Volume 6, No. 1, Art. 7 – Januar 2005

Rezension:

Torsten Junge

Petra Fosen-Schlichtinger (2002). Über die gesellschaftspolitische Bedeutung von Pränataldiagnostik und künstlicher Befruchtung als Teile moderner Reproduktionstechnologien unter besonderer Berücksichtigung familiensoziologischer Aspekte, ihrer medizinischen Dimension und der Bedeutung des Themas Behinderung als soziales Phänomen. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 220 Seiten, ISBN 3-85487362-X, EUR 19,80

Zusammenfassung: Der vorliegende Band widmet sich den Verhältnissen von Reproduktionsmedizin, Nachkommenschaft und der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Behinderung. Familie und Kinder sind unter der gesellschaftlichen Modernisierung zu einem Projekt der individuellen Lebensplanung geworden. Ein Kind verspricht einen bestimmten gesellschaftlichen Status meist dann, wenn es als wettbewerbsfähiges Kind dem Ideal der Gesellschaft entspricht. Das besondere, nämlich behinderte Kind stellt die Eltern und die Umgebung aufgrund seiner Besonderheit hingegen vor unterschiedlichste Barrieren und Herausforderungen. Dabei ist das gesellschaftliche Klima dem Umgang mit Behinderung nicht ausreichend förderlich. Die medizintechnischen Möglichkeiten wie die Pränatalmedizin oder die künstliche Befruchtung erweisen sich als Möglichkeiten, an der individuellen "Gestaltbarkeit" der eigenen Nachkommenschaft aktiv teilzuhaben und bestimmte, gesellschaftlich unerwünschte Faktoren wie Behinderung auszuschalten. Durch diesen Komplex an medizintechnischen Möglichkeiten, gesellschaftspolitischen Ansprüchen und der individuellen Lebensplanung wird der Prozess der Schwangerschaft ein technisch regulierter und mit sozialen Distinktionen unterworfener Weg. Das Buch versucht mittels einer sozialphilosophischen, modernisierungstheoretischen und psychoanalytischen Erörterung die historischen, politischen kulturellen Kontexte von Schwangerschaft, Geburt und Nachkommenschaft speziell der modernen Gesellschaften zu umreißen und für eine Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse fruchtbar zu machen. Die theoretische Seite wird ergänzt durch die Beschreibung der medizintechnischen Verfahren, ihrer Risiken und Potentiale. Abschließend wird diese praktische Seite durch Interviews mit Ärzten und Ärztinnen aus der Reproduktionsmedizin gestärkt. Diese Vielzahl von verschiedenen Elementen der Studie ist nicht immer auf den ersten Blick einordbar, eine stärkere und übersichtlichere Gliederung wäre wünschenswert gewesen. Trotz dieser kleinen Schwächen bietet der Band alles in allem einen informativen Überblick über die Rolle und Bedeutung reproduktionsmedizinischer Verfahren der spezifischen gesellschaftlichen Kontexte.

Keywords: Pränataldiagnostik, Individualisierung, Familiensoziologie, Behinderung, Reproduktionstechnologien, Experteninterviews

Inhaltsverzeichnis

1. Die Biomedizin und deren sozialwissenschaftliche Reflexion

2. Gesellschaft und Nachkommenschaft

3. Theoretische Ansätze

3.1 PLATONs Sozialutopie und POPPERs Antwort

3.2 Die modernisierungstheoretische Verortung

4. Bürgerliches Familienmodell und Behinderung

5. Nationalsozialismus und Behinderung

6. Psychosoziale Probleme der Reproduktionstechnik

Literatur

Zum Autor

Zitation

 

