Volume 5, No. 3, Art. 21 – September 2004

Rezension:

Kathrin Ruhl

Jane Ritchie & Jane Lewis (Hrsg.) (2003). Qualitative Research Practice. A Guide for Social Science Students and Researchers. London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage, 336 Seiten, ISBN 0-7619-7110-6 (pbk), GBP 21,75/EUR 36,90

Zusammenfassung: Das von Jane RITCHIE und Jane LEWIS herausgegebene Lehrbuch richtet sich an Studierende und ForscherInnen zugleich. Es ist jedoch anzumerken, dass es für die Gruppe der Studierenden besser geeignet ist, da Grundwissen vermittelt wird. Das Lehrbuch soll die Untersuchenden durch den Prozess der qualitativen Datenerhebung begleiten, d.h. von der Entwicklung einer Konzeption, über die Durchführung von Tiefeninterviews und der Analyse der Daten hin zur Präsentation der Ergebnisse. Dabei werden kompetent sowohl theoretisches Überblicks- als auch konkretes Anwendungswissen vermittelt. Die AutorInnen geben jedoch keine umfassende Übersicht über qualitative Methoden, sondern legen den Fokus auf Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen.

Keywords: Theorie der qualitativen Forschung, Stichprobenverfahren, Tiefeninterviews, Gruppendiskussion, qualitative Analyse, Typenbildung, Präsentation der Daten

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Aufbau des Buches

3. Zum Inhalt

3.1 Grundlagen der qualitativen Forschung

3.2 Das Tiefeninterview

3.3 Theorie und Praxis der Analyse

3.4 Die Verallgemeinerung qualitativer Ergebnisse

4. Fazit

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einleitung

Qualitative Research Practice richtet sich sowohl an Studierende der Sozialwissenschaften als auch an ForscherInnen, die Erfahrungen auf dem Gebiet der qualitativen Forschung gesammelt haben. Die Herausgeberinnen des Lehrbuches sind Jane RITCHIE, Gründerin und langjährige Leiterin der Qualitative Research Unit, und Jane LEWIS, derzeitige Leiterin. Alle AutorInnen des Bandes sind oder waren MitarbeiterInnen dieser Forschungseinrichtung, die eine Abteilung des National Centre for Social Research in Großbritannien ist. Das Zentrum führt sowohl qualitative als auch quantitative Studien durch und strebt eine differenzierte Auseinandersetzung mit methodologischen Fragestellungen sowie ein Anheben der Qualitätsstandards in der Sozialforschung an. Die Qualitative Research Unit hat sich auf die Durchführung von Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen (von den AutorInnen als focus groups oder auch group discussions bezeichnet) spezialisiert und eine Analysemethode entwickelt, die sich Framework nennt. Diese Schwerpunktsetzungen finden sich auch in dem Band wieder. [1]

2. Der Aufbau des Buches

Das vorliegende Lehrbuch behandelt in elf Kapiteln, die jeweils von mehreren AutorInnen geschrieben sind, theoretische und praktische Aspekte der qualitativen Forschung und versteht sich als "guided tour" (S.xiv) durch den Forschungsprozess. RITCHIE und LEWIS weisen darauf hin, dass es beispielsweise mit der Ethnographie, der Ethnomethodologie und dem Konstruktivismus verschiedene Richtungen in der qualitativen Forschung gibt, die jeweils durch spezifische epistemologische und philosophische Grundannahmen geprägt sind. Im Anschluss daran werden in den verbleibenden Kapiteln die verschiedenen Stufen des Forschungsprozesses vorgestellt, nämlich die Konzeption der Untersuchung, Stichprobenverfahren, das Sammeln von Daten sowie die Analyse und Aufbereitung des Materials. Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich aus qualitativer Forschung Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Prozesse ziehen lassen, d.h. ob die Forschungsergebnisse repräsentativen Charakter haben. In der Rezension werde ich jedoch nur vier Kapitel betrachten und somit eine Auswahl der unterschiedlichen Stufen im Forschungsprozess vorstellen. [2]

