Volume 6, No. 1, Art. 16 – Januar 2005

Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität. Einige grundlegende Anmerkungen zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen

Andrea D. Bührmann

Zusammenfassung: Zahlreiche Untersuchungen aus dem Umkreis der Governmentality Studies fragen nach dem aktuellen (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen. Sie konstatieren, dass ein "unternehmerisches Selbst" am Ende der 1970er Jahre aufgetaucht sei und nun hegemonial zu werden scheine. Weshalb aber ist dieses Selbst aufgetaucht und wie konnte es hegemonial werden? Diese bisher noch ungeklärten Fragen verweisen auf eine tiefer liegende Problemstellung: Weitgehend unklar ist nämlich, wie das (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen theoretisch begriffen und empirisch beschrieben werden kann, ohne einerseits substanz-ontologische Auffassungen von Subjektivierung vorauszusetzen und ohne andererseits Subjektivierung diskursiv aufzulösen. Es wird nun vorgeschlagen, dieses (Trans-)Formierungsgeschehen mit Michel FOUCAULT als Effekt dispositiver Praktiken zu begreifen, deren historisch-konkretes Zusammenspiel mit Hilfe von Dispositivanalysen zu untersuchen ist. Allerdings gilt es zuvor, dieses Verfahren ausgehend von FOUCAULTs dispositiven Studien zu rekonstruieren und dann gesellschaftstheoretisch zu fundieren. Denn FOUCAULT hat in seinen Dispositivanalysen soziale Strukturkategorien – wie etwa Klasse, Ethnizität oder Geschlecht – nicht systematisch berücksichtigt. Da mittlerweile einige Studien die geschlechtliche Markierung des unternehmerischen Selbst konstatieren, wird zunächst ein Vorschlag zur gesellschaftlichen Fundierung der FOUCAULTschen Dispositivanalyse ausgehend von der Kategorie Geschlecht formuliert. Die Rekonstruktion einer solchen gesellschaftstheoretisch fundierten Dispositivanalyse kann als methodisch-methodologischer Ausgangspunkt zur Erforschung des (Trans-)Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen dienen. So kann dann auch das eingangs konstatierte Forschungsdefizit bearbeitet werden.

Keywords: Unternehmerisches Selbst, moderne Subjektivierungsweisen, Governmentality Studies, Diskurs-, Macht- und Dispositivanalyse, Sozialstrukturkategorie Geschlecht

Inhaltsverzeichnis

1. Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst als hegemoniale Subjektivierungsweise

2. Die Kontroverse um den ontologischen Status des unternehmerischen Selbst

3. Das unternehmerische Selbst als real existierendes Produkt diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken

4. Die Rekonstruktion der FOUCAULTschen Dispositivanalyse

4.1 Die Diskursanalyse

4.2 Die Machtanalyse

4.3 Die Dispositivanalyse

5. Die gesellschaftstheoretische Fundierung der Dispositivanalyse

6. Fazit

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst als hegemoniale Subjektivierungsweise

Im Rahmen der Governmentality Studies werden seit einiger Zeit die radikalen Umstrukturierungsprozesse des Sozialstaats unter dem Label "Ökonomisierung des Sozialen" diskutiert. Dabei wird mit der Ökonomisierung des Sozialen einerseits die Ausrichtung an ökonomischen Effizienzkriterien in allen gesellschaftlichen Bereichen bezeichnet, in denen der moderne Sozialstaat aktiv ist und versucht, auf die eine oder andere Art und Weise soziale Probleme zu lösen.1) Andererseits wird aber auch ein bestimmtes individuelles Verhältnis zu sich selbst und zu anderen in der Perspektive einer Ökonomisierung des Sozialen beschrieben. [1]

Bei den Gouvernmentality Studies handelt es sich um eine Forschungsperspektive, die in den letzten 15 Jahren insbesondere im angelsächsischen und neuerdings auch im deutschsprachigen Raum – und hier zumeist unter der Bezeichnung Gouvernementalitätsstudien – an Bedeutung gewonnen hat.2) Sie geht auf eine theoretische Weiterentwicklung der Machtanalytik Michel FOUCAULTs und seiner Theorie der fordistischen Form sozialer Regulierung zurück.3) Für diese Forschungsperspektive prägt FOUCAULT4) den Neologismus "Gouvernementalität", in dem die Begriffe regieren ("gouverner") und Denkweise ("mentalité") miteinander verknüpft sind. Dabei versteht FOUCAULT ausgehend vom Begriff der Regierung5) Subjektivierung als ein (Trans-)Formierungsgeschehen, in dem Menschen durch bestimmte Rationalitäten und Technologien des Regierens einer spezifischen Weise der Bezugnahme auf sich und andere unterworfen werden. [2]

Verschiedene Studien aus dem Umkreis der Gouvernmentality Studies haben in den letzten Jahren die aktuellen Modi der Formierung bzw. Transformierung moderner Subjektivierungsweisen untersucht. Dabei wird das Auftauchen eines so genannten unternehmerischen Selbst ("enterprising self") spätestens seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts konstatiert. Dieses Selbst zeichnet sich dadurch aus, dass es sein Handeln, Fühlen, Denken und Wollen an ökonomischen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen ausrichtet. Für Richard SENNETT (1998) etwa steht das unternehmerische Selbst "als flexibler Mensch des Kapitalismus" in einer selbst-unternehmerischen Verantwortung. Es muss sich anpreisen und in der Lage sein, sich entsprechend zu präsentieren. Dieses unternehmerische Selbst wird in vielen Studien als aktuelle hegemoniale Subjektivierungsweise angesehen, also als die hegemoniale Weise, in der Menschen sich selbst und andere betrachten, wahrnehmen und erleben. [3]

Das unternehmerische Selbst gilt als hegemonial, da es ist in unterschiedlichen Lebenswelten aufzufinden ist und dort dominant wirkt. Dieses Selbst taucht, so haben Günter VOSS und Hans PONGRATZ (1998) etwa festgestellt, in der Arbeitswelt als "Arbeitskraftunternehmer" auf und löst den "verberuflichten Massenarbeiter des Fordismus"6) ab. Und Monica GRECO (1993) macht z. B. auf die Anforderungen an das unternehmerische Selbst auch in der Freizeit aufmerksam. Einen fitten Eindruck machen, gesund aussehen und Energie versprühen gelten als sichtbare Beweise für einen engagierten Willen zum unternehmerischen Erfolg. Auf diesen Erfolgswillen, der stetig zu beweisen ist, verweist auch Anthony GIDDENS (1997, S.120/121) und konstatiert knapp: "Das Individuum kann sich nicht zufriedengeben mit einer Identität, die bloß übernommen oder ererbt wird bzw. auf einem traditionsbestimmten Status aufbaut. Die Identität der Person muß weitgehend entdeckt, konstruiert und aktiv aufrechterhalten werden". Das unternehmerische Selbst ist also ein Selbst, das nicht befreit, sondern stetig erarbeitet werden muss. Es ist ein tätiges Selbst. Angesprochen scheinen von ihm Menschen in den westlichen Industrieländern, unabhängig von Herkunft, Ethnizität ("race") und Geschlecht. [4]

Mit Blick auf diese Diagnose ergibt sich die folgende zentrale – bisher allerdings nicht systematisch erforschte – Fragestellung: Über welche sozialen Praktiken ist dieses unternehmerische Selbst eigentlich hervorgebracht worden und wie ist es dazu gekommen, dass es hegemonial geworden ist? Dieses Forschungsdefizit kann meines Erachtens nicht nur auf ein mangelndes Forschungsinteresse zurückgeführt werden. Vielmehr verweist es darüber hinaus auf eine tiefer liegende methodologisch-methodische Problemstellung, nämlich auf das Problem, wie dieses (Trans-)Formierungsgeschehen theoretisch begriffen und empirisch beschrieben werden kann, ohne einerseits substanz-ontologische Auffassungen bestimmter Subjektivierungsweisen vorauszusetzen und ohne sie andererseits diskursiv aufzulösen und so in die Fallstricke eines linguistischen Idealismus zu geraten. Für die Plausibilität dieser These spricht – so denke ich – insbesondere, dass in den Gouvernementalitätsstudien seit einiger Zeit eine Kontroverse um die Grenzen und Möglichkeiten der Gouvernmentalitätsperspektive entbrannt ist. Im Zentrum dieser Kontroverse steht die Frage nach dem ontologischen Status des unternehmerischen Selbst. [5]

