Volume 6, No. 2, Art. 15 – Mai 2005
Rezension:
Till Westermayer
Stefan Böschen & Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.) (2003). Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Westdeutscher Verlag, 253 Seiten, ISBN 3-531-13996-7, EUR 32,90
Zusammenfassung: Der Sammelband Wissenschaft in der Wissensgesellschaft präsentiert eine Reihe von Aufsätzen, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven "Wissen" diskutieren: als wissenschaftliches Wissen, als ökonomische Ressource, als Nichtwissen oder als Erfahrungswissen. Etwa die Hälfte der Beiträge bezieht sich konzeptionell auf die Theorie reflexiver Modernisierung, die andere Hälfte orientiert sich am Konzept der Wissensgesellschaft. In der Rezension wird die Debatte um die Wissensgesellschaft anhand eines Überblicksbeitrags von Martin HEIDENREICH ausführlicher diskutiert. Die Beiträge zu den drei Schwerpunkten des Bandes – Wissen als ökonomische Ressource, Wissen und Nichtwissen, Wissenschaft und reflexive Modernisierung – werden zusammengefasst. Als gemeinsames Fazit aus dem heterogenen Band wird festgestellt, dass es in vielen Beiträgen Anzeichen für eine praxistheoretische Wende der Sozialwissenschaften gibt, dass das Konzept einer linearen Verwissenschaftlichung der Gesellschaft in allen Beiträgen abgelehnt wird, und dass der Politisierung von Wissenschaft eine wachsende Bedeutung zugemessen wird.
Keywords: Wissenschaft, Wissensgesellschaft, Risiko, Nichtwissen, praktisches Wissen, reflexive Modernisierung
Inhaltsverzeichnis
1. Zum Kontext und zum Aufbau
2. Zur Debatte um die Wissensgesellschaft
3. Schwerpunktbeiträge
3.1 Wissen als ökonomische Ressource
3.2 Wissen und Nichtwissen
3.3 Wissenschaft und reflexive Modernisierung
4. Fazit
Seit einigen Jahren hat der Begriff "Wissensgesellschaft" wieder Konjunktur in der Soziologie. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer Reihe von Tagungen und Veröffentlichungen (etwa STEHR 1994; WEINGART 2001; WILLKE 1998; MOSER & ELKAR 2003; HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG 2002). Die Europäische Union ruft Wissensgesellschaft zum Leitbild aus (EU-KOMMISSION 2003) und die Vereinten Nationen veranstalten einen Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS). Wird das Konzept etwas weiter ausgedehnt – bereits Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft sind ja schon nicht mehr identische Konzepte – kann Manuel CASTELLs "Aufstieg der Netzwerkgesellschaft" in der Reihe "Das Informationszeitalter" genannt werden. Gesellschaftliche Themen, die mit diesem Konzept verknüpft werden, sind vor allem Fragen der Innovativität, der Eigentumsrechte an Wissen (Intellectual Property Rights, IPR) und der Organisation des Bildungssystems. Auch der hier besprochene Band "Wissenschaft in der Wissensgesellschaft" ordnet sich zuerst einmal in dieses Themenfeld ein. Wer sich jetzt allerdings politische Handlungsanweisungen erwartet, geht fehl: die Autoren des Bandes – es sind nur Männer – versuchen zumeist, sich dem Thema grundsätzlicher zu nähern. Ein gemeinsamer roter Faden zumindest für einen Teil der Artikel ist dabei die Verknüpfung von Wissensgesellschaft mit der BECKschen Risikogesellschaft bzw. der reflexiven Modernisierung. [1]
Nach einem Überblick über die Debatte um den Begriff Wissensgesellschaft von Martin HEIDENREICH gliedern sich die Beiträge anhand von drei Schwerpunkten: es geht um Wissen als ökonomisch-technische Ressource und damit als Kernelement einer Wissensgesellschaft (GLÄSER sowie STEHR), dann in vier Beiträgen um verschiedene Wissens- bzw. Nichtwissensformen (KROHN, WEHLING, BÖHLE und KOCYBA) sowie schließlich um den Zusammenhang von Wissenschaft und reflexiver Modernisierung (BÖSCHEN, LAU & BÖSCHEN, MAY). Oder anders gesagt: Wissensgesellschaft und Wissen wird zuerst aus dem Blickwinkel des Teilsystems Wirtschaft betrachtet, dann wissenschafts-, technik- und organisationssoziologisch und schließlich, im dritten Teil des Bandes, aus dem Blickwinkel der Theorie reflexiver Modernisierung. Deutlich wird hier auch schon eine für einen Sammelband ja nicht untypische Heterogenität. Interessant ist deswegen – auch als Maßstab der Beurteilung – die Frage nach der Zielsetzung. Ingo SCHULZ-SCHAEFFER und Stefan BÖSCHEN schreiben hierzu in der Einleitung:
"Relevant ist nicht allein die Tatsache, dass wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Forschungspraktiken viele gesellschaftliche Handlungsbereiche zunehmend durchdringen. Gesellschaftlich folgenreich ist vielmehr vor allem, dass dieses Wissen und die Verfahren seiner Erzeugung in Handlungsbereichen zum Einsatz kommen, (1) die anders als der institutionelle Schutzraum der Wissenschaft nicht den Vorzug besitzen, die Risiken des gescheiterten Experiments und des Nichtwissens gegenüber der Gesellschaft abzupuffern, (2) in denen das wissenschaftliche Wissen in Konkurrenz zu anderen Wissensformen tritt und sich dabei nicht notwendigerweise als das überlegene Wissen erweist und (3) in denen sich das Handeln der Akteure an Handlungsrationalitäten und -zielen orientiert, die sich nicht bzw. nicht folgenlos durch wissenschaftsbasierte Entscheidungen substituieren lassen [...]. Folgenreich ist es aber andererseits auch für die Wissenschaft selbst, wenn sie (1) unter dem Einflussbereich fremder Handlungslogiken operiert [...], (2) ihre eigenen Geltungsansprüche angesichts konkurrierender Wissensformen relativiert sieht oder (3) gesellschaftliche Verantwortung für die Risiken wissenschaftlichen Nichtwissens zugemessen bekommt" (SCHULZ-SCHAEFFER & BÖSCHEN, S.23). [2]
