Volume 6, No. 1, Art. 3 – Januar 2005
Sprache "macht" Wirklichkeit – Eine Diskursanalyse zu Dolmetschen in medizinischen Aufklärungsgesprächen
Werner Schneider
Review Essay:
Bernd Meyer (2004). Dolmetschen im medizinischen Aufklärungsgespräch. Eine diskursanalytische Untersuchung zur Wissensvermittlung im mehrsprachigen Krankenhaus (Band 13, Reihe Mehrsprachigkeit, hrsg. von Wilhelm Grießhaber und Jochen Rehbein). Münster: Waxmann, 236 Seiten, ISBN 3-8309-1297-8, EUR 25,50
Zusammenfassung: Medizinische Aufklärungsgespräche haben die Funktion, den Patienten über seinen Krankheitszustand und das weitere medizinische Vorgehen zu informieren und dazu seine Zustimmung einzuholen. Was aber passiert in solchen Gesprächen, wenn der Patient nicht hinreichend Deutsch spricht, um die ärztlichen Ausführungen zu verstehen, wenn das Aufklärungsgespräch in der Klinik durch ad hoc hinzugezogene Personen – seien es zweisprachige Krankenhausangestellte oder Angehörige – übersetzt wird? Wie beeinflusst dieses Dolmetschen des ärztlichen Diskurses die Wissensvermittlung und die Interaktionsstruktur in diesem Gespräch? Die rezensierte sprachwissenschaftliche Publikation untersucht entlang einer diskursanalytischen Perspektive und mit qualitativem Design vom Deutschen ins Portugiesische übersetzte diagnostische Aufklärungsgespräche im Krankenhaus. Sie zeigt, dass und wie sich der Zugriff auf das vermittelte Wissen für den Patienten durch den Übersetzungsprozess verändert, wie die institutionell vorgegebene Ordnung des ärztlichen Diskurses aufgebrochen wird und wie sich dabei die Aufklärungssituation für nicht deutschsprachige Patienten verschlechtert. Nicht zuletzt mit einer interdisziplinär erweiterten diskursanalytischen Perspektivierung ließen sich im Anschluss an die hier bearbeitete Problemstellung weiterführende Fragestellungen zum Problemkreis von Mehrsprachigkeit im medizinischen Feld und auch in anderen institutionellen Kontexten verfolgen.
Keywords: Sprachwissenschaft, Diskursanalyse, Medizin, Wissen, Mehrsprachigkeit, Krankenhaus, Aufklärungsgespräche
Inhaltsverzeichnis
1. Vom Verstehensproblem in der Arzt-Patienten-Kommunikation – Information, Wissen und Aufklärung
2. Der empirische Blick auf gedolmetschte diagnostische Aufklärungsgespräche
3. Das Übersetzen der ärztlichen Äußerungen – Transformationen des Wissens
4. Wissen, Verstehen und diskursive Praktiken: Perspektiven der Diskursanalyse
1. Vom Verstehensproblem in der Arzt-Patienten-Kommunikation – Information, Wissen und Aufklärung
Manche mögen es aus eigener Erfahrung kennen, andere aus Erzählungen von Angehörigen, Freunden, Bekannten oder aus Medienberichten: Patienten sehen sich z.B. in der Facharztpraxis, in der Klinik vor einer mehr oder weniger riskanten Diagnostik, vor einer Operation, vor der Entscheidung über weitere Behandlungsmethoden mit einer Situation konfrontiert, in der – mit den Begriffen Aufklärungs- oder Einwilligungsgespräch bezeichnet – medizinische Experten sie über ihren wie auch immer bereits ge- oder noch ungeklärten (Krankheits-) Zustand und das, was weiterhin mit ihnen geschehen soll, informieren. Den herrschenden Leitvorstellungen des modernen Medizinsystems zufolge ist das Ziel solcher Vermittlungsprozesse, den Patienten als Subjekt und Akteur seiner Krankheit mit demjenigen Wissen zu versorgen, welches Eigenverantwortung und Selbstbestimmung ermöglicht (bzw. ermöglichen soll). [1]
Doch bekanntlich ist es schon für deutschsprachige Patienten nicht immer leicht, in solchen Situationen den Ausführungen des oder der Experten zu folgen. Vorwissen und Vorbildung des Patienten, Gesprächserfahrung und kommunikative Kompetenzen auf Seiten der Experten bzw. des Arztes, situative Merkmale wie Zeitdruck oder andere akute Belastungsfaktoren, institutionelle Vorgaben und Rahmenbedingungen und vieles andere mehr sind Aspekte, die diesen spezifischen Kommunikationsprozess als soziale Situation bestimmen. Hinzu kommen selten explizit gemachte, aber nicht weniger bedeutsame kulturelle Aspekte wie wechselseitige Erwartungen an die Patienten- und Arztrolle, kulturell geprägte Vorstellungen über Gesundheit, Krankheit und Körperlichkeit, über Leben, Sterben und Tod (vgl. z.B. SCHNEIDER 1999) und letztlich auch darüber, was Selbstbestimmung, Eigenverantwortung gerade in existenziellen Krankheitssituationen kennzeichnet (z.B. RUDOLPH 1993). So betrachtet wird sofort deutlich, warum ein so genanntes Aufklärungsgespräch als sozialer Interaktionsprozess in seiner jeweiligen institutionellen Formung und kulturellen Kontextuiertheit eben weit mehr umfasst, als das vermeintlich bloße Informieren, das verständliche Vermitteln eines Sachverhalts von einem Sender zu einem Empfänger (vgl. grundlegend z.B. GLASER & STRAUSS 1974; GERHARDT 1986; aktueller z.B. BRÜNNER & GÜLICH 2002 und dazu kommentiert SCHMITT 2002; HÖMKE 2002; VOGD 2002). [2]
Was aber passiert – fragt Bernd MEYER in seiner vorliegenden empirischen Studie, die 2003 als Dissertation an der Universität Hamburg im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft eingereicht wurde und im Rahmen des Projekts "Dolmetschen im Krankenhaus" im Sonderforschungsbereich 538 "Mehrsprachigkeit" entstanden ist –, wenn Patienten nur über eingeschränkte Deutschkenntnisse verfügen? Wenn deshalb, ganz pragmatisch dem Zwang der Gegebenheiten vor Ort folgend, in solchen Situationen zweisprachige Angehörige oder Krankenhausangestellte wie z.B. Pflegekräfte ad hoc als "Dolmetscher" fungieren? Was geschieht dann in der solchermaßen "übersetzten" Arzt-Patienten-Kommunikation mit dem darin vermittelten Wissen? [3]
