Volume 5, No. 3, Art. 16 – September 2004
Rezension:
Martin Welker
Marianne Englert, Eckhard Lange, Heiner Schmitt & Hans-Gerhard Stülb (Hrsg.) (2002). Vernetzungen. Archivdienstleistungen in Presse, Rundfunk und Online-Medien (Beiträge zur Mediendokumentation, hrsg. vom Verein Fortbildung Medienarchivare/-dokumentare e.V., Band 5). Hamburg: LIT Verlag, 304 Seiten, ISBN 3-8258-5521-x, EUR 25,90
Zusammenfassung: Das Buch Vernetzungen von ENGLERT et al. ist eine Sammlung von Vorträgen, die sich mit Archiv- und Dokumentationsdienstleistungen von Medienunternehmen im Zeitalter des Internet auseinandersetzen. Entstanden auf drei Tagungen von 1997 bis 1999, spiegeln die Beiträge die Angst, Skepsis oder auch Aufbruchstimmung wider, die bei den Archivaren und Dokumentaren durch Internet, Digitalisierung, Standardisierung und Globalisierung hervorgerufen wurden. Es geht um den veränderten Umgang mit Medieninformationen – Rundfunkbeiträgen, Musik, Zeitungs- und Magazintexten – die von Journalisten und Nutzern für die Recherche oder für publizistische Zwecke nachgefragt werden.
Keywords: Archiv, Recherche, Journalismus, Digitalisierung, Internet
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Verortung der Publikation
2. Auswirkungen von Digitalisierung und Globalisierung
3. Fazit
1. Einleitung und Verortung der Publikation
Die Publikation fasst Beiträge von drei Tagungen im Zeitraum 1997 bis 1999 der "Fachgruppe Medienarchivare" im Verband Deutscher Archivare zusammen und ist der fünfte Band der Schriftenreihe "Beiträge zur Mediendokumentation". Herausgeber dieser Reihe ist nunmehr der VFM, ein eingetragener Verein zur Fortbildung der Medienarchivare und -dokumentare [http://www.vfm-online.de/]. "Vernetzungen" ist in fünf thematische Teile untergliedert und umfasst zudem ein Vorwort, das die Begrüßungsansprachen von den drei Tagungen in Berlin, Würzburg und Salzburg enthält sowie einen Anhang, in dem die Programme dieser Tagungen niedergelegt sind. Während im Einführungskapitel die Grußworte1) der Fachgruppenvorsitzenden und der Gastgeber der einzelnen Tagungen noch chronologisch (1997 bis 1999) angeordnet sind, sind es die Beiträge im Innenteil des Bandes – die von Autoren aus dem deutschen Sprachraum (also auch aus Österreich und der Schweiz) stammen – nicht mehr: Hier wurden von den Herausgebern thematische Abschnitte gebildet:
Der erste Teil zum "Kulturgut in den Medienarchiven" fasst Vorträge zusammen, die vornehmlich aus Klagen der Mitarbeiter von Ton-, Bild- und Filmarchiven bestehen, nicht mehr genug öffentliches Geld zur Verfügung zu haben.
Der zweite Teil "Global und regional, Internet und Intranet" besteht aus fünf Beiträgen, die sich insbesondere mit der journalistischen Recherche unter zu Hilfenahme des Internet bzw. von Intranets befassen.
Im Teil 3 "Digitalisierung und Multimedia" geht es um die Vorstellung verschiedener Organisationsmodelle für Archive im Zeitalter der Digitalisierung. Dabei handelt es sich sowohl um Rundfunk- als auch um Pressearchive.
In Teil 4 "Management und Marketing" werden Strategien für mehr Wirtschaftlichkeit der Archive diskutiert. Dies reicht von der Forderung nach mehr Nutzer- und Serviceorientierung bis hin zum Bericht über die Fusion zweier Dokumentations- und Archivabteilungen (SWF und SDR).