2. Die Kontroverse um den ontologischen Status des unternehmerischen Selbst

In dieser Kontroverse ist verschiedentlich betont worden, die Gouvernementalitätsstudien konzentrierten sich allzu sehr auf eine programmatische Ebene und vernachlässigten darüber die subjektive Aneignung oder Verwerfung von Subjektivierungsweisen. So erfassten sie nur eine normativ verkürzte und geglättete Realität und ignorierten individuelle wie kollektive Widerstandspotenziale. Auf diese Kritik, wie sie etwa Katharina PÜHL und Susanne SCHULTZ wiederholt formuliert haben,7) antwortet Ulrich BRÖCKLING. Er begreift das unternehmerische Selbst dabei als "Subjekt im Gerundivum" (BRÖCKLING 2002, S.178/179), das "überhaupt keine empirisch vorfindbare Entität" bezeichnet, "sondern die Richtung in der Individuen verändert werden und sich verändern sollen". Wichtig erscheint BRÖCKLING (2002, S.179) dabei vor allen Dingen, dass das unternehmerische Selbst wegen seines "appellativen, wenn nicht präskriptiven Grundzug(es)" keinen Idealtypus im Sinne Max WEBERs darstellt. Aber warum ist dies so wichtig? Zur Klärung dieser Frage gehe ich kurz auf den WEBERschen Begriff des Idealtypus ein. [6]

Im Zentrum der methodologischen Überlegungen von WEBER steht die so genannte idealtypische Begriffsbildung. WEBER erhofft sich von den Idealtypen gleich zwei Abgrenzungen: Er will sich sowohl von den Einzelfallbeschreibungen der Geschichtswissenschaften als auch von den nomothetischen Aussagen der Naturwissenschaften abgrenzen.8) Dabei stellt WEBER im Rahmen seiner Überlegungen zur logischen Struktur der idealtypischen Begriffsbildung deutlich die Aspekthaftigkeit dieser Typenbildung heraus. So führt er aus:

"Es [der Idealtypus; A.D.B.] wird gewonnen, durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch den Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht" (WEBER 1904, S.191). [7]

Eine derartige "einseitige Steigerung" bestimmter Aspekte eines Falles, so führt etwa Ralf BOHNSACK (2000, S.183) aus, lässt sich an manchen Fällen besser, an anderen schlechter vorführen. [8]

Bei WEBER jedenfalls steht am Anfang der Idealtypenbildung eine "provisorische Veranschaulichung" (WEBER 1920, S.31). Sie dient dazu, "aus einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich" einen Idealtypen zu "komponieren" (WEBER 1920, S.30). Deshalb stehe die endgültige begriffliche Fassung eines Idealtypen nicht am Beginn, sondern am Ende einer Untersuchung. Dies zeigt sich im Übrigen sehr schön am Beispiel der Untersuchung WEBERs zur Entstehung des Kapitalismus und damit zu seinem Idealtyp vom bürgerlichen Unternehmer, wie er ihn z.B. in der protestantischen Ethik (1920) skizziert hat.9) Immer aber – und das wird in dieser Studie WEBERs deutlich –, existieren einzelne Bestandteile eines Idealtypen wirklich. Das heißt, dass Menschen von sich sagen, meinen und fühlen, einzelne Aspekte etwa des bürgerlichen Unternehmers aufzuweisen. Und darauf etwa sind sie stolz, darüber ärgern sie sich, das nutzen sie für andere Ziele usw. [9]

Nach diesem kleinen Ausflug in die soziologische Begriffsgeschichte möchte ich zunächst Folgendes festhalten: WEBERs Idealtypus ist zwar nirgends in der Wirklichkeit vorfindbar, aber er setzt sich aus real existierenden und somit auch nicht-diskursiven Elementen zusammen. Wahrscheinlich getrieben von der Angst, substanz-ontologische Auffassungen vom unternehmerischen Selbst zu befördern, besteht BRÖCKLING darauf, dass dieses Selbst keine empirische Entität darstelle und dass es sich schon gar nicht um einen Idealtypen handele. Vielmehr sei das unternehmerische Selbst Fluchtpunkt neoliberaler Management-Programme. Damit aber verfällt BRÖCKLING einem linguistischen Idealismus, indem er auf einer bloß diskursiven Ebene verbleibt. Nur insofern aber birgt BRÖCKLINGs Auffassung den scheinbaren "Vorteil", dass er nicht nach einer möglichen subjektiven Vermittlung spezifischer Subjektivierungsweisen fragen muss.10) [10]

3. Das unternehmerische Selbst als real existierendes Produkt diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken

Dass BRÖCKLING nun das unternehmerische Selbst nur zum Fluchtpunkt neoliberaler Management-Programme erklärt, erscheint mir aus mindestens zwei Gründen wenig plausibel. Erstens widerspricht sich BRÖCKLING selbst, insofern er zwar das unternehmerische Selbst als Fluchtpunkt von "Kraftlinien" begreift, darunter jedoch genau jenes Zusammenspiel diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken versteht, das FOUCAULT mit dem Begriff "Dispositiv" bezeichnet. Für dieses Dispositiv aber hat FOUCAULT immer wieder eine materielle Existenz, insbesondere ihrer subjektivierenden Effekte, reklamiert.11) Zweitens verortet sich BRÖCKLING zwar wiederholt in der Tradition der Gouvernmentality Studies. Er löst jedoch den Anspruch der Gouvernmentalitätsperspektive nicht ein, die konkrete lokale Praxis von Regierungstechniken zu erkunden12) und dabei nicht zuletzt auch die ganz realen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen spezifische Subjektivierungsweisen sich historisch konkret formieren und/oder transformieren. Diese Perspektive aber hat FOUCAULT (1980) beispielsweise schon 1980 in einem instruktiven – aber leider bisher in der Forschung kaum beachteten – Vortrag stark gemacht, den er in Berkeley gehalten hat. Und auch in den beiden Hauptwerken seiner so genannten ethischen Phase13) hebt er diese Frageperspektive hervor. So schreibt FOUCAULT im zweiten Band seiner Trilogie "Sexualität und Wahrheit", ihn interessierten insbesondere die Korrelationen, die "in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätssystemen und Subjektivierungsformen bestehen" (FOUCAULT 1989, S.10). Bei der Erforschung dieser Korrelationen gelte es dann, den Blick auf die überaus real existierenden Effekte jener Dispositive und ihre kollektive wie individuelle Vermittlung zu lenken und so eine Perspektive zu überwinden, die sich ausschließlich auf eine programmatische Ebene konzentriert. [11]

Wenn es sich aber beim unternehmerischen Selbst um das real existierende Produkt unterschiedlicher diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken handelt, dann bietet es sich doch an, eben jenen Praktiken und ihren Verknüpfungen nachzuspüren, um das Auftauchen und das Hegemonial-Werden des unternehmerischen Selbst am Beginn des 21. Jahrhunderts zu erforschen. Hinweise zur Erforschung dieser Praktiken und ihrer Verknüpfungen könnten insbesondere FOUCAULTs materialreichen Studien zum (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen selbst entnommen werden. [12]

Ausgehend von einer "kritischen Ontologie der Gegenwart"14) hat FOUCAULT in diesen Studien nämlich seine leitenden Fragestellung nach dem (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen mit Hilfe dispositiver Analysen bearbeitet. Dabei verknüpft er die Frageperspektive der Diskursanalyse mit der der Machtanalyse. Eine systematische Rekonstruktion, wie FOUCAULT in seinen Analysen moderner Subjektivierungsweisen beide methodischen Perspektiven miteinander verknüpft und welche methodischen und methodologischen Konsequenzen sich daraus ergeben, steht jedoch bisher noch aus. FOUCAULT beschreibt zwar in der "Archäologie des Wissens" dezidiert die Methode der Diskursanalyse, und in Bezug auf seine machtanalytischen Überlegungen grenzt er sich verschiedentlich von anderen Machttheorien ab. Jedoch entwickelt er hier kein entsprechendes Instrumentarium. Im Hinblick auf das dispositivanalytische Verfahren beschränkt sich FOUCAULT sogar auf das Benennen von "Vorsichtsregulativen" zur Analyse von Dispositiven. [13]

