Volume 6, No. 1, Art. 46 – Januar 2005
Sekundäranalyse qualitativer Interviews. Verwendung von Kodierungen der Primärstudie am Beispiel einer Untersuchung des Arbeitsprozesswissens junger Facharbeiter
Irena Medjedovic & Andreas Witzel
Abstract: Trotz der Möglichkeiten, die eine Sekundäranalyse qualitativer Daten bietet, wird diese Methode mit bedenklichem Blick auf viele methodische und forschungsethische Probleme versehen sowie aufgrund mangelhafter Zugänglichkeit und Aufbereitung der Primärdaten in Deutschland wenig angewendet. Die vorherrschende Skepsis gegenüber Sekundäranalysen hängt unseres Erachtens aber auch mit mangelnder praktischer Erfahrung zusammen.
Am Beispiel biographischer Interviewdaten einer Längsschnittstudie über die Biographiegestaltung des Übergangs junger Erwachsener von der Schule in den Beruf wollen wir daher zeigen, welche Chancen in der Nutzung von bereits vorhandenen Daten unter bestimmten methodologischen Bedingungen bestehen.
Die Nachfrage nach Daten für eine Sekundäranalyse beschränkt sich üblicherweise auf Originaldaten der Primärstudie. Auf Grundlage unserer Erfahrungen kann man jedoch auch Kodierungen und Kategorienschemata des EDV-gestützten Auswertungsverfahrens der Primärstudie nutzen. Darüber hinaus ist sogar eine eher induktive Vorgehensweise unter Einbeziehung theoretischer Konzepte der Primärstudie wie Typologien möglich. Wenn etwa Kategorienschemata die heuristische Funktion eines überdimensionalen "Karteikastens" mit breiten und nicht a priori theorielastigen Kategorien besitzen, muss deren Nutzung für die Sekundäranalyse nicht im Widerspruch zu einer eher offenen Kodierung im Prozess der Entwicklung von in-vivo-Kategorien stehen.
Keywords: Sekundäranalyse, Interview, EDV- gestützte Auswertungsverfahren, Panel-Daten, Kodierung, Kategorienschema, theoretisches Konzept, Typologie
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Anlass und Forschungsfragen der Sekundäranalyse
3. Untersuchungsansatz des Primärforschungsprojektes: A1 "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit"
4. Eignung der Daten für den Zweck der Sekundäranalyse
5. Nutzung der Kodierungen der Primärstudie
6. Nutzung theoretischer Konzepte der Primärstudie
7. Zentrale Ergebnisse der Sekundäranalyse
8. Fazit
Die zahlreichen Möglichkeiten und Chancen von Sekundäranalysen in den Sozialwissenschaften haben im Bereich quantitativer Methoden bereits eine längere Tradition (vgl. z.B. MOCHMANN 1968) als in der scientific community qualitativ arbeitender Sozialforscher, die vielfach Vorbehalte und Skeptizismus gegenüber dieser Methode formuliert. Diese Einschätzung wird von neueren Daten (vgl. den Beitrag von MAUER & OPITZ in dieser FQS-Schwerpunktausgabe) bestätigt, die zeigen, dass selbst die wenigen Nutzer in Deutschland oft Probleme mit der Durchführung qualitativer Sekundäranalysen hatten, etwa mit der fehlenden Nachvollziehbarkeit des Forschungskontextes, der mangelnden Aufbereitung der Daten sowie deren Unvollständigkeit. Ein weiterer Befund dokumentiert eine eher seltene Nutzung von Sekundäranalysen, sodass man den Schluss ziehen kann, dass sich die Situation in Deutschland weniger als geglaubt von derjenigen in Großbritannien unterscheidet, wo eine vergleichsweise breitere Anwendung qualitativer Methoden durchgesetzt ist. So entdeckt THOMPSON (2000, S.3) einen "silent space" hinsichtlich der Durchführung von Sekundäranalysen und methodischer Anleitungen (mittels qualitativer Methodenhandbücher) zur Wiederverwendung qualitativer Daten, die von anderen Forschern produziert wurden. [1]
Um der beschriebenen Skepsis zu entgegnen, die auch in einem Mangel an methodologischen Erfahrungen mit qualitativ orientierten Sekundäranalysen begründet zu sein scheint, sehen wir – wie auch andere Autoren und Autorinnen in dieser Ausgabe – es als sinnvoll an, die Durchführbarkeit und Nützlichkeit einer Sekundäranalyse an einem konkreten Beispiel aus unserer Forschungspraxis aufzuzeigen. Es handelt sich um die sekundäranalytische Untersuchung einer spezifischen, thematisch eingegrenzten Fragestellung auf der Basis eigener Primärdaten.1) [2]
2. Anlass und Forschungsfragen der Sekundäranalyse
Der Ausgangspunkt unserer Sekundäranalyse ist möglicherweise typisch: Resultate bzw. Veröffentlichungen eines Forschungsprojektes werden von der scientific community zur Kenntnis genommen und auf eigene theoretische Zugänge oder empirische Daten hin diskutiert. Es werden Tagungen zu thematisch entsprechenden Themenstellungen organisiert und die Veranstalter oder die eingeladenen Projekte entwickeln Ideen für eine Zusammenführung neuerer Projekte unter eine gemeinsame Fragestellung. So war es in unserem Falle nahe liegend, dass anlässlich einer Tagung zu neuen Konzepten des Wissenserwerbs von Facharbeitern2) die Frage an das A1-Projekt "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit" des Sfb 1863) gestellt wurde, ob nicht angesichts umfangreicher Untersuchungen zur Gestaltung der Berufsbiographie junger Facharbeiter ein Beitrag zur Tagungsthematik möglich sei. Es stellte sich heraus, dass es sich insbesondere unter der Perspektive eines späteren Buchbeitrags als lohnend erwies, die Datengrundlage des Projektes für mögliche neue, empirisch begründete Erkenntnisse zum Thema Arbeitsprozesswissen zu überprüfen. Daraufhin beschlossen die Autoren einen sekundäranalytischen Beitrag (HEINZ, KÜHN & WITZEL 2005) auf der Grundlage o.g. Projektdaten für das in diesem Jahr erscheinende Buch (FISCHER, BOREHAM & NYHAN 2005)4) über den europäischen Forschungsstand zum theoretischen Konzept "Arbeitsprozesswissen" durchzuführen. [3]
Konzept des Arbeitsprozesswissens
Ausgangspunkt zu aktuellen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zum Thema Arbeitsprozesswissen war die Frage, ob nicht die Globalisierungstendenzen und damit einhergehende Konkurrenzanforderungen neue Formen der Arbeit hervorgebracht haben, die sich durch verstärkte Wissensintensität auszeichnen. Das Forschungsinteresse gilt diesen Formen des Wissens, das nicht nur auf Fertigkeiten in Zusammenhang tayloristischer Arbeitsvollzüge begrenzt bleibt, sondern sich in einem weiteren Sinne auf den gesamten Arbeitsprozess bezieht. Unternehmer sind an solchen Wissensformen interessiert, weil sie sich von ihnen einen flexibleren Einsatz von Arbeit und eine Verbesserung von Kompetenzen erwarten. [4]
Arbeitsprozesswissen wird als eine "Form des Wissens, das die praktische Arbeit anleitet" (RAUNER 2002, S. 25) definiert. Seine Grundlagen bestehen im praktischen oder Handlungswissen auf der einen Seite und dem theoretischen oder wissenschaftlichen Wissen auf der anderen. Die integrierte Form oder die Schnittmenge beider Wissensformen wird als facharbeitertypisches Wissen postuliert (vgl. FISCHER 2005). Eine zentrale Frage besteht darin, wie diese Wissensformen durch das Verstehen und Nachvollziehen des Arbeitsprozesses in seiner Ganzheit erlernt wird. Es wird ein dialektischer Lernprozess des Lösens von Widersprüchen zwischen den Wissensformen angenommen, z.B. zwischen wissenschaftlichem Grundwissen aus dem Schulunterricht oder Kenntnisse aus schriftlichen Handlungsanweisungen auf der einen Seite und auf unmittelbaren Erfahrungen basierenden praktischen Wissensbeständen wie Geschick beim Umgang mit einer Maschine oder Kenntnisse von Nutzergewohnheiten auf der anderen Seite. [5]
Forschungsfragen der Sekundäranalyse
Die Grundidee für die Durchführung unserer Sekundäranalyse bestand in der Annahme, dass Lernen für berufliche Zwecke nicht nur als konkreter schulischer und beruflicher Kompetenzerwerb zu verstehen ist, sondern auch abhängig ist vom berufsbiographischen Prozess der Entwicklung individueller beruflicher Ansprüche und Karrierevorstellungen in Auseinandersetzung mit förderlichen und hinderlichen Bedingungen von Karrierewegen. Die bisherigen Erkenntnisse über das Arbeitsprozesswissen klammerten diesen Aspekt aus. [6]
Die Primärstudie eignete sich thematisch für das Ausfüllen dieser Erkenntnislücke, da sie sich mit den Übergängen in die Erwerbstätigkeit befasste, die unter dem Gesichtspunkt biographischer Leistungen betrachtet wurden. Es wurden individuelle berufsbiographische Orientierungs-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse in unterschiedlichen Berufseinmündungen und unter sich ändernden gesellschaftlichen Anforderungen samt ihren Konsequenzen für die weitere Gestaltung der Berufsbiographie untersucht. Sie wurden zugleich auch als Resultat von Verarbeitungsprozessen schulischer und beruflicher Erfahrungen und Handlungsfolgen betrachtet, d.h. als Folgen von Selbstsozialisationsprozessen, in denen biographische Ziele, Interessen und Motivationen bezogen auf das Lernen und die Arbeit entwickelt und modifiziert werden. Wir gingen davon aus, dass Lebenslauferfahrungen nicht nur das Erlernen des Arbeitsprozesswissens beeinflussen, sondern dass das zu untersuchende Arbeitsprozesswissen in ein "Karriereprozesslernen" eingebettet ist. In einer groben Durchsicht der Primärdaten fanden wir erste empirische Hinweise auf die Stimmigkeit dieser These. [7]
Folglich ergaben sich für die Sekundäranalyse zwei Fragen:
Wie ist das Arbeitsprozesswissen von Facharbeitern beschaffen?