Das Ziel des Bandes ist es dann, die in den drei Punkten genannten gesellschaftlichen Folgen der wissensgesellschaftlichen Transformation wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftlicher Verfahren einerseits und Konsequenzen für die Wissenschaft andererseits zu erörtern und damit zugleich Gestaltungserfordernisse aufzudecken – ohne jedoch eine einheitliche Position zu vertreten. Vielmehr erwecken gerade die Aufsätze der bekannteren Autoren den Eindruck, dass hier – mehr oder weniger zugespitzt in Richtung des Verhältnisses von Wissenschaft und Wissensgesellschaft – die Chance genutzt wurde, die eigenen und anderswo bereits ausgeführten Thesen noch einmal stark zu machen. Darüber hinaus scheint es mir einen merkwürdigen Kontrast zwischen Beiträgen zu geben, die sich – mal stärker, mal weniger stark – auf reflexive Modernisierung hin orientieren, und Beiträgen, die andere Konzepte von Wissensgesellschaft in den Vordergrund stellen. Etwas freundlicher drückt dies Ulrich BECK in seinem kurzen Vorwort aus: "Das vorliegende Buch leistet einen Beitrag dazu, unterschiedliche Beobachtungsperspektiven gegenüber der Institution der modernen Wissenschaft vorzustellen und sie miteinander in einen fruchtbaren Streit zu bringen" (BECK, S.7). [3]
Für den Rezensierenden ergibt sich aus dieser Ausgangslage – generell bei einem Buch, das anders als ein Tagungsreader eine gewisse Einheitlichkeit repräsentiert, aber eben doch in sich sehr heterogen ist – das Problem, dass eine ganzheitliche Würdigung kaum möglich ist. Stattdessen möchte ich ausführlicher auf den Überblicksbeitrag von HEIDENREICH eingehen, und die Schwerpunktbeiträge jeweils nur kurz vorstellen. Am Schluss soll versucht werden, doch noch eine Art Fazit zu finden. [4]
2. Zur Debatte um die Wissensgesellschaft
Der Beitrag von Martin HEIDENREICH (S.25-51) hat das Ziel, einen angemessenen Begriff von Wissensgesellschaft "aus der aktuellen Debatte 'herauszupräparieren'" (HEIDENREICH, S.26). Dazu geht er auf die Begriffe Wissen, Institution und Wissensgesellschaft ein, stellt drei Etappen der Debatte um Wissensgesellschaft (soziologische Klassiker, Debatte der 1960er/1970er Jahre, aktuelle Debatte) vor und zieht anhand von vier zentralen Gegensatzpaaren das Fazit: "Die Dilemmata der Wissensgesellschaft können somit im Spannungsfeld von nationaler und Weltgesellschaft, von Wissenschaft und lernenden Organisationen, von Ausdifferenzierung und struktureller Kopplung und von Planbarkeit und Risiken verortet werden" (HEIDENREICH, S.48). [5]
Wissensgesellschaft konzeptualisiert HEIDENREICH in Bezugnahme auf einen von LUHMANN abgeleiteten Wissensbegriff und einen an BERGER und LUCKMANN sowie die "Neue Institutionentheorie" der Ökonomie angelehnten Institutionenbegriff. Wissen wird von anderen kognitiven Schemata wie etwa Normen dadurch unterschieden, dass es mit einem Wahrheitsanspruch (also einer Revidierbarkeit bei Enttäuschung von Erwartungen) und damit mit der Möglichkeit des Lernens verbunden ist. Institutionen begreift HEIDENREICH als relativ dauerhafte Ensemble von Normen und kognitiven Erwartungen. Organisationen greifen auf "'institutionell geronnene' Formen von Wissen" (HEIDENREICH, S.29) zurück, d.h. auf organisatorische Routinen und geteilte Wahrnehmungsmuster; sie speichern nicht nur lernbereite, sondern auch lernresistente Erwartungen. Eine Wissensgesellschaft ist für HEIDENREICH nun jede Gesellschaft, die kognitiv stilisierte Erwartungsmuster einen zentralen Stellenwert einräumt. Dies geschieht durch die "Institutionalisierung der Bereitschaft zur Infragestellung eingelebter Wahrnehmungs- und Handlungsmuster" (a.a.O.). HEIDENREICH grenzt damit die Wissensgesellschaft ab von der eher technologisch definierten Informationsgesellschaft wie von der "durch eine statistische Residualgröße" (S.25) definierten Dienstleistungsgesellschaft. Die Zentralität kognitiv stilisierter Erwartungsmuster in der Gegenwartsgesellschaft wird für ihn in der zunehmenden Bedeutung grenzüberschreitender Informations-, Kommunikations- und Warenströme, im Wissen als Innovations- und Produktionsfaktor und in Bezug auf lernende Organisationen deutlich. [6]
Mit dieser Konzeptualisierung von Wissensgesellschaft sieht HEIDENREICH sich – und die heutige Thematisierung von Wissensgesellschaft – als eher anschlussfähig an die Debatte der soziologischen Klassiker um Rationalisierung und Modernisierung, wie sie um die Jahrhundertwende geführt wurde, als an die Debatte der 1960er und 1970er Jahre. Er geht dazu näher auf die Bedeutung von Wissen bei Karl MARX, Werner SOMBART, Max WEBER und Joseph SCHUMPETER ein – interessanterweise jedoch nicht auf Karl MANNHEIM. Allerdings hat die klassische Debatte um die Wissensbasierung der entstehenden Industriegesellschaften ihre Grenzen; weder WEBERs Analyse der bürokratischen – wissensbasierten – Organisationsformen noch SCHUMPETERs Rekurs aus charismatische und durchsetzungsstarke Unternehmer kann die Wissensbasierung moderner Gesellschaften hinreichend erklären. HEIDENREICH weist insbesondere darauf hin, dass Wissen in der klassischen Debatte nicht auf wissenschaftliches Wissen beschränkt war, sondern auf Prozesse bezogen hat. Ganz im Gegensatz dazu steht die Debatte der 1960er und 1970er Jahre mit Autoren wie Daniel BELL, Peter F. DRUCKER und Jacques ELLUL. Hier wurde unter dem Eindruck der damaligen Planungseuphorie die Wissensbasierung moderner Gesellschaften fast alleine auf wissenschaftliche und akademische Tätigkeiten zurückgeführt, die von darauf spezialisierten Forschungseinrichtungen, Sektoren und akademisch qualifizierten WissensarbeiterInnen erbracht werden sollten. Kurz gesagt: "Die Wissensgesellschaft der 60er und 70er Jahre wurde also als verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte, akademisierte Gesellschaft konzipiert" (S.36). [7]