Auf das Forschungsdesiderat einer systematischen Rekonstruktion der FOUCAULTschen Analyseverfahren haben Gerhard PLUMPE und Clemens KAMMLER (1980, S.212) schon früh hingewiesen. Ausgehend von diesem Befund hat zuletzt Siegfried JÄGER (2001a, S.88) "Anregungen" zur Analyse von Dispositiven entwickelt. Er schlägt eine Vermittlung zwischen Sagbarem bzw. Gesagtem, tätigen Umsetzungen von Wissen sowie Vergegenständlichungen von Tätigkeiten bzw. Sichtbarkeiten von Wissen vor.15) Als "Grundfigur des Dispositivs" identifiziert JÄGER (2001a, S.83) einen "prozessierenden Zusammenhang von Wissenselementen, die in Sprechen/Denken – Tun – Gegenständen/Sichtbarkeiten eingeschlossen sind". Diese Grundfigur selbst stellt er sich als ein "Dreieck oder als einen rotierenden und historisch prozessierenden Kreis mit drei zentralen Durchlauf-Punkten bzw. Durchgangsstationen" (ebd.) vor, eben zwischen Diskurs, nicht-diskursiven Praxen und Sichtbarkeiten. Offen bleibt jedoch, wie jenes Dreieck bzw. jener rotierende und historisch prozessierende Kreis systematisch analysiert werden soll. Hier hilft – wie ich denke – ein Blick auf die Untersuchungen FOUCAULTs selbst weiter. [14]

4. Die Rekonstruktion der FOUCAULTschen Dispositivanalyse16)

Bei FOUCAULTs Untersuchungen ist allerdings zu beachten, dass sich sein "vagabundierende Denken" (EWALD 1978, S.8) nicht, wie Gilles DELEUZE (1992, S.150) anmerkt, "entwickelt, sondern durch Krisen vorwärts bewegt hat" und gegen apodiktische Lesarten sperrt. Deshalb werde ich mich im Folgenden nicht mit einer eklektizistischen Instrumentalisierung der FOUCAULTschen Kategorien und Begrifflichkeiten begnügen, sondern ausgehend von seinen diskurs- und machtanalytischen Überlegungen eine systematische Rekonstruktion des Verfahrens der Dispositivanalyse vornehmen. [15]

4.1 Die Diskursanalyse

FOUCAULT legt seine Überlegungen zur Diskursanalyse ausführlich in der "Archäologie des Wissens" als eigenständigen methodischen, "jenseits von Hermeneutik und Strukturalismus"17) anzusiedelnden Ansatz dar. Mit diesem Ansatz will er sich gegen zentrale Hypothesen der "traditionellen Geschichtsschreibung" abgrenzen. Das Ziel der "Archäologie des Wissens" besteht für FOUCAULT (1973, S.41) nämlich in "einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse". Diese "reine Beschreibung", die das Material "in seiner ursprünglichen Neutralität" (ebd.) behandelt, dient "als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten" (ebd.). [16]

In diesem Kontext hinterfragt FOUCAULT erstens die Begriffe "Tradition", "Einfluss", "Evolution" und "Geist", da sie für ihn die Illusion einer historischen Kontinuität implizieren. An die Stelle von Kontinuitätsvorstellungen lässt er die Kategorie der Diskontinuität und die Begriffe des "Bruches", der "Schwelle", der "Serie" und der "Transformation" treten. Zweitens lehnt FOUCAULT die Kategorie des Sinns18) ab. Er will dagegen die Diskurse über "das Faktum und die Bedingungen ihrer offenkundigen Erscheinung [befragen]; nicht über die Inhalte, die sie verbergen können, sondern über die Transformationen, die sie bewirkt haben (...)" (FOUCAULT 1970, S.238). Schließlich verwirft FOUCAULT drittens die Vorstellung eines souveränen Subjekts19), insofern er Diskurse als eine eigenständige Ordnung begreift, die sich nicht umstandslos auf die Intentionen der beteiligten Individuen zurückführen lasse.20) [17]

Über diese Dekonstruktionsoperationen erhält FOUCAULT (1973, S.41) das archäologische Forschungsgebiet, das sich durch "die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (...) (ob sie gesprochen oder geschrieben worden sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen und in der Eindringlichkeit, die jedem eignet (...)" konstituiert.21) Den Ausgangspunkt der FOUCAULTschen Aussagenanalyse bildet also die chaotische Vielfalt aller Aussagen, deren Positivität zu untersuchen ist. Dabei soll es darum gehen, die historischen Bedingungen der tatsächlichen Existenz von Aussagen zu analysieren. . Ausgehend von der tatsächlichen, "positiven" Existenz von Aussagen schlägt FOUCAULT (1973, S.170) nun vor, eine Menge von Aussagen Diskurs zu nennen, "insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören".22) Zur Analyse von Diskursen unterscheidet er dann vier Komplexe, die sich durch Regelmäßigkeiten in ihren diskursiven Praxen auszeichnen und mit den genannten Existenzfunktionen von Aussagen korrespondieren.23) Diskurse werden demnach durch die Formationsregeln der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffe und der Strategien strukturiert und damit konstituiert. [18]

Diese Formationsregeln erläutert FOUCAULT in der "Archäologie des Wissens" folgendermaßen: Bei der Formation des Gegenstands geht es darum, die Diskurse

"als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben" (FOUCAULT 1973, S.74). [19]

FOUCAULT fragt also, welcher Gegenstand bzw. Erkenntnisbereich im Diskurs nach welchen Regeln hervorgebracht wird. [20]

Ausgehend davon bestimmt er die Formation der Äußerungsmodalität als die Position des sprechenden Individuums. Dabei fragt FOUCAULT (1973, S.75):

"Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art der Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Wer erhält von ihr seine Einzigartigkeit, seine Prestige, und umgekehrt: Von wem erhält sie wenn nicht ihre Garantie, so wenigstens ihren Wahrheitsanspruch? Welches Statut haben die Individuen, die (und zwar sie allein) das reglementäre oder traditionelle, juristisch definierte oder spontan akzeptierte Recht besitzen, einen solchen Diskurs hervorzubringen"? [21]

In Bezug auf die Analyse der Begriffsformation beschäftigt sich FOUCAULT mit dem Problem, wie im Diskurs spezifische Begriffe miteinander verbunden werden. Es geht ihm darum, die Verstreuungen zu analysieren, die zwischen den Begriffen Deduktionen, Ableitungen, Kohärenzen, Unvereinbarkeiten, Ersetzungsmöglichkeiten, Widersprüche etc. definieren. Eine solche Analyse betrifft in spezifischer Art und Weise also insbesondere auch eine "vorbegriffliche(n) Ebene", nämlich das Feld, in dem "Begriffe nebeneinander bestehen können, und die Regeln, denen dieses Feld unterworfen ist" (ebd.). [22]

Im Hinblick auf die Untersuchung der strategischen Wahl konzediert FOUCAULT (1973, S.96), dass diese noch die "Gestalt einer Baustelle" habe und er so nur im Stande sei, eine recht vage Untersuchungsrichtung aufzuzeigen. Dabei schlägt er vor, die Bruchpunkte des Diskurses zu bestimmen, die Ökonomie der diskursiven Konstellation zu untersuchen und die Funktion des Diskurses im Feld der nicht-diskursiven Praxen zu erforschen. FOUCAULT geht es hier insbesondere um die folgende Frage: Welche Funktion besitzt ein Diskurs im Feld politischer und ökonomischer – also nicht-diskursiver – Praktiken? Laut FOUCAULT lassen sich innerhalb einer diskursiven Formation unterschiedliche Strategien der theoretischen Wahl definieren. So gäben beispielsweise der ökonomische, medizinische oder biologische Diskurs "bestimmten Begriffsorganisationen, bestimmten Umgruppierungen von Gegenständen, bestimmten Aussagetypen Raum, die gemäß ihrem Grad an Kohärenz, Strenge und Stabilität Themen oder Theorien bilden" (FOUCAULT 1973, S.94). Insofern könnten die Strategien der theoretischen Wahl als Optionen verstanden werden, Diskursobjekte zu behandeln, Äußerungsmodalitäten zur Verfügung zu stellen sowie Begrifflichkeiten zu manipulieren. Dabei regelten diese Strategien insbesondere die Abgrenzung zeitgenössischer und benachbarter24) Diskurse voneinander, das Verhältnis dieser Diskurse untereinander und ihren Einfluss aufeinander. Diese Beziehungen konstituieren für FOUCAULT schließlich eine "Ökonomie der diskursiven Konstellationen" (FOUCAULT 1973, S.97), die wiederum die Funktionen strukturiert, die der Diskurs im Feld der nicht-diskursiven Praktiken ausübt. [23]

Zusammenfassend kann also gesagt werden: FOUCAULT fragt bei dem von ihm beschriebenen Verfahren der Diskursanalyse erstens welcher Gegenstand bzw. Erkenntnisbereich diskursiv hervorgebracht wird, zweitens nach welcher Logik die Begrifflichkeiten konstruiert werden, drittens wer autorisiert ist, über den Gegenstand zu reden, und schließlich viertens welche strategischen Ziele in einem Diskurs verfolgt werden. [24]