Welche Rolle spielt der biographische Kontext für das Arbeitsprozesswissen? [8]
Von der methodischen Seite her betrachtet bestand die sekundäranalytische Zielsetzung somit darin, bereits existierende Daten von einem neuen Blickwinkel aus zu betrachten, um ein Konzept zu untersuchen bzw. zu prüfen, welches in der Originalforschungsarbeit nicht zentral war.5) [9]
Im Folgenden wird zunächst kurz die Primärstudie vorgestellt, um dann deren Eignung für die konkrete Sekundäranalyse zu analysieren. [10]
3. Untersuchungsansatz des Primärforschungsprojektes: A1 "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit"
Von Beginn an hat das Projekt seine Untersuchungsfragen mit quantitativen und qualitativen Verfahren und Daten zu beantworten gesucht. Aus diesem Grund wurden zwei Teilstudien durchgeführt, die beide als prospektive Längsschnitte angelegt sind. Für den vorliegenden Themenzusammenhang wird allerdings ein stärkeres Gewicht auf den qualitativen Untersuchungsteil gelegt. [11]
Folgende Leitfragen sollten auf der Basis einer Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren (vgl. HEINZ 1996) beantwortet werden: Zum einen die beruflichen Chancenstrukturen und Risikolagen auf zwei regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmärkten, die Verlaufs- und Übergangsmuster in die Berufsausbildung und in die Erwerbstätigkeit sowie die ersten Jahre der Erwerbstätigkeit; zum anderen das Handeln in Strukturen, d.h. – eher grundlagentheoretisch angelegt – die Handlungsstrategien junger Erwachsener bei der Realisierung der Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit und die Verarbeitung von beruflichen Plänen und Handlungsresultaten. [12]
Den Leitfragen entsprechend wurde als Untersuchungsdesign (vgl. Abbildung 1) der Panelansatz gewählt (vgl. MOENNICH & WITZEL 1994, HEINZ et al. 1998). Die Stichprobe enthielt eine Kombination verschiedener Kriterien wie Arbeitsmarktchancen, häufigste duale Ausbildungsberufe und Geschlechteranteil. Untersucht wurden Angehörige von sechs Ausbildungsberufen (Kfz-Mechaniker, Maschinenschlosser, Friseurinnen – und wenige Friseure – sowie Bank-, Büro- und Einzelhandelskaufleute), die 1989/90 ihre berufliche Ausbildung in den Arbeitsmarktregionen Bremen und München abgeschlossen hatten.
Abb.1: Erhebungsdesign des Projektes "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit" (aus WITZEL 2004, S.46) [13]
Der quantitative Untersuchungsteil ("Makro-Panel") umfasst vier Fragebogenerhebungen: Erste Welle 1989 mit ca. 2.200 Befragten (Totalerhebung in Bremen) bis zur vierten Welle 1997/98 mit 989 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Im qualitativen Untersuchungsteil ("Mikro-Panel") wurden mit dem Verfahren des "problemzentrierten Interviews" (WITZEL 1982, 1996, 2000) drei Wellen (1989, 1991/2 und 1994, mit 91 Interviews über alle drei Wellen) erhoben. [14]
Die standardisierten Befragungen dienten in erster Linie der Erhebung soziodemografischer Informationen sowie der Entwicklung von Erwerbs- und Berufskarrieren aus ganz verschiedenen Blickwinkeln. Mit Daten zum beruflichen Verlauf konnten etwa Fragen der beruflichen Kontinuität unter dem Aspekt des Verbleibs im Ausbildungsberuf betrachtet werden. Es wurde untersucht, in welchem Maße die Normalitätsunterstellung einer durchgehenden Vollerwerbstätigkeit Gültigkeit hat und welche Unterbrechungsformen und -muster, z.B. Arbeitslosigkeit oder Familiengründung, zu beobachten sind. Weiterhin wurden Verlaufsmuster im gesamten achtjährigen Erwerbsverlauf identifiziert (SCHAEPER, KÜHN & WITZEL 2000; MOWITZ-LAMBERT, HEINZ & WITZEL 2001). Mit der vierten Welle wurde das Erhebungsinstrument um Skalen zur Erfassung von Arbeits-, Berufs-, Weiterbildungs-, Geschlechtsrollen- und Familienorientierungen erweitert (vgl. SCHAEPER & WITZEL 2001). [15]
Die qualitativen Interviews richteten ihren Fokus auf die Binnenperspektive der Akteure – also auf die individuellen Ansprüche, Realisierungsbemühungen und Bewertungen im Rahmen der Gestaltung der über achtjährigen Berufsbiographie durch die Ausbildungsabsolventinnen und -absolventen. In diesem qualitativen Teil der Untersuchung standen – neben der Kombination der qualitativen und quantitativen Daten –, die Entwicklung der Typologie "berufsbiographischer Gestaltungsmodi" (vgl. WITZEL & KÜHN 2000) und die Frage des Verhältnisses von Familie und Beruf (vgl. WITZEL & KÜHN 2001) im Mittelpunkt des Interesses. [16]
4. Eignung der Daten für den Zweck der Sekundäranalyse
Für die Beantwortung der Frage, ob die Daten der Primärstudie für die Zwecke der Sekundäranalyse überhaupt geeignet sind, lassen sich diverse Kriterien der Kompatibilität von Daten für Sekundäranalysen ausmachen (vgl. hierzu THORNE 1994; HINDS, VOGEL & CLARKE-STEFFEN 1997; HEATON 1998), die wir im Folgenden anwenden. Am wichtigsten ist wohl zu prüfen, ob die Fragestellung der Sekundäranalyse überhaupt durch die Originaldaten abgedeckt wird. [17]
Passung der Stichprobe und Fragestellung
Die Primärstudie beschäftigte sich mit der Biographiegestaltung und den typischen Verlaufsformen des Übergangs junger Erwachsener aus der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit sowie in den ersten Jahren der Erwerbstätigkeit. Dabei beziehen sich die Daten auf die häufigsten und typischsten Ausbildungsberufe unter günstigen und weniger günstigen Arbeitsmarktbedingungen. Da auch der Gender-Aspekt ausreichend berücksichtigt ist, konnte von einer Datengrundlage ausgegangen werden, die eine Gewähr für eine ausreichende Variationsbreite der Daten für die Sekundäranalyse bietet. [18]
Die eher breit und grundlagentheoretisch angelegte Forschungsfrage der Biographiegestaltung der Akteure mit Bezug auf deren individuelle Orientierungen und Handlungen sprach für einen reichhaltigen Datenfundus, der sich nicht auf nur einzelne, wenige thematische Aspekte beschränkt. [19]
Die Schilderungen der Befragten über ihre Ausbildungs- und Arbeitserfahrungen schlossen Beschreibungen und Bewertungen des Kompetenzerwerbs für die Beantwortung der Frage nach dem Arbeitsprozesslernen ein. Die Aussagen über ihre Anspruchshaltung im Lebenslauf und die Reflexionen über berufliche Perspektiven bildeten die Datengrundlage für Analysen des biographischen Kontextes und seines Bezugs zum Arbeitsprozesswissen. [20]
Passung der Methoden
Die Primärstudie nutzte "problemzentrierte Interviews" (WITZEL, 1982, 1989, 2000) zur Erhebung, die dialogische mit narrativen Techniken kombiniert. Das flexible Verfahren beansprucht einerseits Vorwissen und Vorinterpretationen im Interview für fruchtbare Nachfragen zu nutzen und andererseits mit seinen Kommunikationsstrategien die Gefahr zu vermindern, dass die thematischen Interessen und Vorurteile des Interviewenden die Sicht des Befragten überlagern. Es verschafft den Befragten vielmehr Raum und Unterstützung für die Rekonstruktion ihrer subjektiven Sichtweise sowie Gelegenheiten für die Korrektur von Missverständnissen des Interviewenden. Von der Interviewtechnik her betrachtet lassen sich damit valide Aussagen über individuelle Lernprozesse erwarten. [21]
Der Längsschnittansatz mit den drei Erhebungswellen ermöglicht das Erforschen von Prozessen des Lernens in Arbeit und Karriere, d.h. bietet die Möglichkeit, unsere Ausgangsthese der Sekundäranalyse – das Arbeitsprozesswissen junger Erwachsener ist in ein Karriereprozesslernen eingebettet – zu überprüfen. [22]
Die Primärstudie lehnt sich an den Ansatz der "Grounded Theory" (GLASER & STRAUSS 1998) und den von STRAUSS und CORBIN (1996) vorgeschlagenen Kodierverfahren an. Dementsprechend wurde den erhobenen Daten keine Theorie "übergestülpt", sodass Elemente aus verschiedenen Phasen des Auswertungsprozesses zur Sekundäranalyse genutzt werden können. Dieser Aspekt wird in Abschnitt 5 näher erläutert. [23]
Datengrundlage und Datendokumentation
Die Daten des Projektes sind aufgrund ihrer Digitalisierung und der Einbindung der großen Datenmenge von n=273 Interviewtranskripten mit mehr als 770 000 Textzeilen in eine digitale Textdatenbank6) leicht verfügbar und wieder verwendbar. [24]
Die Frage nach hilfreichen Mitteln für die Wiederverwendung vorhandener Daten stellt sich nicht erst bei einer Sekundärnutzung sondern im Prinzip bereits während der Untersuchung selbst, denn ein geordneter Zugang zu den Daten ist eine zentrale Voraussetzung für die kontinuierliche Auswertungsarbeit für jedes Mitglied eines Forschungsteams. Nur durch ständige Reanalysen können ideenreiche Interpretationen ermöglicht und die Validität der Aussagen gesichert werden. Darüber hinaus gibt es noch weitere Gründe, sich um ein systematisches Wiederfindungssystem zu kümmern: das Zeitfenster des Panelansatzes, das Problem eines möglichen Personalwechsels im Forschungsteam (etwa aufgrund der spezifischen Karrierebedingungen an der Universität) und die Verwendung der Daten für Qualifikationsarbeiten auch nach der Laufzeit eines Projektes. [25]
