kategorienschema" (S.44), mit dem es gelingen kann, Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verbindungen im Datenmaterial herauszuarbeiten (vgl. zur ausführlicheren Darstellung KÜHN & WITZEL 2000a). An dieser Stelle ist mir als Leserin verborgen geblieben, in welcher Weise sich ein festes Kategorienschema mit den Prämissen der Grounded Theory vereinbaren lässt, die grundsätzlich von einem "Prinzip der Offenheit" im Forschungsprozess ausgeht. Diesem Prinzip folgend sollten Kodierkategorien, "die zur Systematisierung des Datenmaterials verwendet werden, ... zu Beginn möglichst 'offen' sein, so daß mit ihrer Hilfe möglichst das gesamte Spektrum der relevanten Handlungsorientierungen und Deutungsmuster ... auf der Grundlage der Daten ermittelt werden kann" (vgl. KELLE & KLUGE 1999, S.66; Herv. im Orig.). Auch wenn es sich, wie der Autor anführt, bei den das Gliederungssystem bestimmenden Kategorien um "vergleichsweise theoriearme Begriffe" (S.43) handelt, die "nicht als 'Kernkategorien' im Sinne der Grounded Theory zu verstehen sind" (ebd.), so liegt den Kern- bzw. Schlüsselkategorien nach dem Verständnis der Grounded Theory ein unmittelbarer Bezug zum Datenmaterial zugrunde. Sie stellen ein zentrales, zusammenfassendes Erklärungsmuster für die im Datenmaterial gefundenen Phänomene dar (vgl. STRAUSS 1998, S.65ff). Gerade um die abduktive Forschungslogik der Grounded Theory nachvollziehen zu können und um der Forderung nach Transparenz des Forschungsprozesses als einem Gütekriterium qualitativen Forschens (vgl. STEINKE 2003) gerecht zu werden, hätte ich mir als Leserin bei der Darstellung des methodischen Vorgehens eine zusätzliche Dokumentationsarbeit des Forschungsablaufs gewünscht. Allerdings bin ich mir, auch aus eigener Forschungspraxis, durchaus den Schwierigkeiten bei der Darstellung des qualitativen Forschungsprozesses bewusst, der eine Beachtung verschiedenster Bedingungen erfordert: Zum einen ist es notwendig, die Lesebereitschaft der Leserinnen und Leser zu berücksichtigen, was Umfang und Art und Weise der Darstellung betrifft. Zum anderen ist es eine immer wieder neu zu lösenden Aufgabe, eine Balance herzustellen zwischen ausführlichen Fallanalysen mit detaillierten Auswertungsergebnissen auf Einzelfallebene und den theoretischen Schlüssen (z.B. Typologien), die über den Einzelfall hinausgehen. Diese Problemlage verschärft sich meiner Ansicht nach mit der Fülle des Datenmaterials und – was ich wiederum aus eigener Forschungspraxis bestätigen kann – mit der Anlage einer Studie als Längsschnitt. [5]

Die diskutierte Thematik führt mich dazu positiv hervorzuheben, dass sich KÜHN mit der methodischen Anlage seiner Untersuchung als qualitativem Längsschnitt einem Forschungsdesign zuwendet, das bisher in der qualitativen empirischen Forschung wenig praktiziert wird (vgl. LEMMERMÖHLE et al. 2005) und ein äußerst anspruchsvolles Terrain darstellt, in dem auf methodologischer und methodischer Ebene bisher mehr offene Fragen als Antworten zu finden sind. Insgesamt betrachtet hält sich die Methodologiediskussion in der qualitativen Forschung bei diesem Thema sehr zurück (vgl. auch LÜDERS 2003, S.632ff), obwohl kritische Auseinandersetzungen und Reflexionen, unter anderem über die Frage nach dem geeigneten methodischen Zugang, dringend notwendig wären. Leider konnte ich auch bei KÜHN keine Reflexionen über das von im verwendete Forschungsdesign finden. Dies ist meiner Ansicht nach bedauerlich, da damit die Chance zur methodologischen Diskussion hätte vorangetrieben werden können. [6]

