Volume 5, No. 2, Art. 8 – Mai 2004
Rezension:
Mike Steffen Schäfer
Martin Endress (2002). "Vertrauen". Bielefeld: transcript, 105 Seiten, ISBN 3-933127-78-5, EUR 10,50
Zusammenfassung: Der Band ist als Einführung in die theoretische und empirische soziologische Vertrauensdebatte zu sehen. ENDRESS nähert sich dem Thema theoriegeschichtlich sowie durch eine systematische Aufarbeitung der aktuellen theoretischen und empirischen Literatur und schließt eigene systematische Überlegungen an. Seine theoretischen Annäherungen sind dabei kompetent und verständlich, jedoch zu eng an einzelnen Personen und Ansätzen geführt. Die Aufarbeitung der empirischen Literatur bleibt lückenhaft. Der Band ist daher eher als Einstieg in das Thema zu sehen denn als umfassender Überblick.
Keywords: Vertrauen, soziologische Theorie
Inhaltsverzeichnis
1. "Vertrauen" – eine Einführung? Zur Verortung des Bandes in den disziplinären Kontext
2. Vertrauen – die Relevanz des Gegenstandes
3. Vertrauen im theoriegeschichtlichen Zugriff
4. Der aktuelle Vertrauensdiskurs in der Soziologie
5. Die Entstehung von Vertrauen – Stand der empirischen Forschung
6. Vertrauen – Überlegungen in systematischer Absicht
7. Resümee
1. "Vertrauen" – eine Einführung? Zur Verortung des Bandes in den disziplinären Kontext
Die sozialwissenschaftliche und soziologische Literatur zum Thema Vertrauen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Beispielhaft zu nennen sind hier etwa der Überblicksband von HARTMANN und OFFE (2001) oder die mehr oder minder neuen theoretischen Beiträge von BARBER (1983), EISENSTADT und RONINGER (EISENSTADT 1995, EISENSTADT & RONINGER 1984), MISZTAL (1996) oder SZTOMPKA (1999). [1]
Die Vielzahl der Literatur und die Konjunktur des Vertrauensthemas in den vergangenen Jahren haben bislang jedoch v.a. zur Etablierung eines Forschungsgegenstandes, keineswegs aber zur Klärung aller Facetten des Feldes beigetragen. Die in den 1980ern diagnostizierte "conceptual confusion" (LEWIS & WEIGERT 1985, S.975) trifft noch immer auf eine Reihe von Bereichen der Vertrauensdebatte zu und stellt einführende Arbeiten in das Feld vor Schwierigkeiten. [2]
Der Band "Vertrauen", den der Tübinger Soziologe Martin ENDRESS 2002 vorlegte, ist wohl vornehmlich als eine solch einführende Arbeit zu verstehen und weniger ein eigenständiger theoretischer Beitrag. Zwar ist dem Band eine explizite Textintention nirgendwo zu entnehmen, aber neben den Inhalten und dem generell gehaltenen Titel deutet auch der Publikationsort auf eine einführend angelegte Publikation hin, ist die Reihe "Soziologische Themen" des transcript-Verlages doch darauf ausgerichtet, rasch und profund Zugang zu soziologischen Grundbegriffen zu liefern. [3]
Damit müssen bestimmte Erwartungen an ENDRESS' Buch formuliert werden: Es sollte für Leser geeignet sein, die (noch) nicht in der soziologischen Literatur zu Vertrauen beheimatet sind. Es sollte zudem die theoretische und empirische Literaturlage adäquat und umfassend aufarbeiten. Inwieweit ENDRESS diesen Anforderungen gerecht wird, soll im Folgenden diskutiert werden. [4]
2. Vertrauen – die Relevanz des Gegenstandes
ENDRESS beginnt, sich dem Vertrauensthema zu nähern, indem er die wesentliche Rolle konstatiert, die Vertrauen empirisch als "grundlegende Voraussetzung alltäglichen Handelns" (S.5) in komplexen modernen Gesellschaften spielt. [5]
Zum einen macht er diese Bedeutung an der Problematisierung der Vertrauensthematik fest: In den vergangenen Jahren sind Lebensbereiche in den Blickpunkt der alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Betrachtung gerückt, die sich durch mangelndes oder unzureichend ausgeprägtes Vertrauens auszeichnen. ENDRESS verweist damit auf den ausgeprägten Risiko- und Unsicherheitsdiskurs in der Wissenschafts- und Technikforschung (vgl. z.B. KROHN & KRÜCKEN 1993), aber auch darüber hinaus (klassisch: BECK 1986). So könne man etwa an der Ausbreitung von Expertenkulturen – konkret verdeutlicht an biotechnologischen Entwicklungen und den Debatten darüber – ein "grundlegendes Fragwürdigwerden" sowie eine "fundamentale Verunsicherung weitgehend eingeschliffener Lebensverhältnisse im Zuge einer beschleunigten, insbesondere technisch geprägten Veränderung aller Lebensbereiche" (S.7) feststellen. [6]