Die seit Mitte der 1990er Jahre erneut einsetzende Debatte um Wissensgesellschaft – HEIDENREICH nennt hier neben Nico STEHR und Helmut WILLKE von allem eine Reihe von Wissenschafts- und TechniksoziologInnen, namentlich Werner RAMMERT, Karin KNORR-CETINA, Wolfgang KROHN und Peter WEINGART – lässt sich nun wiederum eher auf die Analysen der Klassiker beziehen. HEIDENREICH begründet dies mit der Thematisierung nichtwissenschaftlichen und kontextabhängigen Wissens, der Frage nach den Orten der Wissensproduktion und der institutionellen Lernbereitschaft und mit der um die Jahrhundertwende eher als in den 1960er Jahren präsenten globalen Dimension von Wissensgesellschaft. Als Unterschiede zur klassischen Debatte stellt er die Thematisierung von Unwissen, Fragilität und Risiken – die im Sinne der Risikogesellschaftsthese als Konsequenzen der Moderne verstanden werden – und die heute mit in Betracht gezogenen Folgen der strukturellen Kopplung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche für Innovativität und Lernbereitschaft in den Vordergrund. Konkreter zeigt HEIDENREICH diese Unterschiede anhand der eingangs erwähnten vier Spannungsfelder auf. Wissensgesellschaft ist heute global, aber zugleich an neue regionale Regulationsstrukturen gebunden. Im Anschluss an WILLKE konzipiert er Wissensgesellschaft als eine "Gesellschaft lernender, vielfach grenzüberschreitend tätiger Organisation, die ihre eigenen Strukturen permanent auf den Prüfstand stellen, um ihren Bestand in einer turbulenten Umwelt sicherzustellen" (HEIDENREICH, S.40). Wissensgesellschaft ist nicht mit Deregulation gleichzusetzen – vielmehr kommt es zu einer beschleunigten Oszillation zwischen Deregulation und der Schaffung neuer Regulationen, etwa durch regionale Innovationsregime, die er als "strukturelle Kopplung wirtschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Perspektiven im Rahmen einer Region" (S.43) interpretiert. Schließlich – und darin sieht er den größten Unterschied zur früheren Debatte – ist mehr Wissen nicht nur Grundlage höherer Produktivität und Planbarkeit, sondern die Quelle für mehr Nichtwissen, Verunsicherung und Risiken. Die Produktion von Unsicherheit (Wissen über Nichtwissen) als Nebenprodukt der Produktion von Wissen ist nicht mehr auf Wissenschaft und Technik begrenzt, sondern dringt – zusammen mit den damit verbundenen Praktiken – in alle gesellschaftlichen Teilbereiche ein. Zusammengefasst ist Wissensgesellschaft damit eine globale Gesellschaft, in der grenzüberschreitende lernende Organisationen eine zentrale Rolle spielen. Die institutionelle Einbettung oszilliert zwischen Deregulierung und Reregulierung, in ihren Folgen erklärbar als strukturelle Kopplung. Die Übernahme von wissenschaftlichen Praktiken und die zunehmende Wissensproduktion macht aus Wissensgesellschaft zudem eine Risikogesellschaft. [8]
HEIDENREICH entwickelt damit in Fortführung der klassischen Debatte um Rationalisierung und Innovation und in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Ansätzen (von der Systemtheorie bis zur reflexiven Modernisierung) ein der heutigen Situation und Komplexität angemessenes Konzept von Wissensgesellschaft, das allerdings einen deutlichen Schwerpunkt auf wirtschaftliche Rationalität legt. In der Abgrenzung zur Informationsgesellschaft wird darauf verzichtet, auf die Bedeutung der für globale Kommunikation notwendigen technischen Infrastruktur einzugehen, und in der Bezugnahme auf WEBER und auf LUHMANNs Wissensbegriff bleibt der kulturelle Aspekt einer globalen Gesellschaft außen vor. [9]
3.1 Wissen als ökonomische Ressource
In den ersten beiden Beiträgen geht es um die Möglichkeiten und Grenzen der Nutzbarkeit wissenschaftlichen Wissens als einer ökonomischen Ressource. Jochen GLÄSER (S.55-76) diskutiert die mit einem Fragezeichen versehene Privatisierung von Wissenschaft, Nico STEHR (S.77-93) widmet sich dem Produktivitätsparadox. [10]
Privatisierung von Wissenschaft heißt dabei: Forschungsprozesse als Dienstleistungen und Forschungsergebnisse als Waren zu behandeln (GLÄSER, S.55) und sie damit anschlussfähig an andere Kontexte zu machen. Insbesondere geht es verbunden damit um die Frage, ob für eine wirtschaftliche Verwertung von Wissenschaft eine ausschließliche Kontrolle, also eine Privatisierung, notwendig ist. Damit befinden wir uns in der Debatte um Intellectual Property Rights, die aber bisher in Bezug auf konkretes Forschungshandeln wenig fruchtbar ist. Zugleich macht GLÄSER (S.56) hier auf der Theorieseite eine wissenschaftssoziologische Leerstelle aus, für die er die Vernachlässigung der Makroebene nach der konstruktivistischen Wende in den 1970er Jahren verantwortlich macht. Ziel seines Aufsatzes ist es, den Auswirkungen neuer Privatisierungstrends auf die Einbettung des individuellen Forschungshandelns in wissenschaftliche Gemeinschaften nachzugehen. Er diskutiert dazu zwei Trends im Bereich der Grundlagenforschung: die von vornherein kommerziell betriebene Grundlagenforschung (Celera Genomics) und die Ausweitung der