3. Biografiegestaltung = Biografisches Handeln + Biografische Planung – Eine sinnvolle Formel?

Um der Forschungsfrage gerecht zu werden, wie junge Erwachsene familiale Planungsprozesse mit ihren Berufsbiografien verknüpfen, wählt der Autor zunächst den Weg der nach Geschlecht getrennten Auswertung und Darstellung. Dabei geht er davon aus, dass Familiengründung nach wie vor eine sehr geschlechtsspezifische Bedeutung hat, "wie die nahezu ausschließliche Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs durch Frauen zeigt" (S.49). Dieses Vorgehen finde ich grundsätzlich schlüssig, da sich in einem nachfolgenden Auswertungsschritt eine geschlechterübergreifende Betrachtung anschließt. Allerdings kann ich die von KÜHN angeführte Argumentationslinie für das gewählte Vorgehen nicht teilen: Meiner Meinung nach greift seine Begründung für eine Bestimmung der geschlechtsspezifischen Bedeutung von Familiengründung über die immer noch bestehende quantitativ höhere Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs durch Frauen viel zu kurz. Vielmehr sollte dieses Phänomen, meiner Ansicht nach, als Indikator für ein tiefer liegendes grundsätzlich strukturelles Problem der bundesrepublikanischen Gesellschaft behandelt werden. Nämlich als Indikator dafür, dass "die Geschlechterarrangements ... institutionalisierte Reproduktionsformen der Geschlechterunterscheidung darstellen, die die Strukturen des Geschlechterverhältnisses auf die Meso-Ebene übersetzen und soziale Situationen [wie die Planungsprozesse zur Familiengründung; Anmerk. S.G.] vorstrukturieren" (WETTERER 2003, S.293). [7]

Parallel zu der zunächst nach Geschlecht getrennten Ergebnispräsentation nimmt der Autor auch eine nach Lebensbereichen differenzierte Auswertung vor. Er folgt damit der Aussage von BORN und KRÜGER (2001) sowie BECKER-SCHMIDT (1994), die – für weibliche Biografien – empirisch belegen, dass aus der individuellen Perspektive Lebensbereiche als getrennt, aber voneinander abhängig konstruiert werden. Dabei wird jeder Lebensbereich von einer spezifischen Eigenlogik strukturiert, während andere Bereiche und deren institutionelle Bedingungen zunächst unbeachtet bleiben. Leider verweist KÜHN an dieser Stelle nicht auf diese Studien. Die Ergebnispräsentation orientiert sich an nachfolgend beschriebenen Typologien, die für beide Geschlechter Gültigkeit besitzen und in den Kapiteln drei und vier der Studie einführend erläutert werden. [8]

3.1 Typologie der berufsbiografischen Gestaltungsmodi (BGM)

In Kapitel 3 bindet der Autor das Konzept der BGM zum einen in theoretische Annahmen über das Konzept der Selbstsozialisation ein (vgl. HEINZ 2000), durch das die Eigenleistungen biografischer Akteure und Akteurinnen bei der Biografiegestaltung betont werden und dessen Bedeutung im Rahmen von gesellschaftlichen Veränderungs- und Modernisierungsprozessen stetig zunimmt. Zum anderen sind Theorien über Sozialstruktur und Lebenslauf von besonderer Relevanz, die davon ausgehen, dass Übergänge und Stadien einer Biographie keine unveränderlichen Determinanten des Lebens darstellen, sondern unmittelbar an eine spezifische gesellschaftliche Struktur des Lebenslaufs gebunden sind. Dies wird von KOHLI (1985) als "Institutionalisierung des Lebenslaufs" bezeichnet, worunter die zeitliche Gliederung von Lebensläufen mit klar definierten Mustern von Übergängen (Statuspassagen) verstanden wird. [9]

Die Typologie der BGM, auf die sich KÜHN bezieht, wurde im Rahmen des Forschungsprojekts "Statuspassagen in die Erwerbsarbeit" des Sfb 186 entwickelt und beschreibt, mit welchen situationsübergreifenden Orientierungs- und Handlungsmustern die berufliche Sozialisation junger Erwachsener verbunden sein kann. Auf der Basis von fünf empirisch begründeten Dimensionen (Arbeitstätigkeit, Einkommen, Betrieb, Arbeitsinhalt und Karriere) unterscheidet diese Typologie drei Gruppen von berufsbiografischen Modi (Karriereambition, Statusarrangement, Autonomiegewinn), wobei sich jede dieser drei Gruppen noch durch zwei berufsbiografische Gestaltungsmodi untergliedern lässt:

Mit der Typologie der BGM kann es gelingen, die Auseinandersetzung junger Erwachsener mit den beruflichen Rahmenbedingungen und die sich daraus unter Umständen ergebende Neuanpassung der Orientierungen zu erfassen. [11]