Zum anderen sei aber auch zu berücksichtigen, dass sich weite Bereiche des menschlichen Alltags durch ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit, durch "fraglose Gültigkeit" (S.8), durch weitgehend implizites, "fungierendes" Vertrauen auszeichnen. Dieses Phänomen und gerade die "Nicht-Selbstverständlichkeit von Selbstverständlichkeit" (S.8), so ENDRESS, verdiene ebensolche Beachtung wie der Risikodiskurs. Eine adäquate soziologische Analyse müsse sich mithin sowohl mit der Problematisierung und mangelnden Vertrauensfundierung bestimmter Lebensbereiche auseinandersetzen als auch mit der fungierenden Vertrauensbasierung anderer Lebensbereiche. Wer von Vertrauen spricht, könnte man ENDRESS' Aussagen in Anlehnung an LUHMANN (2000, orig.1968, v.a. S.92ff) auch explizieren, muss immer auch Misstrauen mitthematisieren. [7]
ENDRESS' Buch verspricht, sich dieser Thematik sowohl historisch als auch systematisch zu nähern. In den vier zentralen Kapiteln des Buches verhandelt er erstens die Thematisierung von Vertrauen in den Arbeiten klassischer soziologischer Autoren (S.10-27), zweitens den aktuellen theoretischen Diskurs über Vertrauen (S.28-52), drittens empirische Zugänge zu Vertrauen (S.53-65) und versucht abschließend, viertens, Vertrauen systematisch zu bestimmen (S.66-80). [8]
3. Vertrauen im theoriegeschichtlichen Zugriff
Der erste Zugriff, den ENDRESS wählt, ist ein theoriehistorischer und als solcher für die Aufarbeitung des Vertrauensphänomens durchaus originell: Er identifiziert eine Reihe von Klassikern der Soziologie und beschreibt deren Behandlung des Vertrauensthemas. [9]
Zunächst schildert er, wie die Beziehung von Vertrauen und sozialer Ordnung schon früh einen "wirkungsmächtigen Ausdruck" (S.10) in Thomas HOBBES' vertragstheoretischen Überlegungen fand: Den basalen Problemaufriss stellte HOBBES' "Naturzustand" gegenseitigen Misstrauens dar. Dieser bedingte die wechselseitige Gefährdung der Menschen und zwang sie zu fortwährender Informationssuche über eigene und fremde Ressourcen, zur stetigen Absicherung ihrer sozialen Beziehungen und zum aufwändigen Kampf um etablierte Positionen. Misstrauen resp. Vertrauensmangel erhöhte mithin die Komplexität individueller Kognition und Handlung – der Verweis auf das mit Vertrauen eng verbundene Problem sozialer Komplexität (vgl. LUHMANN 2000; orig. 1968) ist hier bereits angelegt, so ENDRESS. Denn Vertrauen sei in der Lage, zur Lösung des HOBBESschen Dilemmas beizutragen, indem es auf sachlicher Ebene Komplexität reduziert, auf sozialer Ebene stabile Rahmen und Handlungsbedingungen generiert und auf zeitlicher Ebene soziale Ordnung und soziale Beziehungen kontinuiert. [10]
In der Folge identifiziert ENDRESS drei "Generationen" von soziologischen Klassikern, deren Vertrauenskonzeptionen er chronologisch geordnet vorstellt:
In der "Gründergeneration" findet sich bei Émile DURKHEIM eine, allerdings wenig ausgearbeitete, Konzeption von Vertrauen, die komplementär zu HOBBES zu verstehen ist und zentrale Dimensionen ergänzt. Denn DURKHEIM thematisierte im Gegensatz zu HOBBES gerade die nicht-kontraktuellen Elemente von Vertragsbindungen, ihren normativen Verpflichtungscharakter also, bei dem Vertrauen "als sozialen Beziehungen immanente normative Verpflichtung" (S.12) konzipiert ist. Georg SIMMEL, der der Vertrauensthematik unter den "Gründern" die meiste Aufmerksamkeit schenkte, tat dies im Kontext einer Perspektive, die die Gesellschaft auf der "Logik des Kredits" ruhen sah. Seine zentralen Verdienste identifiziert ENDRESS einerseits in der von SIMMEL historisch aufgearbeiteten Unterscheidung von persönlichem und generalisiertem, versachlichtem Vertrauen, das personaler Kenntnis nicht mehr bedarf. In einer weiteren Differenzierung sieht ENDRESS das zweite wesentliche Verdienst des SIMMELschen Zugangs: in der Unterscheidung von Vertrauen als allgemeinem, unspezifischem Glauben (das dem beschriebenen versachlichten Vertrauen nahe steht), Vertrauen als Wissensform und Vertrauen als Gefühl. Max WEBER schließlich, als dritter vorgestellter Autor der "Gründergeneration", thematisiert Vertrauen wie DURKHEIM eher am Rande und zeigt etwa "als Bedingung der Entwicklung moderner Kapitalgesellschaften einen Übergang von ausschließlich persönlich gebundenem zu generalisiertem Vertrauen" (S.16).