Patentierung von Ergebnissen der Grundlagenforschung. Verbunden damit ist die Frage, wer die Wissensproduktion koordiniert: Die wissenschaftliche Produktionsgemeinschaft, die an die Zugänglichkeit wissenschaftlicher Ergebnisse und eine Art Aufmerksamkeitsökonomie gekoppelt ist, oder der an Geheimhaltung und Verwertbarkeit interessierte Markt. Er geht davon aus, dass es weder zu einer vollständigen Übernahme der Wissenschaft durch den Markt kommen wird (denn wissenschaftliche Ergebnisse lassen sich im Handlungskoordinationsmodus Markt nicht erarbeiten), noch dass der Markt sich komplett zurückdrängen lassen wird. Dezentrale Handlungskoordination, wie sie in Wissenschaftsgemeinschaften üblich war, reicht allerdings nicht aus, um die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit zu erhalten. Dementsprechend etablieren sich neue, korporative Akteure und formale Entscheidungsprozesse. GLÄSERs Fazit: Der Konflikt zwischen Markt und Wissenschaft kann nicht gelöst, sondern nur immer wieder neu ausbalanciert werden. Dies ist allerdings nur durch entsprechende Aktivität auch seitens der Wissenschaft möglich: "Die Wissenschaft muss heute ihre Produktionsbedingungen explizit sichern, d.h. sie muss formale Organisationen nutzen, um die Wissenschaftler bindenden Entscheidungen zu treffen und mit der Wissenschaftspolitik und der Wirtschaft über geeignete Institutionen zu verhandeln" (S.71). [11]
Während bei GLÄSER die Wissenschaft und ihre Arbeitsweise im Mittelpunkt standen, ändert sich der Fokus bei Nico STEHR beträchtlich. Mit dem titelgebenden Produktivitätsparadox ist die "gewaltige Lücke zwischen den aktuellen und erwarteten wirtschaftlichen Ertragssteigerungen, die aufgrund von Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien hätten erfolgen sollen" (STEHR, S.77) gemeint. STEHR geht es in seinem Beitrag darum, nachzuweisen, dass es einen systematischen Zusammenhang zwischen dem radikalen Wandel der Arbeitswelt, der steigenden Zahl wissensintensiver Beschäftigung und dem Produktivitätsparadox gibt. Er unterstellt dem Großteil vorliegender Arbeiten zum gesellschaftlichen Wandel einen technologischen Bias ("Informationsgesellschaft") und setzt dem die Vermutung einer "gesellschaftlich bestimmten Übergangsphase von einer Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft" (S.80) gegenüber. Damit verbunden ist eine Zunahme der Wissensarbeit schon weit vor Beginn eines durch Informations- und Kommunikationstechnologie gekennzeichneten Zeitalters. Zudem geht STEHR davon aus, dass die Perspektive der Wirtschaftswissenschaften stark eingeengt ist und es nicht vermag, Flexibilität, Initiative und Vielseitigkeit der untersuchten Akteure zu erfassen. Er kommt zu dem Schluss, dass es eine wissensgesellschaftliche Produktivitätssteigerung geben wird, dass diese aber nicht technologisch indiziert sein wird, sondern "zu einem wesentlichen Maß auf der Selbstgestaltung des Arbeitsplatzes beruhen" (S.91) wird. [12]
Vier Beiträge widmen sich dem Zusammenhang von Wissen und Nichtwissen in Bezug auf das Verhältnis von Wissenschaft und Wissensgesellschaft. Wolfgang KROHN (S.97-118) geht auf den mit dem Wandel der Industrie- zur Wissensgesellschaft verbundenen Funktionswandel der Wissensgesellschaft ein. Peter WEHLING (S.119-142) erörtert die mit wissenschaftlichem Nichtwissen verbundenen Schattenseiten der Wissensgesellschaft. Fritz BÖHLE (S.143-177) arbeitet an einer Erweiterung des Wissensbegriffs um den Bereich des Erfahrungswissens, und Hermann KOCYBA (S.178-190) diskutiert die Bedeutung von standardisiertem Wissen wie etwa Kennziffern in der Wissenspolitik von Unternehmen. [13]
Wolfgang KROHN geht es in seinem Beitrag zuerst einmal um die Veränderungen, die die Integration wissenschaftlichen Wissens in Verwertungsketten mit sich bringt: parallel zu der Industrialisierung von Fertigungsketten und einer Standardisierung von Technologie sieht er hier den Druck, die Zuverlässigkeit von Wissen mit einem institutionalisierten System von Standards und Zertifikaten sicherzustellen. Zugleich verstärkt sich der Warencharakter, wie etwa an der Debatte um geistiges Eigentum absehbar. Während diese Effekte die Herstellung von Wissen beeinflussen – KROHN unterscheidet zwischen Wissen als "Rohprodukt" und Information als Kommunikationsform von Wissen –, und den Charakter der Wissensproduktion weniger kunsthandwerklich und stärker industriell koordiniert erscheinen lassen (als Beispiel nennt KROHN Zitationsdatenbanken zur Messung der Produktivität von WissenschaftlerInnen und standardisierte Qualitätssicherungslabors), verändert sich zugleich auch die Gesellschaft. Komplexe wissenschaftliche Modelle und Expertisen sind unsicheres, hypothetisches Wissen. Wenn dieses Wissen nun in Wertschöpfungsketten integriert wird, wird damit auch Unsicherheit und Risiko eingeschleust. In Politik, Wirtschaft oder Recht werden Elemente der wissenschaftlichen Rationalität integriert, in deren Mittelpunkt das Experiment steht. Experimentierfeld ist nun nicht mehr der abgeschottete Bereich der Wissenschaft, sondern Gesellschaft insgesamt. KROHN bleibt aber nicht an diesem Punkt stehen, sondern zeigt, dass die Wissensgesellschaft Mechanismen zum Umgang mit diesen Risiken entwickelt, also etwa Innovationsnetzwerke, partizipative Formen der Entwicklung oder die enge Integration von Forschung und Politik in bestimmten ökologischen Fragen. Er kommt zum Schluss:
"Industrialisierung des Wissens und Verwissenschaftlichung innovativer Strategien sind Entwicklungsmuster der Wissensgesellschaft, in denen die Risiken des Wissens und Nichtwissens verarbeitet werden. Hierdurch werden in einem dynamischen Wechselspiel die Risiken des Handelns zugleich verringert und gesteigert" (KROHN, S.116). [14]
Wissenschaftliches Risiko wird nun nicht mehr innerhalb der Wissenschaft verarbeitet, sondern wird zu einem anerkannten – und ökonomisch kalkulierbaren – Risiko sozialen Handelns. [15]
Peter WEHLING stellt die These in den Mittelpunkt, dass Wissensgesellschaft sich primär weder durch eine lineare Verwissenschaftlichung breiter Handlungsbereiche noch durch das Gegenmodell eines Unwichtigerwerdens wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen Wissensformen in einer Pluralisierung von Wissensformen (vgl. dazu auch den Beitrag von BÖHLE im besprochenen Band) erklären lässt, sondern dass die Bedeutungszunahme wissenschaftlichen Nichtwissens – unter Aufgabe eines Wahrheitsmonopols der Wissenschaft – den Kern von Wissensgesellschaft ausmacht. Dazu diskutiert er das Konzept des wissenschaftlichen Nichtwissens und grenzt es von Irrtum und Risiko ab. Im Unterschied vor allem zu Robert K. MERTON bestimmt er drei qualitative Dimensionen des Nichtwissens: das Wissen darüber, die Intentionalität und die Zeitdimension des Nichtwissens. Er plädiert dafür, Nichtwissen als einen Effekt wissenschaftlicher Praxis anzusehen. Am Beispiel der Debatte um FCKW und das Ozonloch macht WEHLING deutlich, dass es gerade die nichtintentionalen, dysfunktionalen Effekte wissenschaftlichen Nichtwissens sind, die an Bedeutung zunehmen. Er geht auf die bisherige Debatte dieses Phänomens ein und schlägt vor, an die Stelle einer Konzentration auf Expertenmodelle etwa zur Folge der Abschätzung des Nichtwissens über Technikfolgen oder eine Konzeption als "rekursiver Lernprozess" die Bedeutung anderer Wissensformen und normativer Komponenten ernst zu nehmen, die wissenschaftliches Nichtwissen für die Gesellschaft mit sich bringt. Im Sinne einer Politisierung des Nichtwissens plädiert WEHLING für eine radikale Öffnung von Expertendiskursen und Risikoabschätzungsmodellen und für hybride Modelle. Als theoretischen Hintergrund dafür empfiehlt er die Theorie reflexiver Modernisierung, die bereits in BECKs Risikogesellschaft (BECK 1986) Nichtwissen in den Mittelpunkt gestellt hat. Anders als BECK betont WEHLING jedoch die nicht-intentionalen und nicht-objektivierbaren Aspekte von Nichtwissen; beides spricht aus seiner Sicht für die Politisierung des Umgangs mit Nichtwissen und für einen Aufbruch des wissenschaftlichen Definitionsmonopols zur Bewertung der Folgen von Nichtwissen. Konkret werden derartige Fragen etwa am Beispiel der Debatte um Gentechnik in der Landwirtschaft. [16]
Ausgangspunkt für Fritz BÖHLE ist die Feststellung, dass das Modernisierungs-Programm der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Praxis zwar noch keineswegs an seinem Ende angekommen zu sein scheint, aber doch heute die Grenzen der Verwissenschaftlichung sichtbar werden lässt. Dazu diskutiert er das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und dem in praktischem Handeln gewonnenen Erfahrungswissen (Wissen, das in praktischem Handeln generiert wird und situativ und subjektiv gebunden ist) in Bezug auf die Nützlichkeit in Arbeit, Technik und Ökonomie. Die Brisanz einer Bedeutungszunahme von Erfahrungswissen gegenüber wissenschaftlichem Wissen sieht BÖHLE vor allem in der Infragestellung der Dominanz einer objektiv-rationalen Haltung zur Welt im Allgemeinen und in Bezug auf Handeln im Besonderen. Ziel des Beitrags ist es, "einen Bezugsrahmen zu entwerfen, der es ermöglicht, die angesichts von Veränderungen im Umgang mit Erfahrungswissen auftretenden Fragen und neuen Herausforderungen für die soziologische Analyse näher zu bestimmen und die Richtung anzugeben, in der nach Antworten zu suchen wäre" (BÖHLE, S.146). Dazu rekonstruiert er die Entstehung des Geltungsanspruchs wissenschaftlichen Wissens in modernen Gesellschaften, die zu einer formellen wie faktischen Verwissenschaftlichung des praktischen Handelns führt, das nun als planmäßig-objektivierendes Handeln verstanden wird, und WissensproduzentInnen von WissensanwenderInnen trennt. Seit etwa 1980 kommt es zu einer wissenschaftlichen Rehabilitierung des praktischen Wissens, zur einer weitreichenden Thematisierung von Erfahrungswissen (vgl. BÖHLE, S.160). In der wissenschaftlichen Debatte – und in den daraus abgeleiteten Qualifikationsprogrammen – ist diese allerdings weiterhin mit dem Anspruch einer Objektivierung des Wissens verbunden. Erst in jüngster Zeit gelingt es mit dem Konzept des subjektivierenden Handelns (vgl. BÖHLE et al. 2002), Erfahrungswissen nicht mehr a priori auf objektivierendes Handeln zu beschränken. BÖHLE schließt mit der Feststellung, dass nicht durch eine Aufwertung des (objektivierbaren) Erfahrungswissens oder durch die Öffnung der Wissenschaft für das Agieren in der Praxis als ExpertInnen die Autorität wissenschaftlichen Wissens als gesellschaftliche Grundlage in Frage gestellt wird, sondern erst durch eine Akzeptanz subjektivierenden Handelns. Zugleich wirft er die Frage nach der Gestalt einer grundlegend von der klassisch-soziologischen Rationalitätsannahme abweichenden Soziologie auf – und nach den verborgenen künstlerisch-subjektivierten Anteilen selbst wissenschaftlicher Tätigkeit. [17]