3.2 Typologie biografischer Pläne zur Familiengründung (BPF)

In Anlehnung an die Prinzipien der BGM entwickelt KÜHN in Kapitel 4 seine Typologie der biografischen Pläne zur Familiengründung (BPF), die der Beschreibung und Differenzierung der im Datenmaterial gefundenen unterschiedlichen Antizipationsformen von Elternschaft sowohl bei jungen Frauen als auch bei jungen Männern dient. Eingeleitet wird dieses Kapitel wiederum durch die Bezugnahme auf theoretische Modelle und Konzepte, die in der Biografie- und Lebenslaufforschung zur Beschreibung biografischer Handlungs- und Gestaltungsoptionen erarbeitet wurden. Dabei werden die Konzepte des Lebensentwurfs, der Lebensplanung und der Lebensthemen (vgl. GEISSLER & OECHSLE 1996; KEDDI, PFEIL, STREHMEL & WITTMANN 1999) erläutert, voneinander abgegrenzt und in einer abschließenden Auseinandersetzung zu dem von KÜHN entwickelten Konzept der biografischen Planung in Beziehung gesetzt (S.106). Über das Verfahren der empirisch begründeten Typenbildung identifiziert KÜHN drei verschiedene Dimensionen biografischer Planung (Entwicklung von Zukunftsvorstellungen im Biografieverlauf, biografischer Planungshorizont, Verflechtung von biografischen Planungsebenen). Diese Typologie unterscheidet drei Gruppen familienbiografischer Planungsmodi (Familiengründung wird geplant, keine Pläne zur Familiengründung, Ziele und Handeln sind nicht kongruent), wobei sich jede dieser drei Gruppen nochmals untergliedern lässt (S.124):

Im Anschluss an die Vorstellung der BGM und BPF verknüpft der Autor beide Typologien, indem er eine lebensbereichsübergreifende Perspektive einnimmt. KÜHN fasst sein Vorgehen mit der Formel: Biografiegestaltung = Biografisches Handeln + Biografische Planung (vgl. S.50) zusammen und versucht damit Handeln und Planungen als zwei miteinander verwobene Komponenten zu begreifen. [13]

An diesem Punkt können mich als Leserin die Überlegungen des Autors nicht hinreichend überzeugen. Mir ist beispielsweise nicht klar erkenntlich geworden, mit welcher Begründung sich das entwickelte Konzept biografischer Planung ausschließlich auf den Bereich der Familiengründung bezieht. Zwar merkt KÜHN an, dass die den BPF zugrunde liegenden Dimensionen "allgemein formuliert und ... auf andere Themengebiete und Zeitpunkte biografischer Planung übertragbar" (S.104) sind, was er detailliert und schlüssig an Hand der drei Dimensionen herausarbeitet, es aber in seiner Untersuchung nur für den familiären Lebensbereich umsetzt. Darüber hinaus thematisiert der Autor, dass die Mehrzahl der befragten jungen Erwachsenen im Untersuchungszeitraum noch keine Familiengründung realisiert hatten und deshalb das biografische Handeln bis zum Übergang in die Familie nicht analysiert werden kann (S.88), was ich durchaus nachvollziehen kann. Allerdings gehe ich davon aus, dass sich auch im beruflichen Lebensbereich, zusätzlich zu den handlungsbezogenen Gestaltungsmodi, Aspekte der beruflichen Planung im Datenmaterial finden lassen, wie in anderen Studien aus diesem Themenbereich deutlich wird (vgl. LEMMERMÖHLE et al. 2005). Meiner Ansicht nach bleibt deshalb zu hinterfragen, ob eine grundlegende Trennung zwischen biografischem Handeln, bezogen auf Beruf, und Planen, bezogen auf Familiengründung, wie sie hier erfolgt, sinnvoll ist, oder ob dadurch nicht die Gefahr besteht, die Dynamiken zwischen beiden Lebensbereichen zu verdecken. Die Nichtbeachtung dieses Umstandes verwundert mich umso mehr, da KÜHN selbst anführt, dass "biografische Planungen ... niemals auf ein isoliertes Ziel in der Zukunft gerichtet [sind], sondern ... immer verflochten [sind], d.h. ein spezifisches Gefüge von Vorstellungen zu Zielen in verschiedenen Lebensbereichen" (S.106) für diese Planungen bedeutsam ist. Wenn Planen unter einer Entwicklungsperspektive zu sehen ist (vgl. KÜHN & WITZEL 2000b), die es ermöglicht, den Prozesscharakter dieser Planungen zu analysieren und seine Konsequenzen auf berufsbiografisches Handeln zu verfolgen, dann sollte die entgegengesetzte Analyserichtung ebenfalls miteinbezogen werden. Ich denke, nur in dieser Weise können die reziproken Wechselwirkungen zwischen den Lebensbereichen mit ihren nicht-intendierten Nebenfolgen (vgl. GIDDENS 1995) umfassend untersucht werden. Vielleicht wäre es für das Erkenntnisinteresse der Studie sinnvoller gewesen, die vor der Untersuchung vorhandenen BGM um das entwickelte Konzept der beruflichen Planung weiterzuentwickeln, da mich der hier erfolgte Bezug beider Konzepte zueinander nicht überzeugt. Ein erster Vorschlag von mir für eine Formel, die dies ermöglicht – allerdings empirisch zu überprüfen wäre – könnte folgendermaßen aussehen: Biografiegestaltung <-> Biografisches Handeln (Beruf + Familie) + biografische Planung (Beruf + Familie). [14]