In die historisch folgende "Generation der Jahrhundertwende" subsumiert ENDRESS zum einen Alfred SCHÜTZ, zum anderen Talcott PARSONS. ENDRESS zeigt SCHÜTZ als einen Autor, der Vertrauen begrifflich vordergründig gar nicht thematisierte, dessen Konzeption lebensweltlicher Vertrautheit aber zentral auch für die Vertrauensproblematik ist. Schließlich lasse sich SCHÜTZ' Annahme, dass die Lebenswelt von Individuen in "natürlicher Einstellung" erlebt und in Existenz und Typik bis auf Widerruf fraglos hingenommen werde – ausgedrückt durch die angenommene Reziprozität der Perspektiven und die Idealisierungen des "Und so weiter" und "Ich kann immer wieder" – parallel zu GIDDENS' "Ur-", "Welt-" und "Seinsvertrauen" (vgl. GIDDENS 1995) lesen. PARSONS' Vertrauenskonzept steht dagegen im Kontext seiner Analysen von Funktionen und Erhaltungsbedingungen sozialer Systeme und wurde von ihm als Variante zur Überbrückung des Kompetenzgefälles zwischen Laien und Experten bzw. als Basis für die Funktion generalisierter symbolischer intersystemischer Austauschmedien wie Geld, Macht usw. verstanden. Sein Vertrauenskonzept blieb jedoch weitgehend unausgearbeitet.
Die "Generation um 1920" schließlich umfasst so heterogene Autoren wie Harold GARFINKEL, Peter M. BLAU oder Erving GOFFMAN. Der Ethnomethodologe GARFINKEL, so ENDRESS, nehme Vertrauen als Bedingung stabiler Interaktion hin und untersucht dann die Produktion dieser Selbstverständlichkeit. Vertrauen dient dabei der Markierung der interaktiv stets mitlaufenden Überzeugung, dass auch der jeweils andere einen gemeinsam aufgebauten Deutungshorizont aufrechterhalten wolle. BLAU, in seinen Analysen sozialer Tauschbeziehungen, deutet Vertrauen als Basis und Beförderer des Tauschs; verortet Vertrauensbeziehungen als Phänomen zwischen kalkülbasierten Sozialbeziehungen und Liebesbeziehungen. GOFFMAN schließlich sieht Vertrauen als handlungsrelevantes Sichverlassen auf Bekundungen anderer, basierend auf Annahmen über den moralischen Charakter dieser anderen. [11]
Resümierend macht ENDRESS in den drei frühen Klassiker-Generationen einerseits einen grundlagentheoretischen Zugriff auf Vertrauen aus, für den v.a. SCHÜTZ und SIMMEL, aber auch GARFINKEL und GOFFMAN stehen und der den präreflexiven, jenseits verfügbaren Wissen liegenden, fungierenden Charakter von Vertrauen betont. Andererseits findet ENDRESS einen entwicklungsgeschichtlichen Zugriff, etwa bei DURKHEIM, SIMMEL und WEBER, die einen historischen Wechsel von persönlichem hin zu versachlichtem unpersönlichem Vertrauen als Folge der Entstehung moderner Gesellschaften diagnostizieren. [12]
Der Verdienst dieses theoriehistorischen Kapitels liegt in der Aufarbeitung bislang weitgehend unberücksichtigter Theoriederivate in den Arbeiten wesentlicher soziologischer Autoren. Drei Aspekte scheinen bei ENDRESS' Vorgehensweise jedoch problematisch zu sein: Zum einen sind die Grundlagen seiner Generationenbildung undeutlich bzw. unbefriedigend. Die Kriterien, nach denen die Klassiker ausgewählt wurden, bleiben unklar. Sind die Präsentierten die wesentlichen und daher die an dieser Stelle unbedingt vorzustellenden Autoren der Soziologie – und wenn dem so ist, was macht sie dazu? Oder sind es diejenigen unter den Klassikern der Soziologie, die sich überhaupt zu Vertrauen geäußert haben? Diese Fragen bleiben offen. Unbefriedigend bleibt bei der Typisierung zum Zweiten, dass sich die unterschiedenen Generationen nicht durch einen gemeinsamen inhaltlichen Zugriff auf das Thema auszeichnen, dass also hier nicht inhaltlich, sondern qua Geburtskohorte