Die Diskussion unterschiedlicher Wissensformen schließt ein kurzer Beitrag von Hermann KOCYBA ab, der die These diskutiert, dass an die Stelle eines normativen Regimes tayloristischer Wissenspolitik mit objektiviertem Wissen als Machtbasis des Managements zunehmend Systeme einer dezentralen, wissensbasierten Steuerung etwa über Kennzahlen tritt. KOCYBA unterscheidet dazu vier wissenspolitische Typen der Unternehmenssteuerung (KOCYBA, S.181) – explizites Wissen/zentrale Steuerung (Taylorismus), implizit/zentral (Autorität), explizit/dezentral (Partizipation) oder implizit/dezentral (Gemeinschaft). Das Modell der Partizipation, etwa in (neo-tayloristischer) Gruppenarbeit entspricht dem dezentralen Steuerungsmodell über Kennziffern. Hier gibt es anders als im Taylorismus kein Wissensmonopol, zugleich handelt es sich aber um einen Typus, der auf explizites Wissen zurückgreift und nicht auf praxisgebundenes Erfahrungswissen. Weiterhin werden in diesem Unternehmenstypus MitarbeiterInnen durch eine Verpflichtung auf die Verbesserung der Kennziffern der Erfüllung der Unternehmensziele untergeordnet – jetzt nicht mehr in der Form direkter Vorgaben und zentraler Befehle, sondern quasi unter der Hand und in einer Rhetorik der Moralisierung betrieblichen Handelns. Auf der anderen Seite dienen Kennziffern als "Verdichtung" des performativen und praktischen Wissens der jeweiligen MitarbeiterInnen einer Abteilung o.ä. gegenüber der Unternehmensleitung. [18]
Während die Beiträge von KROHN und WEHLING gewissermaßen komplementär zueinander stehen und aus unterschiedlichen Perspektiven auf den gesellschaftlichen Umgang mit wissenschaftliches Nichtwissen eingehen, diskutiert BÖHLE Wissen, dass sich einer Verwissenschaftlichung entzieht. Den Beiträgen liegt dabei jeweils ein unterschiedliches Konzept von Wissensgesellschaft zugrunde: für KROHN ist Wissensgesellschaft eine Gesellschaft, in der Wissen in Wertschöpfungsketten integriert wird und dadurch unter der Hand experimentelle Praktiken – also wissenschaftliche Handlungsweisen – in Gesellschaft einschleust. WEHLING konzipiert Wissensgesellschaft im Anschluss an BECKs Risikogesellschaft als eine Gesellschaft, für die der Umgang und die Bedeutung mit wissenschaftlichen Nichtwissen zentral ist. Für BÖHLE hingegen geht es eigentlich nicht um Wissensgesellschaft, sondern eher um die Wiederentdeckung praktischen Wissens und die Grenzen der Verwissenschaftlichung und Objektivierung. Gemeinsam mit WEHLING plädiert er für die Akzeptanz außerwissenschaftlicher Umgangsformen mit Wissen und Welt. KOCYBA schließlich zeigt, wie in der Einbettung in Herrschaftsstrukturen in einem Unternehmen Erfahrungswissen durch die Aggregation in Kennzahlen in "objektives" und in die Unternehmenssteuerung einbaubares Wissen transformiert werden kann. [19]
3.3 Wissenschaft und reflexive Modernisierung
Während die ersten beiden Schwerpunktbeiträge sich mit Wissen als einer ökonomischen Ressource befasst haben und in den vier Beiträge des Mittelteils Wissen und Nichtwissen diskutiert wurde, geht es in den letzten drei Beiträgen um den Zusammenhang von Wissenschaft und reflexiver Modernisierung. Ob diese Einteilung so sinnvoll ist, sei dahingestellt – insbesondere der Beitrag von WEHLING ließe sich zwanglos auch in den Schlussteil des Buches stellen. Stefan BÖSCHENs Text über Wissenschaftsfolgenabschätzung (S.193-219) mit seinem ausführlich dargestellten Fallbeispiel des Diskurses über Grüne Gentechnik kann als direkter Anschluss an WEHLING gelesen werden. Etwas grundlegender – und im engeren Sinne nicht mit Wissenschaft befasst – geht es bei Christoph LAU und Stefan BÖSCHEN (S.220-235) anschließend um einen Blick auf Wissensgesellschaft aus Sicht der Theorie reflexiver Modernisierung. Den Schluss des Beitrags bildet ein rechtssoziologischer Aufsatz von Stefan MAY (S.236-249) über die Reaktion des Rechtssystems auf Nichtwissen in der Biomedizin. [20]
Ausgangspunkt für BÖSCHEN ist die Feststellung, dass die absolutistisch organisierte Wissenschaft der ersten Moderne sich in einem Prozess der Lockerung befindet. Ein Symptom dieser Lockerung sind Auflösungserscheinungen in grundlegenden Differenzen (z.B. Wissen vs. Nichtwissen, ExpertInnen vs. LaiInnen), katalysiert durch den Umwelt- und Risikodiskurs. Diese Wandlungsprozesse stellt BÖSCHEN anhand des Wandels der Folgenreflexion – am Beispiel der Institutionen der Technikfolgenabschätzung – dar. Bei aller Offenheit folgt Technikfolgenabschätzung weiterhin dem Grundmodell von Expertenwissen und der Kontrolle der Natur durch mehr Wissenschaft und Technik. Eine Öffnung in Richtung von gesellschaftlichen Gestaltungsöffentlichkeiten zeigt sich erst in neueren Institutionen. Diese gesellschaftliche Aneignung einer neuen und kontroversen Technik wird ausführlich am Fallbeispiel der Agrargentechnik diskutiert. BÖSCHEN arbeitet zentrale Veränderungen der Arbeitsweise und Bedeutung von Wissenschaft heraus und stellt Ansatzpunkte für eine Neuformation von Wissenschaft im Prozess reflexiver Modernisierung dar. Neue Herausforderungen sind die Etablierung von Nichtwissen samt der Steigerung des Nichtwissens gerade durch den wissenschaftlichen Fortschritt, eine "Re-Moralisierung" der Forschung mit der Zuschreibung einer Orientierungsfunktion und der Nachhaltigkeitsdebatte sowie neuen institutionellen Rahmenbedingungen und Antworten darauf, insbesondere einer Politisierung von Entscheidungen über wissenschaftliches Wissen und die Etablierung eines "Science Assessment", das anders als das Konzept der auf die Verwissenschaftlichung von Nebenfolgen setzenden Technikfolgenabschätzung gerade auf eine gezielte Öffnung der Wissenschaft für Öffentlichkeit setzt. Für die Wissenschaft beschreibt BÖSCHEN einen Wandel von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie. Dazu gehört zunehmende Reflexivitätsforderung an Forschung, die Kontextualisierung der Forschung – "reine" Grundlagenforschung gibt es nicht mehr – sowie die Prozeduralisierung der Forschung, d.h. eine Verrechtlichung und die Durchsetzung von Standards. Abschließend stellt BÖSCHEN die Frage, ob eine weitergehende Demokratisierung von Wissenschaft möglich ist, ohne damit den Anspruch der Herstellung von (Quasi-) Gewissheiten zu verlieren. [21]