4.2 Die Machtanalyse

Wie bereits erwähnt, hat FOUCAULT in Bezug auf seine Machtanalysen kein systematisches Begriffsinstrumentarium formuliert. Jedoch konturiert er seine machtanalytischen Überlegungen gegenüber anderen machttheoretischen Vorstellungen. Dabei nimmt FOUCAULT – ähnlich wie schon bei der Diskursanalyse – auch bei seinen Machtanalysen unterschiedliche Dekonstruktionsoperationen vor: Er kritisiert erstens klassische Souveränitätslehren und lehnt zugleich eine von ihm unterstellte marxistische In-Eins-Setzung von Macht und Klassenmacht ab. Denn ihnen liege letztlich die Fiktion eines die Macht innehabenden Subjektes zugrunde.25) Anstatt danach zu fragen, wer die Macht besitzt, fragt FOUCAULT nach den Machtbeziehungen in Begriffen von Taktiken und Strategien. Dabei begreift er Machtverhältnisse als Effekte von komplexen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und wechselt so die Analyseperspektive. Denn er versucht, die Praktiken der Menschen als die, die sie "wirklich" sind, zu sehen und wählt dabei die verstreuten Kräfteverhältnissen als Ausgangspunkt.26) Zweitens lehnt FOUCAULT etatistische Machtkonzeptionen ab. Gegen die Prinzipien Lokalisierung und Zentralisierung geht er in seinen Machtanalysen davon aus, dass die Macht "von unten nach oben" ausgehend von "unendlich kleinen Mechanismen" (FOUCAULT 1978, S.83) analysiert werden müssten, da diese "Mikromächte" den gesamten Gesellschaftskörper durchliefen27). Drittens fordert FOUCAULT (1976b, S.250), dass man aufhören solle

"die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur 'ausschließen', 'unterdrücken', 'verdrängen', 'zensieren', 'abstrahieren', 'maskieren', 'verschleiern' würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnisse sind Ergebnisse dieser Produktion".28) [25]

Damit aber wendet sich FOUCAULT viertens gegen eine Entgegensetzung von Macht und Wissen. Vielmehr geht er von einem konstitutiven Zusammenhang zwischen Macht und Wissen aus, wobei der Diskurs für ihn zum Ort politischer Kämpfe wird. Die je eigene Wahrheitsordnung einer Gesellschaft – "ihre 'allgemeine Politik' der Wahrheit" (FOUCAULT 1978, S.51) – manifestiert sich für FOUCAULT darin, dass bestimmte Diskurse als wahre Diskurse gelten, dass Mechanismen und Instanzen eine Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen ermöglichen und gleichzeitig die Art und Weise ihrer Sanktionierung festlegen, dass bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung hervorgebracht werden und schließlich, dass ein spezifischer Status für diejenigen existiert, die darüber zu entscheiden haben, was als wahr oder falsch gilt. Da FOUCAULT (1978, S.75) Wahrheit und Macht konstitutiv aufeinander bezieht, stellt er gleichzeitig die Frage danach, "welcher Machttyp (...) Diskurse der Wahrheit zu produzieren [vermag; A.D.B.], die in einer Gesellschaft wie der unsrigen mit derart mächtigen Wirkungen ausgestattet sind". [26]

Diese Dekonstruktionsoperationen dienen FOUCAULT dazu, vertraute "Gewissheiten" traditioneller Machttheorien zu erschüttern. So erhält er über eine ganz ähnliche Operation wie bei der Diskursanalyse seinen genealogischen Untersuchungsgegenstand: die verstreuten, dezentralen Kräfteverhältnisse. Diese formieren sich genauso wie die verstreuten Aussagen in diskursiven Formationen zu bestimmten Machtformationen. FOUCAULT analysiert nun in verschiedenen Untersuchungen, wie sich verstreute, dezentrale Kräfteverhältnisse zu spezifischen Machtformationen bündeln. Betrachtet man aber diese Machtanalysen, so zeigt sich, dass FOUCAULT hier ähnlichen Fragen nach geht wie in seinen Diskursanalysen. Zur Vermeidung unnötiger Redundanzen, werde ich dies nun am Beispiel seiner Analyse der Disziplinargesellschaft in "Überwachen und Strafen" illustrieren.29) [27]

Diese Untersuchung startet mit der Feststellung, dass im 17. Jahrhundert eine Transformation der Machttechnologien stattgefunden hat: Sei die Bestrafung zuvor als öffentliches Spektakel inszeniert worden, so werde sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinter Gefängnismauern vollzogen. Zugleich erfolge nun statt einer körperlichen Folter eine Bestrafung durch präzise Zeitpläne, denen die Körper unterworfen würden, sowie über ihre wohlüberlegte Verteilung im Raum. [28]

Die hier skizzierte Transformation, die ich als machtstrategische Wahl verstehe, liegt für FOUCAULT nun in ökonomischen und bevölkerungspolitischen Problemstellungen begründet, für deren Lösung sich der alte Machttypus als nicht mehr effektiv genug erwiesen habe. Deshalb formiere sich statt des primär abschöpfend und repressiv funktionierenden klassisch-juridischen Machttypus nun ein moderner Machttypus, nämlich die Disziplinarmacht. Sie funktioniere primär wertschöpfend und produktiv. Über welche spezifischen Machttechniken bzw. Machttechnologien und Autorisierungsinstanzen sind nun, so fragt FOUCAULT weiter, bestimmte Strukturen von Machtbeziehungen hervorgebracht worden? In seiner Antwort beschreibt er infinitesimale Techniken, die er als Disziplinartechniken bezeichnet. Als deren höchste Stufe versteht FOUCAULT die Taktik, begriffen als die Kunst, über eine spezifische räumliche Anordnung von Körpern und eine exakte zeitliche Codierung von Tätigkeiten Menschen zu Elementen einer übergeordneten Maschinerie zu machen. Um das Wissen über die Individuen zu optimieren, spanne man sie in ein Netz hierarchisierender Überwachungen ein. Gleichzeitig übernehme spezialisiertes Personal die Aufgabe, normierende Sanktionen durchzusetzen. In Armee, Schule, Manufaktur und Spital werde auf diese Weise ein System von "Subjustizen"30) ausgebildet: So entstehe eine Mikro-Justiz der Zeit, die Verspätungen, Unterbrechungen und Absenzen aufs Genaueste protokolliere, eine Mikro-Justiz der Tätigkeiten, die unbarmherzig Nachlässigkeiten und Unaufmerksamkeiten bestrafe, eine Mikro-Justiz des Körpers, die "unangemessene" Verhaltensweisen und Gesten ahnde, und schließlich eine Mikro-Justiz der Sexualität, die mit "Schamlosigkeiten" jedweder Art hart ins Gericht gehe. Dieses System von Subjustizen funktioniere normierend. Denn man dokumentiere Handlungen, Fähigkeiten, Unterlassungen und Verstöße. Mit Hilfe dieser Dokumentationen würden dann Normen31) formuliert, die zur hierarchisierenden Differenzierung der Individuen herangezogen würden. Schließlich verschränkten sich die Techniken der überwachenden Hierarchie und der normierenden Sanktion im ritualisierten Akt der Prüfung, der es ermögliche, Machttechniken und Wahrheitsermittlung zu verknüpfen. Auf diese Weise entstehe ein spezifisches Feld von Machtbeziehungen, in dem Menschen zu Objekten einer normierenden Kontrolle würden und so überwachenden Kontrollen ausgesetzt seien. [29]

Laut FOUCAULT realisiert das von Jeremy BENTHAMs 1787 erbaute Panopticon architektonisch die idealtypischen Prinzipien dieses Machtfeldes. Denn im Panopticon genüge ein einzelner Beobachter in einem Turm, um alle Insassen des Gefängnisses zu überwachen. Die Wirkung des Panapticons bestehe darin, einen bewussten und steten "Sichtbarkeitszustand (...) beim Gefangenen [zu schaffen], der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt" (FOUCAULT 1976a, S.258). So gelinge es, ein Machtverhältnis zu installieren, ohne die Macht physisch konkret auszuüben, da die Zelleninsassen gezwungen seien, sich stets so zu verhalten, als ob sie überwacht würden. Insofern stützten die Insassen des Panopticons selbst das über sie installierte Machtnetz: Sie seien Zielscheibe und Stützpunkt der Macht zugleich. [30]

