Volume 5, No. 2, Art. 15 – Mai 2004
Tagungsbericht:
Lisa Pfahl & Boris Traue
Lesarten qualitativer Forschung – Methoden-Workshop. 28.-29. November 2003, Zentrums für Frauen-, Geschlechter- und Queer-Forschung der Universität Hamburg, organisiert von Marianne Pieper und Stevie Meriel Schmiedel
Zusammenfassung: Auf dem Workshop wurde das Verhältnis poststrukturalistischer und postmodernistischer Sozial- und Sprachtheorie zu theoretischen und methodologischen Positionen der interpretativen Soziologie, insbesondere der Biographieforschung diskutiert. Eine Reihe von ReferentInnen trugen methodologische Reflexionen aus Biographieforschung und Diskursanalyse bei, während andere die Ergebnisse der Anwendung diskursanalytischer und dekonstruktivistischer Positionen thematisierten. Insgesamt zeigte sich, dass die neuere (deutsche) Biographieforschung Aspekte dekonstruktivistischer Kritik bereits berücksichtigt. Über die Art und Weise, wie poststrukturalistische Ansätze bei konkreten empirischen Vorhaben zur Anwendung kommen kann, besteht noch weiterer Klärungsbedarf.
Keywords: qualitative Forschung, Biographieforschung, Diskursanalyse, Dekonstruktion, Methodologie interpretativer Sozialforschung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Poststrukturalistische Theorie und qualitative Sozialforschung
2. Reflexiv-rekonstruktive Biographieforschung
3. LYOTARDs Konzept des Widerstreits
4. Einschreibung in kollektive Erinnerungskultur/Fankultur von jungen Frauen
5. Zwischen Re- und Dekonstruktion
6. Dispositivanalyse und Diskursanalyse
7. Überblick über die Veranstaltung
1. Einleitung: Poststrukturalistische Theorie und qualitative Sozialforschung
Die Veranstaltung wurde von Marianne PIEPER und Stevie Meriel SCHMIEDEL organisiert und fand am Institut für Soziologie der Universität Hamburg statt. Ziel der Veranstaltung war es, auszuloten inwiefern sich die poststrukturalistische Dezentrierung des Subjekts auf die empirische Forschung in den Sozial-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaften auswirkt. Neuere methodische Ansätze, die in Anlehnung an FOUCAULT, DERRIDA, SPIVAK und LACAN in der empirischen Forschung entwickelt wurden, sollten vorgestellt und daraufhin untersucht werden, inwiefern sich Anschlüsse an Methoden der klassischen Biographieforschung herstellen lassen. Hervorgegangen ist der Workshop aus der von PIEPER geleiteten Lehrveranstaltung "Lebensformen" am Lehrstuhl Sozialisation, Erziehungsinstitutionen und Geschlechterforschung. [1]
Im Eröffnungsreferat stellte Marianne PIEPER den institutionellen und thematischen Hintergrund der Veranstaltung vor. Dabei griff sie das poststrukturalistische Grundanliegen auf, das "hegemoniale Projekt des autonomen Subjekts" zu dekonstruieren und ging auf die Schwierigkeiten ein, die die Verfolgung dieses Projekts in der empirischen Arbeit mit sich bringt. Anlass der Veranstaltung sei es, die möglichen Bezüge poststrukturalistischer Theorie und qualitativer Sozialforschung zu diskutieren. Mit ihrer theoretischen Einführung formulierte PIEPER den Anspruch, die Praxis der qualitativen Sozialforschung an poststrukturalistischer Kritik zu messen. Sie stellte dabei jedoch keine konkreten Erwartungen an die empirische Forschung und unterließ es, mögliche Anschlusspunkte aufzuzeigen oder danach zu fragen, inwiefern eine poststrukturalistische Sichtweise im Rahmen der Sozialwissenschaften bereits verwirklicht ist. [2]
2. Reflexiv-rekonstruktive Biographieforschung