Der fünfte und kleinste Teil schließlich beleuchtet urheberrechtliche Fragen insbesondere von Pressearchiven. [1]
Das Cover des Buches präsentiert sich etwas hausbacken, die Farbe ist in sattem Orange gehalten, eine Gestaltung, die an die 70er Jahre anknüpft. Diese gestalterische Nostalgie steht zunächst in Kontrast zu den pragmatischen Diskussionen, die im Buch geführt werden: Es geht um die Herausforderungen der weltweiten Computervernetzung, um Digitalisierung und Globalisierung. Allerdings findet die durch die äußere Gestalt des Buches manifest gewordene Sehnsucht nach vergangenen Zeiten auch ihre inhaltlichen Parallelen: So geht es in mehreren Beiträgen einmal um Senderreihen, die in den 60er Jahren entstanden (so das auch in Süddeutschland bekannte "ZeitZeichen" des WDR), zum zweiten um die 68er Studentenbewegung und was zu diesem Themenkomplex in den Archiven der ARD an Material vorhanden ist und zum dritten – und das ist wohl der wichtigste Bezug – um die Erinnerung an "bessere" Zeiten, als die Vergabe öffentlicher Gelder noch nicht zwingend an die Umsetzung betriebswirtschaftlicher Effizienz- und Leistungsgrößen gebunden und die Arbeitsweise, Struktur und Effizienz von Medienarchiven noch kein ökonomisches Thema war – jenen "guten (alten) Zeiten", als es noch keinen Zwang zur Zusammenarbeit über Sach- und Ländergrenzen hinweg gab, und die Organisation kollektiver Gedächtnisse noch nicht maßgeblich vom so genannten User und der privaten Wirtschaft vorangetrieben wurde, sondern hauptsächlich die Sache öffentlich-rechtlicher Institutionen war. [2]
So formulierte Ralph SCHMIDT (S.34) von der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e.V. (DGI) zur Begrüßung der Salzburger Tagung im Jahre 1999:
"Das Internet stellt die Welt der Archive und Dokumentationen auf den Kopf: Aus den seltenen Schätzen, die man hütet, pflegt und über deren Nutzung man wacht, werden digitale Archive, die mit fremden Beständen vernetzt und vermischt sind, die weitgehend automatisiert erschlossen werden und die jedem offen stehen sollen."
Und weiter:
"Die Art und Weise wie erst im Internet, dann in Intranets und jetzt schon in manchen Pressearchivsystemen Informationsinhalte strukturiert und erschlossen werden, das stellt alle bewährten dokumentarischen Standards in Frage. Standards, die wir Dokumentare uns in jahrzehntelanger Mühe hart erarbeitet haben. Man kann den Gedanken aber auch ins Positive wenden: Das Internet hat uns eine neue Sichtweise des Umgangs mit Informationen gelehrt." [3]
Dieses Zitat ist exemplarisch. Der Leser spürt die Verunsicherung in der Umbruchzeit von 1998 und 1999, die offensichtlich auch die Archivare und Dokumentare erfasst hatte. Diese Unsicherheit, wie sie in den Texten des Buches deutlich wird, hatte 1998/99 mindestens eine doppelte Quelle: sie speiste sich nämlich aus dem Veränderungsdruck auf das Archivwesen im Angesicht eines explodierenden Internet und – vielleicht noch bedeutsamer – aus dem Veränderungsdruck auf die öffentlichen-rechtlichen Rundfunkanstalten aufgrund boomender Medienmärkte. Seit dem New-Economy-Crash des Jahres 2001 hat dieser Druck sicher wieder deutlich nachgelassen und die Funktionsträger in den öffentlich-rechtlichen Anstalten haben zunächst einen guten Teil ihres Selbstvertrauens wieder gefunden. [4]