Das hier am Beispiel des Gefängnisses beschriebene panoptische Prinzip enthält laut FOUCAULT in konzentrierter Form all' jene Disziplinierungsmechanismen, die typisch für die Disziplinargesellschaft werden sollen.32) Für ihn erschöpft sich nämlich die Aufgabe dieser Gefängnisse gerade nicht darin, die Menschen (mit Freiheitsentzug) zu bestrafen. Vielmehr gehe es darum, "Transformationen an den Individuen vorzunehmen" (FOUCAULT 1976a, S.317). Menschen sollen "nach den allgemeinen Normen einer industriellen Gesellschaft mechanisiert" (FOUCAULT 1976a, S.310) werden. Dabei erfasse der Disziplinarapparat über das System der Subjustizen, die als Autorisierungsinstanz verstanden werden können, Physiognomie, moralische Einstellung, Arbeitsvermögen aber auch andere Verhaltenspotenziale der Individuen. FOUCAULT versteht nun diesen Panoptismus, den er in mikroprozessuraler Perspektive am Beispiel der Geburt des Gefängnisses beschreibt, als paradigmatisch für makrostrukturale Phänomene. In dieser Perspektive beschreibt er die Ausbreitung des panoptischen Prinzips: Es etabliere sich ausgehend vom Gefängnis in anderen Institutionen, wie zum Beispiel den Schulen, den Kasernen, den Hospitälern sowie den Manufakturen, und formiere sich schließlich zu einem "Disziplinarregime", das schließlich in eine "Normalisierungsgesellschaft" einmünde. [31]

Diese kurze Skizze der machtanalytischen Verfahrensweise in "Überwachen und Strafen" verdeutlicht meines Erachtens, dass FOUCAULT in seinen Machtanalysen ähnliche Frageperspektiven untersucht wie in seinen diskursanalytischen Studien. So fragt er nach den Strukturen eines spezifischen Feldes von Machtbeziehungen, nach den sie ermöglichenden Technologien, nach den Gründen für oder gegen eine strategische Wahl einer bestimmten Struktur von Machtbeziehungen und schließlich nach den Entstehungsgründen von bestimmten Machtzentren, die ein reibungsloses Funktionieren dieser Machttechnologien ermöglichen. Darüber hinaus geht es FOUCAULT auch in seinen Machtanalysen – wie schon in seinen diskursanalytischen Studien – um die Analyse der Regeln, nach denen sich im Hinblick auf diese Frageperspektiven die verstreuten Kräfteverhältnisse formieren. FOUCAULT untersucht also auch hier spezifische Formationsebenen, die auch in seinen Machtanalysen nicht unvermittelt nebeneinander stehen. [32]

In Anlehnung an die FOUCAULTschen Begrifflichkeiten zur Diskursanalyse spreche ich deshalb mit Blick auf die Frage nach den Machtbeziehungen vom Feld der Machtbeziehungen, in Bezug auf die Frage nach den Technologien von der Formation der Machttechniken/-technologien, im Hinblick auf die Frage nach bestimmten Machtzentren von der Formation der Autorisierungsinstanz und schließlich in Bezug auf die machtstrategische Frage von der Formation der Machtstrategie. Diese Begrifflichkeiten dienen im Folgenden zur Bezeichnung der unterschiedlichen Untersuchungsebenen im Rahmen einer dispositivanalytischen Erforschung der Beziehungen in Machtformationen. [33]

4.3 Die Dispositivanalyse

FOUCAULT erforscht nun ebenfalls in seinen Dispositivanalysen die Beziehungen zwischen den Formationsebenen der Machtanalyse und der Diskursanalyse. So untersucht er in "Überwachen und Strafen" nicht nur, welche Disziplinartechnologien angewendet werden, sondern auch, welche begriffliche Architektur diesen zur Seite steht. Er analysiert nicht nur die Entstehungsgeschichte bestimmter Subjustizen, sondern auch inwiefern diese die entstehenden Humanwissenschaften stützen, um sich als "Herren der Wahrheit" im Diskurs zu autorisieren. Grundsätzlich fragt FOUCAULT also jeweils mit Blick auf eine konkrete Fragestellung, wie sich bestimmte Diskurse mit bestimmten Machtformationen zu einem spezifischen Dispositiv verbinden. Wiederum am Beispiel von "Überwachen und Strafen" möchte ich im Folgenden kurz nachzeichnen, wie FOUCAULT diese Verbindungen denkt. Dabei konzentriere ich mich an dieser Stelle auf die Verknüpfung der Frage nach der Formation des Feldes von Machtbeziehungen mit der Frage nach der Formation eines bestimmten Gegenstandes bzw. Erkenntnisbereichs. [34]

In "Überwachen und Strafen" beschreibt FOUCAULT die Beziehungen zwischen der Macht und dem Wissen als reziprok und positiv. Denn für ihn verweisen – wie bereits erwähnt – Macht und Wissen konstitutiv aufeinander.33) Diesen Verweisungszusammenhang bezeichnet er als Macht-Wissen-Komplex. Dieser bilde zum Beispiel die gemeinsame Basis einer Humanisierung des Strafvollzugs und der Formierung der Humanwissenschaften.34) Aufgrund des in ihnen angehäuften Wissens spielten die Disziplinartechnologien sowie das durch und über sie hervorgebrachte panoptische Machtfeld eine zentrale Rolle bei der Formierung der Humanwissenschaften. Diese verbänden sich nämlich mit den objektivierenden Disziplinarverfahren der Kontrolle, die "ihren Mutterboden und ihr Muster in der kleinlichen und boshaften Gründlichkeit der Disziplinen und ihrer Nachforschungen" (FOUCAULT 1976a, S.290) hätten. Dabei wandelten sich die Praktiken der Erkenntnisgewinnung: Subjekt und Objekt des Wissens, aber auch die Form der Erkenntnisgewinnung würden zu Effekten des Macht-Wissen-Komplexes, in dessen Kern sich Mechanismen der "objektivierenden Vergegenständlichung" (FOUCAULT 1976a, S.394) etablierten. Man objektiviere also mit Hilfe dieser modernen Machttechnologien die Menschen, deren Seele, Wesen und Verhalten, insofern sie isoliert, quantifiziert, hierarchisiert und öffentlich zur Schau gestellt würden. So produzierten die Humanwissenschaften "objektive" Wahrheiten über die "Natur" des Menschen.35) Am Ende dieser gesellschaftlichen Prozesse stehe die Etablierung eines "Inhaftierungsdispositivs", in dem sich Machttechniken und Wissenspraktiken zur Hervorbringung und Modellierung spezifischer Individualitätsmerkmale verschränkten. Für FOUCAULT (1976a, S.216) ist diese Individualität "zellenförmig (aufgrund der räumlichen Parzellierung); sie ist organisch (dank der Codierung der Tätigkeiten); sie ist evolutiv (aufgrund der Zeithäufung); sie ist kombinatorisch (durch die Zusammensetzung der Kräfte)". [35]

Dieses Beispiel sollte verdeutlicht haben, dass FOUCAULT in seinen gegenstandsbezogenen Studien das Verfahren der Machtanalyse mit dem der Diskursanalyse verknüpft. Er untersucht nämlich – ausgehend von der Frage nach dem (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen – zum einen, welcher Wissensgegenstand bzw. Erkenntnisbereich diskursiv hervorgebracht wird, nach welcher Logik die Begrifflichkeiten konstruiert werden, wer autorisiert ist, über den Gegenstand zu reden, und schließlich welche strategischen Ziele in dieser diskursiven Praxis verfolgt werden. Zum anderen aber geht es ihm auch darum zu untersuchen, über welche Autorisierungsinstanzen sowie Machttechniken diese diskursiven Praktiken in welchem Feld der Machtverhältnisse gestützt bzw. durchgesetzt werden und welchen machtstrategischen Zielen sie dienen. Ausgehend von vielfältigen Kräfteverhältnissen und Aussagen tritt also im Verfahren der hier rekonstruierten FOUCAULTschen Dispositivanalyse neben die Analyse von Diskursbeziehungen eine Analyse der Machtbeziehungen und eine Analyse ihres Zusammenspiels in Form von Diskurs- und Machtformationen. [36]

Mit Blick darauf bestimme ich zunächst die folgenden unterschiedlichen, gleichwohl interdependenten Untersuchungsebenen36): Für die Analyse der diskursiven Beziehungen können mit FOUCAULT die Ebene des Gegenstands bzw. des Erkenntnisbereichs, der Äußerungsmodalität, der Begriffskonzeption und der strategischen Wahl unterschieden werden. Mit Blick auf die Analyse der Machtbeziehungen spreche ich dann vom Feld der Machtbeziehungen, der Autorisierungsinstanz, der Machttechniken bzw. -technologien und der Machtstrategie. Bezieht man diese diskursanalytischen und machtanalytischen Formationsebenen systematisch aufeinander, ergeben sich vier unterschiedliche Untersuchungsebenen einer Dispositivanalyse, die ich schließlich folgendermaßen bezeichne: Referenzbereich, Regulierungsinstanz, Regulierungsverfahren und strategischer Imperativ. Beim Referenzbereich steht die Verbindung zwischen Gegenstand und Feld der Machtbeziehungen im Mittelpunkt, bei der Regulationsinstanz geht es um den Zusammenhang zwischen Äußerungsmodalität und Autorisierungsinstanz, in Bezug auf das Regulationsverfahren konzentriert sich das Interesse auf die Verbindung zwischen Begriffskonzeption und Machttechniken/-technologie und schließlich richtet sich der Blick beim strategischen Imperativ auf mögliche Verknüpfungen zwischen strategischer Wahl und Machtstrategie. Die nachfolgende Abbildung 1 illustriert die Ergebnisse der hier systematisch rekonstruierten Dispositivanalyse im Anschluss an FOUCAULT.