zusammengefasst wurden. Zum Dritten schließlich wird von einigen der vorgestellten Klassiker Vertrauen nur beiläufig thematisiert. Während dies unproblematisch wäre bei einer Arbeit, deren Ziel die Aufarbeitung der Archäologie der Vertrauensdebatte ist, muss sich ENDRESS bei einem einführend angelegten Buch aber fragen lassen, ob eine erweiterte Darstellung der aktuellen Theorie- und Empiriediskussion sowie die Ergänzung der nachfolgend behandelten Autoren – etwa um den theoretischen Beitrag BARBERs (1983) – nicht sinnvoller gewesen wäre. [13]
4. Der aktuelle Vertrauensdiskurs in der Soziologie
Die Vorstellung des aktuellen Diskurses über Vertrauen in der Soziologie realisiert ENDRESS über die Präsentation von vier Autoren, die in der Vertrauensdebatte prominent waren und deren Positionen ein Spektrum unterschiedlicher Ansätze aufmachen: Niklas LUHMANN steht für eine systemtheoretische Perspektive, James COLEMAN für einen ökonomisch geprägten, handlungstheoretischen Zugriff, Anthony GIDDENS für eine strukturationstheoretische Perspektive und Piotr SZTOMPKA für einen makrosoziologischen Blick auf sozialen Wandel und die Bedeutung von Vertrauen für selbigen. [14]
LUHMANN, dessen Arbeiten ein oft genutzter Referenzpunkt für die aktuelle theoretische Vertrauensdebatte sind, begreift Vertrauen als Scharnier zwischen unterschiedlichen Systemen, das in der Lage ist, Komplexität zu reduzieren, Erwartungen zu stabilisieren und dadurch systemische Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen. Vertrauen überbrückt Wissensgrenzen und substituiert Informationen, und macht auf diese Weise etwa symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht oder wissenschaftliche Wahrheit möglich (die dann aber ebenfalls wieder Risiken und Vertrauensprobleme mit sich bringen). Auch bei LUHMANN geht mit dem Übergang von primär stratifizierten zu wesentlich funktional differenzierten Gesellschaften ein Übergang von persönlichem zu Systemvertrauen in komplexe, hochgradig differenzierte Systeme einher. Unhinterfragte Vertrautheit wird zunehmend ins Private und in persönliche Beziehungen gedrängt, während auf gesellschaftlicher Ebene die Grenzen von vertraut und unvertraut verschwimmen und der Vermittlung bedürfen. Für diese Vermittlung ist Vertrauen zentral, als "Mechanismus der Sozialdimension, der Probleme auf der Sachdimension (Informationsdefizite, Risiken, Unsicherheiten) und auf der Zeitdimension (Sequenzialität, d.h. Ungleichzeitigkeit) löst" (S.34). Was der LUHMANNschen Analyse fehlt, so ENDRESS, sind eine Konstitutionsanalyse von Vertrauen sowie eine differenziertere Betrachtung der recht unspezifischen Dichotomie von persönlichem und Systemvertrauen. [15]
COLEMANs Ansatz entstammt der ökonomisch inspirierten Rational-Choice-Handlungstheorie. Er konzipiert Vertrauen im Rahmen eines sozialen Tauschmodells. Einfache sowie komplexe Vertrauensbeziehungen versteht er als Kontrollrechtsübertragungen in Situationen, die dadurch riskant und orientierungsoffen sind, dass Wissen über die Handlungen des Gegenübers fehlt und deren Gegenleistung zudem zeitlich versetzt, mithin erst nach einer eigenen Vorleistung erfolgt. COLEMANs Heuristik, die für Tauschprozesse durchaus ausgefeilt scheint, hält ENDRESS allerdings kaum für geeignet, um an "Feinheiten der Vertrauensbildung" heranzukommen (vgl. PREISENDÖRFER 1995, S.267). Schließlich thematisiere COLEMAN ein kalkuliertes, reflexives und einseitiges Vertrauen, also einen erheblich reduzierten Problembereich, in dem etwa fungierendes Vertrauen unberücksichtigt bleibe. [16]