Zurück zum Buch: Warum heißt der Band eigentlich "Vernetzungen"? Der Leser erfährt nichts explizit zu diesem Titel. Weder im Vorwort noch im Innenteil wird direkt auf den Begriff eingegangen. Der engagierte Leser kann sich selbst erschließen und entscheiden, was der Begriff "Vernetzungen" eigentlich bedeuten soll: der weltweite Zugriff auf digitale Inhalte über Computer, die Kopplung von Intranets und dem Internet, die verstärkte Zusammenarbeit von bisher getrennt agierenden Fachgesellschaften selbst über Ländergrenzen hinweg, die Zusammenschau dreier Fachtagungen in einem Buch, die Entbürokratisierung und Reorganisation von Strukturen in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Um diese Themen kreisen die Einzelbeiträge des Bandes, der – nach intensiverer Lektüre – eher den Eindruck eines zeitgeschichtlichen Dokuments hinterlässt, als den eines inhaltlich reflektierten Sammelbandes. Das Buch ist auf jeden Fall nicht das, was es laut Vorwort sein will: Tagungsdokumentation und Lehrbuch in einem (ENGLERT, S.5). Das ist ein hoher Anspruch, der so leider nicht eingelöst werden kann. Das ist kein Lehrbuch, sondern genau das Gegenteil: eine Momentaufnahme aus drei Jahren Praxis, ein Sammelsurium von Vorträgen, die in der Mehrzahl noch nicht einmal für die Druckform überarbeitet wurden. Wehe dem Studierenden, der gezwungen ist, diesen Band als Lehrbuch zu benutzen. Das zeigt auch die Tatsache, dass Literaturangaben bei den meisten Beiträgen fehlen: Ein Lehrbuch ohne Literaturangaben? Das dürfte ziemlich einmalig sein. Gewünscht hätte man sich in diesem Zusammenhang eventuell auch ein Stichwortregister. Gerade Archivare müssten doch in der Lage sein, einen Index mit vertretbarem Aufwand zu produzieren. Aber eine solche Erschließung des Inhalts sucht der Leser vergeblich. [5]
Die Sprache in den Beiträgen präsentiert sich bis auf einige Ausnahmen wie gesprochen. Offenbar wurden die meisten Vorträge 1:1 transkribiert, das wirkt streckenweise aber ziemlich unpoliert und kommt der Lesbarkeit nicht entgegen (Ausnahmen bestätigen die Regel, so bspw. der bestens lesbare Aufsatz von Ernst LUKAS zum Wissensmanagement, S. 207ff.). Hier eine Kostprobe aus einem weniger attraktiven Beitrag, dem von Cornelius BORMANN (S.95ff.) über regionale Berichterstattung im Zeichen der Globalisierung:
"Also der Bezugspunkt Globalisierung muss sein, weil wir sonst irgendwohin absacken. Aber Globalisierung alleine reicht nicht, ich setze positiv ergänzend neben die Globalisierung die Regionalisierung. Nicht ich setzte das, Sie haben das mit Ihrer Themenformulierung gesetzt, und dieses Begriffspaar existiert ja auch allgemein nebeneinander." [6]
Manchmal wurden wahrscheinlich auch nur die Overhead-Folien des Vortragenden schnell vertextet. Auch die Form der Beiträge ist sehr disparat. Unterstreichungen, Absätze, Fettdruck: Nahezu jeder Beitrag präsentiert sich typografisch anders. Hier ist man weit davon entfernt, ein Buch aus einem Guss in der Hand zu haben. [7]
Viele Beiträge sind nunmehr rund sechs Jahre alt (Stand: 2004). Ist die Materie zeitlos? Leider nein, ganz im Gegenteil. Was die Sache nun etwas abmildert ist die Tatsache, dass viele Beiträge mit Verlaub gesagt kaum sachliche Substanz aufweisen. Im Plauderton berichten die Archivare ein wenig über ihre Arbeit, aber welche sachlichen Probleme tatsächlich zu lösen waren, mit welchen Mitteln und Instrumenten diese Probleme angegangen wurden, und wie dann der Output konkret aussah, kann der Leser nur sehr vereinzelt erfahren: etwa im Beitrag von Gudrun MENZE und Najette CHAKROUN über die Axel-Springer Inhouse-Dokumentation, bei Bernhard KOSSMANN über die Reorganisation des Archivs beim Hessischen Rundfunk oder im Text von Michael FUHRMANN zum One-to-one-Marketing bei Gruner&Jahr EMS von 1999, der aber ebenfalls aus heutiger Sicht überholt ist. Zu möglichen Forschungsperspektiven erfährt man ebenso wenig wie zu den Institutionen, die