Christoph LAU und Stefan BÖSCHEN diskutieren die Frage, ob und wie Wissensgesellschaft als theoretisches Konzept zur Erklärung postmoderner Gesellschaften mit der Theorie reflexiver Modernisierung (BECK & BONß 2001) vereinbar ist. Nach einem Durchgang durch verschiedene Wissensgesellschaftsmodelle kommen sie zu der Feststellung:
"Unter dem Begriff Wissensgesellschaft wird demnach eine Fülle realer und möglicher künftiger Entwicklungen zusammengefasst. Viele dieser Entwicklungen werden zutreffend und empirisch aufschlussreich beschrieben, allerdings auch häufig im Hinblick auf ihre möglichen Konsequenzen und Grenzen nur unzureichend reflektiert. Aus Sicht der Theorie reflexiver Modernisierung [...] erscheint die Theorie der Wissensgesellschaft daher zumindest unvollständig zu sein" (LAU & BÖSCHEN, S.223). [22]
Als Ursache dafür werden vier Gründe genannt: Die Vermischung von normativen und deskriptiven Aussagen, die fehlende Erklärungstiefe der Wissensgesellschafts-Theorie(n), den technokratischen Bias dieser Konzepte, womit sie aus Sicht der Theorie reflexiver Modernisierung der Logik der ersten Moderne entsprechen, und den diffusen Wissensbegriff, der sich in Gleichsetzungen von Wissen und Information oder in einem Verständnis von Wissen als technischer Machbarkeit oder als Handlungsbefähigung äußert. Dies führt zur Ignoranz von praktischem Wissen und Nichtwissen oder neueren Modellen wie der Idee einer Aufmerksamkeitsökonomie. Für LAU und BÖSCHEN ist klar: "Die künftige Wissensgesellschaft, so ist zu erwarten, wird keine Wissenschaftsgesellschaft sein" (S.226). Dementsprechend fordern sie eine Anerkennung von Pluralität. Als Antwort der Theorie reflexiver Modernisierung auf diesen Wandlungsprozess wird auf die Beiträge von WEHLING, BÖSCHEN, BÖHLE und MAY in dem hier besprochenen Band verwiesen. In Bezug auf Wissenschaft gehen LAU und BÖSCHEN davon aus, dass das Modell einer zentralen, stabilen und hierarchisch geordneten Wissenschaftsordnung der ersten Moderne in der zweiten Moderne durch eine verteilte Wissensordnung (LAU & BÖSCHEN, S.233) ersetzt wird, die stärker an gesellschaftliche Anforderungen und Probleme aus der Praxis gebunden ist, "pluridisziplinäre Aushandlungsprozesse" vorsieht und Nichtwissen vornehmlich als tatsächliches Nichtwissen und nicht als Noch-Nicht-Wissen konzipieren muss. Dieses Modell entspricht dem auch schon von BÖSCHEN angesprochenen Konzept einer "konstitutionellen Monarchie". Zugleich plädieren LAU und BÖSCHEN dafür, reflexiv-moderne Gesellschaften eher als Nichtwissensgesellschaften denn als Wissens- oder gar als Wissenschaftsgesellschaften zu verstehen. [23]
Die beiden Beiträge zum Verständnis von Wissenschaft und Wissensgesellschaft aus Sicht der Theorie reflexiver Modernisierung werden ergänzt durch den Beitrag von Stefan MAY, der das in Folge der Humangenetik und der neueren Biomedizin hervorgerufenen Nichtwissens und die damit verbundene Unsicherheit in Bezug auf die Institution Recht diskutiert. Dazu verweist er auf die historische Beurteilung von Risiken durch das Recht, etwa die Annahme einer auf Lebenserfahrung beruhenden hinreichenden Wahrscheinlichkeit von Sicherheit. Aufgrund der großen Schadenpotenziale neuartiger Risiken reichen diese Möglichkeiten nicht mehr aus. Dies gilt insbesondere für nicht mehr in Wahrscheinlichkeiten messbaren Schadensgrößen. Hier verschiebt sich der rechtliche Rahmen von der Lebenserfahrung zum Stand von Wissenschaft und Technik. Die Sicherheitsgarantie für einzelne Rechtsgüter wird nun dem Wissenschaftssystem zugeschoben. Mit neuen medizinischen Entwicklungen (etwa genetischer Diagnostik) erweist sich die wissenschaftliche Absicherung von rechtlicher Richtigkeit als nicht mehr ausreichend. MAY stellt dies plastisch dar; Alternativen zur Berufung auf Expertenwissen hält er zwar für notwendig und ruft dazu auf, über die geeignete Verfahrensrationalität für den gesetzlichen Umgang mit Ungewissheit nachzudenken – weitergehende Überlegungen präsentiert er jedoch hier nicht. [24]
Die ersten beiden Beiträge in diesem Abschnitt erörtern aus Sicht der Theorie reflexiver Modernisierung Veränderungen des Wissenschaftssystems und antworten auf die Vermutung einer Wissensgesellschaft. Konträr zum Buchtitel wird das Konzept Wissensgesellschaft dabei grundsätzlich in Frage gestellt: an seine Stelle rückt eine Betrachtung von Wissenschaft in der Risikogesellschaft. Hier wird noch einmal deutlicher, was in WEHLINGs Beitrag schon Anklang: der Anspruch der Theorie reflexiver Modernisierung, ein adäquateres Theoriekonzept zur Erklärung der Veränderungen des Wissenschaft und Gesellschaft und der damit verbundenen Folgen zu besitzen, als dies in Wissenschaftsgesellschaftskonzepten der Fall ist. Der Beitrag von MAY hat im Vergleich dazu eher einen exemplarischen oder ergänzenden Charakter und illustriert am Beispiel der Folgen von neuerdings möglicher medizinischer Ungewissheit die bisher fehlende – und wohl nicht im Wissenschaftssystem zu findende – Anpassung des Rechtssystems an wissenschaftliches Nichtwissen. [25]