GIDDENS untersucht Vertrauen im Kontext von Untersuchungen der fortgeschrittenen Moderne. Diese zeichnet sich für GIDDENS v.a. durch das Herausheben sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre Restrukturierung durch unbestimmte Raum-Zeit-Spannen aus. Vertrauen fungiert dabei als vermittelndes Scharnier und nimmt in GIDDENS' Theorie eine zentrale Rolle ein: zum einen als Vertrauen zwischen (einander bekannten) Personen, zum anderen als Vertrauen in Entbettungsmechanismen, als Glaube an symbolische Zeichen und Expertensysteme. Letzteres wird gerade in der Moderne wichtiger, so GIDDENS. Denn das Wesen moderner Institutionen sei eng mit dem Vertrauen in abstrakte Systeme verbunden, bedeutsam sei zunehmend der "Glaube an Richtigkeit von Grundsätzen, die man selbst nicht kennt" (GIDDENS 1995, S.33f). Dabei ist sich GIDDENS, wie ENDRESS anmerkt, auch der zentralen Rolle fungierenden Vertrauens durchaus bewusst. [17]
SZTOMPKA bettet seinen Blick auf Vertrauen in Untersuchungen zu Transformationsprozessen mittelosteuropäischer Staaten ein. Vertrauen begreift er als kulturelle Ressource für die Realisierung eines gesellschaftlichen Handlungspotentials unter Bedingungen von Komplexität, Ungewissheit und Unsicherheit – eine Ressource, die Handlungsspielraum schafft, Kontrolle unnötig macht und Kosten spart. SZTOMPKAs Verdienst liegt ENDRESS zufolge neben seinem makrosoziologischen Zugriff v.a. darin, eine hochdifferenzierte Vertrauensheuristik geschaffen zu haben, die beispielsweise nicht nur zwischen Personen- und Systemvertrauen unterscheidet, sondern allgemeines, institutionelles, technologisches, Organisations-, kommerzielles, Positions- und persönliches Vertrauen differenziert. [18]
All diese Autoren, resümiert ENDRESS, thematisieren Vertrauen (auch) auf gesellschaftstheoretischer Ebene und unterstreichen seine funktionale Unabdingbarkeit für moderne Gesellschaften. Zudem beruhen sie alle auf der Akzeptanz der sozialen Herstellung der Welt durch Handeln unter den Bedingungen unvollständigen Wissens und damit der potentiellen Fehlentwicklungen und generellen Riskanz jeden Handelns – was Vertrauen notwendig macht. Darüber hinaus aber betonen sie unterschiedliche Facetten der Vertrauensdebatte, wie ENDRESS zeigt: COLEMAN etwa bezieht sich auf die reflexive Variante des Vertrauen, während GIDDENS auch präreflexives Vertrauen thematisiert. Bei LUHMANN und GIDDENS findet sich eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive, bei COLEMAN und SZTOMPKA eher eine systematische. LUHMANN und COLEMAN akzentuieren funktionale Aspekte des Vertrauens, GIDDENS und SZTOMPKA eher seine allgemein gesellschaftsintegrative Funktion. [19]
Die Typologisierung dieser Ansätze und ihre Zuordnung in unterschiedliche Denkrichtungen zeigt, dass die vier präsentierten Autoren durchaus ein theoretisches Spektrum repräsentieren. Dies kann das auch hier existierende Auswahlproblem aber nicht vollkommen verdecken, eine Reihe von Fragen bleiben unbeantwortet: Warum wurden gerade diese vier Theoretiker ausgewählt? Warum etwa wird nicht Bernard BARBER (1983) als ebenfalls zentraler Autor der Debatte angeführt (wie bei BENTELE 1998)? Und hätten nicht – bei einer Aufarbeitung des aktuellen theoretischen Diskurses – ohnehin mehr als vier Autoren Eingang in die Präsentation finden müssen? Sind mit den beschriebenen vier Perspektiven die zentralen Positionen der Debatte wirklich ausreichend abgedeckt? Dass ENDRESS wichtige und zentrale Autoren des Vertrauensdiskurses beschreibt, bleibt ihm unbenommen. Ob die Theorielage der soziologischen Vertrauensdebatte mit seiner Schilderung aber hinreichend erfasst ist, ist zweifelhaft. [20]