Bevor sich die Analyse der Biografiegestaltung getrennt nach Geschlecht anschließt, rezipiert KÜHN ausführlich den gegenwärtigen Forschungsstand zur lebensbereichsübergreifenden Biografiegestaltung junger Erwachsener und kommt zur Nennung bisher offener Forschungsfragen. Dass dieses Kapitel zwingend notwendig für die Studie ist, soll von mir nicht bestritten werden, doch bleibt mir seine Positionierung in der Gesamtschau der Veröffentlichung schleierhaft. Einerseits stellen die zuvor besprochenen BPF schon ein wichtiges Ergebnis der qualitativen Analysen dar, weshalb mir eine Darlegung der Forschungsfragen zu dem erfolgten Zeitpunkt nicht logisch erscheint. Andererseits gibt KÜHN schon in Kapitel 2.4 eine Beschreibung der Forschungsfragen, allerdings nicht in der ausführlichen Weise wie in Kapitel 5.4. Meine Ansicht nach würde ein Integration beider Abschnitte in ein gemeinsames Kapitel, dass vor der Ergebnispräsentation eingeordnet würde, die Lesefreundlichkeit der Arbeit immens erhöhen und erscheint auch vom logischen Aufbau her betrachtet sinnvoller zu sein. [15]

3.3 Biografiegestaltung bei jungen Frauen

Eingeleitet wird die Darlegung der Biografiegestaltung junger Frauen durch eine Fallübersicht, die ich sehr gelungen finde, da sie die Leserin und den Leser überblicksartig über die Verteilung der Typenzuordnung informiert und damit ein Hilfsmittel zur Orientierung an die Hand gibt. [16]

Die Darstellung der Ergebnisse gliedert sich entlang folgender Punkte:

Die Ergebnispräsentation wird an Hand von Textstellen der Interviews dokumentiert, wobei nicht alle Interpretationsschritte nachvollziehbar waren; so war für mich nicht erkenntlich, in welcher Weise dem Ansatz der Grounded Theory gefolgt wurde, wie sich die Vergabe von Kodes am Datenmaterial vollzog und wie sie dimensionalisiert und zu den präsentierten Typen verdichtet wurden. Dies hätte ich mir wenigstens exemplarisch an einem Fall gewünscht. [18]

Interessant sind vor allem die von KÜHN festgestellten Bedingungsgefüge, in deren Rahmen die jungen Frauen ihre Pläne zur Familiengründung im Verlauf der ersten Berufsjahre entwickeln. Bedeutsam ist dabei der beobachtete Zusammenhang mit spezifischen Altersnormen, deren Einhaltung für die untersuchten jungen Frauen eine wichtige Bedingung für die Realisierung der Erstelternschaft darstellt. Dies deckt sich unmittelbar mit Ergebnissen anderer Längsschnittstudien (vgl. LEMMERMÖHLE et al. 2005). Allerdings werden von KÜHN keine Schlussfolgerungen zur Entwicklung dieser Altersnormen vorgenommen, die meiner Ansicht nach auf einen deutlichen Bezug zum Ablaufmuster weiblicher Statusbiographien (vgl. LEVY 1977) hindeuten, dessen handlungsleitende Funktion allen Modernisierungstendenzen zum Trotz nach wie vor für die Biografiegestaltung junger Frauen zu bestehen scheint. Ein Rückbezug zur Ebene struktureller Vorgaben und institutionalisierter Muster der Lebensführung hätte sich an dieser Stelle geradezu angeboten, um auf die Wirkungskraft gesellschaftlicher Strukturen hinzuweisen, denen sich die biografischen Akteurinnen – wie KÜHNs Auswertungen zeigen – nicht entziehen können. Leider bleibt dieser Hinweis aus. [19]

Erwähnenswert sind die Umgangsweisen der Akteurinnen mit Ambivalenzen, die der Autor für die Biografiegestaltung herausarbeitet. Diese führen KÜHN zur Unterscheidung von zwei Formen biografischer Ambivalenz: der langfristigen latenten Dauerambivalenz und der kurzfristigen Hochspannungsambivalenz, deren Bedeutung innerhalb der untersuchten Fälle vergleichsweise detailliert herausgearbeitet wird. Dieses Ergebnis finde ich vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl später Elternschaften interessant, da sie auf eine Erklärung der subjektiven Konstruktionsmechanismen hinweisen, die zu diesem gesellschaftlichen Phänomen führen können. [20]