Was lässt sich nun als allgemeineres Fazit über Wissenschaft in der Wissensgesellschaft aussagen, wo sind bei aller Heterogenität doch Gemeinsamkeiten zwischen den Beiträgen aufzufinden – auch zwischen den eher an reflexiver Modernisierung orientierten und den eher an Wissensgesellschaft orientierten? Ich möchte mit drei Feststellungen schließen: [26]
Erstens kommt in vielen Beiträgen – ganz oder ansatzweise – die praxistheoretische Wende der Sozialwissenschaften zum Vorschein. Erfahrungswissen bzw. dem im Erfahrungswissen verankerten lebensweltlichen Umgang mit wissenschaftlichen Risiken wird eine im Vergleich zur rationalistischen Industrialisierungsphase eine gewachsene und auch wissenschaftlich zu analysierende und diskutierende Bedeutung zugeschrieben. Dies trifft auch auf Wissenschaft zu, sowohl in der Feststellung, dass Wissenschaft nicht nur auf wissenschaftliches, sondern auch auf Praxiswissen aufbaut, als auch in der Forderung, neue hybride Institutionalisierungen eines Zusammenwirkens von Wissenschaft und nichtwissenschaftlicher Laienexpertise etwa in der Abschätzung wissenschaftlicher Risiken zu etablieren. [27]
Zweitens wird aus ganz unterschiedlichen Perspektiven heraus das Konzept einer linearen Verwissenschaftlichung der Gesellschaft abgelehnt. Wo an einem Konzept von Wissensgesellschaft festgehalten wird, da rücken der Umgang mit Nichtwissen und Risiko, die Diffusion experimenteller Praktiken in die Gesellschaft und die Erfahrung der Wissenschaft als weniger hermetisch als bisher angenommen in den Mittelpunkt – oder es wird gleich dazu geraten, vom Konzept der Wissensgesellschaft Abstand zu nehmen und den gesellschaftlichen Wandel als reflexive Modernisierung zu konzipieren. Noch am ehesten an einem klassischen Konzept von Wissensgesellschaft hält bei aller Kritik an einer technokratischen Informationsgesellschaft STEHR fest – aber selbst dort wird der Fortschrittsglaube inzwischen ins Informelle verlegt. [28]
Und wenn wir drittens schließlich den Anspruch ernst nehmen, dass der Band sich vornehmlich mit Wissenschaft beschäftigt – und nicht nur mit den damit verbundenen Nebenfolgen – dann könnte als ein übergreifender Befund die Politisierung von Wissenschaft gesehen werden – in eigens dafür geschaffenen Institutionen bei KROHN oder BÖSCHEN, aber auch als einzige Chance, sich gegen den Zugriff der Ökonomie zu wehren (GLÄSER). Egal, ob wir uns an der Schwelle zu einer Wissensgesellschaft oder in einer Nichtwissensgesellschaft befinden: die gesellschaftliche wie innerwissenschaftliche Regulation von Wissenschaft bekommt ein wachsendes Gewicht und wird damit zunehmend auch zu einem politischen Feld. [29]
Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Beck, Ulrich & Bonß, Wolfgang (Hrsg.) (2001). Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Böhle, Fritz; Bolte, Annegret; Drexel, Ingrid; Dunkel, Wolfgang; Pfeiffer, Sabine & Poschen, Stephanie (2002). Umbrüche im gesellschaftlichen Umgang mit Erfahrungswissen – Theoretische Konzepte, empirische Befunde, Perspektiven der Forschung. München: ISF-Forschungsberichte.
Castells, Manuel (2003). Das Informationszeitalter. Bd.1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. (Durchgesehener Nachdruck der 1. Auflage). Opladen: Leske + Budrich.
EU-Kommission (2003). Auf dem Weg zur europäischen Wissensgesellschaft: die Informationsgesellschaft in der Europäischen Union. Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften.
Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2002). Gut zu wissen. Links zur Wissensgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Moser, Eva & Elkar, Rainer S. (Hrsg.) (2003). Perspektiven der Wissensgesellschaft: Tagung am 4. November 2002. Wolnzach: Kastner.
Stehr, Nico (1994). Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weingart, Peter (2001). Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück.
Willke, Helmut (1998). Systemisches Wissensmanagement. Stuttgart: Lucius & Lucius.
Till WESTERMAYER (Jg. 1975) hat in Freiburg Soziologie, Informatik und Psychologie studiert und sein Studium mit einer qualitativ orientierten Magisterarbeit zum "Virtuellen Parteitag" von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg abgeschlossen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft der Universität Freiburg. Parallel dazu arbeitet er im Rahmen seines Promotionsvorhabens "Technik und Alltagskultur" und im Netzwerk Neue Medien e.V. an techniksoziologischen Fragestellungen. Till WESTERMAYER hat in zurückliegenden Ausgaben von FQS Rezensionen verfasst zu: Computer und Weltbild. Habitualisierte Konzepte von der Welt der Computer (Peter BERGER, 2001) und Experten des Alltags (Karl H. HÖRNING, 2001).
Kontakt:
Till Westermayer, M.A.
Universität Freiburg
Institut für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft
Werderring 6
D-79085 Freiburg
E-Mail: till.westermayer@pluto.uni-freiburg.de
URL: http://www.westermayer.de/till/offiziell.html
Westermayer, Till (2005). Rezension zu: Stefan Böschen & Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.) (2003). Wissenschaft in der Wissensgesellschaft [29 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(2), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0502154.