In ihrem Vortrag "Erfahrung und Erzählung – methodologische Probleme und Perspektiven einer reflexiv-rekonstruktiven Biographieforschung" stellte Bettina DAUSIEN (Bielefeld) methodologische Überlegungen zur Biographieforschung vor, mit der Absicht, diese für unterschiedliche Theorieansätze anschlussfähig machen. Im Mittelpunkt ihres Beitrags standen die Konzepte von Erfahrung und Erzählung sowie die damit verbundenen methodologischen Probleme und Perspektiven einer reflexiv-rekonstruktiven Biographieforschung. DAUSIEN verwies auf den von SCHÜTZ diskutierten Doppelcharakter der Biographie als "Konstruktion 2. Grades" und die sich daraus ergebenden Probleme für den wissenschaftlichen Gebrauch des Konzepts. Im Unterschied zur alltagsweltlichen Verwendung des Terminus "Biographie" sollte sich der wissenschaftliche durch einen höheren Grad der Explikation bzw. Reflektion auszeichnen. Mit dieser Aufforderung wendet sie sich gegen einen gewissen Naturalismus des symbolischen Interaktionismus (nach BLUMER), demzufolge das Feld die Methode bestimmen sollte, und dementsprechend auch gegen ein Konzept der Erfahrung, wie es bspw. in der Homologiethese von SCHÜTZE zum Ausdruck kommt. DAUSIEN kritisiert, dass die genannten Perspektiven bei aller Differenziertheit letztlich auf eine Abbildtheorie sozialer Wirklichkeit rekurrieren und damit unterschlagen, dass Erzählungen neben der Repräsentation auch soziale Wirklichkeit konstruieren. Unter Rückgriff auf BRUNER argumentiert DAUSIEN, dass wir unser Leben so erleben, wie wir es erzählen, und nur eingeschränkt so erzählen, wie wir es erleben. Trotzdem bleiben für DAUSIEN beide Perspektiven plausibel; die Frage nach dem Primat der einen über die andere sollte ihr zufolge jedoch aufgegeben werden. Aus diesen Überlegungen folgert DAUSIEN zwei Prämissen für die Biographieforschung: 1. Biographische Erzählungen repräsentieren soziale Wirklichkeit. Sie geben Auskunft über Leben und können rekonstruktiv genutzt werden (Repräsentation). 2. Biographien stellen ein Medium bzw. eine kommunikative Praxis dar, durch das Individuen individuell-biographisch soziale Wirklichkeit konstruieren. Im Abschluss ihres Vortrags schlägt DAUSIEN darüber hinaus vor, statt von Rekonstruktion besser von Re-Konstruktion oder Ko-Konstruktion zu sprechen und eine Vielzahl verschiedener Kontexte zur Lesartengenerierung heranzuziehen, wie z.B. sozialstrukturelle Rahmungen, Interaktions-Rahmen, biographische Rahmungen und Rahmen der Forschungsprozesse. [3]
DAUSIEN argumentierte dafür, die diskursive Produktion biographischer Texte zu reflektieren, sie aber zugleich rekonstruktiv zu nutzen, weil sie auf soziale Wirklichkeit verweisen. Dazu lieferte DAUSIEN eine interessante Anleitung, wie durch die Integration von Fragen nach dem Kontext der untersuchten biographischen Erzählung, der textuellen sowie außertextuellen Referenzen, als auch nach den kulturellen Modellen, die explizit und implizit reproduziert werden, eine reflexiv-rekonstruktive Biographieforschung gelingen kann. Damit bot ihr Vortrag Anknüpfungspunkte zwischen poststrukturalistischen Anliegen und Methoden qualitativer Sozialforschung, die verwundern ließen, warum DAUSIEN im Kontext der Veranstaltung als "klassische" Biographieforscherin vorgestellt wurde. [4]
3. LYOTARDs Konzept des Widerstreits
Hans-Christoph KOLLERs (Hamburg) Vortrag "Die Bedeutung von Lyotards Konzeption des Widerstreits für eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung" gliederte sich in drei Teile: 1. Vorstellung eines Beispiels aus der Kommunikationsforschung zum Thema Rassismus, 2. theoretische Einführung in LYOTARDs Pluralität heterogener Sprachspiele, 3. Klärung der Frage, ob es sich bei dem vorgestellten Beispiel um einen Widerstreit im LYOTARDschen Sinn handelt. Das von KOLLER gewählte Beispiel eines Streits zwischen Wissenschaftler/innen war dem Tonbandmitschnitt einer wissenschaftlichen Tagung an seinem Lehrstuhl entnommen. Einer der deutschen Teilnehmer bewertet Rassismus als Konstruktion, die es zu interpretieren gelte, ein afrikanischer Teilnehmer bewertet rassistisches Verhalten als Erfahrung und die Interpretation dieser als Negation der Erfahrung. LYOTARDs Überlegungen zur potentiell konflikthaften Pluralität heterogener Sprachspiele gehen auf WITTGENSTEIN zurück, später von LYOTARD als "genre de discourse" bezeichnet. Er unterscheidet dabei zwischen einem Rechtsstreit (beide Vorwürfe gehören derselben Diskursart an) und einem Widerstreit (beide Vorwürfe gehören unterschiedlichen Diskursarten