Der Autor schreibt am Ende seiner Abhandlung, in seiner Analyse könne
"wie unter einem Mikroskop betrachtet werden, welche Folgen die faktische Nichtanerkennung der Mehrsprachigkeit Deutschlands für die Migranten, aber auch für die in deutschen Krankenhäusern beschäftigten Ärzte und Pflegekräfte hat [...] Für die Ärzte bedeutet der Einsatz von ad hoc-Dolmetschern, dass sie nicht sicher sein können, inwieweit ihre Ausführungen überhaupt beim Patienten ankommen. Für die dolmetschenden Personen bedeutet der Einsatz in solchen Gesprächen eine erhebliche Verantwortung, für die sie in keiner Weise vorbereitet sind. Für die Patienten hat die dokumentierte sprachliche Praxis schlicht und einfach zur Konsequenz, dass sie schlechter über den Verlauf und die Risiken medizinischer Verfahren aufgeklärt werden als deutsche Muttersprachler." (S.222) [4]
Die mit Mehrsprachigkeit verbundenen, alltäglichen Verstehens-, Wissens- und Handlungsprobleme in der medizinischen Praxis erfahren – so der Autor – ihre Bearbeitung, indem sie zumeist als sprachliche Verständigungsschwierigkeiten abgetan und somit zum Problem der Migranten gemacht werden. Letztlich wird damit ihnen zugeschrieben, sie hätten versäumt, sich die entsprechenden Sprachkenntnisse anzueignen. Dem entgegen rüttelt der von MEYER formulierte empirische Befund offensichtlich an den Grundfundamenten eben jenes Medizinsystems, welches unter dem Stichwort des "informed consent" sich dem – aufgrund von Wissen – in freiem Willen sein Schicksal in die Hand nehmenden Subjekt verpflichtet sieht und sich damit gegen überkommenen Paternalismus richtet. Hinter dieser modernen Vorstellung einer dem freien Willen folgenden Eigenverantwortung steht der unbedingte Wille der Moderne zur Aufklärung des Einzelnen. Demzufolge kann nur umfassendes Wissen den Status der Selbstverantwortung, d.h. die selbst zu verantwortende Entscheidungsfähigkeit des Individuums – der westlich-abendländischen Aufklärung gemäß – als "vernünftiges Subjekt" garantieren. Eng damit verbunden ist die Vorstellung einer idealiter allseits möglichen Kommunikation "über alles und zwischen jedem" und damit einhergehend ein Zwang zum Wissen als Voraussetzung für diese Kommunikation sowie als deren Effekt (SCHNEIDER 2004). Dieser – wenn man so will – moderne Meta-Diskurs der universalen Kommunikation rahmt keineswegs nur immer deutlicher die Aufklärungspolitik im medizinischen Feld, sondern reicht von vielfältigen öffentlichen Bereichen bis in unsere privaten Lebenswelten. [5]
Zugegeben erscheint eine solche wissenssoziologisch-diskursorientierte und "gesellschaftsdiagnostische" Bezugnahme des Rezensenten als recht weit greifende Verortung für einen Befund "aus dem sprachwissenschaftlichen Mikroskop", um das verwendete Bild beim Wort zu nehmen – und deshalb soll am Ende dieser Buchbesprechung noch einmal darauf zurückgegriffen werden. Doch zunächst ist es in der Tat unabdingbar, den vom Autor gegebenen Hinweis auf den mikroskopischen Blick ernst zu nehmen, d.h. sich auf die sehr spezielle empirisch-methodische Konturierung der Analyse einzulassen, um ihren Ertrag zu einer spezifischen diskursiven Praxis im medizinischen Feld in diesem weiteren Kontext diskutieren zu können. [6]
2. Der empirische Blick auf gedolmetschte diagnostische Aufklärungsgespräche
Orientiert an der funktional-pragmatischen Diskursanalyse (Konrad EHLICH, Jochen REHBEIN) untersucht MEYER anhand weniger ausgewählter, dafür umso detaillierter (und damit auch für Nicht-Sprachwissenschaftler anschaulich und nachvollziehbar) präsentierter Fälle die Übersetzungshandlungen in bestimmten Abschnitten von gedolmetschten diagnostischen Aufklärungsgesprächen. Insgesamt wurde im Projekt "Dolmetschen im Krankenhaus" ein Datenkorpus von 100 Arzt-Patienten-Gesprächen (Anamnese-, Aufklärungs-, Befundgespräche) erstellt, erhoben in deutschen, türkischen und portugiesischen Kliniken, ca. die Hälfte davon als monolinguale Vergleichsdaten. Für die vorliegende Untersuchung wurden davon sieben deutsch-portugiesische Aufklärungsgespräche und drei deutsche Vergleichsgespräche ausgewählt (insgesamt 97 Minuten, die Dauer der einzelnen Gespräche variiert von 3 bis über 18 Minuten), von diesen 10 Gesprächen wiederum wurden vier qualitativ untersucht, auf die sich die Analysedarstellung und Ergebnispräsentation in der Publikation im wesentlichen beziehen. [7]
Die (disziplinspezifische) Leitfrage der Untersuchung lautet: Welchen Einfluss hat die sprachliche Verarbeitung konstitutiver propositionaler Elemente des Aufklärungsgesprächs durch eine dolmetschende Person auf das vermittelte Wissen und den Handlungsprozess zwischen Arzt und Patient? Dahinter steht als Basisannahme, dass Ärzte in Aufklärungsgesprächen typische Sprachmuster und Begrifflichkeiten verwenden, entlang derer sie das für sie relevante medizinische Wissen übermitteln. Diese Muster und Begriffe stehen den Laien-Dolmetschern in ihrer Zielsprache jedoch nicht per se zur Verfügung, und insofern verändert sich die gedolmetschte Kommunikationssituation gerade hinsichtlich der angestrebten Wissensvermittlung sowie der Interaktionsstruktur grundlegend. [8]