diese Forschungen vorantreiben. Die weitaus meisten Texte enthalten locker bis unwissenschaftliche Darstellungen und deskriptive Ausschnitte aus laufender Arbeit angereichert mit anekdotischen Begebenheiten. Dazu kommen die verbandspolitisch geprägten Ausführungen der Grußbotschaften. Ein Fachbuch im herkömmlichen Sinne ist das nicht. Leider auch kein lesbares Sachbuch: Denn der Leser vermisst auch die Leichtigkeit der Darstellung eines komplexen Themas (wie sie bspw. in Nicholas NEGROPONTE's being digital erreicht wurde). Dennoch sollen hier kurz einige inhaltliche Aussagen der Autoren in den Kapiteln zur Digitalisierung und Globalisierung von Information zusammengefasst werden. [8]
2. Auswirkungen von Digitalisierung und Globalisierung
Bereits 1997 machte Bernd KLIEBHAN (S.92) auf die wachsende Bedeutung des Internet als journalistisches Rechercheinstrument aufmerksam: "Viele Fragestellungen, für die bislang in Verlagen und Sendern zentrale Informationsstellen vorgehalten werden, werden beim direkten Internet-Zugriff schneller vom Redaktionsschreibtisch zu erledigen sein." Diese Feststellung gilt auch für Firmennetzwerke, d.h. Intranets. Die Power des Endnutzers – in diesem Fall des Redakteurs – wächst in dem Maße, wie sich die Bedienung und Navigation mit Hilfe des Browsers vereinfachen. Der Redakteur besorgt sich die benötigten Informationen selbst, aus dem Intranet des Verlagshauses oder der Rundfunkanstalt oder aus dem Internet. Der Archivar und Dokumentar muss dadurch einen Wandel seines Aufgabengebietes in Kauf nehmen. Archive und Pressedatenbanken werden nicht überflüssig, aber durch die technisch bedingte bessere Zugänglichkeit, durch Vereinheitlichung und schnellere Abläufe verlagert sich sein Schwerpunkt weg von der Suche und Darreichung hin zur Beratung. Denn (S.94):
"Für die Selektionsfähigkeit und das Beurteilungsvermögen von Journalisten ist das Internet eine ganz neue Herausforderung. Die Verifizierung der dort gefundenen Information ist oft schwierig. Die schöne Regel, daß eine Information dann als verlässlich angesehen werden kann, wenn sie von zwei voneinander unabhängigen Quellen bestätigt wurde, gilt im Internet nicht mehr." [9]
Die Beurteilungsfähigkeit von Redakteuren zu schärfen, kann sicher eine beratende Aufgabe von Dokumentaren sein. – Ähnlich Torsten GERHARDT ein paar Seiten (S.138) weiter:
"Natürlich ist mir bewusst, dass in diesem Netz der Netze eine Unmenge Datenschrott steckt, aber es war ohnehin schon immer die Aufgabe des Medienarchivars, die benötigten Informationen herauszufiltern und sie in einem neuen, gewünschten Zusammenhang zu stellen [...]. Hat man sich erstmal durch den Misthaufen durchgearbeitet, dann fühlt man sich häufig wie Dagobert Duck, der den Goldschatz sieht, in den er mit Wonne hineinspringen kann, um sich darin glücklich zu suhlen." [10]
Die Verlagerung der eigentlichen Recherche auf den Endnutzer ist eine wichtige Entwicklung. Eine andere ist die Aufhebung der Grenzen zwischen einzelnen Medien durch die Digitalisierung und die Entmaterialisierung von Information. Das führt zur abteilungs- und medienübergreifenden Archivierung von Inhalten. Der bereits eingangs zitierte Ralph SCHMIDT fasste 1999 (S.34) die maßgeblichen Entwicklungslinien in fünf Punkten zusammen, die mit der Digitalisierung und Globalisierung von Informationen einhergehen sollen:
Die mediendokumentarische Arbeit wird von Routine befreit.
Die Arbeit verlagert sich von Material zum Menschen.
Die Recherche (des Journalisten oder Nutzers) wird wichtiger.
Über das Internet erschließen sich eine Vielzahl neuer Recherchequellen.