an). Weiterhin argumentiert LYOTARD normativ, dass es darum ginge, dem Widerstreit gerecht zu werden, d.h. die widerstreitenden Diskursarten sollten nicht in einen Rechtsstreit verwandelt werden, sondern als Widerstreit ausgefochten werden; wenn eine Partei sich nicht artikulieren kann, sollte der Vorwurf zunächst "bezeugt" werden (d.h. zum Ausdruck gebracht werden). KOLLER diskutierte die Frage, ob es sich beim genannten Beispiel um einen Widerstreit handelt, der es verbietet, die widerstreitenden Positionen in eine dritte, scheinbar objektive Position einzuklammern. Er kam zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Widerstreit handelt, da die universalistisch-positive Diskursart nicht auf derselben Ebene liegt wie die gewissermaßen ethisch imprägnierte Artikulation von Rassismuserfahrung. [5]
KOLLERs Beitrag thematisierte die problematische Neigung der empirischen Sozialwissenschaft, jedwedes Vokabular in ein wissenschaftliches, vorgeblich objektives Metavokabular aufgehen zu lassen. Die Berücksichtigung der Unübersetzbarkeit (oder erschwerten Übersetzbarkeit) von verschiedenen Diskursarten legt in diesem Sinn eine offene Thematisierung textueller Brüche und Diskontinuitäten nahe, wie hier am Beispiel der Wissenschaftskommunikation demonstriert. [6]
4. Einschreibung in kollektive Erinnerungskultur/Fankultur von jungen Frauen
Claudia LENZ (Hamburg/Oslo) untersucht in ihrem Beitrag "Einschreibungen – Umschreibungen – Überschreibungen. Lektüren der Widerstandserzählungen einer Norwegerin" die Geschlechterordnung der Erinnerung in Norwegen anhand von autobiographischen Erzählungen zu vier verschiedenen Zeitpunkten im Leben von norwegischen Widerstandskämpferinnen. LENZ verfolgte die Forschungsfrage, wie sich die kollektive Erinnerungskultur Norwegens in die individuelle Erinnerung niederschlagen und rekurrierte hierzu auf ein Konzept der "Regulierung individuellen Erinnerns". Sie konnte aufzeigen, wie bestimmte inhaltliche Aspekte der Erzählung sich wandeln und wie dies mit den jeweils herrschenden geschlechtsspezifischen Deutungsmustern parallel läuft: erst nach Jahrzehnten kann die Zeitzeugin bestimmte, z.B. sexuelle Aspekte einer Verhaftungssituation schildern. LENZ zufolge entwickelt sich eine sozialintegrative Konsenserzählung mit Exklusion der Minderheit der Kollaborateure. LENZ bestach in ihrem Vortrag durch interessantes empirisches Archivmaterial – die Schilderung derselben Verhaftungssituation zu verschiedenen Zeitpunkten über vier Jahrzehnte. Leider blieb ihr methodisches Vorgehen im Umgang mit den Interviewtranskripten im Dunkeln, sie explizierte ihre methodische Vorgehensweise nicht. Darüber hinaus reflektierte LENZ nicht das Problem, dass das Verhältnis zwischen der an die kollektive Erinnerung angepassten Erzählung und der selbstsozialisatorischen Wandlung der Untersuchten mit ihrer Methode nicht geklärt werden kann. Der Selbstevidenz des Materials wurde dadurch u.U. zu große Beweislast aufgebürdet, da unklar blieb, welche Kontextbedingungen die Entstehung des Materials strukturiert haben. [7]
Bettina FRITZSCHE (Berlin) hielt den Vortrag "Changierende Suchbewegungen in der Adoleszenz: konversationsanalytisches/tiefenhermeneutischen Vorgehen zur Analyse von Gruppengesprächen unter Mädchen und dokumentarische Bearbeitung narrativer Interviews mit weiblichen Pop-Fans" anders als angekündigt allein, da ihre Ko-Referentin Kristina HACKMANN (Oldenburg) nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte. Thema der von FRITZSCHE vorgestellten empirischen Untersuchung war die Fankultur von Mädchen. Unter Rückgriff auf das Konzept der "Liminalität" (TURNER) charakterisierte sie die von ihr befragten adoleszenten Frauen als "Schwellenwesen". Dabei ging FRITZSCHE von geschlechtersubversivem Potential von Fankultur aus und präsentierte die untersuchten Praktiken als Widerstandskultur. Die untersuchten jungen Frauen zeigen in der Imitation von Boygroups durch geschlechterhomogene Mädchencliquen eigenen Geschmack, Selbstsicherheit und bringen ihr Begehren zum Ausdruck. FRITZSCHE versteht die Jugendphase im Licht dieser Ergebnisse als Lebensphase, in dem Geschlechterrollen performativ in Frage gestellt werden. [8]