Zur Beantwortung der Leitfrage und Überprüfung dieser Annahme wird zunächst der eigentliche Forschungsgegenstand – das (gedolmetschte) diagnostische Aufklärungsgespräch – analytisch erfasst und charakterisiert (Kap. 2, 3 und 4), indem nach einer Durchsicht des Diskussionsstands zum Dolmetschen im Krankenhaus die Rekonstruktion der illokutiven und propositionalen Dimensionen solcher Gespräche als eigene "Diskursart" erfolgt (vereinfacht formuliert zielen diese beide Dimensionen auf die im Gesagten sich mitteilenden Handlungsorientierungen und die zum Ausdruck gebrachten Aussagengehalte bzw. Wissensinhalte). Darauf aufbauend werden diese Dimensionen dann in authentischen gedolmetschten Gesprächen anhand der Phase des "Ankündigens" der geplanten medizinischen Handlung (der beabsichtigten Untersuchung) sowie des "Beschreibens" ihres antizipierten Verlaufs genauer untersucht (Kap. 5 und 6). [9]
Bereits vorliegende Studien zum Themenbereich Dolmetschen im medizinischen Feld konnten zeigen, dass "in das sprachliche Handeln von Ärzten und dolmetschenden Personen in Aufklärungsgesprächen komplexe Wissensbestände und institutionelle Voraussetzungen eingehen" (S.35). Ärztliches Wissen, gerahmt durch den institutionellen Kontext, bestimmt die ausgangssprachliche Äußerung und setzt damit die Anforderung an die dolmetschende Person, die sie in ihrer Übersetzungsaktivität – dabei eben alles andere als eine "translating machine" (S.26) – zu bewältigen hat. Wie diese Anforderung strukturell zu kennzeichnen ist, zeigt der Autor, indem er zunächst ein Praxeogramm von "Aufklärungsgesprächen im institutionellen Handlungsablauf" (S.36 ff) entwickelt, das den Handlungsraum ausweist, in dem sich ein Klient bei Eintritt in das Feld medizinischer Institutionen bewegt. [10]
Hierzu wird die Diskursart "diagnostisches Aufklärungsgespräch" näher bestimmt und in den institutionellen Gesamtzusammenhang von Diagnose/Therapie eingeordnet. MEYER versteht diagnostische Aufklärungsgespräche als eigene "Diskursart", weil sie aufgrund ihrer Stellung im institutionellen Handlungszusammenhang "Klinik" charakteristische Merkmale aufweisen, die sie von anderen (Aufklärungs-)Gesprächen (zur Anwendung therapeutischer Methoden, Aufklärung in der Anästhesie etc.) unterscheiden. Ihr Zweck besteht – grob gesagt – darin, beim Patienten eine Orientierung in Bezug auf relevante Elemente einer bevorstehenden Handlung (der vom Arzt geplanten diagnostischen Untersuchung) hervorzurufen und seine Zustimmung zu dieser Handlung zu erreichen. Was passieren wird bzw. könnte, soll also nicht nur durch die Vermittlung im Gespräch vom Patienten "gewusst", sondern antizipativ übernommen werden. Es geht um die Zustimmung in Kenntnis des Gesamtverlaufs der Untersuchung einschließlich der möglichen Risiken und Komplikationen. Im Gegensatz zu therapeutischen Aufklärungsgesprächen ist im diagnostischen Kontext der Bewertungsaspekt der geplanten Handlung geringer, da die Identifizierung der Krankheit ja noch nicht abgeschlossen ist und die diagnostischen Methoden selbst in der Regel weniger riskant sind (insofern ist auch weniger mit einer Entscheidung des Patienten gegen die beabsichtigte Handlung zu rechnen). Somit steht bei diagnostischen Aufklärungsgesprächen nicht so sehr die Entscheidungsfindung für oder gegen die geplante Handlung im Vordergrund, sondern vielmehr die Handlungsorientierung des Patienten auf diese Handlung. [11]
Dabei sind solche Gespräche nach MEYER in illokutiver Hinsicht primär gekennzeichnet durch eine aufeinander folgende Verschränkung der sprachlichen Handlungsmuster des Ankündigens und des Beschreibens in einer ersten Gesprächsphase sowie anschließend durch "Hinweisen" und "Monitoren" in Bezug auf Risiken der jeweiligen Untersuchungsmethoden im weiteren Gesprächsverlauf. In propositionaler Hinsicht orientieren sich die Gespräche seitens des Arztes an vorhandenen, schriftlich fixierten Aufklärungsbögen, deren situative Verbalisierung variiert (Benennung der geplanten Handlung und der entsprechenden ärztlichen Teilhandlungen, der zum Einsatz kommenden Instrumente, der Untersuchungswege und -orte u.a.). So wird von den Ärzten in den Ankündigungen durchgängig die geplante Handlung mit ihrem "institutionellen Gattungsnamen" bezeichnet (Lungenspiegelung, Magenspiegelung etc.) und dadurch sowohl für die daran anschließende ärztliche Beschreibung anschlussfähig wie auch für den Patienten "typisierbar" gemacht. Ärzte halten sich jedoch keineswegs durchgängig an den schriftlichen Aufklärungsbogen, vielmehr erfolgt eine situationsbezogene Realisierung der erforderlichen Wissensvermittlung: Untersuchungsinstrumente werden umschrieben, erforderliche Teilhandlungen insbesondere des Patienten werden angeführt, Zeitstrukturen durch Partikeln wie "schon", "noch" transparent gemacht. Beim Beschreiben der geplanten Handlung steht der Arzt vor der Aufgabe, dem Patienten (aufgrund seines möglichen Vorwissens, der aktuellen Gesprächssituation gemäß) eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was passieren wird, und zwar insbesondere zu jenen Bereichen, die seine aktive Kooperation erfordern (z.B. beim Einführen des Endoskops). [12]