1. Die Biomedizin und deren sozialwissenschaftliche Reflexion

Die Techniken der modernen Biotechnologien, insbesondere die Reproduktionstechnologien, die sich explizit mit der biologischen Fortpflanzung des Menschen beschäftigen, sind seit längerem ein anerkanntes und vielseitig bearbeitetes Feld sozialwissenschaftlicher Forschung. Je nach Stoßrichtung und Forschungsparadigma ist denn auch die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand ausgeprägt. Die Ansätze, die sich mit den Risiken und Chancen der Reproduktionsmedizin beschäftigen, verweisen auf die gesellschaftliche Bedingtheit und auf die Veränderungspotentiale der medizinwissenschaftlich gestützten Verfahren. Untersucht wurden u.a. der historische Kontext und Vorannahmen von Körper und Geschlecht (DUDEN 1991), die soziokulturellen und politischen Implikationen hinsichtlich Familie und Nachkommenschaft (BECK-GERNSHEIM 1991) oder die ethisch-moralischen Strategien und Techniken, die die Annahme von medizintechnischen Verfahren als gesellschaftlich anerkannte Techniken erst ermöglichte (JUNGE 2001). Eine neue Perspektive beleuchtet die Veränderungen der Wahrnehmungsweisen, die zum Beispiel Schwangerschaft als ein risikoreiches Unternehmen (LEMKE 2004) deuten, oder schlussendlich auch die institutionalisierten, ökonomischen Verwertungsprozesse menschlichen Lebens (SCHNEIDER 1995). Es ist hier nicht der Platz, alle sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektiven aufzuzählen, erwähnt sei nur eine Zunahme der Perspektiven eines doch überwiegend kritischen Diskurses der Sozialwissenschaften. [1]

Hier reiht sich auch die vorliegende, als Dissertation eingereichte Arbeit "Über die gesellschaftspolitische Bedeutung von Pränataldiagnostik und künstlicher Befruchtung als Teile moderner Reproduktionstechnologien unter besonderer Berücksichtigung familiensoziologischer Aspekte, ihrer medizinischen Dimension und der Bedeutung des Themas Behinderung als soziales Phänomen" ein. Kernthema der Untersuchung ist die Positionierung, Funktion und Rolle des Kindes zwischen den Ansprüchen gesellschaftlicher Wirklichkeiten, technischen Machbarkeiten und der individuellen Lebensplanungen der Eltern. Damit beschreitet die Autorin Neuland, die Funktion der Nachkommenschaft ist sicherlich schon mehrfach untersucht worden (u.a. PIEPER 1994), nicht jedoch in dieser Spannbreite von gesellschaftspolitischen Entwürfen, medizinischer Technik und dem Projekt individueller Lebensplanung. [2]

Das Buch ist ganz klassisch aufgebaut und beginnt mit der Vorstellung von Theorien aus Sozialphilosophie, Modernisierungstheorie und Psychoanalyse. Diese Ansätze bilden die Grundlage, auf derer die Autorin die gesellschaftliche Rolle des Kindes in einer modernisierten und individualisierten Gesellschaft untersucht. Hauptaugenmerk liegt hierbei auf den kontrovers diskutierten, medizintechnischen Verfahren wie Reproduktionsmedizin und künstliche Befruchtung, die dazu beitragen können, ein Kind nach gewissen Kriterien zu optimieren oder nicht zur Welt kommen zu lassen. In einem zweiten Schritt skizziert die Autorin die Entwicklung des gesellschaftlichen Verständnisses von Familie, Mutter- und Vaterschaft und diskutiert daran verschiedene Faktoren, die zum Kinderwunsch beitragen. Der Begriff der Behinderung, seine historische Bedeutung und die normativen Konzepte, die mit Behinderung verbunden sind, stellen das Thema des 4. Kapitels dar. Hier werden neben einem Exkurs zu Behinderung im Nationalsozialismus auch aktuelle Kontroversen, Standpunkte und Argumentationen für und wider das Lebensrecht von behinderten Kindern vorgestellt. Im 5. Kapitel diskutiert die Autorin die Praktiken der Reproduktionsmedizin. Diese sind nicht nur ein technisch aufwendiges und kostspieliges Verfahren, sondern bringen spezifische Risiken für die behandelten Frauen mit sich. Das sind nicht nur die körperliche Gefährdungen des chirurgischen Eingriffs, sondern auch die psychosozialen Anforderungen, die aus der Zuschreibung von Verantwortung gegenüber dem Kind, den gesellschaftlichen Prämissen und Vorstellungen von Gesundheit und sich selbst erwachsen. An diesen Ansprüchen, die an die Frauen als zukünftige Mütter gestellt werden, haben auch die behandelnden Mediziner und Medizinerinnen ihren Anteil. Am Ende des Bandes sind mehrere Experteninterviews mit VertreterInnen der Reproduktionsmedizin in Ausschnitten präsentiert. Diese, am Ende des Bandes stehenden Interviews verbinden medizintechnische Fragen nach den Möglichkeiten und Perspektiven der Reproduktionsmedizin, statistischen Angaben zur Durchführung mit den Erfahrungen der Ärzte. [3]