5. Zwischen Re- und Dekonstruktion
In ihrem Vortrag griff Sabine REH (Münster) auf Tilmann SUTTERs Vorschlag zurück, Dekonstruktion als "strategische Geste" zu begreifen und die Biographieforschung als performative, d.h. produktive Praxis zu verstehen. Den Gewinn der diskursanalytischen Vorgehensweise sieht REH insbesondere darin, die Subjektpositionen der Interviewten identifizieren zu können, um die Grenzen des jeweils Sagbaren "in den Blick zu bekommen". Dieser Ansatz ist vor dem Hintergrund ihrer "interkulturellen" Forschung zu DDR-Lehrern auch methodologisch sinnvoll, da die von REH (nach der Wende) befragten Lehrer/innen, die in der DDR beruflich tätig waren, im Interview versuchten, Rechtfertigungszwänge zu umgehen. Angesichts dieser Beobachtung plädierte REH dafür, den kontextuellen Rechtfertigungsdruck der Untersuchten (im Interview) explizit zu berücksichtigen, jedoch nicht mit dem Ziel, die Analyse gewissermaßen um diesen Faktor bereinigen zu wollen. Sie zeigte eingehend und schlüssig auf, wie Forscher/innen bestimmte Repräsentationen ihrer Untersuchten vorstrukturieren und festlegen bzw. welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Am "Fall" der erziehungswissenschaftlichen Forschung zu ostdeutschen Lehrern und Lehrerinnen, der Produktion von Berufsbiographien, wurde von REH ein dreischrittiges Verfahren zur Analyse von Interviewtexten als Bestandteilen von Diskursen, als Interaktionen und als figurale Konstruktionen vorgestellt und diskutiert. [9]
REH wertete die Eingangserzählung sowie interaktiv verdichtete Nachfrageteile intensiv aus und berücksichtigte dabei das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, sowie die Beziehung von Ich-Erzähler und Protagonist. Dabei verfolgte sie die Fragen: Wie finden die jeweiligen Aspekte zusammen? Welche Wertsetzung wird von der Sprecherin bezüglich der genannten Aspekte vorgenommen? REH entwickelte dabei konkrete und einfache und doch nachhaltige Vorschläge, wie poststrukturalistische Überlegungen an die biographische Vorgehensweise anzuschließen seien: bspw. durch die Darstellung von Textauszügen oder dem Ausschauhalten nach Genres. Dabei verwies REH nochmals auf die grundlegende poststrukturalistische Idee, dass Diskurse in Texten Spuren hinterlassen, wobei es gilt, die jeweiligen diskursiven Praktiken am Text zu rekonstruieren. [10]
6. Dispositivanalyse und Diskursanalyse
In ihrem Vortrag "Die gesellschaftstheoretisch fundierte Dispositivanalyse als Methode zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen" versuchte Andrea BÜHRMANN (Dortmund), die geschlechterpolitische Frage um den Kampf der weiblichen Identität mit der Begrifflichkeit der FOUCAULTschen Analyse von Diskursen und Dispositiven zu fassen. Sie sieht den Gewinn von FOUCAULTs Analyse vor allem in der Erforschung von Subjektivierungsweisen und geht der Frage nach, wie diese geschaffen werden. Dabei unternahm BÜHRMANN eine theoretische Rekonstruktion dieses Analyseverfahrens, deren Ziel u.a. die Integration der Kategorie gender in den FOUCAULTschen Begriffsrahmen war. Im Zusammenhang der Veranstaltung wäre es schön gewesen, wenn BÜHRMANN einen Vorschlag zur empirischen Umsetzung der von ihr rekonstruierten FOUCAULTschen Analysestrategie gemacht hätte. [11]
Rainer DIAZ-BONE (Berlin) schlug in seinem Referat "Diskursive Kulturproduktion: Zusammenhänge zwischen Sozio-Epistemen, Ethik und Ästhetik. Ein Plädoyer für die Aufnahme einer diskursanalytischen Sozialstrukturanalyse" vor, die Sozialstrukturanalyse systematisch um den Diskursbegriff zu erweitern. Er schließt damit an BORDIEU an, kritisiert aber die mangelnde Konzeptionalisierung der sprachlichen Dimension von Sozialstruktur. DIAZ-BONE vertritt die Auffassung, dass die Analyse von Diskursen aus einer Feldbeschreibung entstehen soll. Im zweiten Teil seines Beitrags versuchte DIAZ-BONE zu zeigen, dass kulturelle Symbolproduktionen von dichotom angelegten Deutungsmustern geprägt sind, die zugleich Bestandteile von milieuspezifischen Feldern sind. In der Diskussion wurde insbesondere DIAZ-BONEs außergewöhnlich strukturalistische FOUCAULT-Interpretation thematisiert, die u.a. darin erkennbar wurde, im Diskursbegriff die Wirksamkeit dichotomer Deutungsmuster zu betonen. [12]