Dieser Bestimmung des Forschungsgegenstandes folgend richtet der Autor den konkreten empirischen Analysefokus auf die erste Gesprächsphase des Ankündigens und Beschreibens, da hier – in der Art und Weise, wie die geplante Untersuchung sprachlich eingeführt und dem Patienten vermittelt wird – grundlegend die Wissensorientierung des Patienten hinsichtlich des weiteren Handlungsablaufs erfolgt. Doch wie werden diese spezifischen Anforderungen von diagnostischen Aufklärungsgesprächen im Ankündigen und Beschreiben der geplanten Untersuchung im Fall des notwendigen Hinzuziehens eines ad hoc-Dolmetschers von diesem bewältigt? Im Zentrum steht also die Frage nach der Übersetzungshandlung seitens der dolmetschenden Person bei der Übertragung der ausgangssprachlichen Äußerungen des Arztes vom Deutschen ins Portugiesische: Wie wird mit den zur Ankündigung und Beschreibung verwendeten sprachlichen Ausdrücken, die als Typisierungen das institutionell als relevant für den Handlungsablauf gesetzte Wissen an den Patienten vermitteln (sollen), umgegangen (dies sind insbesondere semi-professionelle Ausdrücke, die eine medizinische Behandlung als solche oder Körperteile, Instrumente etc. bezeichnen wie Magenspiegelung, Speiseröhre, Sonde, Schlauch etc.)? Und was geschieht mit den vom Arzt verfolgten sprachlichen Mustern, in die sie eingebettet sind und durch die diese Begriffe ihren spezifischen Sinn gewinnen? [13]
3. Das Übersetzen der ärztlichen Äußerungen – Transformationen des Wissens
Zunächst kann als Ergebnis der empirischen Analyse festgehalten werden, dass die dolmetschenden Personen verschiedene sprachliche Verfahren anwenden, um die an sie gestellten Anforderungen beim Benennen der angekündigten Handlung zu bewältigen, und die – alles in allem – für die Patienten einen anderen "Zugriff auf Wissen" bedeuten (S.211). Welche Verfahren, welche sprachpragmatischen Methoden zur Anwendung kommen, hängt dabei auch ab von den konkreten Gegebenheiten der Sprechsituation (ob z.B. im Aufklärungsbogen "vorzeigbare" Abbildungen vorhanden sind), von den jeweiligen Sprachkonstellationen (z.B. wie rudimentär die Sprachkenntnisse des Patienten sind), von der Vorgeschichte des Gesprächs sowie vom jeweiligen Vorwissen der Patienten und der dolmetschenden Personen. So reagieren dolmetschende Personen bei Übersetzungsproblemen z.B. mit einem Rückgriff auf die deutschen Gattungsnamen zu Untersuchungsmethoden, d.h. sie belassen die Begriffe im Deutschen und wiederholen sie einfach nur (dabei muss der entsprechende Ausdruck dem Hörer im Deutschen bekannt sein, allerdings ist fraglich, ob er damit seine typisierende Funktion bereits erfüllen kann). Eine andere Möglichkeit ist das Umschreiben oder Zerlegen von komplexen Sachverhalten in einfache Einzelteile, die dann Schritt-für-Schritt übersetzt werden. Doch gerade damit wird das sprachliche Ablaufmuster, dessen sich der Arzt bedient (wann werden z.B. Teilhandlungen sprachlich eingeführt etc.), bzw. die gesamte ärztliche Gesprächsplanung unterlaufen. [14]
Konkret erläutert der Autor: Der so genannte "prozedurenbezogene Transfer" als ein solches Bewältigungsverfahren bezeichnet die Übertragung von Ausdrücken in die Zielsprache, ergänzt durch weitere Umschreibungen und Erläuterungen, die aber den (typisierten) institutionellen Charakter des deutschen Ausdrucks, d.h. die jeweilige Stellung des Wissenselements in der Sprachhandlung, sowie – z.B. infolge der ausholenden sprachlichen Umschreibungen mittels Erläutern oder Zeigen von Grafiken auf dem Aufklärungsbogen – die turnübergreifende Gesprächsorganisation seitens des Arztes (z.B. hier sich noch in der Ankündigung befindend) irritiert bzw. gar zunichte macht. Ein Beispiel: Der Arzt spricht von einer Ultraschalluntersuchung des Herzens durch die Speiseröhre – die dolmetschende Person übersetzt ins Portugiesische (hier in der deutschen Rückübersetzung der verwendeten Begriffe): Ultraschall am Herzen, Sonographie, Untersuchung am Herzen, das wo durch das Essen nach unten geht, dieser Kanal hier (S.132ff). Gerade aber dadurch wird, vom Arzt unkontrolliert, Ankündigen und Beschreiben gleichsam willkürlich vermengt, wird seitens des ad hoc-Dolmetschers also aktiv aufgeklärt, ohne der institutionellen sprachlichen Struktur des Aufklärungsgesprächs zu folgen, die auf dem Verweisungszusammenhang von Ankündigen und dann Beschreiben beruht. Solche Effekte finden sich auch beim "Entterminologisieren" – dem zweiten empirisch rekonstruierbaren Verfahren –, bei dem die Gesamthandlung über einen einzigen Aspekt, z.B. über ihre Zielsetzung, charakterisiert wird (z.B. als Differenz zwischen der ärztlichen Ankündigung des diagnostischen Verfahrens mit all seinen Implikationen des praktischen Vorgehens: "Wir wollen noch eine Lungenspiegelung machen" und seiner reduktionistischen Übersetzung als "Sie wollen noch die Lungen von innen sehen", S.151ff). Dieses Verfahren ist überhaupt nur praktikabel, wenn die dolmetschende Person (z.B. als Krankenschwester) zumindest über ein partiell professionelles Wissen über die angekündigte Handlung verfügt, welches eine solche Komplexitätsreduktion ermöglicht. Doch die damit erfolgte Selektion und Detaillierung seitens der dolmetschenden Person entspricht wiederum eben nicht der ausgangssprachlichen Äußerung und kann somit ihrer ursprünglichen Positionierung innerhalb des Gesprächsablaufs zuwider laufen. Und schließlich findet sich – als drittes Verfahren – das "Anknüpfen an partikulares Erlebniswissen des Patienten" durch die dolmetschende Person. Hier wird etwa die angekündigte Handlung als identisch mit einer zuvor stattgefundenen dargestellt (z.B. "die gleiche Sache, wie sie gemacht haben", S.156ff); Voraussetzung hierfür ist ein vorhandenes Erlebniswissen des Patienten, worüber jedoch der Arzt und die dolmetschende Person – z.B. als Angehöriger – in der Regel in unterschiedlicher Weise verfügen. [15]