5. Die Entstehung von Vertrauen – Stand der empirischen Forschung
Vertrauen ist empirisch schwer zugänglich, v.a. in seiner fungierenden, präreflexiven Variante, konstatiert ENDRESS einleitend zu diesem Kapitel. Er zeigt zunächst die Unzulänglichkeiten gängiger empirischer Herangehensweisen auf, die sich v.a. auf quantitative Einstellungsmessungen beschränken und damit nur reflexives Vertrauen messen, nicht ohne weiteres als verhaltensrelevant angenommen werden können und nur einem sehr spezifischen Interesse an der Vertrauensthematik adäquat sind. [21]
Die diesen treffenden einleitenden Bemerkungen zur empirischen Erfassung von Vertrauen folgenden Abschnitte zeichnen allerdings ein zu lückenhaftes Bild von der empirischen Erfassung von Vertrauen. So werden zunächst Mikroanalysen, v.a. von einfachen, face-to-face-Interaktionen aufgezeigt: Beispielsweise HENSLINs Analyse von Vertrauenszuschreibungen eines Taxifahrers seinen Fahrgästen gegenüber, in der die Relevanz sozialer Merkmale und Stereotypen – etwa das Anbieten einer Selbstdefinition der Akteure und deren Stimmigkeit – für die Vertrauensbildung gezeigt wird (HENSLIN 1968). Auch aus mesosoziologischen Analysen der Vertrauensgenese werden Ergebnisse referiert, die etwa die Wichtigkeit der wahrgenommenen Kompetenz von Professionsangehörigen, von deren Vertraulichkeit, Redlichkeit, Transparenz und Effektivität nahe legt. Makroanalysen schließlich, die sich auf die Vertrauenswürdigkeit von Institutionen oder Systemen, ihrer Leitideen, Verfahrensordnungen, Leistungen und Kontrollmechanismen richten, zeigen u.a. die Bedeutung eine klaren inhaltlichen Linie und genereller Berechenbarkeit für die Vertrauenswürdigkeit eines Akteurs. [22]
In dieser Zusammenstellung finden sich kaum Informationen zur prozessualen Entstehung von Vertrauen – was jedoch eher der Literaturlage geschuldet ist als einem Versäumnis des Autors. Seine empirische Übersicht lässt jedoch auch, und das ist zu kritisieren, eine Reihe von Forschungsergebnissen vermissen, die durchaus von Relevanz gewesen wären. So lassen sich etwa aus Psychologie und Kommunikationswissenschaft Studien anführen, die Vertrauensdeterminanten unterschiedlicher Vertrauensobjekte (unterschiedlicher Akteure, Institutionen und Systeme, von Medien usw.) analysiert haben. Autoren wie Carl HOVLAND (vgl. z.B. HOVLAND, IRVING & KELLEY 1953) und neuere Arbeiten wie die von Günter BENTELE zu Vertrauen (1994, 1996, 1998) oder die von Günter KÖHNKEN zu Glaubwürdigkeit (1990) finden sich hier nicht. Sie hätten aber durchaus noch etwas mehr Licht auf empirische Charakteristika von Vertrauen werfen können, die von soziologischen Analysen bislang unzureichend beschrieben wurden. Gerade bei einem schwer fassbaren Phänomen wie Vertrauen wäre der Blick in andere, verwandte Disziplinen durchaus lohnend gewesen. [23]
6. Vertrauen – Überlegungen in systematischer Absicht
Die systematische Bestimmung des Vertrauensbegriffs, in der Einleitung angekündigt, realisiert sich im abschließenden Kapitel des Bandes – sicherlich auch aufgrund von Platzrestriktionen – nur kursorisch. Es werden lediglich "einige Überlegungen in systematischer Absicht" (S.66) präsentiert. Darin wird beispielsweise, theoretisch jedoch weitgehend unverbunden, darauf hingewiesen, dass die im Rahmen des Bandes explizierten oder eingeführten Differenzierungen in weiteren Analysen berücksichtigt werden sollten. [24]