2. Gesellschaft und Nachkommenschaft

Die moderne, westliche Gesellschaft hat sich in ihrer Auffassung von Schwangerschaft, Sexualität oder Familie grundlegend verändert. Familie und Nachkommenschaft stehen nicht mehr nur unter dem Zeichen einer ökonomisierten Reproduktion, sondern können aus Ausdrucksform und Möglichkeit von Individualität gelten. Kinder fungieren demnach mehr als früher als Sinngeber und als Projektionsfolien der eigenen Wünsche und Erwartungen. Nach Ansicht der Autorin beruhe der Wille und die Bereitschaft zur Ausformulierung einer eigenen Individualität nicht auf einem inneren Drang des einzelnen Individuums oder auf dessen freien Entscheidungen, sondern auf einem Ensemble von "neuen institutionalisierten Zwängen, Anforderungen und Kontrollen" (S.12). Damit einher gehen auch bestimmte Vorstellungen über das eigene Kind als Projekt individueller Lebensplanung. Diese Erwartungen werden nicht nur durch die eigenen Eltern artikuliert, sondern schlagen sich unter dem gesamtgesellschaftlichen Druck, nämlich Reproduktionsmedizin aktiv zu nutzen, nieder. Welche Rolle ein behindertes Kind unter diesen gesellschaftlichen Zwängen einnehmen kann, zum Beispiel als Zeichen von Verantwortungslosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Prämissen bzw. als Symbol für die Opferbereitschaft der liebenden Mutter; diese unterschiedlichen Verortungstechniken zu beschreiben, ist Anspruch der vorliegenden Arbeit. [4]

3. Theoretische Ansätze

3.1 PLATONs Sozialutopie und POPPERs Antwort

In der vorliegenden Einleitung verortet sich die Autorin und beschreibt ihr Interesse an dem Thema und den von ihr gewählten Zugang; eine persönliche Beschreibung, die einen sehr gut nachzuvollziehenden Einblick in die Biographie und die Genealogie eines Forschungsprojektes beschreibt. Es wird deutlich, dass das Interesse an der Thematik der eigenen Biographie und Erfahrungen geschuldet ist. [5]

Leider fehlt andererseits eine Einleitung, die die Arbeit in ihrem Aufbau, ihrer Herangehensweise und ihren Thesen vorstellt. Man wird als Leser direkt mit den von der Autorin ausgewählten Theorien konfrontiert, wobei nicht deutlich wird, warum nun ausgerechnet diese Ansätze so relevant sind, bzw. man fragt sich, weshalb andere Ansätze fehlen. Die Kernthese erschließt sich erst nach einem sehr gründlichen Studium der Arbeit, und selbst dann ist man nicht sicher, die Überlegungen richtig nachvollzogen zu haben. [6]

Unter dem Abschnitt "Theoretische Ansätze" versucht die Autorin mit Versatzstücken aus politischer Philosophie, Modernisierungstheorie und Psychoanalyse jeweils die für ihr Thema, die Stellung reproduktiver Biotechnologien und die Bedeutung von Behinderung, relevanten Aspekte herauszufiltern. Über die Kontrastierung der "Offenen Gesellschaft" von POPPER mit der Staatsutopie PLATONs wird versucht, eine gesellschaftspolitische Perspektive nach zu zeichnen, die in dem Anspruch auf eine "sozialtechnische" Formung der Gesellschaft zwischen einem ästhetischen Radikalismus, wie ihn PLATON vertritt, und dem Anspruch auf individuelle Freiheit und Lebensgestaltung nach dem POPPERschen Oeuvre des westlichen Rechtsstaates, heute von besonderer Bedeutung ist. Hier werden zwei Sozialmodelle gegenübergestellt: Der Utopie PLATONs eines rational geplanten und technisierten Staates, der einer bestimmten Utopie, einem konkretisierbaren Ziele folgt, wird das deontologische Staatsverständnis von POPPER gegenübergestellt, welches auf die Minimierung von Leid und Unglück ausgerichtet ist. Für die Rolle der Reproduktionsmedizin formulieren sich diese beiden Ansätze nach Ansicht der Autorin wie folgt:

"Ist es nun Aufgabe einer Gesellschaft, sich für das nichtbehinderte, gesunde Kind als höchstes Gut einzusetzen? Und wenn ja, bedeutet das Gegnerschaft zu Poppers offener Gesellschaft und eine Verfolgung des idealen Staates nach Platon? Oder hat man gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Familien und Kindern mit besonderen Bedürfnissen die Erfüllung derselben selbstverständlich gewährt werden?" (S.7) [7]

Diese Fragen bleiben ungelöst und werden im weiteren Verlauf des Buches nicht weiter behandelt. Was von der Auseinandersetzung mit oder eher zwischen PLATON und POPPER übrig bleibt, ist die Feststellung der Autorin, dass PLATON seine Idee einer Welt von reiner Schönheit überhöht habe und zu deren Realisierung Macht anstelle von Vernunft in Kauf nähme. Hier bleibt man als Leser eher unbefriedigt und fragt sich ein weiteres Mal nach der Relevanz dieser theoretischen Abarbeitung. Sicher ist nachvollziehbar, dass PLATONS utopischer Idealstaat – eine der großen Sozialutopien – einen nicht zu unterschätzenden Einfluss in der Geschichte der Menschheit hatte und sicher auch noch haben wird, jedoch mutet die Auswahl etwas willkürlich an, bzw. es fehlt die Konkretisierung auf die gesellschaftspolitischen Zustände der Gegenwart. [8]

3.2 Die modernisierungstheoretische Verortung

Der zweite theoretische Ansatz, auf BECK und BECK-GERNSHEIM aufbauend, beschäftigt sich mit den Begriffen von Gesundheit und Vernunft, die auf eine sozialwissenschaftliche Karriere verweisen können, da sie sich als Leitmotive für die individuelle Lebensplanung und -führung in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft etabliert haben. Das Konzept der individualisierten Gemeinschaft, welches die Autorin hier schlagwortartig skizziert, rückt die "aktive und selbstverantwortete Lebensführung" (S.13) in den Fokus. Damit verbunden sei auch die Verabschiedung von religiösen Sinnangeboten, d.h. "der Glaube an ein Leben nach dem Tod und Erlösung vom Leiden" (S.13). Nach Auffassung der Autorin habe die Sorge um das eigene Leben, die Verantwortung für das gesundheitliche Wohlergehen die jenseitig gerichteten Heilserwartungen ersetzt. Gesundheit sei die Versprechung einer säkularisierten Moderne. Dass Gesundheit ein hochpolitisch besetztes Feld darstellt, zeige sich an den Bestrebungen, Gentechnologie und Gesundheit in ein unmittelbares Wechselverhältnis zu setzen. Gesundheit sei machbar mittels der modernen Technologien, so lautet das Credo der Gentechnologie, "die die irdische Heilerwartung der Gesundheit für sich beanspruchen kann" (S.15). Hier zeigt die Autorin, dass mit der Ausweitung der technischen Möglichkeiten der Biotechnologie in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Dynamik von Individualisierung der Begriff der Verantwortung als moralisch-soziales Druckmittel vermehrt in Beschlag genommen wird. Verantwortungslos gilt diejenige Person, die sich nicht der technischen Möglichkeiten bediene und die Möglichkeit eines behinderten Kindes somit in Betracht ziehe (S.16). Sehr knapp werden des weiteren die möglichen Entwicklungslinien skizziert, die in Richtung einer institutionalisierten Überwachung von Lebensstilen und körperlichen Risiken zeigen. Diese Tendenzen, in denen Gesundheit als ein zentraler (Waren-) Wert, als prognostische Einheit gedacht wird, greifen unmittelbar das Solidarprinzip zugunsten einer stärkeren Individualisierung an. Jedoch bedeutet dies nicht mehr Freiheiten, sondern einen verstärkten Zwang zur Prävention. "Biographische Unsicherheit" (S.17), so zitiert die Autorin BECK-GERNSHEIM, ersetzt die Autonomie als Kernpunkt des Projektes der Moderne. [9]