Über die Sicherung des Zugangs zu den Originaldaten durch eine Textdatenbank hinaus existiert eine Projektdokumentation, in der die wesentlichen Informationen über das Forschungsprojekt zusammengefasst sind. Sie enthält auch die Definitionen der Textdatenbankkodes und die komplette Veröffentlichungsliste zum Projekt. [26]
Im folgenden Abschnitt soll nunmehr verdeutlicht werden, dass für eine Sekundäranalyse nicht nur die Originaldaten der Primärstudie, sondern auch Kodierungen verwendbar sind. [27]
5. Nutzung der Kodierungen der Primärstudie
Im Allgemeinen ist die Nachfrage nach Daten zur Sekundärnutzung überwiegend auf Rohdaten beschränkt, statt auch existierende Kodierungen in die Nutzung einzubeziehen (vgl. z.B. den Hinweis von FIELDING 2000, Abs. 28). Das weithin herrschende Vorurteil, die Verwendung eines Kodier- und Kategoriensystems der Primärstudie würde einer eher induktiven Analyse7) von Originaldaten widersprechen, lässt sich u.M.n. auf eine Gleichsetzung von Anwendungsprogrammen der qualitativen Datenanalyse (QDA) mit einer deduktiven Vorgehensweise bei der Datenanalyse zurück führen. Dies mag auch mit dem üblicherweise verwendeten Begriff "Textanalyseprogramm" zusammenhängen, der die Vorstellung weckt, dass das Programm analytische Kategorien enthielte, deren Anwendungsroutine dann bereits die fertigen Interpretationsergebnisse liefere. Daher soll im Folgenden der Nutzen eines QDA-Programms erläutert werden (vgl. ausführlich KÜHN & WITZEL 2000). [28]
Das jeweilige Textanalyseprogramm ist insofern zunächst ein Textverwaltungsprogramm als es die digitalen Daten des jeweiligen Projekts enthält, d.h. sie systematisch verfügbar macht. Das "Analytische" an dem Programm bezieht sich darüber hinaus auf eine Systematik, die flexible und komplexe Zugriffsmöglichkeiten auf einzelne oder mehrere Textpassagen eröffnet. Diese Funktion soll die Auswertung qualitativer Interviewdaten darin unterstützen, Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verbindungen zwischen den Inhalten in verschiedenen Textpassagen zu finden. [29]
Hat man wenigstens n=20, ca. 40 DIN A4-Seiten lange, offen geführte Interviews zu analysieren, verliert man rasch den Überblick. Also muss der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin ein organisierendes Schema entwickeln, wie es ein Kategorien- oder Kodesystem leistet. In früheren Zeiten wurde eine Projektdatenbank aufgebaut, indem man Textstellen aus Interviewtextkopien ausschnitt, thematisch sortierte und auf Karteikarten mit Kodes klebte. Diese umständliche Methode zur Erstellung eines Karteisystems nannte man plastisch "cut and paste-Methode". Heute dient der Computer nicht nur zur Erleichterung dieser Aufgabe, sondern ermöglicht überhaupt erst Analysen auf der Basis größerer Stichproben und Interviewlängen. [30]
Das QDA-Programm analysiert also keine Textstellen, sondern erlaubt mit seinen Kategorien oder Kodes den für eine Analyse notwendigen zielgenauen und schnellen Zugriff auf thematisch relevante Textstellen. Dies tut es in Form einer Retrievalfunktion, die alle gängigen computergestützten Textanalysesysteme gewährleisten: horizontale Retrievals erfassen Textsequenzen in einzelnen Interviews, vertikale Retrievals suchen Textsequenzen über mehrere oder alle Interviews hinweg. Dabei können auch unterschiedliche Kodekombinationen gemäß der Bool'schen Logik angewandt oder – um in dem Bild des Karteisystems zu bleiben – beliebige Kombinationen von Karten mit Einzelaussagen bzw. Textsequenzen aus einem überdimensionalen Karteikasten gebildet werden. [31]
Für diese Anwendung eines QDA-Programms ist die Zuordnung bzw. Indizierung der vollständig transkribierten Interviewtexte zu Kategorien oder Kodes notwendig. Dabei ist es sicherlich möglich, ein Kategoriensystem zu verwenden, das ex-ante aus vorhandenen Theorien abgeleitet worden ist. Ebenso ist aber auch eine Vorgehensweise der Vermeidung theoretischer Vorgriffe und Einengungen angelehnt an die Tradition der Grounded Theory (vgl. GLASER & STRAUSS 1967) möglich, wenn das Kodesystem die heuristische Funktion eines "Containers" (RICHARDS & RICHARDS 1995) besitzt. Dieser Karteikasten oder Container sammelt Textstellen mit Hilfe theoriearmer und großflächiger Begriffe, die aus Themen des Leitfadens oder aus der Sichtung der Interviewtexte entwickelt wurden und im Laufe des Kodierprozesses modifiziert werden können. Diese Kodes sind also nicht als Kategorien zu verstehen, die am Ende eines Auswertungsprozesses stehen, sondern als thematische Sammelkategorien, die in jeder Phase des Auswertungsprozesses Hilfestellung bei der Suche nach geeignetem Datenmaterial für die weiteren Analysen und damit verbundenen theoretischen Begriffsbildungen bieten. Gerade die Vorgehensweise der Grounded Theory verlangt im fortschreitenden Erkenntnisprozess ständige Reanalysen mit einem Zugriff auf die Originaldaten, die durchaus Ähnlichkeit mit der Vorgehensweise einer Sekundäranalyse haben. [32]
Um die sekundäranalytische Nutzung der mit dem QDA-Programm erfassten Daten der Primärstudie8) darzustellen, erläutern wir zunächst das dazugehörige Kategoriensystem. [33]
Das Kodesystem der Primärstudie
Das Kodesystem der Primärstudie besteht aus drei Teilen, die im Folgenden zunächst im Überblick dargestellt werden (Abbildung 2). Es folgen die Fallmerkmale9) der Interviews (vgl. Abbildung 3) und die thematischen (vgl. Abbildungen 4 und 5) sowie die zeitlich-biographischen Kodes, die wir im nächsten Abschnitt genauer diskutieren.
Zeitlich-biographisch ordnende Kodes |
1 Chronologie ab Berufsausbildung |
1 1 Station 1 |
1 1 1 Station 1: Aspiration |
1 1 2 Station 1: Realisierung |
1 1 3 Station 1: Bilanzierung |
1 1 4 Station 1: Information |
1 2 Station 2 |
1 2 1 Station 2: Aspiration |
1 2 2 Station 2: Realisierung ... |
2 Vorgeschichte |
2 1 Studium |
2 2 Schule |
2 3 Beruf |
3 Verworfene und gescheiterte Optionen |
4 Berufliche Zukunftsperspektiven |
4 1 Studium |
4 2 Schule |
4 3 Beruf |
Thematisch ordnende Kodes |
5 Arbeit und Beruf |
5 1 Arbeitsinhalt |
5 2 Einkommen |
5 3 Betrieb |
5 4 Berufliche Entwicklungsmöglichkeiten |
5 5 Leistung |
5 6 Kompetenzerwerb |
5 7 Arbeitszeit |
6 Soziales Netzwerk |
7 Familie und Partnerschaft |
7 1 Herkunftsfamilie |
7 2 PartnerIn |
7 3 Heirat |
7 4 partnerschaftliche Arbeitsteilung |
7 5 Wohnen |
7 6 Partnerschaft |
7 7 Kinder / Familiengründung |
8 Übergreifende Orientierungen / Einstellungen |
8 1 allgemeine Lebensvorstellungen |
8 2 Selbstthematisierung |
8 3 Gesamtbilanz |
8 4 geschlechtsspezifische Äußerungen |
9 Freizeit |
Abb. 2: Überblick über das Kodesystem (aus KÜHN & WITZEL 2000, Anhang 1) [34]
Die folgenden Abbildungen verweisen auf das Kodesystem der Fallmerkmale und der thematischen Kodes.
30 Fallmerkmale |
30 1 Interviewphase |
30 1 1 Erstinterview |
30 1 2 Zweitinterview |
30 1 3 Drittinterview |
30 2 Region |
30 2 1 Bremen |
30 2 2 München |
30 3 Ausbildungsberuf |
30 3 1 Bankkauffrau/-mann |
30 3 2 Bürokauffrau/-mann |
30 3 3 Maschinenschlosser |
30 3 4 KraftfahrzeugmachanikerIn |
30 3 5 FriseurIn |
30 3 6 Einzelhandelskauffrau/-mann |
30 4 Geschlecht |
30 4 1 männlich |
30 4 2 weiblich |
30 5 Schulabschluss |
30 5 1 Hauptschule |
30 5 2 Erweiterter und qualifizierter Hauptschulabschluss |
30 5 3 Mittlere Reife |
30 5 4 Handels- und Wirtschaftsschule |
30 5 5 Fachoberschule |
30 5 6 Abitur |
30 5 7 Kein Schulabschluss |
30 5 8 Sonstiges |
Abb. 3: Ausschnitt aus dem Kodeschema "Fallmerkmale" (aus KÜHN & WITZEL 2000, Anhang 1) [35]
Thematisch ordnende Kodes
... |
5 Arbeit und Beruf |
5 1 Arbeitsinhalt |
5 2 Einkommen |
5 3 Betrieb |
5 4 Berufliche Entwicklungsmöglichkeiten |
5 5 Leistung |
5 6 Kompetenzerwerb |
5 7 Arbeitszeit |
6 Soziales Netzwerk |
7 Familie und Partnerschaft |
7 1 Herkunftsfamilie |
7 2 PartnerIn |
7 3 Heirat |
7 4 partnerschaftliche Arbeitsteilung |
7 5 Wohnen |
7 6 Partnerschaft |
7 7 Kinder / Familiengründung |
Abb. 4: Auszug aus dem Kategoriensystem des Primärprojekts [36]
Jeder Kode besitzt eine Kennziffer. Die Kategorie Einkommen hat z.B. die Kennziffer 5/2. Diese Ziffer gibt Auskunft über die Stellung der einzelnen Kodes im System. Beispielsweise gehören die Kodes "Arbeitsinhalt", "Einkommen", "Betrieb" zum Themengebiet "Arbeit und Beruf", die Kodes "Herkunftsfamilie" und "PartnerIn" zum Themengebiet "Familie und Partnerschaft". [37]
Die Dokumentation des Kategoriensystems mit den Definitionen der einzelnen Kodes ist für die Sekundäranalyse unabdingbar. Sie ist die Grundlage sowohl für eine Sichtung der Daten für die Bewertung der Brauchbarkeit der Daten für die Sekundäranalyse als auch für die Unterstützung von Suchprozessen nach geeigneten empirischen Belegen in der eigentlichen Sekundäranalyse. Exemplarisch listen wir an dieser Stelle die Definitionen für das Oberthema "Arbeit und Beruf" auf.