Für den Leser wird hier deutlich: Wie die ärztliche Ankündigung übersetzt wird, hängt nicht nur von der Sprachkompetenz der dolmetschenden Person, sondern auch vom individuellen Wissensfundus, den Rollenmerkmalen und dem sozialen Beziehungsgefüge ab (in den Beispielen: Angehörige, Krankenschwester). Der Umgang mit dem "Übersetzungsproblem" bei der institutionellen Benennung der geplanten Handlung entlang der geschilderten sprachlichen Verfahren führt im Falle der Entterminologisierung und dem Anknüpfen an partikulares Erlebniswissen letztlich dazu, dass zwar Anschlüsse für die folgende Beschreibung gesetzt werden, aber keine Typisierung des benannten diagnostischen Verfahrens erreicht wird. Beim prozedurenbezogenen Transfer wird demgegenüber die propositionale Gesprächsstruktur durch die dolmetschende Person "eigenmächtig" aufgebrochen, indem bereits hier die Ebene des Ankündigens verlassen bzw. mit der des Beschreibens vermengt wird (S.213). [16]
Im Zuge der weiteren Verlaufsbeschreibung der geplanten Handlung bereitet das Benennen von Teilhandlungen den dolmetschenden Personen weniger Schwierigkeiten – vor allem wohl deshalb, weil Ärzte dabei auf alltagssprachliche Formen zurückgreifen. Doch auch hier lassen sich bemerkenswerte Umgestaltungen des Gesagten im Zuge des Übersetzungsprozesses erkennen. So verändert z.B. die Verwandlung von Passiv in Aktiv die Struktur der beschriebenen Handlung, indem an der sprachlichen Oberfläche der ausgangssprachlichen Äußerungen des Arztes eine Agenstilgung die Nennung der Ausführenden vermeidet ("Sie ... schlucken", "Sie kriegen", "wird ... eingeführt", "geht",), während bei der portugiesischen Übersetzung das Instrument sich in das Agens einer Bewegung verwandelt ("der Schlauch geht rein") (S.215). Feststellbar sind auch Differenzen beim Benennen von Untersuchungsinstrumenten (Schlauch oder Sonde) und Schwierigkeiten beim Benennen des Untersuchungswegs und -orts (z.B. Speiseröhre). Generell vermerkt hierzu der Autor: Auch wenn medizinisches Personal als ad-hoc-Dolmetscher fungiert, ist zu bedenken, dass infolge einer deutschsprachigen beruflichen Sozialisierung zweisprachige Pflegekräfte nicht unbedingt die medizinische Terminologie in ihrer Muttersprache beherrschen (S.216). Und an einem Beispiel des Benennens der Probenentnahme lässt sich demonstrieren, wie die dolmetschende Person – ein Bekannter der Patientin – "als primärer Aktant in den Diskurs" eintritt und in seiner Übersetzungshandlung aufgrund des ihm verfügbaren personenbezogenen Erfahrungswissens zur Krankengeschichte (verminderte Blutgerinnung bei der Patientin) verharmlosende Bewertungsarbeit für die Patienten leistet, in dem er den Vorgang der Probenentnahme mit "man macht eine klitzekleine Abschürfung" übersetzt (S.193 ff). [17]
Solche Befunde zeigen nach Ansicht des Autors insgesamt,
"dass beim konsekutiven Dolmetschen die subjektiven und objektiven Dimensionen des Handlungsraums der dolmetschenden Person eine besondere Bedeutung für die Verarbeitung des Gesagten und dessen Überführung in die Zielsprache haben. Die Einbeziehung des Aufklärungsbogens, die Insertion deutscher Ausdrücke, das Eingehen auf Befürchtungen des Patienten usw. sind als Anzeichen dafür zu deuten, dass die dolmetschende Person die Verarbeitung des Gesagten durch den Patienten in die Verdolmetschung antizipatorisch mit einbezieht." (S.219) [18]
Dabei – so MEYER – "macht sie Annahmen über die patientenseitigen Verstehensbedingungen, die nicht immer zutreffend sind" (ebd.). Auch wenn an dieser Stelle unklar bleibt, woher der Autor "weiß", was zutreffend (auf Seiten der Patienten) ist und was nicht (in den Fallbeispielen finden sich zwar Reaktionen der Patienten, die bspw. Erläuterungen der dolmetschenden Person mit einem "ich weiß" kommentieren – wie immer das seinem Sinn nach zu deuten wäre!), so zeigt die sprachwissenschaftliche Analyse eindrücklich: Die Verdolmetschung erfolgt letztlich auf der Basis des – im Vergleich zum monolingualen Setting – in seiner Dynamik nicht (mehr) institutionell abgesicherten sozialen Beziehungsgefüges (neben der primären Arzt-Patienten-Beziehung steht nun die Arzt-"Dolmetscher"- und die Patient-"Dolmetscher"-Beziehung), der jeweiligen wechselseitigen Rollenerwartungen und -zuschreibungen (z.B. Angehöriger, Bekannter, Krankenschwester als dolmetschende Person) und den damit jeweils verbundenen Perspektivenübernahmen. All das verweist auf die paradigmatischen Grundannahmen einer interaktionistischen, relational orientierten soziologischen Perspektive, die hier hinsichtlich der Sprachhandlungen in institutionell gerahmten Kommunikationssituationen ihre überzeugende empirische Bestätigung finden. Und weiter:
"Die besondere Form der Verarbeitung führt nicht etwa automatisch zum Zusammenbruch des kommunikativen Prozesses zwischen den primären Aktanten (Arzt und Patient). Die propositionalen und illokutiven Veränderungen sind jedoch für den aufklärenden Arzt in der Regel nicht rezipierbar und können daher auch nicht korrigiert werden. Die Qualität der gedolmetschten Patientenaufklärung bleibt damit allein dem Zufall überlassen und wird in den meisten Fällen vermutlich sehr viel niedriger sein als in deutsch-deutschen Arzt-Patienten-Gesprächen." (ebd.) [19]