Positiv herauszuheben ist, dass zu Beginn der einzelnen Kapitel jeweils eine Verortung im wissenschaftlichen Kontext stattfindet und dass auch divergierende Perspektiven auf die jeweiligen Themen präsentiert werden. Die AutorInnen legen deutlich dar, welchen theoretischen Ansatz sie verfolgen, und geben anschauliche Beispiele aus eigenen Forschungsprojekten. Am Ende jedes Kapitels werden die Kernaussagen zusammengefasst und Fachbegriffe erläutert, abgerundet mit Hinweisen auf vertiefende Literatur. [3]

Wie eingangs erwähnt, legt die Qualitative Research Unit bei der Entwicklung von Methoden eine spezifische Schwerpunktsetzung auf Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen. Es werden somit in dem vorliegenden Lehrbuch keine anderen Interviewtypen, wie z.B. narrative, episodische oder Experteninterviews diskutiert, und auch keine weiteren Verfahren der qualitativen Datenerhebung, wie teilnehmende Beobachtung und qualitatives Experiment, in Betracht gezogen. Da die Herausgeberinnen keinen umfassenden Überblick über die Vielfalt qualitativer Methoden anstreben, bedeutet diese Schwerpunktsetzung jedoch nicht eine Limitierung der Qualität des Lehrbuches. – Gleichwohl anzumerken bleibt, dass der Titel des Buches hätte präziser gewählt werden können. [4]

3. Zum Inhalt

3.1 Grundlagen der qualitativen Forschung

Einleitend legen Dawn SNAPE und Liz SPENCER prägnant und anschaulich in einem wissenschaftsgeschichtlichen Überblicksartikel die Grundlagen der qualitativen Forschung dar. Sie unterstreichen, dass der Charakter der qualitativen Untersuchung von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Dieses sind ontologische und epistemologische Annahmen, Ziel und Intention der Untersuchung, mögliche Geldgeber, Teilnehmende und Forschende. Philosophische Debatten über die Qualität, den Entstehungskontext und die Anwendbarkeit nehmen ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung verschiedener Methoden. Die divergierenden Ansätze zielen nach Ansicht der Autorinnen jedoch alle darauf ab, ein umfassendes Verständnis der sozialen Welt der Untersuchten zu erlangen (S.3). Die Unterschiede in den Vorstellungen über qualitative Forschung führten im 20. Jahrhundert zu der Etablierung verschiedener Schulen, wie z.B. dem symbolischen Interaktionismus, der Grounded Theory und der kritischen Theorie. Im Anschluss an den wissenschaftsgeschichtlichen Überblick skizzieren SNAPE und SPENCER lediglich rudimentär und wenig stichhaltig den im Band vertretenen Forschungsansatz, der sich nicht konkret einer der etablierten Schulen zuordnen lässt. Ihre ontologische Position beschreiben sie als einen "subtle realism" (S.19) bzw. als Akzeptanz, dass die Welt unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung besteht, diese sich jedoch für sie selbst nur durch die Interpretationen der befragten Person erschließen lässt. Die epistemologische Position "reflects the fact that the historical context is largely one of quantitative research" (S.20). Somit wird eine Orientierung an Maximen der quantitativen Forschung deutlich. Dazu zählen SNAPE und SPENCER die Wahrung von Objektivität im Forschungsprozess, Reflexivität sowie Erzielen von Reliabilität und Validität. [5]

3.2 Das Tiefeninterview

Die in dem Band dargelegten Ansätze der qualitativen Forschung führten auch zu divergierenden Auffassungen über das Tiefeninterview bzw. darüber, inwiefern Wissen im Interview konstruiert wird und wie aktiv oder passiv die Rolle der/des Interviewenden sein sollte. Robin LEGARD, Jill KEEGAN und Kit WARD identifizieren eine Reihe von Merkmalen, die das Tiefeninterview auszeichnen (S.141-142):