5/1 Arbeit und Beruf – Arbeitsinhalt |
Äußerungen, in denen der Interviewpartner seine Tätigkeit schildert, mitteilt, welche Aufgaben er an seinem Arbeitsplatz zu erledigen hat. Dazu gehören Aussagen zur Bedeutung von Arbeit, Interessen, Vorlieben, Abneigungen, Bilanzierungen der Arbeitsinhalte. |
5/2 Arbeit und Beruf – Einkommen |
Äußerungen, die sich sowohl auf das eigene Einkommen als auch auf allgemeine Einkommenssituationen zum Beispiel im Beruf oder Betrieb beziehen. Erfasst werden hier auch Gesprächspassagen über finanzielle Unterstützungsleistungen (z.B. BaföG oder von den Eltern), Zuschüsse, Haushaltsgeld, Finanzierungs- oder Kostenprobleme. |
5/3 Arbeit und Beruf – Betrieb |
Äußerungen zum Betrieb als Organisation. Es geht hier um die Bedingungsstruktur des Betriebes. Dabei werden erfasst: Äußerungen zum Betriebsklima, in denen der Befragte die Qualität der sozialen Beziehungen bzw. der Arbeitsbeziehungen thematisiert. Vergleiche zwischen Betrieben, Äußerungen zum Chef als Gatekeeper, Äußerungen zur Bewerbungssituation um einen Ausbildungsplatz und zur Übernahmeproblematik, Zuständigkeiten (z.B. "was darf ich"), Stellung in der betrieblichen Hierarchie, Qualität der Ausbildung. |
5/4 Arbeit und Beruf – Entwicklungsmöglichkeiten |
Äußerungen, in denen die berufliche Entwicklung thematisiert wird. Dazu gehören: Äußerungen über Möglichkeiten im Beruf, in der Schule und in der Weiterbildung, z.B. bezüglich von Aufstiegen, zur Arbeitsplatzsicherheit, Einschätzungen der konkreten und allgemeinen Arbeitsmarktsituation, Bezüge auf Unterstützungsleistungen des Arbeitsamts. Bezogen auf das, was angestrebt bzw. erwogen wird/wurde, nicht auf den Status, in dem sich der Befragte befindet, wird unterschieden nach Studium (5/4/1), Schule (5/4/2), Beruf und Sonstiges (5/4/3). |
5/5 Arbeit und Beruf – Leistung |
Äußerungen, die sich auf Leistung im betrieblichen und beruflichen Kontext beziehen. Dazu gehören: die Wahrnehmung von Leistungserwartungen an sich (Äußerungen wie (zu) locker, nicht ausgefüllt, Stress, Leistungsdruck), das Maß an Leistungsbereitschaft und die Begründung dafür (z.B. Aufstiegsorientierung, Geldorientierung, Pflichtgefühl, Spaß am Arbeiten, Selbstbestätigung durch Erfolg, soziale Anerkennung ...), die Einstellung zu beruflicher Leistung und damit verknüpften Prinzipien wie dem Leistungsprinzip, Einschätzung eigener Leistung, Erklärung eigener Leistungen (z.B. Begabung). |
5/6 Arbeit und Beruf – Kompetenzerwerb |
Äußerungen, die sich explizit auf den Erwerb von Kompetenzen und Qualifikationen im und für den Beruf beziehen, im Rahmen von Weiterbildung, Schule (zum Erwerb formaler Abschlüsse), Studium, Beruf. Dazu gehören Gesprächspassagen, in denen Fragen wie "was haben Sie gelernt?" diskutiert und Hindernisse oder Hilfen dabei erörtert werden. |
5/7 Arbeit und Beruf – Arbeitszeit |
Interviewpassagen, die sich auf die zeitliche Organisation der Erwerbsarbeit beziehen; auch Urlaubsregelungen, Zeitinformationen zur Anreise an den Arbeitsplatz. |
Abb. 5: Definition der Kategorien zum Thema "Arbeit und Beruf" (aus KÜHN & WITZEL 2000, Abs. 51) [38]
Bei den zeitlich-biographischen Kodes wurde auf ein, im Laufe der Projektarbeit entwickeltes "ARB-Modell" (WITZEL & KÜHN 2000) zurückgegriffen, das drei Elemente, nämlich Aspirationen (A), Realisationen (R) und Bilanzierungen (B) bezeichnet. Es dient – wie die anderen Kodes zuvor – dem Sammeln und Sortieren der in den qualitativen Interviewtexten identifizierten Handlungen, deren Begründungen und der subjektiven Verarbeitung von Handlungsresultaten. Der Kode "Aspirationen" beispielsweise entspricht also – wie auch die beiden anderen Modellelemente – nicht einem theoretisch festgelegten Begriff, sondern erfasst in offener Weise Handlungsbegründungen, mit denen sich in der späteren Auswertungen berufsbezogene Interessen, Motive, Handlungsentwürfe oder gar Planungen rekonstruieren lassen. [39]
Mit "Realisationen" werden Aussagen über konkrete Handlungsschritte zur Umsetzung der Aspirationen erfasst. Die Akteure richten bei der Bewältigung der Statuspassagen und Karriereanforderungen ihr Augenmerk auf Chancen, die sie zu realisieren, und auf Restriktionen, die sie zu umgehen versuchen. [40]
"Bilanzierungen" meinen die individuellen Bewertungen von Entscheidungs-, Handlungsfolgen und Kontexterfahrungen in Bezug auf einzelne biographische Stationen. Die individuellen Resümees enthalten die Sinnzuschreibungen der bereits erfolgten Handlungen, die auf Formen der Verarbeitung von Passagenerfahrungen und der Aufrechterhaltung von biographischer Identität verweisen. Die Bilanzierungen enthalten nicht nur retrospektive, sondern auch prospektive Reflexionsanteile, die Neubewertungen von Zielen, Erwartungen und Plänen zur Folge haben. [41]
Wie in der Abbildung 2 zu erkennen ist, werden die Kodes A, R, B unterschiedlichen Lebenslaufstationen zugeordnet, die das Individuum auf der Zeitachse der Partizipation in verschiedenen Institutionen und Organisationen durchläuft: Lehrstelle, Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzwechsel, Wehr-/Zivildienst, berufliche Umschulung, Fachhochschule etc.. Dadurch wird es möglich, das Handeln von Individuen in Zusammenhang mit institutionellen Kontexten zu analysieren. Diese Zuordnung ist auch für die Sekundäranalyse bedeutsam, weil damit Lernansprüche, Lernanforderungen in spezifischen betrieblichen und schulischen Kontexten und deren Bewertungen unterschieden werden können. [42]
Nutzung der Retrievalfunktion für die Sekundäranalyse
Auf der Grundlage des dargestellten Kategoriensystems können nun einzelne Kodes ausgewählt werden und mithilfe des QDA-Programms (in diesem Fall NUD.IST) so genannte Retrievals erstellt werden. Das folgende Beispiel (Abbildung 6) steht für den Auszug aus einem horizontalen, d.h. fallbezogenen Retrieval des Codes 5.3 "Arbeit und Beruf – Betrieb" für den Fall Martin Kfz (Kfz-Mechaniker), das Auskunft über eine Variante des Arbeitsprozesswissens geben soll.
Q.S.R. NUD.IST Power version, revision 4.0. |
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PROJECT: A1, User A1, 14:44, 10 Aug, 2004. |
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691 A: |
692 Ja, in der Ausbildung, meiner Meinung nach schon. In der |
693 Lehre. Ich hab' also bei der Y gelernt, und da ham wir eine |
694 sehr gute Ausbildung gehabt, weil wir waren eigentlich nie |
695 im, ja, sagen wir mal, im Alltagsbetrieb drin, sondern wir |
696 haben, haben also nie produktiv arbeiten müssen während der |
697 3 Jahre Lehre, sondern wir waren 10 Lehrlinge pro Lehrjahr, |
698 hatten also immer einen Ausbilder, und dann wurde eine |
699 Woche, also teilweise im 2-Wochen-Block, nur Theorie |
700 gemacht im Unterrichtsraum und dann zu diesem Thema, das |
701 wir da behandelt haben, wurden dann in einer Woche das |
702 Thema praktisch am Auto gemacht. Also, ham wir, im |
703 Unterricht ham wir besprochen Motorüberholung, und dann hat |
704 der Ausbilder ein Y-auto organisiert, wo das jetzt fällig |
705 war, und dann ham wir sofort die Woche drauf so 'n Auto |
706 bekommen und ham das dann theoretisch, was wir theoretisch |
707 gelernt ham, praktisch gemacht, haben den Motor zerlegt, |
708 dann wurde nochmal drauf hingewiesen, das war, ham wir da |
709 so und so besprochen, also schaut's, des schaut so und so |
710 aus, und des müßt so und so machen. Und wenn ich des über |
711 die ganzen Bereiche und natürlich jetzt momentan verstärkt |
712 auf den Elektronikbereich mach', dann wär's wahrscheinlich |
713 'ne optimale Ausbildung. Und wenn ich jetzt des anschau', |
… |
Abb. 6: Retrieval Martin Kfz [43]
Der Befragte Martin Kfz spricht hier über Lernerfahrungen aus seiner Ausbildungszeit und bewertet in diesem Zusammenhang (fett gedruckt) die Kombination von theoretischem und praktischem Lernen positiv. Er erläutert diese Einschätzung an der Aufteilung der Ausbildung in zweiwöchige Blöcke, in denen nicht nur abwechselnd Theorie und Praxis gelehrt, sondern ein enger Bezug beider Seiten aufeinander hergestellt wurde: Nach dem theoretischen Unterricht folgte die praktische Umsetzung des Gelernten an einem Fahrzeug mit einem gleichzeitigen Rückbezug auf die Theorie (Zeilen 708/709). Sowohl auf der Erfahrungsgrundlage von bereits erlernten Problembereichen als auch perspektivisch für den Elektronikbereich beurteilt Martin KfZ diese Kombination von theoretischem und praktischem Wissen als "optimale Ausbildung". [44]
Das ist nur ein Beispiel für ein mögliches Retrieval. Im folgenden Verlauf der Auswertung wird nach ähnlichen oder kontrastierenden Aussagen und Fällen (hinsichtlich der Forschungsfrage Arbeitsprozesswissen) gesucht, indem weitere Retrievals zu anderen relevanten Kodes gebildet werden. Im Folgenden wird das Retrieval auf der Grundlage des Codes 5.1 "Arbeit und Beruf – Arbeitsinhalte" (Abbildung 7) für den Fall Melissa F. (Friseurin) dargestellt und vom Blickwinkel des Nutzens für die Sekundäranalyse diskutiert.