3.4 Biografiegestaltung bei jungen Männern

Das Kapitel 7 gliedert sich in seinen Grundzügen genauso wie das vorhergehende über die Biografiegestaltung junger Frauen, wobei es insgesamt stringenter und lesefreundlicher verfasst ist (z.B. höherer Strukturierungsgrad durch Aufzählungen). Dieses Kapitel habe ich mit besonders großem Interesse gelesen, da sich in ihm die große Stärke der Studie zeigt, die in der Einbeziehung männlicher Biografiegestaltungsprozesse im Hinblick auf die Familiengründung liegt. Es gibt bisher nur wenige Studien, die sich in vergleichbar differenzierter Weise dieser Frage zuwenden (siehe etwa: von der LIPPE & FUHRER 2003). [21]

Dabei ergeben sich interessante Einblicke in die biografischen Planungsprozesse zur Familiengründung aus männlicher Perspektive: Analog zur Antizipation der Rolle der "Fürsorgenden" auf weiblicher Seite lässt sich ein Orientierung der jungen Männer an der traditionellen männlichen Ernährerrolle herausarbeiten, die das Streben nach einer sicheren Berufsposition unterstützt. In ähnlicher Weise lassen sich weitere Aspekte anführen (z.B. die handlungsleitende Funktion von Altersnormen, harmonische Partnerbeziehung), die eine Komplettierung von Antizipationen der weiblichen Seite darstellen und als notwendige Ergänzung zur Realisierung der (gemeinsam) geplanten Biografiegestaltung zu verstehen sind. Als ein weiteres wichtiges – nun auch empirisch belegtes – Ergebnis sehe ich den zunehmenden Bedeutungszuwachs des Lebensbereichs Familie in der männlichen Biografiegestaltung an. Diesen Zuwachs macht KÜHN am neuen Leitbild der "aktiven Vaterschaft" (S.241) fest, das unter anderem mit dem Wunsch der jungen Männer verbunden ist, mehr Zeit für das Kind zu haben und aktiv an der Erziehung teilhaben zu wollen. [22]

Die Auswertungen zeigen, dass auch Männer mit Ambivalenzen in der Biografiegestaltung konfrontiert sind, die sich aber im Gegensatz zu denen auf weiblicher Seite als weniger schwerwiegend und spannungsreich kennzeichnen lassen (vgl. S.245). Dies kann im Wesentlichen darauf zurückgeführt werden, dass Frauen in der Regel sowohl über Erwerbsarbeit als auch über Familienarbeit in die Gesellschaft eingebunden sind und in vielfältigen Variationen versuchen, ihr Leben zwischen Beruf und Familie zu organisieren (vgl. stellvertretend BORN, KRÜGER & LORENZ-MAYER 1996). Sowohl Diskontinuitäten in weiblichen Lebensverläufen als auch Ambivalenzen in subjektiven Orientierungen können als Folge dieses Vergesellschaftungsmodus verstanden werden (vgl. LEMMERMÖHLE et al. 2005). Bedeutsam erscheint der Rezensentin KÜHNs Hinweis darauf, dass mit der steigenden Bedeutung des neuen Leitbilds der "aktiven Vaterschaft" auch diese Linie zwischen Männern und Frauen in Bewegung kommt. Es ist davon auszugehen, dass je mehr dieses Leitbild handlungsleitenden Charakter erhält und sich bestehende Berufsstrukturen zur Vereinbarung von Familie und Erwerbsarbeit nicht verändern, sich umso mehr die Ambivalenzen der Biografiegestaltung auch bei Männern erhöhen werden. Aus der Perspektive der Frauenforschung könnte diese Einstellungsänderung vielleicht einen Silberstreif am Horizont bedeuten, da Männer, wenn sie diesem neuen Leitbild gerecht werden möchten, vor dem gleichen Dilemma stehen wie Frauen, die seit Jahrzehnten Änderungen der Berufsstrukturen fordern. Vielleicht weckt diese Entwicklung – mit aller Vorsicht formuliert – bei Männern ein Bewusstsein für die zugrundeliegende strukturelle Ungleichheitslage. Ähnliche Entwicklungen haben sich in Bezug auf die Verschiebung der Trennungslinie zwischen Männern- und Frauenberufen gezeigt, die allerdings nicht in einen Abbau bestehender Geschlechterhierarchien einmündeten. [23]