4. Bürgerliches Familienmodell und Behinderung

Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die "familiale Bedeutung von Kindern" (S.23). Dieser Abschnitt umreißt eine Geschichte der Mutterschaft als immer währende Reformulierung einer Institution, die auf Reproduktion und Bestandssicherung einer patriarchalischen Ordnung ausgerichtet ist. In den Zeiten einer "allgemeinen Entfremdung" könnte die Mutterschaft ein letzter Hort der Intimität, ein sinngenerierender Zustand sein. Das bürgerliche Idealbild der Mutterschaft entspricht der Festlegung der Frau als Mutter, die das "Funktionieren des familialen Binnenraumes zu gewährleisten" (S.24) hatte. Diese Zuschreibung, welche dem Anspruch der Industrialisierung nach Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte und der damit verbundenen Sozialform der Privatisierung des familialen Zusammenlebens folgte, deutet Kindheit zu einer eigenständigen Lebensphase mit der Person der Mutter als erzieherische Instanz. Diese klassische Rollenzuschreibung ist nach Ansicht der Autorin ergänzt um divergierende Lebensentwürfe, wie sie die Chancen der Modernisierung evozieren. Es kommt zur Konkurrenz von Frauen- und Mutterrolle: "Viele aktive, kontaktfreudige, zuvor beruflich engagierte Frauen haben längerfristig Mühe mit der Einengung ihrer Existenz auf Mutterschaft im Kleinhaushalt" (S.25). Daran schließen sich auch die von der Autorin bezeichnenden Aufgaben oder Herausforderungen eines Kindes an, entweder den "narzisstischen" Vorstellungen der Eltern zu genügen oder als "besonderes Kind", nämlich speziell als behindertes Kind den Anforderungen bzw. Wünschen der Eltern entgegen zu stehen. [10]

Diese nach einem Kosten-Nutzen-Kriterium unterliegende Zweiteilung bildet den Übergang zum Bereich Behinderung. Hier wird ein Überblick gegeben über die verschiedenen definitorischen Versuche, Behinderung zu klassifizieren. Leider fehlt auch hier der direkte Bezug zur gesamten Themenstellung der Arbeit. Dass Klassifikationssysteme, und das sind nicht nur medizinische, in dem sich eine Norm "Behinderung" ausbildet, etwas zu tun hat mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, bleibt ausgeblendet. Auch der Bezug zu den biomedizinischen Verfahren findet hier keine Erwähnung. [11]

5. Nationalsozialismus und Behinderung

Der gegenwärtige Umgang mit Gesundheit und Behinderung und unser heutiges Verständnis darüber ist nicht ohne einen Rückblick auf die symbolreiche Geschichte von Krankheit, Körper etc. zu begreifen. Diesem Anspruch folgend, wird im Zusammenhang mit dem Kernbegriff der Behinderung ein kurzer Exkurs über die Stellung von Behinderung im Nationalsozialismus vorgenommen. Und hier wird es nochmals schwierig. Auf wenigen Seiten wird versucht, die Geschichte der NS-Behinderten-Politik nachzuzeichnen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, noch komplizierter wird es dann, Parallelen zur Gegenwart herauszuarbeiten und diese relativ kommentarlos in diesen Exkurs einzuarbeiten. Der gesamte Abschnitt bleibt – wie das Buch im Ganzen – nur schlagwortartig und äußerst wage. Der Ansatz ist definitiv zu würdigen, jedoch die Umsetzung mangelhaft. Ein Beispiel: "Der Jugendkult nimmt zu" (S.61). Wenn so eine Aussage als ein Ausdruck als "Trend der Zeit" (ebd.) angeführt wird, muss konkreter gearbeitet werden. Was ist der Jugendkult, wer oder was unterstützt diesen Diskurs, wer hat die autoritären Sprecherpositionen inne? Oder gibt es vielleicht Gegenströmungen! Mit der Aussage alleine kann man nichts anfangen. Dieser diagnostizierte Zustand wäre ein Ausgangspunkt für die Beschreibung der Gegenwart, bringt aber im Falle einer Bezugsetzung zur NS-Medizin und NS-Gesetzgebung einige Schwierigkeiten mit sich und müsste weiter ausgeführt werden. [12]