Q.S.R. NUD.IST Power version, revision 4.0. |
Licensee: WP401028-105-95575. |
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PROJECT: A1, User A1, 11:59, 10 Aug, 2004. |
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(I 708) //Index Searches/Index Search895 |
*** Definition: |
Search for (INTERSECT (30 9 129) (5 1)). No restriction |
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794 schon sagen, is nich schlecht, aber es gehörte einiges |
795 verbessert an den Schulen, einiges. Grad so – im Praxis |
796 lernt man von den – Praxislehrern so, in der Arbeit kann |
797 man des nie anwenden, weil, da kann man eine Kundin |
798 drannehmen, dann is Schluß. Die Arbeit muß man mal ab und |
799 zu schneller arbeiten. Daß das natürlich nicht so exakt |
800 werden kann, is normal, wie in jedem andern Beruf. Aber da |
801 heißt's wieder, so soll man's machen (undeutlich), so |
802 jetzt, bei der Prüfung stehst dann da. G'lernt hastes so in |
803 der Arbeit, hast's so drin, aber von der Berufsschule her |
804 sollstes aso macha. Und dann sagen einem die Beruf..., die |
805 Prüfer, des is nix, obwohl du überall gut g'fahren bist |
806 damit und die Kunden zufrieden waren, is halt die |
807 Problematik da, und ich find', da sollen se lieber Praxis |
808 in der Schule weglassen und des dann von der Arbeit her |
809 machen. Daß da (undeutlich) in der Arbeit. Daß dann der |
… |
Abb. 7: Retrieval Melissa F. [45]
Im Zusammenhang mit ihren Lernerfahrungen in der Berufsschule und im Unterschied zum oben beschriebenen Fall dokumentiert die Friseurin Melissa F. ihre Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Theorie und Praxis (fett gedruckter Teil): Praxislehrer in der Berufsschule vermitteln Lehrinhalte, auf denen in der Prüfung auch beharrt wird, die mit den Erfordernissen am Arbeitsplatz nicht übereinstimmen. Die Lehrer halten Qualitätsmaßstäbe aufrecht, die einer unter Zeitdruck stehenden Arbeitsweise im Betrieb und der für sie erlernten Routine widersprechen. Selbst den praktisch orientierten Lehrinhalten haftet offensichtlich ein Gegensatz zur betrieblichen Praxis an, denen wir an dieser Stelle den Begriff "Theorie" zugeordnet haben. Die Bevorzugung des Routinelernens und die Ablehnung der schulischen Qualifikation begründet sie mit dem Erfolgskriterium der Kundenzufriedenheit trotz zeitlich verkürzter Arbeitsvollzüge, d.h. der Funktionalität des Lernens in der Praxis für die Vorgaben des Betriebes. Wir interpretieren diese beschriebenen Vorgaben als geschäftsdienliches Ideal einer Maximierung der Kundenzahl bei gleichzeitigem Achten auf einen zufrieden stellenden Kundendienst. Die entscheidende Qualifikation besteht also im Erwerb von Erfahrungswissen, das in der und für die Betriebspraxis und nicht in der Schule erworben wird. [46]
Die beiden Fälle stehen beispielhaft für das empirische Ergebnis zu zwei Formen des Arbeitsprozesswissens und damit für eine Teilantwort auf die erste Forschungsfrage nach der Beschaffenheit des Arbeitsprozesswissens. Zum einen bildet das Arbeitsprozesswissen eine Schnittmenge aus theoretischem und praktischem oder experimentellem Wissen (Martin Kfz). FISCHER (2005) berichtet über einen Befund der von BOREHAM u. a. (2002) zusammengefassten Ergebnisse europäischer Forschung, der genau dieser von uns gefundenen Variante entspricht. Es ist ein Arbeitsprozesswissen, das "meist im Arbeitsprozess selbst erworben (wird), durch Erfahrungslernen, aber die Verwendung fachtheoretischer Kenntnisse nicht aus(schließt)". Zum anderen enthält das Arbeitsprozesswissen einen Gegensatz von Theorie und Praxis (Melissa F), ein wohl neuer Befund, über den in der o. g. Veröffentlichung nicht berichtet wird. [47]
Die Retrievals dienen also dafür, im Auswertungsprozess auf der Stufe des offenen Kodierens Textstellen zur Qualifikationsthematik zu finden, sie nach dem Prinzip "maximaler und minimaler Kontrastierung" (GERHARDT 1986, S. 69) miteinander zu vergleichen, um letztlich noch weitere Varianten des Erwerbs von Arbeitsprozesswissen als die oben geschilderten entwickeln zu können. [48]
Bislang haben wir versucht, die Nutzung von offen kodierten Daten für unsere Sekundäranalyse zu erläutern. Unter bestimmten Bedingungen ist allerdings auch die sekundäranalytische Nutzung theoretischer Konzepte der Primärstudie möglich. Diese Form der Nutzung betrachten wir als geradezu notwendig, um die Einbettung der Varianten des Erwerbs von Arbeitsprozesswissen in den biographischen Kontext analysieren zu können. [49]
6. Nutzung theoretischer Konzepte der Primärstudie
Eine zentrale Vorbedingung für die Verwendung theoretischer Konzepte aus der Primärstudie für die Sekundäranalyse ist die Möglichkeit der Rekonstruktion des Prozesses der Theoriegenerierung, d.h. des Nachvollzugs der Gewinnung von Dimensionen und Kategorien aus der Empirie. Wie bereits im Zusammenhang mit dem offenen Kodieren gezeigt wurde, eignet sich die Vorgehensweise nach den Grundprinzipien der Grounded Theory für eine solche Rekonstruktion als Bedingung dafür, Verbindungslinien zur sekundäranalytischen Fragestellung zu finden. Der Gesamtprozess des wechselnd induktiv-deduktiven Kodierens enthält neben dem offenen auch die weiteren analytischen Stufen des axialen und selektiven Kodierens, deren jeweilige Zwischenergebnisse für eine Sekundäranalyse verwendbar sind. Die Bedingung hierfür sind nachvollziehbare Dokumentationen der analytischen Resultate dieser einzelnen Analysestufen10) (z.B. in Form von Memos), die Möglichkeit des Rückbezugs auf die Originaldaten auf jeder Stufe sowie die Offenlegung von Vorannahmen und Kenntnis der Fragestellungen der Primärstudie. [50]
Zurück zu unserem empirischen Beispiel: Auf der Basis der Analyse von Einzelfällen wurde deutlich, dass es eine Variationsbreite der Verknüpfung von theoretischem und praktischem Lernen gibt, von der wir vermuteten, dass sie mit spezifischen Formen von biographischen Orientierungen und Handlungsweisen als Resultate vorberuflicher und beruflicher Sozialisationsprozesse zusammenhängen (siehe zweite Forschungsfrage der Sekundäranalyse). Solche Orientierungs- und Handlungsformen liegen in der Primärstudie als theoretisches Konzept in Form einer Typologie vor, die im Folgenden vorgestellt wird. [51]
Der empirisch begründeten Typologie der "berufsbiographischen Gestaltungsmodi" (BGM) (WITZEL & KÜHN 1999, 2000) lagen folgende Forschungsfragen zugrunde: (Wie) werden Handlungsspielräume zur Verwirklichung beruflicher Ansprüche genutzt? Welche Konsequenzen hat die Selbstsozialisation junger Erwachsener mit darin eingeschlossenen Erfahrungen von Ungleichheit für die Stabilität bzw. den Wandel von Orientierungs- und Handlungsmustern beim Übergang in den Beruf und in den ersten Berufsjahren? Die BGM zielen also nicht auf kompetenz- oder identitätstheoretische Grundlagen der Bewältigung von berufsbiographischen Anforderungsstrukturen, sondern geben Antwort auf die Frage, in welchen unterschiedlichen Formen von Orientierungen und Handlungen junge Erwachsene ihre beruflichen Statuspassagen strukturieren und für deren Verlauf Verantwortung übernehmen. [52]
Bei den BGM handelt es sich um eine Längsschnitttypologie, mit der die Orientierungen und Handlungen der jungen Erwachsenen von der Berufswahl über den Eintritt in die Ausbildung und in die Erwerbstätigkeit bis fünf Jahre nach Abschluss der Ausbildung auf der Basis retrospektiver und prospektiver Daten rekonstruiert wurden. Sie erfasst damit den für junge Erwachsene bedeutsamen Zeitraum des Übergangs von vorberuflicher zu beruflicher Sozialisation und der Entwicklung von Erfahrungen in den ersten Jahren des Erwerbslebens. Berufsbiographische Gestaltungsmodi werden zwar kontextspezifisch aktiviert, entstehen aber nicht nur in punktuellen Entscheidungssituationen, sondern im Prozess der Auseinandersetzung mit umgreifenden sozialen Anforderungsstrukturen des Lebenslaufs. Sie sind dabei erstaunlich stabil. [53]
Auf der Basis systematischer Fallkontrastierung und der Analyse mit Hilfe des o. g. A-R-B-Modells wurde das theoretische Konzept der BGM entworfen und an einer kleinen Stichprobe von etwa 20 Fällen weiterentwickelt. Aufgrund der Beobachtungsperspektive von nur drei Jahren musste sich die Typenbildung eher auf die situativen Problemstellungen der Statuspassage in den Beruf als auf individuelle Handlungskonsequenzen beschränken. Zwei weitere Erhebungsphasen erweiterten dann das Beobachtungsfenster von ca. sieben Jahren und ermöglichten die Nutzung des vorläufig erarbeiteten Konzepts der BGM als Deutungshypothese für die theoriegeleitete Analyse und Reanalyse von ca. 50 Fällen. Zuletzt führte "selektives Kodieren" im Sinne von STRAUSS und CORBIN (1990) anhand des restlichen empirischen Materials von über 40 weiteren Fällen zu einer Neuformulierung trennscharfer Typendimensionen. Zugleich wurde die Typologie auf sechs Modi der berufsbiographischen Gestaltung reduziert.11) [54]
Für die Anwendung der Sekundäranalyse lagen damit n=91 ausführliche Fallbearbeitungen und Zuordnungen zu den sechs Typen zugrunde. Diese Zuordnungen auf der Grundlage von den fünf im Folgenden beschriebenen Dimensionen sind für die sekundäranalytische Frage nach dem Arbeitsprozesswissen sehr bedeutsam. Die Dimensionen beschreiben nämlich die Gestalt oder den Zusammenhang unterschiedlicher berufsbiographisch relevanter Aspekte und zugleich die wichtigen subjektiven Bezüge auf Arbeit, Qualifikation und Betrieb. [55]
Die Dimension "Arbeitstätigkeit" richtet sich auf Arbeitsinhalte und Arbeitsbedingungen. Darunter fallen beispielsweise Äußerungen, in denen die Bedeutung von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen in der konkreten Arbeit deutlich wird. Mit dem Datenmaterial, das mit dieser Dimension identifiziert und analysiert wird, werden folgende Fragen beantwortet: Werden eng umgrenzte Handlungsspielräume akzeptiert? Wird der Arbeitsaufwand minimiert? Werden größere Handlungsspielräume für betriebliches Engagement, neue Herausforderungen und Selbstverwirklichung gesucht? Ist Arbeit Gegenstand eines herausragenden oder instrumentellen Interesses als Existenz- oder Geschäftsmittel? [56]