Abbildung 1: Dispositivanalytische Untersuchungsebenen im Anschluss an FOUCAULT [37]

5. Die gesellschaftstheoretische Fundierung der Dispositivanalyse

Ausgehend von dieser Rekonstruktion der FOUCAULTschen Dispositivanalyse ergibt sich allerdings ein methodologisches Problem. Denn FOUCAULT nimmt in seinen Dispositivanalysen – wie vorgeführt anhand seiner machtanalytischen Vorgehensweise in "Überwachen und Strafen" – primär eine mikroprozessurale Perspektive ein, die er allerdings als eine paradigmatische Analyse auch makrostrukturaler Phänomene verstanden wissen will. Dies impliziert, dass er die Ergebnisse seiner Dispositivanalysen zwar im Kontext von Modernisierungsprozessen interpretiert, jedoch diese nicht gesellschaftstheoretisch reflektiert. [38]

Nun habe ich eingangs kurz erwähnt, dass die Anforderung, als unternehmerisches Selbst zu agieren, unabhängig von Sozialstrukturkategorien wie Klasse, Ethnizität ("race") und Geschlecht zu gelten scheint. Dass es sich hier aber nur um eine rhetorische "Gleichberechtigung" handelt, machen z.B. Ulrich BRÖCKLING oder auch Katharina PÜHL in Bezug auf die Kategorie Geschlecht deutlich. [39]

BRÖCKLING (2002, S.184) konstatiert in seiner – allerdings nicht repräsentativen Betrachtung – von Gender-Konstruktionen in Selbstmanagement-Ratgebern, dass das unternehmerischen Selbst "kein Geschlecht zu haben" scheine. Die "totale Mobilmachung im Zeichen des Marktes" (ebd.), so erläutert er, erfasse "gleichermaßen Männer wie Frauen, aber sie erfasse sie nicht unbedingt in gleicher Weise", insofern nämlich Frauen faktisch als "markiertes Geschlecht" thematisiert würden. Denn die Frauen-Erfolgsratgeber bestünden darauf, "dass die angehende Selbstunternehmerin mit anderen Problemen zu kämpfen und sich deshalb anderer Strategien und Taktiken zu bedienen hat als ein Mann" (ebd.). Deshalb sollten Frauen spezifische Übungen absolvieren, um "fit für den Markt" zu werden. [40]

Diese Ambivalenz rhetorischer Geschlechtsneutralität und faktischer Geschlechtsmarkierung konstatiert auch PÜHL (2003) bei ihrer Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der Hartz-Reformen für das Geschlechterverhältnis. Frauen werden – laut PÜHL – im Rahmen der Hartz-Reformen zwar geschlechtsneutral als unternehmerisches Selbst aufgerufen. Dabei blieben allerdings die bestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und deren Konsequenzen insbesondere im Hinblick auf zwei Punkte ausgeblendet: die de facto Zuständigkeit von Frauen für Haushalt und Kindererziehung sowie die bestehenden Benachteiligungen von Frauen gegenüber Männern auf dem Arbeitsmarkt.37) Diese Ausblendungen führen aber gerade zu einer faktischen Diskriminierung von Frauen. [41]

Ausgehend von diesen Überlegungen ergibt sich also, dass das unternehmerische Selbst zumindest geschlechtlich markiert zu sein scheint. Damit besteht aber die Notwendigkeit einer gesellschaftstheoretischen Fundierung des dispositivanalytischen Verfahrens. Das Verfahren muss so modifiziert werden, dass Sozialstrukturkategorien, wie hier z.B. die Kategorie Geschlecht, systematisch eingebunden werden können. [42]

Meinen Vorschlag zur gesellschaftlichen Fundierung der FOUCAULTschen Dispositivanalyse möchte ich zum Abschluss kurz am Beispiel der Kategorie Geschlecht vorführen. Ich gehe dabei von Regina BECKER-SCHMIDTs Entwurf einer Theorie des Geschlechterverhältnisses aus.38) BECKER-SCHMIDT bezeichnet mit dem Begriff Geschlechterverhältnis das Insgesamt institutionalisierter Gegebenheiten sowie normativer Regelungen, über die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einer spezifischen Kultur die Genus-Gruppen gesellschaftlich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.39) Zur Bestimmung eines historisch-konkreten Geschlechterverhältnisses ist deshalb zu untersuchen, "welche Positionen die Genus-Gruppen in den gesellschaftlichen Hierarchien einnehmen und welche Legitimationsmuster es für geschlechtliche Rangordnungen gibt" (BECKER-SCHMIDT & KNAPP 1995, S.18). Darüber hinaus ist zu fragen, wo Bruchstellen und Verschiebungen existieren, an denen sich Veränderungstendenzen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis abzeichnen. [43]

Ein fruchtbarer Weg zur Beantwortung dieser Fragen besteht – wie ich denke – darin, den Blick auf die Widersprüchlichkeiten der gesellschaftlichen Machtverhältnisse selbst zu lenken. Dann geht es darum, den Verschränkungen geschlechtlich markierter Subjektivierungsweisen mit den gesellschaftlichen Macht- bzw. Geschlechterverhältnissen nachzuspüren. Damit aber verschiebt sich der Blick von kontinuierlichen Entwicklungstendenzen – die FOUCAULT in seinen dispositivanalytische Studien immer wieder nahe zu legen scheint, obwohl er doch stets auf der Bedeutung von Brüchen beharrt – auf die konflikthaften und widersprüchlichen Konstellationen im gesellschaftlichen Ganzen. Zudem wird so deutlich, dass Familie, Militär, Kirche, Erwerbssphäre usw. in modernen Gesellschaften – also für FOUCAULT die Orte mikroprozessualer Disziplinierungen und Normalisierungen – eben nicht nur als einzelne, isolierte Sphären, sondern als hierarchisch zusammengeschlossen zu denken sind.40) [44]

In dieser Perspektive wird also FOUCAULTs Modell der Normalisierungsgesellschaft um ein Konzept ergänzt, das explizit41) die Komplexität des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in den Blick nimmt und damit den Über- und Unterordnungsverhältnisse nachgeht, in die die Menschen hinein genommen werden. So lässt sich aufzeigen, wie Frauen und Männer in hierarchischer, konflikthafter Art und Weise in einen widersprüchlichen gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden werden. Darüber hinaus kann erforscht werden, über welche spezifischen Subjektivierungsweisen sie unterschiedliche und widersprüchliche Formen der Vergesellschaftung erfahren, die bis in ihre Persönlichkeitsstrukturen hineinreichen. [45]

Dies impliziert für die FOUCAULTsche Dispositivanalyse, dass die unterschiedlichen Formationsebenen innerhalb eines Dispositivs im Hinblick auf die Sozialstrukturkategorie Geschlecht zu untersuchen sind. Darüber hinaus muss auch eine Historisierung und Kontextualisierung eines historisch-spezifischen Dispositivs mit Blick auf die Komplexität des je spezifischen hierarchischen Geschlechterverhältnisses erfolgen. Damit sind also die von mir bisher im Hinblick auf die FOUCAULTsche Dispositivanalyse rekonstruierten Untersuchungsebenen um eine weitere Ebene zu ergänzen: nämlich die der Kontextualisierung und Historisierung sowohl der einzelnen Formationsebenen als auch ihres Zusammenspiels in einem historisch spezifischen Dispositiv im Feld der komplexen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Macht- bzw. Herrschaftsverhältnisse. [46]