Im Anschluss sollen die geläufigen Argumente gegen das Lebensrecht behinderter Kinder angeführt werden. Hier trifft der Leser auf ein sehr ausführliches Sammelsurium bekannter Thesen und Theoretiker, ein bisschen Peter SINGER und ein wenig ökonomische Kalkulation, zudem noch eine kulturelle Unverträglichkeit aufgrund einer optischen Andersartigkeit. Sehr anschaulich ist hier das umfangreiche Repertoire behindertenfeindlicher Argumentationen dargestellt, und deren Unterkategorie einer untergründig wirkenden Mitleidsethik, die im Endeffekt auch das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen verneint. [13]

6. Psychosoziale Probleme der Reproduktionstechnik

Die medizintechnischen Verfahren der Reproduktionsmedizin bzw. künstlichen Befruchtung inklusive der jeweils unterschiedlichen rechtlichen Regelungen werden im 5. Kapitel vorgestellt. Diese biomedizinischen Techniken unterteilen sich grundsätzlich in nichtinvasive und invasive Eingriffe. Zu den ersteren zählen Ultraschall oder die Blutabnahme, zu den invasiven zum Beispiel Amniozentese oder Nabelschnurpunktion (S.97). Diese sehr medizintechnisch gehaltenen Beschreibungen können auch vom Laien gut nachvollzogen werden. Die Autorin verweist darauf, dass bei allen invasiven Methoden "die Gefahr einer Fehlgeburt oder des Todes des ungeborenen Kindes" bestehe (S.105). Doch nicht nur die körperlichen Risiken beeinflussen den Verlauf der Schwangerschaft, sondern die Technik z.B. der Pränatalen Diagnostik können zu Entscheidungskonflikten der Frau bzw. des Paares führen, die "nicht alleine auf die medizinische Ebene oder die individuellen Entscheidungskonflikte" zu reduzieren sind (S.109). Anhand von Interviews oder Sekundäranalysen wird auf die Risiken und psychosozialen Probleme verwiesen, die mit den körperlich und psychisch schwerwiegenden Eingriffen der Reproduktionsmedizin verbunden sind. Als Nachschlageinstrument für die einzelnen Verfahren ist dieses Kapitel sauber gearbeitet. [14]

Am Ende des Bandes finden sich Interviews mit Experten und Expertinnen pränataldiagnostischer Maßnahmen und künstlicher Befruchtung aus Oberösterreich, die exemplarisch sehr eindrucksvoll zeigen, wie stark medizinische Institutionen bzw. das Denken in Abhängigkeit der medizinischen Erkenntnis den gesamten Vorgang von Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge okkupiert haben. Diese, am Ende des Bandes stehenden Interviews verbinden medizintechnische Fragen nach den Möglichkeiten und Perspektiven der Reproduktionsmedizin, statistischen Angaben zur Durchführung mit den Erfahrungen der Ärzte. Von einem einheitlichen Selbstbild der Reproduktionsmedizin kann nach dem Studium der Interviews nicht gesprochen werden. Für einen Teil steht es außer Frage, dass die Aufgabe des Mediziners/der Medizinerin darin besteht, "das Leben behinderter Menschen vorgeburtlich zu verhindern, was von manchen auch dezidiert zum Ausdruck gebracht wird" (S.165). Andere sehen sehr wohl auch die Nachteile der vorgeburtlichen Diagnostik, jedoch gehen diese immer zu Lasten der Mutter bzw. Eltern, die sich unter den psychischen Belastungen, die ein bestimmter medizinischer Befund einer Behinderung evoziert, für oder gegen das Kind entscheiden sollen. Die "Selektion und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen" (S.173) ist für die überwiegende Zahl der Interviewten kein erwähnenswertes Thema bzw. kein Nachteil. Die Aussagen zeigen sehr deutlich, wie sehr eine bestimmte gesundheitliche und körperliche "Normalität" gesellschaftlich anerkannt ist. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein "Rechtfertigungsdruck für Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden" (ebd.). [15]