Aufgrund der beschriebenen Merkmale stellt die Durchführung von Tiefeninterviews nach Ansicht von LEGARD, KEEGAN und WARD eine besondere Herausforderung an die persönlichen Eigenschaften und professionellen Qualifikationen der/des Interviewenden. Der Forscherin/dem Forscher kommt demnach die Aufgabe zu, den Verlauf des Interviews zu lenken und dabei die einzelnen Interviewstufen zu beachten. Dabei gilt es, von einem allgemeinen Niveau zu einem tieferen vorzudringen, bei dem ein Thema oder mehrere Themen fokussiert werden. Gegen Ende sollte wieder eine allgemeinere Ebene erlangt werden. Um sowohl die Breite von wichtigen Themen als auch die Tiefe derselben zu gewährleisten, gibt es unterschiedliche Fragetypen. Die Fragetypen und andere in diesem Artikel vorgestellten Aspekte bezüglich der Anforderungen an die Interviewenden und die Strukturierung des Interviews bieten keine Neuerungen. Positiv hervorzuheben ist jedoch die Ausführlichkeit, mit der die einzelnen Schritte beschrieben werden, da diese gerade für Unerfahrene gute Anregungen bietet. [7]

3.3 Theorie und Praxis der Analyse

Liz SPENCER, Jane RITCHIE und William O'CONNOR beschreiben den Prozess der Interviewanalyse. Ihrer Ansicht nach besteht dieser aus einer Mixtur aus Kreativität und systematischem Vorgehen (S.199). Sie weisen darauf hin, dass es in der qualitativen Forschung keine festgesetzten Regeln der Analyse gibt. Gemäß der unterschiedlichen Schulen existiert eine Vielzahl von Analyseverfahren, wie z.B. die narrative, die Inhalts- und die Diskursanalyse. Dementsprechend gibt es auch diverse "Werkzeuge", um die Analyse durchzuführen. Im Laufe der Zeit konnten sich computergestützte Methoden durchsetzen; jedoch findet sich auch hier eine Vielzahl unterschiedlicher Programme. Nach Ansicht von SPENCER, RITCHIE und William O'CONNOR existieren allgemeingültige Grundsätze, die für die verschiedenen Methoden Gültigkeit haben: Zu berücksichtigen sind dabei eine Ordnungsstruktur, die auf das jeweilige Interview aber auch die Gesamtzahl anwendbar ist, Nachvollziehbarkeit und Transparenz für andere sowie Flexibilität, entstehende Ideen im Verlauf der Analyse zu integrieren. Die Forschenden sollten beachten, dass die Analyse kein linearer Prozess ist und vernetztes Denken erfordert. Der Analyseprozess besteht aus der Verwaltung der Daten, d.h. deren Sortierung und Reduzierung, der beschreibenden Darstellung auf einer abstrakten Ebene und der Interpretation. [8]

3.4 Die Verallgemeinerung qualitativer Ergebnisse

Die Verallgemeinerung qualitativ gewonnener Ergebnisse wird sehr kontrovers diskutiert, was dazu führt, dass es hierfür kein Repertoire an Bedingungen und Regeln gibt. Jane LEWIS und Jane RITCHIE sind der Auffassung, dass qualitative Forschung durchaus generalisierbare Schlüsse zulässt, die Rahmenbedingungen jedoch festgelegt sein müssen (S.263). Sie schlagen deshalb drei Konzepte vor:

Der Unterschied zwischen den beiden letzten Konzepten wird nur durch eine weitere Erläuterung deutlich. Theoretische Generalisierung meint, dass Theoriebildung durch qualitative Forschung gestützt werden kann, d.h. letztere Erklärungen für soziale Prozesse und Strukturen liefern kann. Die schlussfolgernde Generalisierung zielt auf eine dichte Beschreibung des Untersuchungskontextes ab und ist eher eine intuitive Form der Verallgemeinerung (S.267). [10]

Die Konzepte Validität und Reliabilität, welchen eine zentrale Stellung bei der Frage nach der Verallgemeinerung zukommt, sind in der qualitativen Forschung ebenfalls umstritten. LEWIS und RITCHIE vertreten die Position, dass beide angewendet und zugleich den Parametern der qualitativen Forschung angepasst werden sollten. Sie stellen abschließend eine Reihe von Prinzipien für die Verallgemeinerung qualitativer Ergebnisse auf, die sich in vier Stichworten zusammenfassen lassen: umfassende Nutzung der Daten, Darlegung der Vorgehensweise und Interpretation, Darlegung des Forschungskonzepts und Validierung der Rückschlüsse (S.277). [11]