6. Fazit

Die Gouvernmentality Studies konstatieren zwar für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und dessen Aufstieg zur hegemonialen Subjektivierungsweise für den Beginn des 21. Jahrhunderts. Jedoch haben sie bisher nicht die Fragen beantwortet, wie diese Subjektivierungsweise hervorgebracht wurde und wie es dazu gekommen ist, dass sie hegemonial geworden ist. Dieses Forschungsdefizit geht m. E. auf ein tiefer gehendes methodologisch-methodisches Problem zurück: Weitgehend ungeklärt ist nämlich bisher, wie dieses in den Gouvernmentality Studies konstatierte (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen theoretisch begriffen und empirisch beschrieben werden kann, ohne einerseits substanz-ontologische Auffassungen von Subjektivierung vorauszusetzen und ohne andererseits Subjektivierung diskursiv aufzulösen und so in die Fallstricke eines linguistischen Idealismus zu geraten. Mein Vorschlag zur Lösung dieses Problems besteht nun darin, das (Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen als Effekt diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken – also dispositiver Praktiken – zu begreifen. In dieser Perspektive geht es dann darum, diese Praktiken und ihre Formierung zu einem Dispositiv zu untersuchen. Mit genau dieser Frage hat sich aber auch FOUCAULT in seinen materialreichen Studien zur Formierung und Transformierung moderner Subjektivierungsweisen auseinandergesetzt. Zur Operationalisierung dieses Verfahrens habe ich die Dispositivanalyse anhand ihrer Anwendung bei FOUCAULT selbst systematisch rekonstruiert. Dabei verweist die Rekonstruktion allerdings darauf, dass die FOUCAULTsche Dispositivanalyse nicht gesellschaftstheoretisch fundiert ist und es so ermöglicht, sozialer Strukturkategorien, wie etwa Klasse, Ethnizität ("race") oder Geschlecht systematisch zu berücksichtigen. [47]

Mit Blick darauf, dass in den Gouvernmentality Studies die geschlechtliche Markierung des unternehmerischen Selbst bereits konstatiert worden ist, entwickelte ich dann zunächst einen Vorschlag zur gesellschaftlichen Fundierung der FOUCAULTschen Dispositivanalyse am Beispiel der Kategorie Geschlecht. Dabei gehe ich vom Entwurf einer Theorie des Geschlechterverhältnisses aus. Damit ist zu klären, wie soziale Gruppen und/oder Genus-Gruppen durch spezifische Verfahren – über Prozesse sozialer Differenzierung, des Ein- und Ausschlusses bzw. der Über- und Unterordnung – zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. [48]

Ich denke, die hier formulierten Überlegungen zur gesellschaftstheoretisch fundierten Dispositivanalyse stellen die methodologisch-methodischen Voraussetzungen zur Verfügung, um z.B. zu erforschen, wie, weshalb und durch welche Institutionen die Subjektivierungsweise des unternehmerischen Selbst am Beginn des 21. Jahrhunderts hegemonial geworden ist. Die Erforschung dieser Fragestellung selbst aber bleibt die Aufgabe anderer Forschungsanstrengungen. [49]

Anmerkungen

1) Gilles DELEUZE (1979, S.327) hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass das Soziale keine ahistorische Existenzform des Menschen ist. Vielmehr verweise "(d)as Soziale (...) auf einen besonderen Sektor, zu dem sehr verschiedene Probleme, Spezialfälle, spezifische Institutionen, ein qualifiziertes Personal (...) gehörten". <zurück>

2) Für die deutschsprachige Rezeption sind die wichtigen Anthologien von BRÖCKLING, LEMKE und KRASMANN (2000), PIEPER und GUITEREZ RODRIGUEZ (2003) sowie das Sonderheft der Zeitschrift "Peripherie" (2003); für den angelsächsischen Raum die Anthologien BARRY, OSBORNE und ROSE (1994), BURCHELL, GORDON und MILLER (1991), DEAN und HINDESS (1998) sowie einige Aufsätze in der Zeitschrift "Economy and Society" hervorzuheben. <zurück>

3) Hat FOUCAULT noch bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre hinein Macht vor allem in der Perspektive von Kampf, Krieg und Eroberung erforscht, so erkennt er Ende der 1970er Jahre, dass eine solche Perspektive zwei gravierende Mängel aufweist: Er konzentrierte sich erstens allein auf die Disziplinierung von Körpern, ohne die umfassenderen Subjektivierungsprozesse systematisch zu beachten. Zweitens erwies es sich als fatal, dass FOUCAULT in seiner Kritik an staatszentrierten Analysen den Blick einseitig auf lokale Praktiken und spezifische Institutionen – wie etwa Gefängnis oder Hospital – richtete und damit den Staat selbst, verstanden als Resultante gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, aus seiner Analyse ausblendete. Ausgehend von diesen Überlegungen beschäftigt sich FOUCAULT dann seit 1978 mit einer programmatischen Verknüpfung von Machtformen mit Subjektivierungsweisen (vgl. dazu auch BÜHRMANN 2004). <zurück>

4) Vgl. dazu FOUCAULT 2000a, 2000b. <zurück>

5) Der Begriff der Regierung avanciert zu einem zentralen Grundbegriff in FOUCAULTs weiteren Arbeiten: Er dient FOUCAULT zur Differenzierung zwischen Herrschaft und Macht, zur Vermittlung zwischen Macht und Subjektivität und schließlich zur Erforschung von Macht-Wissen-Komplexen. <zurück>

6) Anders als der "verberuftlichte Arbeitnehmer" kennzeichnet den "Arbeitskraftunternehmer" insbesondere eine erweiterte Selbstkontrolle der eigenen Tätigkeiten, ein Zwang zur verstärkten Ökonomisierung der eigenen Arbeitsfähigkeiten und -leistungen sowie eine Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung (vgl. VOSS & PONGRATZ 1998, S.131). <zurück>

7) Vgl. etwa PÜHL und SCHULTZ 2001; PÜHL 2003; SCHULTZ 2003. <zurück>

8) Vgl. dazu BOHNSACK 2003, S.144. <zurück>

9) Vgl. dazu ausführlich etwa SCHROER 2001, S.15-42. <zurück>

10) Eine Kritik daran versucht BRÖCKLING (vgl. 2002, S.179) als "Mißverständnisse" oder gar "soziologische Selbstmißverständnisse" abzutun. <zurück>

11) Anne WALDSCHMIDT (1995, S.38) führt zur Semantik der französischen Vokabel "dispositif" aus: "Die französische Vokabel 'dispositif' findet sich in technischen, juristischen, medizinischen und militärischen Kontexten und bezeichnet Vorkehrungen mit dem Ziel, eine strategische Operation durchzuführen. Ein Dispositiv meint zusammengehörende Teile, die gemeinsam eine Apparatur, eine Maschine oder einen Mechanismus bilden. Es kann auch ein Ensemble von Handlungen, Schritten und Arbeiten bedeuten, die zur Vorbereitung von Interventionen und Eingriffen getätigt werden. Ein Dispositiv impliziert den Aufbau von Spielregeln, das Herstellen von Bedingungen, um ein bestimmtes Geschehen ablaufen zu lassen. Kurz, ein Dispositiv ist ein Arrangement, eine Anordnung oder Aufstellung, eine Vorrichtung oder Gliederung". Auf den methodisch-methodologischen Stellenwert des Dispositivbegriffd bei FOUCAULT werde ich im Folgenden noch ausführlich eingehen. <zurück>

12) Vgl. OPITZ 2004, S.21. <zurück>

13) In vielen Kommentaren wird behauptet, FOUCAULTs Werk sei von Brüchen und Diskontinuitäten geprägt. Dabei werden im Regelfall drei Werkphasen bzw. Untersuchungsachsen unterschieden, die in einem höchstens negativen systematischen Bezug zueinander gesehen werden. Die Einteilung selbst wird mit den strikt unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen und -methoden dieser Phasen bzw. Achsen begründet: In der diskurstheoretischen Phase untersuche FOUCAULT Diskurse. In der machttheoretischen Phase beschränke sich sein Forschungsinteresse weitgehend auf die Analyse von Machtbeziehungen, einige neuere Studien diagnostizieren hier auch eine theoretische Neuorientierung, insofern FOUCAULT nun zwischen Macht und Herrschaft differenziere und den Begriff der Regierung einführe. Demgegenüber wird die ethische Phase als radikale Abkehr vom Thema der Macht verstanden. Entsprechend dieser Lesart vollzieht FOUCAULT nach dem "Scheitern" seiner Genealogie der Macht einen radikalen "Bruch", der als eine "Rückkehr" zum "existentialistischen Frühwerk" FOUCAULTs bzw. zu "subjekttheoretischen Fragestellungen" interpretiert wird (vgl. BÜHRMANN 2004). <zurück>

14) Zur erkenntnispolitischen Position der FOUCAULTschen Ontologie der Gegenwart und ihren Zielen vgl. insbesondere SCHÄFER 1995; LEMKE 1997. Zu den "Affinitäten" zwischen dieser kritischen Ontologie und den philosophischen Positionen HEIDEGGERs vgl. zuletzt insbesondere ROSENBERG und MILDMANN 2003. <zurück>