Die neue Arbeit des Archivars und Dokumentars beinhaltet Betreuung, Support, Training. [11]
Fakt ist, die Archive von Rundfunkanstalten, Zeitungen, Museen, Institutionen (wie der Deutsche Bundestag) sowie Materialien von TV-Produktionsfirmen werden für Journalisten leichter zugänglich. Dies gilt sowohl für den journalistischen Zugriff mit Intranets, also innerhalb von Rundfunk- und Medienhäusern, als auch für einen möglichen Zugriff von außen über das Internet. Die stetige Zunahme an multimedialen Daten und die steigende Anzahl von TV- und Radioprogrammen, die mit der Einführung von digitalem terrestrischem Rundfunk weiter zunehmen wird, sorgt für ein weiteres Anschwellen des potentiellen Archivmaterials. Durch die Präsentation und Verlinkung der Materialien im Internet gewinnen Medienkonvergenz und Crossmedialität an Substanz. Durch die weltweite Zugänglichkeit könnten sich ferner nationale Journalismus-Kulturen "entgrenzen" (wie auch Christoph NEUBERGER auf dem 7. Forum Medienrezeption in Stuttgart 2003 konstatierte). Die Voraussetzung dafür sind allerdings neue Methoden der maschinellen Erschließung und Aufbereitung von digitalem Material. Ein zentrales Problem ergibt sich dabei aus der Komplexität, der Informationsfülle und Flüchtigkeit insbesondere von audiovisuellen Medien. Inhaltliche Erschließung der Archivinhalte, multimediales Dokumentenmanagement und Tools zur Erzeugung von Metadaten (Daten über die archivierten Daten) sind nur drei der sich daraus ergebenden Problemfelder, die im vorliegenden Buch aber kaum diskutiert werden (siehe dazu u.a. Joachim KOEHLER 2003). [12]
Auch die Verbindung zum Wissensmanagement und zum Digitalen Content Management hätte etwas ausführlicher erörtert werden können. Im Aufsatz von Ernst LUKAS wird betont, dass Wissen nicht in Computern oder Netzen, sondern in den Köpfen steckt. Erst der richtige Umgang von Menschen mit Büchern, Archiven, Systemen führt zum Wissen. Aber für einen optimalen Umgang mit den Materialien kann Wissensmanagement dienlich sein. Wissensmanagement heißt deshalb, sich darum zu kümmern, dass alle Formen der Wissenstransformation stattfinden können und zueinander passen (S.209f.). Und das ist eine Organisationsaufgabe: Wichtig ist deshalb, welche Form die Organisationen haben, die das Wissens- und Medienmaterial organisieren. Denn: Wissen ist Macht, und die wird nicht gerne geteilt.2) Von dem vorliegenden Buch nun zu erwarten, dass es die Zusammenhänge zwischen Wissen, Information, Internet, Journalismus und Gesellschaft diskutiert und erleuchtet wäre wohl etwas zu viel verlangt. Aber genau auf diesem Terrain befinden sich die interessanten Fragen wie Jürgen MITTELSTRASS (2004, S.5 ) kürzlich in einem Aufsatz vor Augen führte:
"Wo der Unterschied zwischen Wissen und Information verloren geht, werden im Medium der Information auch Wissen und Meinung ununterscheidbar. Meinung artikuliert sich in Informationsform wie Wissen; die Überlegenheit des Wissens gegenüber bloßer Meinung wird unkenntlich. Abbild der Informationswelt ist damit strenggenommen auch die Meinungswelt, nicht die Wissenswelt. Außerdem öffnet sich in einer Gesellschaft, die sich als Informationsgesellschaft versteht, eine unerwartete Nische für eine neue Dummheit, allerdings eine Dummheit auf hohem Niveau. Sie gibt sich nur dem Nachdenklichen zu erkennen und fällt im übrigen deshalb nicht sonderlich auf, weil sie technologisch gesehen ungeheuer erfolgreich ist." [13]
Es ist nicht einfach zu sagen, was dieses Buch ist; einfacher ist es zu sagen, was es nicht ist: Es ist kein Lehrbuch, kein wirkliches wissenschaftliches Fachbuch und eigentlich auch kein Sachbuch. Es ist wahrscheinlich eine Momentaufnahme des Erfahrungsaustauschs, ein zeitgeschichtliches Dokument, das seinen Charme aus der Tatsache gewinnt, dass die Beiträge um die Jahrhundertwende entstanden sind: in einer Zeit des großen Umbruchs bzw. des Aufbruchs in die digitale Informationsgesellschaft. Allein das reicht aber noch nicht für eine Kaufentscheidung. Als Quelle von Sachwissen oder gar als Lehrbuch taugt das Buch dagegen nicht: Zu schnoddrig sind die Texte editiert, zu überholt ist deren Inhalt. Allerdings kann der Band als Beitrag zur Selbstverständnisbildung des deutschsprachigen Archiv- und Dokumentarwesens und zum Wandel eines Berufsbildes gesehen werden. Dennoch: Wer das Buch in der Hand hält wird ggf. angeregt, über den Umgang mit Informationen in einer Mediengesellschaft intensiver nachzudenken. [14]