So sollten die unterschiedlichen Ebenen des Vertrauensphänomens künftig analytisch mitreflektiert werden: der mögliche grundlagentheoretische Zugang, für den SIMMEL und SCHÜTZ stehen, ebenso wie die strukturtheoretische Analyse; die Differenzierung in Mikro-, Meso-, Makroebene mit jeweils spezifischen Prozessen der Vertrauensgenerierung; die Unterschiede zwischen Formen expliziten, thematisierten, reflexiven Vertrauens auf der einen und Formen impliziten, fungierenden Vertrauens auf der anderen Seite; schließlich die Unterscheidung von persönlichem, Institutionen- und Systemvertrauen, bei der auch deren Verhältnis zueinander noch zu klären wäre. [25]
Die eingangs formulierten Erwartungen an ENDRESS' Buch waren, dass es einen verständlichen Einstieg in die soziologische Literatur zu Vertrauen geben und die theoretische und empirische Literaturlage adäquat und umfassend aufarbeiten sollte. Diesen Anforderungen wird ENDRESS nicht in vollem Umfang gerecht. [26]
Die Stärke des Buches ist seine gelungene Präsentationsweise. Diejenigen Theorien und empirischen Ansätze, die ENDRESS darstellt, beschreibt er adäquat und weitgehend verständlich. Zahlreiche Idealtypisierungen helfen bei der Aggregation und beim Vergleich der einzelnen Theoretiker, der überschaubare Umfang des Bandes ist schnell und einfach zu bewältigen. Zudem ist der theoriegeschichtliche Zugang zum Thema durchaus originell. [27]
Kritisch anzumerken bleibt jedoch, dass die inhaltliche Ausrichtung des Bandes für eine Einführung zu spezifisch ist. Es wird ein Ausschnitt des Vertrauensdiskurses präsentiert, der einen wesentlichen Teil der theoretischen Debatte abdeckt, bei dem die empirische Aufarbeitung jedoch zu lückenhaft bleibt. Generell ist bei der Präsentation eines Ausschnittes zu fragen, was präsentiert wird und ob es Fehlstellen in der Präsentation gibt. Für ENDRESS' Buch ist zu konstatieren, dass es in dieser Hinsicht durchaus einige, oben ausgeführte Kritikpunkte gibt. Aufgrund der Auswahl vier zentraler Autoren der aktuellen Debatte verzichtet ENDRESS auf die Präsentation einer umfassenderen theoretischen Basis, die als Grundlage der vorgenommenen Typisierungen dem Buch sicherlich förderlich gewesen wäre. Möglicherweise hätte man zugunsten einer solch umfassenderen Theoriepräsentation auch auf die originelle, aber in der Sache nicht immer fruchtbare theoriegeschichtliche Aufarbeitung verzichten und den Band eventuell konsequent systematisch anlegen sollen. [28]
Fazit: ENDRESS' "Vertrauen" ist ein kompetenter, anregender, interessanter Einstieg in die soziologische Behandlung von Vertrauen. Das Buch ist dem Anspruch einer Einführung jedoch nicht in allen Bereichen gewachsen. Es ist eher als Impuls zu sehen, als Einstieg, der mit einer immanenten Aufforderung an den Leser zum umfassenderen Literaturstudium einhergeht. [29]
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Mike Steffen SCHÄFER; M.A. (Soziologie, Journalistik, Publizistik), Studium in Leipzig, Wien und Cork, seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig; bisherige Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftssoziologie (v.a. zum Thema Biotechnologie), Mediensoziologie, Medienpädagogik.
Kontakt:
Mike Steffen Schäfer
Universität Leipzig, Institut für Kulturwissenschaften
Beethovenstrasse 15
D-04275 Leipzig
E-Mail: mss@uni-leipzig.de
URL: http://www.uni-leipzig.de/~kuwi/; http://www.uni-leipzig.de/~diskus/
Schäfer, Mike Steffen (2004). Rezension zu: Martin Endress (2002). "Vertrauen" [29 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, Art. 8, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs040285.