4. Fazit

Das von RITCHIE und LEWIS herausgegebene und im Kontext der Qualitative Research Unit entstandene Lehrbuch führt Studierende – nicht nur der Sozialwissenschaften – kompetent und anschaulich an den Prozess der qualitativen Forschungspraxis heran. Es ist jedoch weniger für Forschende geeignet, die bereits Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt haben, da primär Grundwissen über Theorie und Methodik vermittelt wird. Die klare Struktur der Artikel macht die Inhalte gut zugänglich, die Anführung von Beispielen aus der Praxis die theoretischen Annahmen nachvollziehbar. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die AutorInnen sich nicht auf die Darstellung des eigenen Ansatzes beschränken, sondern zu Beginn jedes Kapitels darlegen, welche Forschungstraditionen und daraus abgeleitete Methoden es gibt, und wie sich ihre eigene Position einordnen lässt. Der Ansatz der Qualitative Research Unit ist verschiedenen Forschungstraditionen entlehnt und zeichnet sich durch eine eklektische Vorgehensweise aus. Die AutorInnen plädieren für eine flexible Auswahl der Methoden, die den jeweiligen Forschungsfragen angepasst werden sollte. [12]

Das vorliegende Lehrbuch bietet wenig Neues in Bezug auf die Entwicklung von Methoden, wird aber seinem Anspruch gerecht, den LeserInnen einen Leitfaden, in dem alle Stufen des Forschungsprozesses berücksichtigt werden, an die Hand zu geben. Die vermittelten Informationen sind sowohl detailliert als auch praxisnah und bieten den LeserInnen somit eine gelungene und professionelle Hilfestellung. Einzige Einschränkung ist, dass keine Methodenvielfalt präsentiert, sondern eine Fokussierung auf Tiefen- und Gruppeninterviews vorgenommen wird. Jedoch können einige der Annahmen, wie z.B. Fragetechniken und Anforderungen an die Interviewenden, auf andere Interviewtypen transferiert werden. Eine ähnliche Konzeption ist bei MORSE und RICHARDS (2002) anzutreffen, die ebenfalls Basiswissen an Unerfahrene vermitteln und den gesamten Forschungsprozess im Blick haben (siehe dazu auch die Rezension von Iain LANG 2004). Auch hier geht es um Praxisnähe, die durch eine CR-ROM mit Übungsaufgaben unterstrichen wird. HOLLIDAY (2001) befasst sich ebenfalls mit qualitativer Forschung von der Entwicklung von Fragestellungen bis zur Präsentation der Ergebnisse (siehe dazu auch die Rezension von CISNEROS PUEBLA 2002). Er legt besonderes Augenmerk auf die Phase der Verschriftlichung und sieht diese als kreativen Prozess. Aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Lehrbücher fällt es schwer, eine Empfehlung auszusprechen. Das Finden des "richtigen" Bandes hängt letztendlich von den jeweiligen Interessenlagen ab. [13]

Literatur

Cisneros Puebla, César A. (2002, November). Review Note: Adrian Holliday (2001). Doing and Writing Qualitative Research [18 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 3(4), Art. 46. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/4-02/4-02review-cisneros-e.htm [Zugriff: 5.8.2004].

Holliday, Adrian (2001). Doing and Writing Qualitative Research. London: Sage.

Lang, Iain (2004, January). Review Note: Janice M. Morse & Lyn Richards (2002). Readme First for a User's Guide to Qualitative Methods [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 5(1), Art. 28. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-04/1-04review-lang-e.htm [Zugriff: 5.8.2004].

Morse, Janice M. & Richards, Lyn (2002). Readme First for a User's Guide to Qualitative Methods. Thousand Oaks/London/New Delhi: Sage.

Zur Autorin

Kathrin RUHL hat Lehramt an Haupt- und Realschulen sowie Politikwissenschaft studiert. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften und promoviert über Frauen in der britischen Politik am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig Universität Gießen.

Kontakt:

Kathrin Ruhl, MA

Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften
Justus-Liebig-Universität Gießen
Otto-Behaghel-Str. 10 A
D-35394 Gießen

E-Mail: Kathrin.Ruhl@sowi.uni-giessen.de

Zitation

Ruhl, Kathrin (2004). Rezension zu: Jane Ritchie & Jane Lewis (Hrsg.) (2003). Qualitative Research Practice. A Guide for Social Science Students and Researchers [13 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 21, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0403213.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

ISSN 1438-5627

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