15) Vgl. JÄGER 2001a, 2001b. <zurück>

16) Zentrale Gedanken der folgenden Ausführungen habe ich im Rahmen des Forschungsprojektes "Der Kampf um 'weibliche Individualität'. Ein Beitrag zur Analyse moderner Subjektivierungsweisen im Deutschland der Jahrhundertwende" entwickelt. Die Forschungsergebnisse sind mittlerweile als Habilitationsschrift der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. BÜHRMANN 2004). <zurück>

17) So lautet der Titel von Hubert L. DREYFUS' und Paul RABINOWs (1987) Studie über FOUCAULTs Forschungsansatz. <zurück>

18) Georg KNEER (1996, S.220) wie auch DREYFUS und RABINOW (1987, S.111f) machen darauf aufmerksam, dass FOUCAULT den hermeneutischen Sinnbegriff auf eine bestimmte Spielart der Hermeneutik, nämlich den hermeneutischen Intentionalismus, reduziert. <zurück>

19) Die Ablehnung eines souveränen Subjekts bedeutet nicht, dass FOUCAULT jegliche Vorstellung eines handelnden Subjekts negiert, wie dies zum Beispiel HABERMAS (1985) unterstellt hat (vgl. hierzu auch BÜHRMANN 1995). <zurück>

20) Vgl. FOUCAULT 1973, S.178. <zurück>

21) SCHÄFER (1995, S.171) weist darauf hin, dass FOUCAULT den Begriff "Ereignis" in spezifischer Weise gebraucht: "Mit Ereignis ist nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht gemeint, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktionierung einer Sprache" (FOUCAULT 1991, S.98). <zurück>

22) In diesem Zusammenhang spricht FOUCAULT (1973, S.58) von einer diskursiven Formation, wenn "man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte". <zurück>

23) Zum Korrespondenzverhältnis zwischen Aussagen- und Diskursanalyse vgl. KAMMLER 1986; HANKE 1999. <zurück>

24) FOUCAULT (1973, S.97) macht besonders auf die spezifische Rolle der zeitgenössischen und benachbarten Diskurse aufmerksam: "Um von den Entscheidungen zu berichten, die unter all denen vollzogen worden sind, die hätten vollzogen werden können (und nur von diesen), muß man die spezifischen Entscheidungsinstanzen beschreiben. An erster Stelle unter ihnen die Rolle, die der untersuchte Diskurs im Verhältnis zu denjenigen spielt, die ihm zeitgenössisch und benachbart sind". <zurück>

25) Vgl. KAMMLER 1986, S.143. <zurück>

26) Vgl. FOUCAULT 1976b, S.99. <zurück>

27) FOUCAULT (1978, S.110) konstatiert: "Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und einem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht weiß, verlaufen Machtbeziehungen, die nicht die schlichte und einfache Projektion der großen souveränen Macht auf die Individuen sind; sie sind eher der bewegliche und konkrete Boden, in dem die Macht sich verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit, damit sie funktionieren kann". <zurück>

28) Die Kritik, die unter anderem Hinrich FINK-EITEL (1989), Nancy FRASER (1994), Jürgen HABERMAS (1985), Axel HONNETH (1985), Georg KNEER (1996), Charles TAYLOR (1988) und Michael WALZER (1991) äußern, FOUCAULT analysiere einseitig die repressive Seite der Konditionierung von Individuen, erscheint mir wenig plausibel, insofern FOUCAULT doch gerade die produktiven Momente der "Bio-Macht" betont, die sich auf die Kontrolle und Steuerung des Bevölkerungskörpers bezieht. Ja, er weist dezidiert darauf hin, dass Menschen immer schon an der Konstituierung bzw. Reproduktion bestimmter Machtformationen beteiligt sind. Andererseits geht auch eine Kritik fehl, die FOUCAULT vorwirft, nur die produktiven Seiten der Macht zu betonen. So äußert FOUCAULT (1976b, S.22): "Damit keine Mißverständnisse aufkommen: ich unterstelle nicht, daß der Sex seit dem klassischen Zeitalter nicht verboten, verschlossen, maskiert oder verkannt worden ist. (...) Ich sage nicht, daß das Verbot des Sexes eine Täuschung ist, behaupte aber, daß es eine Täuschung ist, wenn man es zu den grundlegenden und konstitutiven Element macht, von dem ausgehend sich die Geschichte dessen schreiben läßt, was seit Beginn der Moderne über den Sex gesagt worden ist. Alle diesen negativen Elemente – Verbote, Verweigerungen, Zensuren, Verneinungen – die die Repressionshypothese in einem zentralen Mechanismus zusammenfaßt, der auf Verneinung zielt, sind zweifellos nur Stücke, die eine lokale und taktische Rolle in einer Diskursstrategie zu spielen haben: in einer Machttechnik und in einem Willen zum Wissen, die sich keineswegs auf Repression reduzieren lassen". <zurück>

29) Ich vernachlässige hier, dass FOUCAULT in "Überwachen und Strafen" auch das Inhaftierungsdispositiv analysiert, also das Zusammenspiel derjenigen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, mit denen Menschen als "disziplinierte Individuen" hervorgebracht werden. <zurück>

30) Vgl. FOUCAULT 1976a, S.230. <zurück>

31) FOUCAULT (1976a, S.392) definiert die Norm als "eine Mischung aus Gesetzmäßigkeit und Natur, aus Vorschrift und Konstitution". <zurück>

32) Nach Ansicht von SAWICKI (1994, S.616) dient FOUCAULT das Gefängnis nicht als Metapher moderner Gesellschaften (vgl. auch BREUER 1987, S.324ff), sondern vielmehr als theoretisches Modell. <zurück>

33) Vgl. FOUCAULT 1976a, S.39. <zurück>

34) Vgl. FOUCAULT 1976a, S.34. <zurück>

35) Vgl. auch DREYFUS und RABINOW 1987, S.210. <zurück>

36) Alle diese Ebenen sind interdependent, also durch wechselseitige Abhängigkeiten miteinander gekennzeichnet; dennoch sind die handelnden Akteurinnen bzw. Akteure und deren Praxen voneinander zu unterscheiden. <zurück>

37) Vgl. hierzu auch etwa HOCHSCHILD 2002. <zurück>

38) Vgl. hierzu auch OTT 1998. <zurück>

39) Vgl. BECKER-SCHMIDT 1990, S.392; BECKER-SCHMIDT und KNAPP 1995, S.18. <zurück>

40) Regina BECKER-SCHMIDT und Gudrun-Axeli KNAPP (1995, S.10) führen dazu für die Sphäre der Erwerbsarbeit und der Hausarbeit aus: "Da Erwerbsarbeit höher bewertet wird als Hausarbeit, desweiteren Männerarbeit ausschließlich Erwerbsarbeit meint, Hausarbeit dagegen als Frauensache gilt, ergeben sich Hierarchien im Geschlechterverhältnis. Der Mann dominiert sowohl die Erwerbssphäre als auch in der Familie, weil in beiden Sphären seine berufliche Arbeit die Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Geschlechtern mitbestimmt. Die Minderbewertung der Hausarbeit gegenüber jeder wie auch immer professionalisierten Tätigkeit setzt sich fort in der Abwertung typischer Frauenlohnarbeit – diese wird in der Regel schlechter honoriert, weniger gefördert und gewerkschaftlich weniger geschützt". <zurück>

41) Dass FOUCAULT diese Dimension andeutet, darauf weist Ute WALDTSCHMIDT (1995, S.28). "Die Produktionsverhältnisse und Arbeitsbedingungen, die in unserer Gesellschaft widersprüchlich und hierarchisch strukturiert sind, scheinen im Foucault'schen Machtkonzept mitzuschwingen. Klare Aussagen hierzu finden sich jedoch bei Foucault nicht". <zurück>

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Zur Autorin

Andrea Dorothea BÜHRMANN, geb. 1961, PD Dr. phil., Privatdozentin an der Universität Münster und z.Zt. Vertretungsprofessorin an der Universität Dortmund. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Methoden der empirischen Forschung, insbesondere Diskurs- und Dispositivanalysen, Frauen- und Geschlechterforschung, Gesellschafts- und Wissenschaftstheorie.

Kontakt:

Vertr. Prof. Dr. Andrea D. Bührmann

Institut für Soziologie (FB12)
Universität Dortmund
Emil-Figge-Str. 50
D-44227 Dortmund

Tel.: 030 / 755 – 6268

E-Mail: abuehrmann@fb12.uni-dortmund.de

Zitation

Bührmann, Andrea D. (2004). Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität. Einige grundlegende Anmerkungen zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen [49 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 6(1), Art. 16, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0501165.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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