7. Überblick über die Veranstaltung1)
Der Workshop ließ erkennen, dass poststrukturalistische Interpretationsstrategien die etablierte qualitative Sozialforschung teils kritisch in Frage stellen, teils aber auch ergänzen können. Die Teilnehmer/innen zeigten sich in den Vorträgen und Diskussionen sehr engagiert im Bemühen, eine Bestandsaufnahme methodologischer Positionen interpretativer Forschung im Licht poststrukturalistischer Theorie vorzunehmen. Besonderes Interesse wurde dabei – auch durch die Auswahl der Vortragenden – der Biographieforschung entgegengebracht. Gelegentlich zeigte sich allerdings in der Diskussion die Neigung, eine etwas überzeichnete und einfache Dichotomie zwischen einer traditionellen und einer "kritischen", reflexiv-dekonstruktivistischen Position aufzumachen, die der Diskussionslage in der deutschen interpretativen Soziologie nicht so recht zu entsprechen scheint, insbesondere weil bekanntlich verschiedene Versionen "kritischer" Theorie koexistieren und jene Positionen, die als "traditionell" kritisiert wurden, selbst auch schon in Absetzung von positivistischen Positionen entstanden sind. [13]
Anspruch der Tagung war es, Anschlüsse herstellen zwischen soziologischer Struktur- und Handlungsanalyse und postrukturalistischen Ansätzen der französischen Tradition, und letztlich die Umsetzung dieser Vermittlungsleistung in empirische Forschungsstrategien. Diese schwierige Vermittlung in der empirischen Forschung gelang unseres Erachtens insbesondere im Rahmen der biographieanalytischen Beiträge gut. Bei einem Teil der Beiträge wurden "traditionelle" Methoden der Sozialforschung (Interviews) übernommen, das empirische Material dann in der Auswertung aber einem metatheoretischen Vokabular eingegliedert. Dabei schien u.E. teilweise die Gefahr einer subsumptionslogischen Verwendung des Materials zu bestehen. Der subsumptionslogische Einwand ist aber selbst von stärker naturalistischen Traditionslinien geprägt, so dass dieser Verdacht in umgekehrter Richtung vermutlich an die theoretisch zurückhaltenderen Forscher/innen adressiert werden könnte. Die Diskussion um "Lesarten" qualitativer Forschung erwies sich denn auch an entscheidenden Stellen als Diskussion über naturalistische vs. theoriegeleitete Forschungsperspektiven. Interessanterweise spielte die klassische kritische Theorie mit ihrem stärker normativen Framework (umgesetzt bspw. in der objektiven Hermeneutik) in der Diskussion eine recht untergeordnete Rolle. [14]
Als eines der Resultate der Workshops kann die Wichtigkeit einer verstärkten Thematisierung der lokalen, aber durch milieuüberschreitende Diskurse geprägten Wissensproduktion im biographischen Interview, aber auch in allen anderen kommunikativen Situationen veranschlagt werden. Es wurde deutlich, dass ein naturalistisches Verständnis der sozialwissenschaftlichen Erhebungsmethoden die Konstruktionsprinzipien des Sozialen (und damit auch des Biographischen) leicht verdeckt, insbesondere was die machtförmige Verfasstheit kommunikativer Kontexte betrifft. Diese Kritik ist zwar nicht neu, wurde aber im Kontext des Workshops aufgegriffen, um daraus für die Interpretation von qualitativem Material Konsequenzen ziehen zu können. Das Ergebnis dieses Diskussionsstranges war relativ einhellig: Der Stellenwert von Diskursen, kommunikativen Milieus und Vokabularen für die Konstitution von Deutung sei nicht in der Verzerrung einer unterstellten idealen Kommunikation zu veranschlagen, sondern solle als konstitutives und dabei gesellschaftlich bestimmtes Moment von Deutungsprozessen