Dieser Einschätzung mag man folgen, wenngleich die Kategorie des Zufalls (meint: wer gerade als ad hoc-Dolmetscher zur Verfügung steht) hier das offensichtlich für das Aufbrechen der institutionellen Ordnung des ärztlichen Diskurses relevante, aber eben bislang in der Praxis kaum reflektierte konkrete Zusammenspiel von sozialen und kulturellen Faktoren, von Wissen, diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken vielleicht eher vernebelt (abgesehen davon, dass die Frage nach der Qualität von Arzt-Patienten-Gesprächen einer eigenen Erörterung bedürfte). [20]
4. Wissen, Verstehen und diskursive Praktiken: Perspektiven der Diskursanalyse
Zweifellos bietet die Untersuchung einen hervorragenden, weil auch methodisch überzeugend ausgewiesenen Einblick in die interaktionale Dynamik gedolmetschter Aufklärungsgespräche und zeigt, dass und wie ad-hoc-Dolmetscher auf mangelndes terminologisches Wissen (auf durchaus unterschiedliche Arten und Weisen) reagieren. Der Umgang der übersetzenden Personen mit den ausgangssprachlichen Äußerungen und die Transformation der Aussagen in die Zielsprache scheinen vor allem bestimmt zu sein von ihrem Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung und von ihrer Kenntnis der bzw. ihrem Wissen über die angesprochenen medizinischen Methoden, Verfahren und der entsprechenden institutionellen Routinen. Doch offenbar tun sich sogar Pflegekräfte schwer bei dieser Übersetzungsaufgabe, Angehörige neigen in ihrer besonderen Rolle und aufgrund ihrer sozialen Beziehung zum Patienten gar dazu, Belastungen, Risiken und Nebenfolgen in der Übersetzung herunter zu spielen oder ganz zu ignorieren, um den Patienten (aus ihrer Sicht) nicht unnötig zu beunruhigen. Das mit MEYER zu ziehende Fazit lautet demzufolge: Das zu vermittelnde Wissen ist durch die Übersetzungspraxis der ad hoc-Dolmetscher weniger genau und teilweise sogar unvollständig. Anders gesagt: Dieser "neue", von den dolmetschenden Personen geführte Diskurs kann nicht dem ärztlichen Diskurs entsprechen und seine Funktionen gleichermaßen erfüllen – letztlich mit der Folge, dass Ärzte in gedolmetschten Aufklärungsgesprächen ihre Aufklärungspflicht gegenüber Patienten mit geringen Deutschkenntnissen vernachlässigen. [21]
Der vom Autor am Ende seiner Publikation zu diesem Fazit skizzierte "Ausblick", in dem er Vorschläge für weiterführende Fragestellungen entwirft (S.220ff), soll hier zum Schluss dazu dienen, den Ertrag der vorgestellten Analyse in dem eingangs dieser Rezension aufgeworfenen weiteren Kontext sozialwissenschaftlicher Diskurstheorie und -analyse einzuordnen. Wenn man die Verstehensproblematik bei gedolmetschten Aufklärungsgesprächen im medizinischen Feld als Frage nach dem Wissen – und damit in der Wahrnehmung eines wissenssoziologisch und diskursanalytisch orientierten Lesers auch und vor allem als Frage nach Sinn und Bedeutung des Gesagten, nach dem Verhältnis von Sprache, Wirklichkeit und Diskurs konzipiert, dann greift der hier referierte mikroskopische Blick tatsächlich weit. Und interdisziplinär geöffnet könnte er noch weiter greifen, denn wortspielerisch überspitzt: Mit einer mangelhaften ärztlichen Aufklärung in solchen "gedolmetschten" Gesprächen steht gleichsam "im Kleinen" das (auch über Sprachgrenzen hinweg) universalistisch angelegte, gesellschaftspolitische Projekt der "Aufklärung" zur Disposition, das auf dem autonomen Subjekt beruht, welches im FOUCAULTschen Sinne genau jenem modernen "Willen zum Wissen" unterworfen ist, der in vielen institutionellen Bereichen und eben auch in diagnostischen Aufklärungsgesprächen zum Ausdruck kommt. [22]
Sowohl in der wissenssoziologischen Hermeneutik wie in verschiedenen soziologischen Ansätzen der Diskursanalyse wird, über so manche theoretische und methodische Differenz hinweg, eben dieses moderne Denken über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, von Wissen, Subjekt und Gesellschaft mit spezifischen Erkenntnisinteressen theoretisch und empirisch bearbeitet: Hier ist es das Sinnverstehen in verschiedenen sozialen Situationen, welches in der SCHÜTZschen Tradition die Rekonstruktion der Konstruktionen der Akteure als gemeinter subjektiver Sinn, als objektiver (gleichsam institutionalisierter) Sinn und als okkasioneller Sinn seine empirisch informierte Selbstaufklärung betreibt, um die sozialen Praktiken und kulturellen Fundamente der gesellschaftlichen Sinn(re)produktion und die Prinzipien des Verstehens selbst zu verstehen (vgl. z.B. SCHRÖER 1997; HITZLER, REICHERTZ & SCHRÖER 1999; dazu auch SCHNETTLER 2002); dort ist es in der Linie der FOUCAULTschen Diskursperspektive (KELLER, HIRSELAND, SCHNEIDER & VIEHÖVER 2001, 2003; DIAZ-BONE 2003) der Blick auf das Sprechen als diskursive Praxis, auf die gesellschaftlichen und institutionellen Produktionsbedingungen und Regelsysteme von Aussagen, die die Subjekte und Objekte der Aussagen überhaupt erst konstituieren und machtvoll zueinander in Bezug setzen: Wer sagt was (bzw. wer darf, soll, muss was sagen) in welcher Situation und in welcher Position aufgrund welcher normativer Regelungen und mit welchen (für wen) daraus folgenden Handlungsvorgaben und Subjektpositionierungen? Und vor allem: Welches Wissen wird mittels welchen Diskursen "wirk-lich", weil "für-wahr-gemacht" und damit zur herrschenden Wahrheit? Denn Diskurse als "überindividuelle Praxis der Wissens(re)produktion" (DIAZ-BONE 2003, Abs.6) werden nicht durch ihre Gegenstände, Objekte differenziert. Sondern die jeweils herrschenden Diskurse formen die Objekte, über die sie sprechen, indem sie entlang "machtvoller Regeln" über sie sprechen. Diese Regeln und die damit verbundenen "diskursiven Wissenspolitiken" bestimmen also, über was in welchem Diskurs wie gesprochen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird (SCHNEIDER 1999, S.80; HIRSELAND & SCHNEIDER 2001). [23]