3.5 Geschlechtsübergreifende Biografiegestaltung: Differenzen und Gemeinsamkeiten

In Kapitel 8, das die Ergebnispräsentation abschließt, nimmt der Autor eine Perspektive ein, in der biografisches Handeln und biografisches Planen von jungen Frauen und Männer verbunden werden, was von ihm mit dem Begriff "geschlechtsübergreifend" bezeichnet wird. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowohl im Handeln als auch in den Antizipationen der untersuchten jungen Erwachsenen aufgezeigt. [24]

Gemeinsamkeiten beziehen sich unter anderem auf:

Unterschiede sind eher graduell als grundlegend und beziehen sich unter anderem auf:

Der sich daran anschließende Abschnitt "Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse und Familienplanung" (vgl. S.267ff) kann die Rezensentin wenig überzeugen. KÜHN hat im Verlauf der Studie schon mehrfach darauf hingewiesen (vgl. S.191ff) – aber erst an dieser Stelle explizit herausgestellt –, dass bereits "die Antizipation der Familiengründung zur Reproduktion von traditionellen Geschlechterverhältnissen beiträgt" (S.267). Die von KÜHN gelieferte Begründung greift, wie schon kommentiert, zu kurz. Um diese subjektiven Aneignungsprozesse nachvollziehen zu können, ist es meiner Ansicht nach unbedingt notwendig, die Auseinandersetzung der jungen Erwachsenen mit den vorgefundenen strukturellen Vorgaben und normativen Leitbildern in den Blick zu nehmen. Erst dann wird sichtbar, dass sich dort vielfältige Aushandlungsprozesse vollziehen, in denen gerade die jungen Frauen auf konflikthafte Nicht-Passungsverhältnisse zwischen beruflichen Orientierungen und familiären Planungen stoßen und die im Zuge der Erfahrungsverarbeitung zur Selbstverortung in traditionellen Geschlechterverhältnissen führen können. In ihrer Längsschnittstudie zum Übergang junger Frauen in die Erwerbsarbeit arbeiten LEMMERMÖHLE et al. (2005) heraus, dass die von ihnen untersuchten jungen Frauen die Statuspassagen in Erwerbsarbeit und Partnerschaft nicht mit geschlechtsspezifischen Handlungsorientierungen und Selbstkonstruktionen betreten, wohl aber mit Wirklichkeitskonstruktionen, in denen die Kategorie Geschlecht bereits als einschränkende Kategorie reflektiert wird.1) Auf ihrem Gang durch die Statuspassagen, d.h. im Rahmen der stattfindenden Aushandlungsprozesse, werden sie dazu veranlasst sich damit auseinander zu setzen. Die von KÜHN herausgearbeitete Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse bei Familiengründung erscheint dann nicht mehr nur als Resultat einer traditionellen Orientierung der jungen Erwachsenen, sondern als Folge eines konfliktträchtigen Aushandlungsprozesses. Das Resultat bleibt zwar dasselbe, doch macht die in Grundzügen dargestellte Sichtweise, junge Frauen und junge Männer als aktive Akteurinnen und Akteure sichtbar, die sich in je spezifischer erfahrungsgebundener Weise auf die Handlungskontexte beziehen, aus neuen Erfahrungen lernen und sich an Handlungskontexte anpassen oder sie verändern können. Mit GIDDENS (1995) ist davon auszugehen, dass Struktur und Handeln nicht in einem Determinationsverhältnis zueinander stehen, sondern in einem wechselseitigen Konstitutionszusammenhang: "Damit Strukturen praktisch wirksam werden können, müssen sie durch das Nadelöhr des Bewußtseins oder der Wahrnehmung der handelnden Individuen hindurch" (GIDDENS 1988, S.290). [27]

Obwohl der Autor selbst an einer Stelle kurz darauf hinweist, dass das von ihm festgestellte Streben nach Familiengründung nach Ausbildungsabschluss und die damit verbundene Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse möglicherweise auf Prozesse zurückzuführen ist, die vor dem Untersuchungszeitraum abgelaufen sind (vgl. S.191), werden diese Aspekte im abschließenden Ergebnisteil nicht berücksichtigt. Dies ließ bei mir als Leserin den Eindruck entstehen, dass die Orientierung an traditionellen Leitbildern keinerlei Entwicklungs- und Aushandlungsprozessen im Zeitverlauf unterliege. Dass diese Orientierungen einer Entwicklung unterliegen, die weit vor dem Abschluss einer Ausbildung beginnt, haben verschiedene Studien – zumindest für weibliche Handlungsorientierungen – feststellen können (vgl. HEINZ, KRÜGER, RETTKE, WACHTVEITL & WITZEL 1987; LEMMERMÖHLE et al. 2005). Die Formulierung KÜHNs, dass dies "nicht das Thema dieser Arbeit" (S.192) sei, macht die Sache meiner Ansicht nach auch nicht besser. Wenn diese Prozesse schon bekannt sind – und das zeigt der Autor (vgl. S.191) –, dann sollte auch darauf hingewiesen werden, damit beim Lesen nicht Missverständnisse und Fehlinterpretationen der Ergebnisse entstehen. [28]