begriffen werden. Dabei kristallisierte sich gleichfalls in der Diskussion die Haltung heraus, dass die Pluralität von Sprachspielen methodologisch ernst genommen werden müsse, anstatt die Interpretation um die Eigenheiten dieser Vokabulare zu "bereinigen" oder diese als defizient zu disqualifizieren. Die methodisch reflektierte Berücksichtigung der Hybridität von Kultur bzw. der Ambivalenz von Erfahrung ist verdienstvoll, da die bisherige Diskussion in der Soziologie über eine Benennung der Frage der Hybridität bzw. Vielschichtigkeit kaum hinausgekommen ist. Die Diskussion im Workshop kann auch als ein weiteres Anzeichen für eine sich seit einiger Zeit andeutende wissenssoziologische Wende in der Lebenslauf- und Biographieforschung "gelesen" werden. [15]
Eine Frage wurde auf dem Workshop leider nicht explizit diskutiert: Inwiefern bringt die Übernahme poststrukturalistischer Terminologie die Gefahr einer Verdopplung von Fragestellungen und wissenschaftlichen Vokabularen (und damit von wissenschaftlichen communities) mit sich? Gerade die wissenssoziologische und sozialphänomenologische Tradition hat viele der Fragestellungen, die beispielsweise FOUCAULT entwickelt hat, ebenfalls aufgeworfen und dafür eine Theoriesprache hervorgebracht, wenn FOUCAULT auch offenkundig unverzichtbare Neuerungen, insbesondere zur Frage der Macht im Rahmen von Interpretationsprozessen, eingebracht hat. Stimmt diese Vermutung, spräche dies für eine "ökumenische" Haltung und eine bessere theoretische Integration wissenssoziologischer und postrukturalistischer (bzw. Foucauldianischer) Positionen. [16]
An den Diskussionen des Workshops zeigte sich, dass noch großer Diskussionsbedarf über den Ertrag der poststrukturalistischen Infragestellungen für die Begrifflichkeit und damit die Perspektiven der Sozialwissenschaften besteht. Hoffentlich machen die Organisatorinnen ihre Ankündigung wahr, die letztjährige Veranstaltung sei nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer Workshops gewesen. [17]
1) Aufgrund erheblicher Überziehung des Veranstaltungszeitplans (und leider nötiger Abreise der RezensentInnen) bleiben folgende Beiträge unberücksichtigt: Christian KLESSE (Hamburg) "Poststrukturalistische Heteronormativitätskonzepte, Methoden und Interpretation", Nina ZIMNIK (Berlin) "Begehren oder nicht? Psychoanalyse in den Sozialwissenschaften" und Patricia FEISE (Hildesheim) "Zum 'doing gender'-Aspekt der populären Fernsehserie 'Akte X'. Medienforschung gemäß des Cultural/Media/Gender Studies approach". Die angekündigten Vorträge von Encarnación Gutiérrez RODRÍGUEZ (London) und Claudia BRUNS (Hamburg) fielen leider aus. <zurück>
Lisa PFAHL (Dipl.-Soz.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsgruppe "Ursachen und Folgen von Ausbildungslosigkeit" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin und Mitglied in der International Max Planck Research School "The Life Course" (LIFE). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildung und Ungleichheit, soziale Konstruktion von Geschlecht, interpretative Methoden der qualitativen Sozialforschung.
Kontakt:
Lisa Pfahl
Nachwuchsgruppe Ausbildungslosigkeit Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Lentzealle 94
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Boris TRAUE (Dipl.-Soz.) ist Fellow der "Graduate School of Social Sciences" (GSSS) an der Universität Bremen. Er promoviert zum Thema "Die Konstruktion von Biographie und Professionalität im Coaching: Zur Institutionalisierung von Selbstsozialisation". Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Biographieforschung, Wissenssoziologie, Professionalität, Bildungsforschung, interpretative Methoden der Sozialforschung.
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Pfahl, Lisa & Traue, Boris (2004). Tagungsbericht: Lesarten qualitativer Forschung – Methoden-Workshop [17 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(2), Art. 15, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0402158.
Revised 6/2008