Nicht nur die Verbandslandschaft selbst hat sich seit 1999 verändert (so die Umbildung der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation in die Deutsche Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis e.V. – DGI), sondern auch die Leistungsfähigkeit von Hard- und Software ist gewachsen und die Zusammenarbeit von Medienarchiven, Wissenschaft und Institutionen hat sichtbare Früchte gebracht, wie die Internet-Plattform des Netzwerk Mediatheken in Deutschland zeigt. Über das Internet werden Angebote und Dienstleistungen von Archiven, Bibliotheken, Dokumentationsstellen, Museen und Forschungseinrichtungen an unterschiedlichen Orten verknüpft. Nutzer erhalten einen systematischen Zugang zu den verfügbaren AV-Medien. Insgesamt aber hinterlässt das Buch von ENGLERT et al. den Eindruck: Fragen der Organisation, der Nutzung und des Umgang mit Medienmaterial sind gesellschaftlich bedeutsam, weil sie die Mediengesellschaft mitkonstituieren. Dieser Bedeutung wird das Buch allerdings nicht ganz gerecht. [15]
1) Weitgehend Nabelschauen: Der Leser erfährt etwas über die Verbände, das hätte man in einem Überblicksartikel aber auch effektiver haben können. <zurück>
2) Wer sich über das Thema Wissensmanagement einen aktuellen Literaturüberblick verschaffen möchte, dem sei der Artikel von Thomas J. SCHULT (2004) aus der Zeitschrift c't empfohlen. <zurück>
Koehler, Joachim (2003). Digitale Medienarchive und multimediales Content Management. Fraunhofer Institute Media Communication (IMK) [PDF-Dokument]. Verfügbar über http://www.imk.fraunhofer.de/ [Zugriff: 20. Juli 2004].
Mittelstraß, Jürgen (2004). Wissen und Bildung in einer offenen Wissensgesellschaft. Manuskript zur Sendung "Medienforum – Wissen und Bildung heute" am 07.01.2004, 3sat [PDF-Dokument]. Verfügbar über http://www.3sat.de/ard/pdf/Mittelstrass.pdf [Zugriff: 20. Juli 2004].
Negroponte, Nicholas (1996). being digital. New York: Vintage.
Neuberger, Christoph (2003). Lösen sich die Grenzen des Journalismus auf? Dimensionen und Defizite der Entgrenzungsthese. Manuskript zur Sendung "Medienforum – Wissen und Bildung heute" am 25.12.2003, 3sat [PDF-Dokument]. Verfügbar über http://www.3sat.de/ard/pdf/Neuberger.pdf [Zugriff: 20. Juli 2004].
Schult, Thomas J. (2004). Wissen ist Macht. Bücher zum Wissensmanagement. c't, 13, 218-219.
Martin WELKER, 1996 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lehreinheit für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Mannheim; Promotion mit einer Arbeit über die "Determinanten der Internet-Nutzung" (Verlag Reinhard Fischer); 2000 bis 2004 Projektleiter bei der MFG Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg mbH, Stuttgart. Seit April 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, Abteilung Journalistik. In FQS finden sich drei weitere Rezensionen von Martin WELKER:
Rezension zu: Klaus Beck, Peter Glotz & Gregor Vogelsang (2000). Die Zukunft des Internet: internationale Delphi-Befragung zur Entwicklung der Online-Kommunikation,
Rezension zu: Michael Häder & Sabine Häder (Hrsg.) (2000). Die Delphi-Technik in den Sozialwissenschaften. Methodische Forschungen und innovative Anwendungen,
Rezension zu: Stefan Frerichs (2000). Bausteine einer systemischen Nachrichtentheorie. Konstruktives Chaos und chaotische Konstruktionen.
Kontakt:
Martin Welker
Universität Leipzig
Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft (KMW)
Journalistik
D-04109 Leipzig
E-Mail: welker@uni-leipzig.de
URL: http://www.martin-welker.de/
Welker, Martin (2004). Rezension zu: Marianne Englert, Eckhard Lange, Heiner Schmitt & Hans-Gerhard Stülb (Hrsg.) (2002). Vernetzungen. Archivdienstleistungen in Presse, Rundfunk und Online-Medien [15 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(3), Art. 16, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0403161.