4. Abschließende Bemerkungen und Fazit

Das Buch "Berufsbiografie und Familiengründung" hinterlässt bei der Rezensentin insgesamt betrachtet einen heterogenen Eindruck. Die Stärken des Buchs sind eindeutig in der Anlage der Studie als Längsschnitt und dem sich daraus ergebenden anspruchsvollen methodischen Untersuchungsdesign zu sehen, das eine zentrale Rolle einnimmt und auf dessen Grundlage der Autor, in Anlehnung an die Grounded Theory, ein eigenes methodische Vorgehen entwickelt. Darüber hinaus ist der Versuch, die Lebensbereiche Beruf und Familie unter Einbezug der männlichen Perspektive verbinden zu wollen, als innovatives Vorgehen zu würdigen, das in der qualitativen Forschungslandschaft sein Äquivalent sucht. [29]

Neben der schon angeführten inhaltlichen Kritik sehe ich Schwächen insbesondere im Aufbau und der Zusammenstellung der einzelnen Kapitel. KÜHN wählt für seine Studie eine von der üblichen Darstellungsweise abweichende Präsentationsform. Dabei folgt er nicht einer klassischen Gliederung in Theorie-, Methoden- und Ergebnisteil, sondern verbindet theoretische Vorannahmen mit der Ergebnispräsentation. Obwohl dies den Vorteil hat, unmittelbare Bezüge zwischen beiden herstellen zu können und vermutlich auch dem im Forschungsprozess praktizierten Vorgehen am Nächsten kommt, so erhöht dies nicht die Lesefreundlichkeit, macht eine Lektüre nicht einfacher und führt schnell dazu, dass das Interesse an inhaltlichen Aussagen erlahmt, da sich die Leserin/der Leser stets neu orientieren muss. Wenn ein solches innovatives Vorgehen gewählt wird, dann sei hier der Vorschlag einer Leseanleitung genannt, an Hand derer sich die Lesenden orientieren können und die es ermöglicht, sich den Gesamttext ausgehend von individuellen Interessenlagen (z.B. an Theorien zur Familienplanung) zu erschließen. [30]

Daneben finde ich es bedauerlich, dass sich über das gesamte Buch hinweg keine Stringenz in der Verwendung von Begrifflichkeiten durchsetzt. Beispielsweise gibt es Inkonsistenzen in der Verwendung der gewählten Dimensionierungen der BPF. Da wird die Dimension "Entwicklung" plötzlich als Kategorie bezeichnet (vgl. S.132) und die gerade eingeführte Dimension "Planungshorizont" auf "Horizont" verkürzt (vgl. S.133). Dies verwirrt die Lesenden und ist meiner Ansicht nach auch auf inhaltlich-methodischer Ebene nicht korrekt, da der Begriff Dimension von dem der Kategorie zu unterscheiden ist (vgl. BÖHM 2003). Darüber hinaus fand ich es verwunderlich, dass der Autor durchweg zwischen "unserem Sample" (S.216) und "unserer Stichprobe" (S.275) und "meiner Arbeit" (S.38) wechselt und dies nicht begründet. Mir als Rezensentin fällt es schwer, zwischen Ursprungsprojekt und Promotionsarbeit zu unterscheiden. [31]