Im Schluss ihrer Überlegungen diagnostiziert die Autorin eine Zunahme der Inanspruchnahme von pränataler Diagnostik und künstlicher Befruchtung. Diese Entwicklung sei verschiedenen Aspekten geschuldet. So seien künstliche Befruchtung und Pränataldiagnostik gewinnbringende Teile eines Forschungsmarktes, der nach den ökonomischen Prinzipien von Investition und Gewinnmaximierung fungiere. Des weiteren sei aufgrund der demographischen Entwicklung davon auszugehen, dass sich ihr Stellenwert für die Gesellschaft und für die Eltern erhöhe. Einerseits aus dem Grund, da Kinder zu "Tankstellen für die Weiterentwicklung ihrer Eltern" und Statuslieferanten geworden sind, andererseits aber auch, weil Kinder als Investitionen gesehen werden, "die sich rechnen" müssen (S.204). [16]

Die technischen Möglichkeiten, und das lässt sich hier als Fazit des Bandes festhalten, bieten Chancen und Handlungsspielräume für diejenigen, denen eine Standard-Elternschaft aufgrund körperlicher Dispositionen verwehrt bleibt. Andererseits könnte die Möglichkeit, nunmehr nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der zu zeugenden Kinder zu bestimmen, dazu (ver-) führen, eine genetische Regulierung der Nachkommenschaft einzufordern und somit stark in die Nähe der platonischen Utopie einer medizinisch-expertokratischen, normierten Gesellschaft zu geraten. Die Autorin hat in ihrem Band sehr ausführlich die einzelnen Komponenten zusammengetragen, die für die Rolle und Funktion der medizintechnischen Verfahren von Bedeutung sind. Es lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie bestimmte sozialtheoretische Vorstellungen über Gesellschaft einhergehen mit einer spezifischen medizinischen Praxis. In dieser Schnittmenge ist die zukünftige Mutter oder sind die zukünftigen Eltern einem gesellschaftlichen Zwang zu dem idealen, in diesem Sinne gesunden und leistungsfähigen Kind ausgesetzt. Behinderung anzunehmen und zu akzeptieren, stellt immer mehr eine Haltung dar, die einem breitem gesellschaftlich getragenen Unverständnis begegnet. Dem Band gelingt es – trotz aller aufgezeigten Kritikpunkt –, diesem Unverständnis entgegen zu wirken. [17]

Literatur

Beck-Gernsheim, Elisabeth (1991). Technik, Markt und Moral – Über Reproduktionsmedizin und Gentechnologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Duden, Barbara (1991). Geschichte unter der Haut. Stuttgart: Klett-Cotta.

Junge, Torsten (2001). Die Okkupation des Fleisches. Konstitutionen des Selbst im Zeitalter der Transplantationsmedizin. Eidorf: Gata-Verlag.

Lemke, Thomas (2004). Veranlagung und Verantwortung. Bielefeld: transcript.

Pieper, Marianne (1994). Beziehungskisten und Kinderkram. Neue Formen der Elternschaft. Frankfurt/M.: Campus.

Schneider, Ingrid (1995). Föten – Der neue medizinische Rohstoff. Frankfurt/M.: Campus.

Zum Autor

Torsten JUNGE ist derzeit Stipendiat der Grünen Akademie im Themenschwerpunkt "Verfaßtheit der Wissensgesellschaft" und promoviert zur politischen Partizipation am Beispiel von Bürgerkonferenzen.

In einer früheren Ausgabe findet sich ein Besprechung von JUNGE zu Jörg Maas (1999). Identität und Stigma-Management von homosexuellen Führungsgruppen.

Kontakt:

Torsten Junge

Universität Hamburg, Institut für Politische Wissenschaft
Arbeitsstelle Medien und Politik
Sedanstr. 19
D-20146 Hamburg

E-Mail: tojunge@gmx.net
URL: http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/IpW/Workgroups/Medien/MitarbeiterInnen/Torsten/Junge.html

Zitation

Junge, Torsten (2004, Oktober). Rezension zu: Petra Fosen-Schlichtinger (2002). Über die gesellschaftspolitische Bedeutung von Pränataldiagnostik und künstlicher Befruchtung als Teile moderner Reproduktionstechnologien unter besonderer Berücksichtigung familiensoziologischer Aspekte, ihrer medizinischen Dimension und der Bedeutung des Themas Behinderung als soziales Phänomen [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 7, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050175.

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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