Die Dimension "Qualifikation" bezieht sich auf die Spannweite von Orientierungen und Handlungen der jungen Erwachsenen in Bezug auf Fort- und Weiterbildung. Die rekonstruktive Auswertungsarbeit führte zu den Fragen, inwieweit sich junge Erwachsene passiv betrieblichen Qualifikationsanforderungen beugen, eher instrumentelle Bildungsanstrengungen unternehmen, über enge betriebliche Anforderungen (z.B. mit einem Studium) hinaus systematisch Kompetenzen aufbauen oder an persönliche Interessen binden. [57]
Im Zusammenhang mit der Dimension "Karriere" geht es um den subjektiven Bezug der Akteure auf Laufbahnen. Zum anderen werden diese Orientierungen – wie in den anderen Dimensionen – um die entsprechenden Handlungsschritte ergänzt. Die Auswertung von Orientierungen und Handlungen ergibt unterschiedliche Formen der Absicherungen beruflicher Existenz wie Betriebstreue, und -wechsel, die eher auf eine Abgeschlossenheit beruflicher Laufbahnen hinweisen und auf offenere berufliche Entwicklungen wie das Nutzen betrieblicher Karrierefahrpläne, das Sichern vielfältiger Karriereoptionen oder das völlige Offenhalten beruflicher Perspektiven, z. T. unter Inkaufnahme von Kontinuitätsrisiken. [58]
Die Dimension "Einkommen" erfasst die subjektive Bedeutung der Einnahmen aus der Arbeitstätigkeit für die Gestaltung der Berufsbiographie. So kann das Einkommen beispielsweise als Mittel zur Befriedigung persönlicher Ansprüche, Ausdruck der Wertschätzung von Einsatz und Leistung oder eher als Gewährleistung eigener Unabhängigkeit betrachtet werden. Rekonstruiert wurden unterschiedliche Orientierungen und Handlungen, die darauf hinweisen, dass betriebliche Lohnvorgaben eher akzeptiert oder für weniger bedeutsam angesehen werden; dass die jungen Erwachsenen versuchen, das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu optimieren; dass ein höheres Gehalt als Anerkennung von Aufstiegsbemühungen und erhöhte Leistungsbereitschaft angestrebt und erwartet wird; dass Befragte davon ausgehen, dass nur die berufliche Selbständigkeit finanzielle Unabhängigkeit gewährleistet. [59]
"Betrieb" ist die letzte Dimension. Hier geht es um die subjektive Bedeutung des Betriebes als Arbeitsorganisation und soziale Umwelt. Wichtig ist dabei der Bezug auf die Betriebshierarchie, die betrieblichen Anforderungen und das Organisationsklima. Letzteres umfasst die Qualität der sozialen Beziehungen in der Organisation bzw. die Qualität der Arbeitsbeziehungen. Die Spannweite der Orientierungen und Handlungen erstreckt sich von einer Identifizierung mit den betrieblichen Gegebenheiten über Wahrung von Zumutbarkeitsgrenzen, Suche nach Anerkennung durch Vorgesetzte bis hin zu stärkerer Distanz zum Betrieb in Form von Erweiterung beruflicher Optionen, und Autonomie durch Betonung der persönlichen Lebensführung und der eigenen Verfügung über die betrieblichen Strukturen (Selbständigkeit). [60]
Auf der Grundlage dieser Orientierungs- und Handlungsalternativen in den einzelnen Dimensionen haben wir sechs Typen gebildet, die sich unter drei allgemeineren Kategorien zusammenfassen lassen (vgl. die folgende Übersicht): eine offenere Biographiegestaltung mit Bemühungen um eine Erweiterung von Handlungsspielräumen, eine eher geschlossene Biographiegestaltung mit einer Beschränkung auf den Erhalt des gegenwärtigen Berufsstatus und eine Biographiegestaltung, die durch Streben nach Autonomiegewinn gekennzeichnet ist. [61]
Die BGM-Gruppe "Entwicklung von Karriereambitionen" umfasst zum einen den BGM "Laufbahnorientierung", bei dem sich die jungen Erwachsenen in der Wahrnehmung ihrer Optionen auf betriebliche Laufbahnmuster beschränken; zum anderen den BGM "Chancenoptimierung", bei dem die Befragten über die betrieblichen Handlungsspielräume hinausstreben und sich möglichst viele berufliche Wege offen halten. [62]
Der Gruppe Karriereambition gegenüber steht die BGM-Gruppe "Beschränkung auf Statusarrangements" mit den BGM-Ausprägungen: "Betriebsidentifizierung" und "Lohnarbeiterhabitus". Hier wird die Biographiegestaltung als weitgehend abgeschlossen betrachtet, eingeschränkte Handlungsspielräume werden eher als gegeben akzeptiert. Unter dem BGM "Lohnarbeiterhabitus" subsumierte Akteure streben nach beruflicher Kontinuität und arrangieren sich auf einem niedrigen beruflichen Niveau mit Bemühungen um ein günstiges Verhältnis von eigenem Aufwand und materiellem Ertrag (Einkommen, Arbeitsbedingungen). Beim Modus "Betriebsidentifizierung" sehen sich die jungen Erwachsenen am Ende ihrer beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten angekommen und hoffen durch Identifizierung mit den betrieblichen Anforderungen eine Art Heimat mit persönlicher Akzeptanz und einem sicheren Arbeitsplatz gefunden zu haben. [63]
Mit der BGM-Gruppe "Streben nach Autonomiegewinn" weisen wir auf eine Besonderheit der beiden letzten Typen hin: Die Akteure verfolgen Autonomie und damit Distanz zu abhängiger Beschäftigung als Grundprinzip ihrer Orientierungen und ihres Handelns. Subjektiver Maßstab des Berufslebens kann einmal die persönliche Weiter- und Selbstverwirklichung (BGM "Persönlichkeitsgestaltung"), zum andern die Selbstbestimmung über die betriebliche Organisation (BGM "Selbständigenhabitus") sein.
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Arbeitstätigkeit |
Qualifikation |
Karriere |
Einkommen |
Betrieb |
Statusarrangement:
Betriebsidentifizierung |
Arbeitsvollzug den betrieblichen Anforderungen entsprechend, Orientierung auf eng umgrenzten Tätigkeitsbereich |
Bereitschaft allenfalls zu Anpassungsweiterbildung |
Verbleib im Betrieb und im Beruf, Kontinuität, gesicherte Perspektive |
Bereitschaft zu Arrangement mit gegebenen Bedingungen, teilweise auf niedrigem Niveau |
Betrieb als Heimat, familiäres Betriebsklima, Vertrauen in die Fürsorge von Vorgesetzten |
Lohnarbeiterhabitus |
Arbeit als Notwendigkeit zur materiellen Reproduktion, als Aufwand, der ins Verhältnis gesetzt wird zum finanziellen Ertrag |
Bereitschaft allenfalls zu Anpassungsweiterbildung
|
Kontinuität, Betriebs- und Berufswechsel bei verbessertem Aufwand/Ertrags-Verhältnis möglich |
Optimierung des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag, für höheres Einkommen auch zu Mehrarbeit bereit |
Zumutbarkeitsgrenzen, gute Beziehungen zu Kollegen wichtig |
Karriereambition:
Laufbahnorientierung |
wachsender Verantwortungsbereich angestrebt, Spezialisierung zum "Experten" oder zu leitenden Positionen |
kalkulierte Kompetenzentwicklung: soll dem Erwerb tätigkeitsbezogener Kompetenzen dienen. Praxisorientierung |
Betriebliche Fahrplanstrategien mit konkreten Zielvorstellungen, stufenförmig absichernd
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Indiz für beruflichen und betrieblichen Status, Anerkennung eines hohen Leistungsniveaus |
Optionen an betrieblichen Bedingungen orientiert, Anerkannt-Werden von Vorgesetzten wichtig |
Chancenoptimierung |
möglichst wechselnd, neue Herausforderungen, Erfahrungsgewinn, Handlungs- und Gestaltungsspielräume wichtig, Übernahme von Verantwortung |
breite Kompetenzentwicklung, sukzessive Akkumulation von Qualifikationen |
beruflicher Aufstieg, viele Alternativoptionen |
Anerkennung eines hohen Leistungsniveaus |
keine Be-schränkung beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten auf den Betrieb. Chancen im Betrieb sind eine Option neben anderen Alternativen |
Autonomiegewinn:
Persönlichkeitsgestaltung |
Arbeit als Erfahrungsraum für persönliche Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung |
Weiterbildungsinteresse nicht unmittelbar an Berufskarriere gebunden, sondern aus persönlichen Motiven |
Offen gehaltene Karrieregestaltung, Inkaufnahme von berufsbiographischen Brüchen |
Den Selbstverwirklichungsinteressen untergeordnet
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Distanz gegenüber betrieblichen Ansprüchen, Autonomie der Lebensführung |
Selbständigenhabitus |
Arbeit als Mittel zum Geschäftserfolg |
Professionalisierung den Notwendigkeiten des Geschäfts entsprechend |
Orientierung an Geschäftsprinzipien, Kontinuität, gesicherte Perspektive |
Chance zu höherem Einkommen und finanzieller Unabhängigkeit |
Distanz gegenüber betrieblichen Hierarchien, berufliche Autonomie: "eigener Herr" |
Abb. 8: Die Typologie der berufsbiographischen Gestaltungsmodi (aus WITZEL & KÜHN 2000, S. 17) [64]
Diese Typologie wenden wir nunmehr im folgenden Abschnitt für die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage nach der Bedeutung des biographischen Kontextes für das Arbeitsprozesswissen an. [65]
7. Zentrale Ergebnisse der Sekundäranalyse
Unsere Ausgangsthese lautete zum einen, dass es unterschiedliche Formen des Arbeitsprozesswissens gibt, die in der Sekundäranalyse identifiziert werden sollten. Mit Hilfe des dem QDA-Programm zugrunde liegenden Kodierschemas konnten diese Formen des Arbeitsprozesswissens gewonnen werden. [66]
Zum anderen gingen wir davon aus, dass die Gestaltungsweisen der Berufsbiographie eine zentrale Rolle für diese Varianten spielen. Wir nahmen daher an, dass Ausprägungen der arbeitsinhaltlichen Ziele, Interessen und Lernmotivation von Beschäftigten Elemente eines Karriereprozesslernen sind, das als Resultat von Selbstsozialisationsprozessen in Ausbildung und Arbeit betrachtet werden können. Aus diesem Grund konnte die BGM-Typologie für die Sekundäranalyse nutzbar gemacht werden. Insbesondere mit zwei der BGM-Dimensionen – "Arbeitstätigkeit" und "Qualifikation" – ließen sich die mit Hilfe des QDA-Programms gewonnenen Aussagen über die unterschiedlichen Formen der Wissensaneignung mit Formen der Biographiegestaltung verbinden. In der Sekundäranalyse konnten wir dabei auf Fallbearbeitungen zurückgreifen, in denen die Datengrundlage für die Zuordnung der einzelnen Fälle zu den jeweiligen BGM enthalten ist. Es handelt sich um die Ergebnisse der Fallanalysen entlang der BGM-Dimensionen12) zusammen mit empirischen Belegen in Form von wörtlichen Zitaten. Diese Fallbearbeitungen wurden in der Primärstudie mit folgendem Analyseschema bearbeitet.