Vermisst habe ich die ausführlichere Berücksichtigung der Veränderung von beruflichen Handlungen und deren Wechselwirkung auf familienbezogene Planungsprozesse. Sowohl die Analyse der BGM als auch die der BPF ist situationsübergreifend. Wenn ich beide Typologien richtig nachvollziehen habe, bezieht die Typologie der BPF im Gegensatz zu der Typologie der BGM in unmittelbarer Weise Entwicklungsprozesse mit ein, was an den Dimensionierungen (Entwicklung, Planungshorizont, Verflechtung) deutlich wird. Mit den BPF werden also verschiedene Entwicklungsverläufe von Antizipationen zur Familiengründung unterschieden. Davon zu unterscheiden sind die BGM in der Hinsicht, dass in ihnen der Umgang mit bestimmten Lebenslaufstationen und -situationen erfasst wird, was ebenfalls in den Dimensionen (Arbeitstätigkeit, Qualifikation, Karriere, Einkommen, Betrieb) sichtbar wird. Ich habe die Typologie der BGM so verstanden, dass es bei Veränderung der Berufsbiografiegestaltung zu einem Wechsel der Typenzuordnung kommen kann, an der sich dann Entwicklungsverläufe aus der Perspektive des Längsschnitts ablesen lassen. Zwar wird in Tabellen an verschiedenen Stellen der Studie angeführt, dass es zu Veränderungen der Typenzuordnung gekommen ist (vgl. S.78), doch wird dies nicht in erkennbarer Weise bei der Verbindung der BGM mit den BPF berücksichtigt (vgl. S.167 und 215). Auch werden in den Tabellen Wechsel der BGM nicht auf den Einzelfall bezogen, so dass mir ein Nachvollzug, ob und in welcher Weise die Personen mit BGM-Wechseln in die Analyse eingeflossen sind, nicht möglich war. Dies finde ich bedauerlich, da gerade an diesen Wechseln Prozesse der Beibehaltung bzw. Veränderung hätten untersucht werden können und der Einfluss dieser Prozesse bzw. ihre Verflechtung mit biografischen Plänen zur Familiengründung neue Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Konstitutionsbedingungen eröffnen würde. So erscheinen die Ergebnisse der Biografiegestaltung oftmals statisch, da Konstanz und Wandel bei der Typenzuordnung zwar ansatzweise berücksichtigt (vgl. S.176), aber nicht umfassend für beide Lebensbereiche analysiert und in den wechselseitigen Konstitutionsbedingungen betrachtet wurden. Meiner Ansicht nach werden damit wichtige Potentiale und Erkenntnisgewinne des Längsschnitts verschenkt, die durch die verwendeten Verlaufsdaten hätten geliefert werden können. [32]

Eine Einlösung der verfolgten Ziele – Beiträge zum Verständnis der Kinderlosigkeit in Deutschland und des Phänomens der Re-Traditionalisierung der Geschlechterverhältnisse bei Familiengründung zu leisten (vgl. S.31) – gelingt nur zum Teil. Die Re-Traditionalisierung kann aus den in der Studie genannten Faktoren allein nicht umfassend verstanden werden. Jenseits dieser Kritik verdient das Buch Lob und Anerkennung, da es sich auf inhaltlicher und methodischer Ebene einem bisher vernachlässigten Themenfeld qualitativer Sozialforschung zuwendet und gute Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen bietet. Dazu gibt KÜHN in seinem abschließenden Kapitel "Fazit und Ausblick" verschiedene Anregungen (vgl. S.307ff). Im Kern thematisieren die vom Autor vorgetragenen Überlegungen eine für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft wichtige Problemstellung, die sozialpolitische Brisanz aufweist und unbedingt eingehenderer Diskussionen bedarf. [33]

Anmerkung

1) Bei Selbst- und Wirklichkeitskonstruktionen geht es einerseits um die Aushandlung von Bezügen zu sich selbst, was mit dem Begriff der Selbstkonstruktion konzeptionell erfasst wird. Andererseits um die Aushandlung von Bezügen zu sozialen Handlungskontexten, was mit dem Begriff der Wirklichkeitskonstruktion beschrieben wird. In der Literatur wird neben dem Begriff Selbst- und Wirklichkeitskonstruktion auch der Begriff Selbst- und Wirklichkeitsreferenz (MAROTZKI 1990) synonym verwendet. Selbst- und Wirklichkeitskonstruktionen sind als sehr komplexe und "einzigartige Leistungen von individuellen Subjekten" (DAUSIEN 1996, 572) zu verstehen, wobei die vollzogenen Bezüge nicht statisch aufzufassen sind, vielmehr können sie in Konfrontation mit sozialen Handlungskontexten durch dynamische Aushandlungsprozesse der biografischen Akteurin/des biografischen Akteurs hergestellt, bestätigt oder verändert werden. <zurück>

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Zur Autorin

Stefanie GROßE, 2002 Abschluss in Pädagogik, Soziologie und Wirtschafts- und Sozialpsychologie (M.A.), anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Biographisches Lernen junger Frauen und Doing-Gender-Prozesse in den Statuspassagen zur Erwerbsarbeit – Eine Längsschnittstudie", seit November 2003 Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, Thema: "Zum lebensgeschichtlichen Stellenwert kritischer Lebensereignisse. Eine qualitative Studie zu biographischen Lernprozessen". In FQS findet sich eine weitere Besprechung von Stefanie GROßE zu Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen.

Kontakt:

Stefanie Große

Schleinitzstraße 15
D-38106 Braunschweig

E-Mail: grossesteffi@gmx.net

Zitation

Große, Stefanie (2005). Rezension zu: Thomas Kühn (2004). Berufsbiografie und Familiengründung. Biografiegestaltung junger Erwachsener nach Abschluss der Berufsausbildung [33 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 3, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050230.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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