Um nicht missverstanden zu werden: Damit könnte in etwa der Erwartungshorizont umschrieben sein, den ein (wissens-) soziologischer Leser an eine qualitativ ausgerichtete, "diskursanalytische Untersuchung zur Wissensvermittlung" (so der Untertitel der Publikation) anlegen würde. Selbstverständlich kann ein solcher Erwartungshorizont nicht die Messlatte für eine sprachwissenschaftliche Arbeit sein, um diese dann gleichsam über den "soziologischen Kamm" zu scheren. Vielmehr ist zu fragen, wie die hier vorgelegte, qualitativ-diskursanalytische Empirie mit ihrem sprachwissenschaftlichen Zugriff und den daraus resultierenden Befunden diesen Erwartungshorizont informieren kann; und umgekehrt: wie eine solchermaßen erweiterte Perspektivierung die vom Autor selbst formulierten Desiderata und weiterführenden Fragestellungen vorantreiben könnte. [24]
Erstens sollte nach Ansicht des Autors das Verhältnis von medizinischen Aufklärungsbögen und Aufklärungsgesprächen noch genauer untersucht werden. In der vorliegenden Arbeit nur als heuristisches Instrument verwendet (gleichsam als analytische Kontrastfolie für den tatsächlichen Gesprächsablauf), spielt der Aufklärungsbogen in den gedolmetschten (und wohl auch in den deutsch-deutschen) Gesprächen "praktisch" eine eigene Rolle, indem die dolmetschende Person z.B. auf ihn zurückgreift, um sich der dort abgedruckten Illustrationen "zeigend" zu bedienen. Aber auch die Ärzte orientieren sich offenbar in den verschiedenen Gesprächsphasen auf unterschiedlichen Arten an dem Bogen, indem sie ihren Gesprächsplan daran ausrichten, direkt auf ihn zugreifen oder davon abweichen, darüber hinausgehen (z.B. beim Thematisieren der Patientenaktivitäten bei der geplanten Untersuchung, die in solchen Bögen nicht enthalten sind). Kurzum und in den Worten einer "Dispositivanalyse" (z.B. JÄGER 2001; vgl. auch SCHNEIDER 1999, S.85ff) gefasst: Die diskursive Praxis im Gespräch und die institutionelle Objektivation des ärztlichen Aufklärungsdiskurses (als Aufklärungsbogen) stehen in einem noch weiter empirisch zu klärenden Verhältnis zueinander: Der ärztliche Diskurs wäre in Teilen (wenn man so will) mündlich vorgetragener institutioneller Text, in anderen Teilen gesprochenes Wort mit jeweils – in Anlehnung an ALTHUSSER – unterschiedlichen Subjektanrufungen und -positionierungen. Und gerade hier wäre, zumal in einem interdisziplinären Zugriff, sogar noch ein Schritt weiter zu gehen, indem auch die Ebene der jeweiligen nicht-diskursiven Praktiken im institutionellen Setting bis hin zur Durchführung der Untersuchung (mit ihren jeweiligen Vergegenständlichungen der Untersuchungspraxis) in den Blick genommen werden sollte. [25]
Wohl begründet blieben – zweitens – in der vorliegenden Untersuchung die Vorstellungen und Erwartungen der Migranten an das sprachliche Handeln im Krankenhaus und insbesondere an die Patientenaufklärung unberücksichtigt. Datenerhebungen in türkischen und portugiesischen Krankenhäusern, so die Auskunft des Autors, konnten zwar zeigen, dass in der dortigen Praxis durchaus andere Standards hinsichtlich Aufklärung, Patientenautonomie etc. gelten. Aber infolge der hier vorliegenden spezifischen Untersuchungskonstellation – die untersuchten Gespräche fanden mit in Deutschland lebenden Migranten als Patienten statt, die dolmetschenden Personen sind in der Regel in Deutschland geboren und aufgewachsen – traten erkennbare grundlegende Kulturdifferenzen bezüglich solcher Standards bei den untersuchten Gesprächen nicht auf und erschienen somit für die erzielten Ergebnisse als nicht relevant. Dennoch ist damit generell die Frage nach der Sinn-Ebene und der Verstehens-Perspektive der Patienten angemahnt (für wie hermeneutisch bzw. verstehend man die funktionale Pragmatik auch immer halten mag). Darin liegt ein Desiderat, dessen Bearbeitung sich der (soziologische) Leser als systematischere Berücksichtigung der Reaktionen der Patienten auf die analysierten Sentenzen wünscht, zumal öfters auf die (für den soziologischen Leser relativ unbestimmt bleibende) "Typisierungsfunktion" von Begriffen verwiesen wird, die beim Adressaten des Gesagten, dem Patienten, ja zu bestimmten Verstehensprozessen und Reaktionen (im Sinne der Orientierung auf die geplante Handlung, seiner Zustimmung) führen soll. [26]