Gespeichert unter K:\bgm\faelle |
1. Fall (Fallnummer, Deckname): |
2. Berufsbiographischer Gestaltungsmodus: |
3. Bearbeitet von:..........................................Datum: |
4. Anwendung der BGM-Dimensionen: |
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5. Ambivalenzen / Entwicklungen |
Abb. 9: BGM-Analyseschema [67]
Bei der Erläuterung der Ergebnisse der Sekundäranalyse beschränken wir uns im Folgenden auf die BGM-Gruppen "Statusarrangement" auf der einen Seite und "Karriereambition" auf der anderen Seite. Bezogen auf die BGM "Lohnarbeiterhabitus" und "Laufbahnorientierung", die sich in den beiden kontrastierenden BGM-Gruppen befinden, können wir bei der Darstellung auf die bereits angeführten Fälle Melissa F. (BGM "Lohnarbeiterhabitus") und Martin Kfz (BGM "Laufbahnorientierung") (vgl. Abschnitt 5) zurückgreifen. [68]
In der BGM-Gruppe "Statusarrangement" befinden sich Akteure in Handwerks-, Industrie und Dienstleistungsbetrieben, die überwiegend bereits schulische "Abkühlungsprozesse" erfahren haben. Das schulische Selektionsresultat auf der Haupt- und Realschulebene deuten sie als Bescheinigung mangelnder theoretischer Fähigkeiten und setzen darauf, dass in ihrer Berufskarriere eher ihre praktischen Fertigkeiten anerkannt und eingefordert werden. Daher besteht die Gemeinsamkeit der BGM "Betriebsidentifizierung" und "Lohnarbeiterhabitus" in der Bevorzugung des Erfahrungswissens. Kennzeichnend für diese Lern- bzw. Wissensform ist die Betonung eines Gegensatzes von Praxis und Theorie. Dabei formulieren die Akteure eine selbstbewusste Ablehnung der Bedeutung von Theorie. [69]
Das Qualifikationsinteresse kann sich im Extremfall auf unmittelbare Arbeitsvollzüge beschränken. Wird hingegen ein klar umrissener Qualifikationsaufwand als unmittelbar nützlich für verbesserte Arbeits- und Einkommensbedingungen bewertet, finden wir bei einigen Akteuren mit dem BGM "Lohnarbeiterhabitus" Ansätze von Lernformen, die über bloßes Erfahrungslernen hinausgehen. Die Akteure wollen belastenden Arbeitsbedingungen wie Schmutz und Monotonie entfliehen und in betrieblichen "Nischen" arbeiten, in denen die Arbeit "sauberer" und "leichter" zu vollziehen ist. Es lässt sich im Handeln eine andere Haltung zum Qualifikationserwerb konstatieren als sie den Befragten selbst bewusst ist. Diese lehnen theoretisches Lernen im Interview explizit ab, vereinen aber andererseits im geschilderten Arbeitsverhalten in einigen Arbeitsvollzügen praktische Tätigkeiten mit dem Erwerb und der Anwendung theoretischen Wissens. [70]
Die Skepsis gegenüber der Theorie kann interessanterweise dennoch zu einem eingeschränkten Erwerb von Arbeitsprozesswissen führen. Einige Akteure achten darauf, dass nur Wissenserwerb stattfindet, der sich als nützlich für die eigene berufliche Praxis erweist. Das bedeutet, dass sie selbst ein Interesse daran entwickeln, dass sich das theoretische Wissen als in das praktische Wissen integrierbar erweist. [71]
Wie in Abschnitt 5 deutlich geworden ist, glaubt Melissa F., in der handwerklichen Praxis vieles falsch zu machen, wenn sie der Theorie vertrauen würde. Daher plädiert sie – auf ihre Ausbildungszeit zurückblickend – dafür, dass die Berufsschule sich erst gar nicht mit der Praxis befassen sollte. Die ablehnende Haltung macht – wie die angeführten Zitate der Dimension "Arbeitstätigkeit" zeigen – deutlich, dass ein Arrangement mit beruflichen Qualifikationsanforderungen auf einem eher "praktischen" Niveau mit entsprechend verbundenen Konsequenzen für die Gestaltungschancen im Lebens insgesamt nicht zwangsläufig mit einer subjektiven Bilanzierung eines Scheiterns in der Bewältigung "theoretischer" Anforderungen etwa in Schule und Berufsschule einhergehen muss. Melissa F. hat sich vielmehr in ihrer Arbeit wohlgefühlt, weil ihre Art des Umgangs mit Arbeit – Routinearbeit unter der Maßgabe der jeweiligen betrieblichen Anforderungsstrukturen – zur Akzeptanz durch den Vorgesetzten und einem damit verbundenen guten Betriebsklima geführt hat.
"Und dann, mei da hat man dann noch so vor sich hingearbeitet, bis zum Mutterschutz, zum Schluss is' ma' recht froh, wenn ma' rauskommt (lachen) ... Aber ansonsten so von der Arbeit her alles, war's recht super in der Firma. Is' alles ganz gut gelaufen muss ich sagen, also besser wie jetzt vorher. Und is' zwar schad', dass i jetzt nich' mehr drin bin auf der einen Seite, und sonst, i mein, so hat sich großartig nich' so viel verändert, möchte i mal sagen ..." (III,76)
Nach dem Erziehungsurlaub möchte sie wieder arbeiten. In ihrer alten Firma wird es nicht gehen, außerdem ist die Arbeitsstelle zu weit vom Kindergarten entfernt, so dass sie organisatorische Probleme hätte. Sie sucht einen Arbeitsplatz in der Nähe.
"Und das is' mir eigentlich egal, was ich mache. Es gibt viel Sachen was Spaß macht." (III,692)
"Ma' muss sich halt a bissel, ma' muss scho' flexibel sein, man darf halt net auf`n Standard sein, i will nur dies (...) oder i will Karriere machen, 'n normalen Job, wenn man hat, dann mein Gott, was soll des, i kann, für mi' auch Karriere machen, wenn i mich, mich der Chef eben anderweitig eben, okay, ich mach des super und er tut mich da irgendwie befördern mit Lob oder so, des bringt mir mehr, als wenn i da a super Top-Managerin bin und dann stinkt mir alles." (III,5501)" (Auszug aus der Fallbearbeitung Melissa F). [72]
Für die Dimension "Qualifikation" führen wir nur ein Zitat an, das die für den BGM "Betriebsidentifizierung" typische Alternative der Familiengründung zu beruflicher Qualifikation illustrieren soll: "Man kann nich' n Superjob machen und a Kind allein groß zieh'n, also das ma' sagt, ich will's als Mutter eben haben oder so, ich sag ja, da gibt's für mich halt Prioritäten, hab i g'sagt, da is' mir des Kind einfach wichtiger." (III,6072). [73]
Für die der BGM-Gruppe "Karriereambition" zugeordneten BGM "Chancenoptimierung" und "Laufbahnorientierung" besitzt die Aneignung von Wissen eine zentrale Funktion für eine breite Kompetenzentwicklung und zur Realisierung von Aufstiegsbemühungen. Gerade die weiterbildungsorientierte Berufskultur der Bank erweckt den Anschein, die vielfältigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten seien nur noch in die Leistungsbereitschaft des Einzelnen gestellt. Akteure mit dem BGM "Laufbahnorientierung" streben daher – dem Wandel von Arbeitsanforderungen bei Banken und Sparkassen und den Erfordernissen eines flexiblen Einsatzes in unterschiedlichen Abteilungen entsprechend – eine dauerhafte Kompetenzentwicklung an. Theorie und Praxis schließen sich dabei nicht wie bei der BGM-Gruppe "Statusarrangement" aus subjektiver Perspektive aus. Die konkreten Arbeitsanforderungen verlangen vielmehr die Aneignung von Arbeitsprozesswissen in der Praxis, das mit Hilfe der von der Bank erwarteten Teilnahme an internen Schulungen mit theoretischen Erkenntnissen verbunden werden soll. Dieses Interesse an einem Arbeitsprozesswissen als Verknüpfung von Theorie und Praxis machen sich gerade Bankkaufleute mit dem BGM "Laufbahnorientierung" zueigen. Ihr Wissenserwerb geht über die Anforderungen des einzelnen Arbeitsplatzes hinaus und dient der vielfach selbst erwünschten flexiblen Kompetenz nicht nur für die betriebliche Funktion eines Springers. Die Bankkaufleute sind auch bereit, freiwillig den Spielraum ihrer arbeitsteiligen Tätigkeit zu erweitern. [74]
Auch die Akteure mit dem BGM "Laufbahnorientierung", denen es gelingt, im Kfz-Handwerk einen qualifikationsadäquaten Arbeitsplatz zu finden, interessieren sich für die technischen Detailgrundlagen ihrer beruflichen Tätigkeit. In diesem Zusammenhang greifen wir das Beispiel Martin Kfz auf, der über die Integration von Theorie und Praxis in der Ausbildungszeit berichtete (siehe Abschnitt 5), die ihm als Vorbild für seine weiteren Lernambitionen diente. Diese Aussagen konnten mit den Analyseresultaten der Zuordnung zu diesem Typus in einen Zusammenhang gebracht werden. Seine Vorstellungen der Verknüpfung von Theorie und Praxis sind Teil der in der Dimension "Arbeitstätigkeit" erfassten Beschreibung seiner Intention, sich Expertenwissen anzueignen. In dem folgenden Auszug aus der Fallbearbeitung Martin Kfz werden entsprechende Zitate aus seinen Interviews angeführt.
"Eigenständiges Arbeiten: "... dann wird die Arbeit eben durchgezogen, eigenständig, und das ist eben das, was mich interessiert. Dass eben nicht, dass mir vorgekaut wird, dass ich jetzt das und das zu machen habe, sondern eben selber (...) Fehlersuche machen und Fehler beheben" (I, 573).
"Viele Mechaniker sind eben nicht in der Lage, Diagnosen zu erstellen (...) da ist halt dann der Meister auch wieder gefragt, und gerade diese kniffligen Sachen, die reizen mich" (I,695).
Er möchte "den Bezug zum Auto behalten, (...) und das wäre eben dann Diagnose in schwierigen Fällen stellen und solche Sachen. Das würde mir halt gefallen. Und wenn das, wenn das der Fall wäre, dann würde ich da bleiben (I, 807).
"Ja, und im Betrieb hab i jetzt versucht, mir so'n bißchen 'n Spezialgebiet zu erarbeiten, daß mir nich' also nur dieser Null-Acht-Fünfzehn-Teiletauscher is', sondern hab' mich auf Einspritzanlagen, Katalysatoren und so, in dem Sektor, Elektronik, auf des spezialisiert. Auch mit Hilfe der Firma, ganz klar" (II;42). [75]
Die im Folgenden angeführten Zitate zur Dimension "Qualifikation", in denen die kalkulierte Kompetenzentwicklung des Befragten zum Ausdruck bringen, runden das Bild des Zusammenhangs der Biographiegestaltung und des Arbeitsprozesswissens bzw. -lernens ab.
"Er hatte mehrere Lehrstellenangebote. "Und dann habe ich, bin ich eben von der Überlegung ausgegangen, wo kriege ich die beste Ausbildung"(I, 256). "Als Ausbildung ist es das Ideale gewesen, meiner Meinung nach. Was man nicht gelernt hat , (...) ist unter Zeitdruck arbeiten" (I, 418, 434).
"... da mir eigentlich schon immer klar war, daß ich nicht Mechaniker bleiben möchte, sondern, also, im Beruf zwar bleiben, aber dann 'n Meister machen und dann halt im Beruf irgendwie in einem großen Betrieb aufsteigen (II,18).
"... die Firma unterstützt mich, muß ich ehrlich sagen, wo es nur geht, sie schickt mich also permanent auf Schulungen, überbetriebliche Schulungen, betriebliche Schulungen und versucht jetzt auch, mein Bemühen, vorzeitig den Meister zu machen, zu unterstützen" (II,24, 155).
Grund für seine Bemühungen zur Fortbildung: Einspritzanlagen "sind die Technik von morgen, da muß ich was dazulernen, da hab ich Lücken" (II,231).
Die Qualifikationen wie Organisation, Arbeitsplanung, Arbeitseinteilung und Personalschulung hat er sich vom Vorgänger "abgeschaut"(III,522). Er hat viel seine alten Ausbilder im öffentl. Dienst gefragt, die ihn auch unterstützt haben (III;539). Er macht jetzt auch Schulungen in Mitarbeiter- und Werkstattführung von der Firma aus (III,557)" (Auszug aus der Fallbearbeitung Martin Kfz). [76]
Die systematische Verbindung von Theorie und Praxis im Arbeitsprozesswissen bzw. –lernen spiegelt sich in den ebenso systematischen Bemühungen der Aneignung und Umsetzung beruflicher Kompetenzen wieder. [77]
Die Primärstudie sollten nach unseren Erfahrungen mit der beschriebenen Sekundäranalyse einige Bedingungen erfüllen, die im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden.
Die Datengrundlage besteht aus einem ausreichend großen Datensatz mit transkribierten Interviewtexten, die als digitalisierte Daten leicht zugänglich sind.
Die Erhebungsmethode gibt den Befragten genügend Raum für die Entfaltung ihrer Sichtweise.
Die Daten sind als Dateien in ein QDA-Programm eingebunden und erlauben mit heuristischen und breiten Kodes einen systematischen und raschen Zugriff auf relevante Textpassagen, um einerseits die Brauchbarkeit der Daten für die sekundäranalytische Fragestellung überprüfen zu können und andererseits den Zugang zu den Daten während der Auswertungsphase der Sekundäranalyse zu vereinfachen.
Es existiert eine Dokumentation, in der die wesentlichen Informationen über das Forschungsprojekt zusammengefasst sind. Sie enthält u. a. auch die Definitionen der Textdatenbankkodes und die komplette Veröffentlichungsliste zum Projekt.
Die in der Primärstudie eher breit und grundlagentheoretisch angelegte Forschungsfrage der Biographiegestaltung der Akteure mit Bezug auf deren individuelle Orientierungen und Handlungen sprach für einen reichhaltigen Datenfundus, der sich nicht auf nur einzelne, wenige thematische Aspekte beschränkt.
Die Primärstudie verwendet keine Theorien in der Tradition des normativ-deduktiven Paradigmas, sondern ist theoriegenerierenden Verfahren i. S. der Grounded Theory verpflichtet.
Die Primärstudie erlaubt auf allen Stufen der Auswertung einen Einblick in die jeweilig dokumentierten Befunde etwa in Form von Fallbearbeitungen und Memos.
Diese Befunde sind auf die Originaldaten rückführbar. [78]
1) Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag "Secondary Analysis of Panel Data: Establishing and Using a Text Databank", der auf der "RC33 Sixth International Conference on Social Science Methodology" im August 2004 in Amsterdam gehalten wurde. <zurück>
2) "Work Process Knowledge and Work Related Learning in Europe", Tagung der CEDEFOP und des ITB, Universität Bremen, 15./16. Juni 2001. <zurück>
3) Das Teilprojekt A1 des Sonderforschungsbereichs 186 "Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf" (Informationen unter http://www.gsss.uni-bremen.de/links.htm [Broken link, FQS, August 2005], Verbundprojekt A1/B1) der Universität Bremen ist eine Längsschnittstudie (Panel), die zum damaligen Zeitpunkt abgeschlossen war. Die Autoren des vorliegenden Beitrags waren selbst Mitglieder des Primärprojektes. <zurück>
4) Gefördert und herausgegeben von CEDEFOP – European Centre for the Development of Vocational Training. <zurück>
5) "New perspective/conceptual focus" (HEATON 1998), "analytic expansion" (THORNE 1994). <zurück>
6) Hier soll "Datenbank" für die geordnete Verfügbarkeit und Digitalisierung der Daten stehen, die üblicherweise als Dokumente in ein QDA-Programm eingebunden sind. <zurück>
7) THORNE (1994) kritisiert die übliche Verwendung einer deduktiven, quasi-statistischen Inhaltsanalyse bei Sekundäranalysen und plädiert für induktive, z.B. hermeneutische Analysen von Textmaterialien. <zurück>
8) Im Archiv für Lebenslaufforschung archiviert: http://www.lebenslaufarchiv.uni-bremen.de/. <zurück>
9) In anderen QDA-Programmen sind Fallmerkmale als Variablen verwendbar. <zurück>
10) Hier erweist sich die Sekundärnutzung eigener Daten als Vorteil. <zurück>
11) In der quantifizierenden Rekonstruktion dieser qualitativen Typologie wurden sowohl die einzelnen Typenausprägungen als auch die Verteilung über die Berufe weitgehend bestätigt (SCHAEPER & WITZEL 2001). <zurück>
12) Die Dimension Ambivalenzen/Entwicklungen enthält Analysen und Diskussionen zu aufgetretenen Unschärfen in den Fallzuordungen. <zurück>
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Irena MEDJEDOVIC, Dipl.-Psych., war zunächst im Projekt "Statuspassagen in die Erwerbstätigkeit" des Sonderforschungsbereichs 186 "Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf" tätig und später in einem Forschungsprojekt zu Entwicklungen im Betreuungswesen/-recht. Dabei sammelte sie Erfahrungen mit qualitativer Sozialforschung, die sie in das aktuelle DFG-Forschungsprojekt "Archivierung und Sekundärnutzung qualitativer Interviewdaten – eine Machbarkeitsstudie" einbringt. Seit 2003 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv für Lebenslaufforschung der Graduate School of Social Sciences der Universität Bremen und ist am Aufbau eines Archivs für qualitative Interviewdaten beteiligt. In diesen Zusammenhängen besteht – neben der Machbarkeit der Archivierung qualitativer Interviews – ihr Interesse in methodologischen Fragen der qualitativen Sekundäranalyse.
Kontakt:
Irena Medjedovic
Universität Bremen, Graduate School of Social Sciences (GSSS)
Archiv für Lebenslaufforschung
FVG-West, Wiener Straße/Ecke Celsiusstraße, Postfach 330 440
D-28334 Bremen
Tel.: +49 / (0)421 / 218 4169
Fax: +49 / (0)421 / 218 4153
E-Mail: irenam@gsss.uni-bremen.de
URL: http://www.lebenslaufarchiv.uni-bremen.de/
Andreas WITZEL ist Leiter des Archivs für Lebenslaufforschung der Graduate School of Social Sciences (GSSS) und plant den Aufbau eines bundesweiten Archivs für qualitative Interviewdaten. Dabei sollen vorhandene Ressourcen und Kompetenzen der GESIS, weiterer deutschsprachiger Archive und insbesondere der bereits bestehenden engen Kooperationspartner Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (ZA) und qualitative-research.net vernetzt werden. Die Integration der Aufgaben Archivierung und Datenservice mit Schulung und Beratung sowie Information, Multiplikation und Publishing ist dabei eine zentrale Perspektive.
Kontakt:
Dr. Andreas Witzel
Universität Bremen, Graduate School of Social Sciences (GSSS)
Archiv für Lebenslaufforschung
FVG-West, Wiener Straße/Ecke Celsiusstraße, Postfach 330 440
D-28334 Bremen
Tel.: +49 421 218 4141
E-Mail: awitzel@gsss.uni-bremen.de
URL: http://www.lebenslaufarchiv.uni-bremen.de/
Medjedovic, Irena & Witzel, Andreas (2005). Sekundäranalyse qualitativer Interviews. Verwendung von Kodierungen der Primärstudie am Beispiel einer Untersuchung des Arbeitsprozesswissens junger Facharbeiter [78 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 46, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0501462.
Revised 6/2008