Drittens verweist der Autor schließlich auf die "gesellschaftliche Dimension" seiner Ergebnisse und meint damit das eingangs dieser Rezension ebenfalls bereits genannte Problem unseres gesellschaftlichen Umgangs mit Migranten: Wer die Sprache nicht richtig versteht, sei selbst schuld! Gegen eine solche, bis in so manche Medien und politische Anschauungen reichende kurzschlüssige Individualisierung des Problems steht die Forderung des Autors nach einer systematischen Ausbildung und Schulung von Dolmetschern bzw. dafür geeigneten Personen, um dem ad-hoc-Einsatz von dolmetschenden Personen in der medizinischen Praxis entgegen zu wirken. Denn die Beherrschung von mehr als einer Sprache befähigt noch lange nicht zu adäquater Übersetzung, zumal dann nicht, wenn es um komplexe Sachverhalte in einer sozialen Situation geht, die auf spezifischen Rollengefügen in einem bestimmten institutionellen Feld gründet und in der infolge von Mehrsprachigkeit verschiedene kulturelle Kontexte involviert sind. Gerade ein solches Dolmetschen muss erlernt und geübt werden, worauf MEYER ausdrücklich hinweist. Doch damit ist ja mehr als lediglich einfacher Spracherwerb gemeint; – was benötigt wird, ist darüber hinausgehend in seinem umfassenden Wortsinn verstandenes "Diskurswissen"! Die Vermittlung von institutionen- und praxisbezogenem Diskurswissen in (nicht nur medizinischen) Organisationen wird ein zunehmend wichtiges Aktionsfeld im Rahmen einer keineswegs nur akademisch zu fassenden "Diskursforschung" (KELLER 2004, vgl. auch BRÜNNER, FIEHLER & KINDT 1999), mit dem Ergebnisse von angewandten (nicht nur linguistischen) Diskursanalysen den universitären Elfenbeinturm verlassen und praktische Verwertung finden. Gerade aber hierzu wäre ein verstärkter interdisziplinärer Diskurs über solche diskursanalytischen Anwendungen erforderlich. [27]
Und schließlich (und vom Autor nicht ausgeführt) kann – sofern man sich im Feld der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse bewegt – die Frage nach dem "wer sagt was wie warum und mit welchen Folgen für wen?" nicht ohne der Frage nach Macht in sozialen Beziehungen und institutionellen Gefügen thematisiert werden (HIRSELAND & SCHNEIDER 2001), ein Begriff, der in der vorliegenden Diskursanalyse keine Rolle spielt: Wer bestimmt eigentlich wen auf welche Art und Weise zur dolmetschenden Person? Bestimmt der Arzt eine ihm bekannte zweisprachige Krankenschwester bzw. beauftragt er jemanden, diese herbei zu holen? Oder bittet der Patient darum, einen zweisprachigen Angehörigen hinzuziehen zu dürfen? Welche Möglichkeiten hätten die jeweils Angesprochenen, sich dem Ansinnen zu entziehen? Und würden solche Aspekte und Unterscheidungen für das Aufklärungsgespräch, für den Prozess der Wissensvermittlung eine Rolle spielen? Vermutlich ja! Denn das gleich zu Beginn dieser Rezension zitierte Resümee zeigt: Sprache "macht" in jedem Fall Wirklichkeit. Es geht, ob im Kontext von Mehrsprachigkeit oder nicht, immer um die wirklichkeitsstiftende und wahrheitssetzende Macht von Wissen, um seine Verfügbarkeit und um damit verbundene soziale Positionierungen der Akteure, also um Inklusion und Exklusion – entlang dieser Blickrichtung auf den modernen "Willen zum Wissen" wären in der Tat eine Reihe weiterer Anschlussfragen und -projekte im medizinischen Feld, aber auch in anderen institutionellen Bereichen denkbar; seien es bspw. diskurs- bzw. dispositivanalytisch umfassend konzipierte interdisziplinäre Projekte zu den verschiedenen Institutionen der Betreuung von Sterbenden (mit ihren unterschiedlichen Formen von Aufklärungsgesprächen) einschließlich der sie rahmenden diskursiven Transformationen unseres gesellschaftlichen Sprechens über Sterben und Tod (z.B. als Sterbehilfe versus Sterbebegleitung); oder etwa diskursanalytische Untersuchungen zu sogenannten bikulturellen Paarbeziehungen, Ehen oder Familien, in deren Beziehungsalltag das ad hoc-Dolmetschen in den verschiedensten sozialen Kontexten und in seinen je kulturspezifischen institutionellen Formen (von der Hochzeit über Kindererziehung bis hin zur Ehescheidung) die Regel sein könnte. Solche (oder ähnliche) Fragestellungen und das darin adressierte grundlegende Verhältnis von Sprache, Diskurs und Wirklichkeit sprachwissenschaftlich und methodisch fundiert zu informieren, ist das weiter reichende Verdienst des Buches, weshalb es auch für Nicht-Linguisten eine empfehlenswerte Lektüre darstellt. [28]
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Werner SCHNEIDER, geb. 1960, Dr. phil., Dipl.-Soz., Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik, seit 2002 Professor für Soziologie/Sozialkunde an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, zuvor Privatdozent am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Diskurstheorie und Diskursanalyse, Kultur- und Wissenssoziologie, Medizinsoziologie, Thanatosoziologie, Soziologie der Lebensphasen und privaten Lebensformen (insbes. Familiensoziologie, Soziologie der Kindheit/Jugend), qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung.
Kontakt:
Prof. Dr. Werner Schneider
Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät
Universität Augsburg
Universitätsstr. 10
D-86135 Augsburg
Tel.: 0821-598-5570 (Durchwahl: -5679)
E-Mail: Werner.Schneider@phil.uni-augsburg.de
Schneider, Werner (2004). Sprache "macht" Wirklichkeit – Eine Diskursanalyse zu Dolmetschen in medizinischen Aufklärungsgesprächen. Review Essay: Bernd Meyer (2004). Dolmetschen im medizinischen Aufklärungsgespräch. Eine diskursanalytische Untersuchung zur Wissensvermittlung im mehrsprachigen Krankenhaus [28 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 6(1), Art. 3, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs050131.
Revised 6/2008