Volume 5, No. 1, Art. 23 – Januar 2004
Rezension:
Dirk Ducar
Udo Kuckartz (1999). Computergestützte Analyse qualitativer Daten. Eine Einführung in die Methoden und Arbeitstechniken. Opladen: Westdeutscher Verlag. 295 Seiten, ISBN: 3-531-22178-7 EUR 19,50
Zusammenfassung: Mit dem Titel des vorliegenden Buches legt der Autor eine Latte auf, unter der er dann nonchalant hindurch läuft statt sie – wie angekündigt – zu überspringen. Das Werk illustriert auf anschauliche Weise, dass im Arbeitsfeld der qualitativen Datenanalyse eine strikte Trennung von Theorie und Praxis schwer möglich und kaum sinnvoll ist. KUCKARTZ weist zwar wiederholt auf die Vielfalt der mit entsprechender Software durchführbaren Verfahren hin und erwähnt immer wieder unterschiedliche Analysemodelle, dennoch bleiben die Konsequenzen der ihnen zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Erwägungen für die jeweilige Forschungspraxis weitgehend unklar und der Autor gibt mit seinen Ausführungen implizit einen – vermutlich seinen – Analysestil vor. Dabei vermittelt er einen Einblick in Techniken der computergestützten Verarbeitung qualitativer Daten und legt einen Schwerpunkt auf Suchverfahren nach Textsequenzen sowie Code- und Variablenkombinationen mit mehr oder weniger komplexen Abfragekriterien.
Keywords: QDA-Software, winMAX, strukturierende Inhaltsanalyse, Typenbildung
Inhaltsverzeichnis
1. Inhalt und Aufbau des Buches
2. Wissenschaftstheoretische Perspektive
3. Didaktische Umsetzung
4. Fazit
1. Inhalt und Aufbau des Buches
Softwarelösungen für qualitative Datenanalyse (QDA) spielen seit Anfang der 1990er Jahre, als die ersten DOS-Versionen in diesem Bereich von Windows-Programmen abgelöst wurden, eine wachsende Rolle in den Sozialwissenschaften. Die kulturelle Wende und der mit ihr verbundene methodische Perspektivwechsel in diesen Disziplinen haben dazu geführt, dass immer mehr Wissenschaftler sich qualitativen Fragestellungen zuwenden und dabei auf die Hilfe von Software setzen. Die eigentliche Analyse der Daten können die Programme dem Anwender freilich nicht abnehmen. Sie funktionieren eher wie große Karteikästen, in denen beliebige Texte abgelegt, mit farbigen Reitern oder Notizen versehen und dann sortiert werden können. [1]
Das vorliegende Studienbuch behandelt in 12 Kapiteln vornehmlich praktische Fragen des Umgangs mit QDA-Software wie Formatierung und Import von Dateien, das Codieren von Textsegmenten sowie unterschiedliche Techniken der Exploration und Organisation des bearbeiteten Materials. Dabei werden zunächst die Basistechniken und Inhalte vermittelt, auf die in späteren Kapiteln vertiefend eingegangen wird. Beispielsweise wird im dritten Kapitel das Thema Kategorien und Codieren (also die Zuweisung von abstrahierten, zusammenfassenden Labels zu einzelnen Textsegmenten) abgehandelt. Dass es aber ganz unterschiedliche Formen der Bildung von Kategorien und verschiedenartige Kategoriensysteme gibt, erfährt der Leser erst in Kapitel 10. [2]
Titel und Vorwort suggerieren, dass QDA-Software für eine große Vielfalt von Forschungsansätzen geeignet ist, und beim Leser wird zunächst der Eindruck geweckt, dass hier ein Einblick in die allgemeine Funktionsweise von QDA-Programmen sowie eine Hilfestellung für die Auswahl der geeigneten Software gegeben wird. An die Antwort auf die Frage nach der passenden Programmlösung wird der Leser dann auch behutsam – allerdings nicht ganz auf die eben antizipierte Art und Weise – herangeführt, denn "die in den einzelnen Kapiteln gegebenen praktischen Hinweise und Arbeitsvorschläge beziehen sich auf das vom Autor entwickelte Computerprogramm winMAX" (S.13), das übrigens seit dem Jahr 2001 von einem Nachfolgeprodukt abgelöst ist. Konkurrierende Softwarelösungen finden hingegen lediglich randliche Beachtung. Hinter dem Gliederungspunkt "Arbeitsabläufe mit einem QDA Programm" verbirgt sich dann entsprechend eine Darstellung der Grundfunktionen dieser Software und die Gliederung des Buches wird über weite Strecken von eben diesen Funktionen vorgegeben. [3]
2. Wissenschaftstheoretische Perspektive
Mit der Verwendung von QDA-Software sind, glaubt man dem Autor, keine Einschränkungen bezüglich der einsetzbaren Analysemethoden verbunden, denn "die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung über Art und Status der zu wählenden Forschungsmethode" wird "außer Acht gelassen" (S.9). Zudem richtet sich dieses Buch "keineswegs nur an qualitativ arbeitende Sozialwissenschaftler, sondern an alle, die professionell mit der Auswertung von Texten befasst sind d.h. auch an Leser außerhalb des Wissenschaftsbereiches" (S.11). [4]
KUCKARTZ legt dementsprechend kein methodologisches Glaubensbekenntnis ab – folgt man dem Text, erfährt man allerdings, dass die Auswertung gemeinhin "aus einer Reihe unterschiedlicher, aufeinander bezogener Akte mit den Kernbestandteilen Exploration, Interpretation, Kategorisierung, Klassifikation, Typisierung und Theoriekonstruktion" besteht (S.17). Etwas später erläutert der Autor diese Aussage, indem er erklärt, dass das Programm winMAX entlang eines Modells der Datenanalyse konzipiert ist, "das an den methodischen Überlegungen von Max Weber und Alfred Schütz orientiert ist und auf eine methodisch kontrollierte Typenbildung zielt" (S.31). Ein Verfahren, das auf nicht-wissenschaftliches Arbeiten mit Texten – etwa in der Pressestelle eines Unternehmens oder im Archiv einer Zeitschrift – nicht gerade zugeschnitten ist und das auch für den wissenschaftlichen Gebrauch nicht uneingeschränkt geeignet zu sein scheint, zielt doch qualitative Forschung nicht notwendigerweise auf eine Typenbildung ab. [5]
Das Buch scheint sich an Leser zu richten, die einen schnellen praxisorientierten Einstieg in die Materie suchen. Das zeigt sich schon in der oben erläuterten Gliederung, die dem Leser parallel zur Lektüre der Einstig in das praktische Arbeiten mit der Software ermöglicht. Laut einer Befragung des Autors handelt es sich bei den Nutzern von maxQDA vornehmlich um Einsteiger in den Bereich der qualitativen Datenanalyse, die die Software "freihändig" ohne Orientierung an einem bestimmten Modell der Datenanalyse benutzen (S.38, 41). Und genau diesem Bedürfnis nach "Freihändigkeit" – man könnte auch sagen methodologischer Unreflektiertheit – bei der Auswertung kommt KUCKARTZ mit der Art und Weise, wie er dem Leser das Thema erschließt, ein weites Stück entgegen. [6]
Das von ihm beschriebene Verfahren bei der computergestützten Analyse qualitativer Daten folgt grob skizziert folgenden Arbeitsschritten: Aus den Fragen des Gesprächsleitfadens wird ein Kategorienschema abgeleitet, das während eines Probedurchlaufs anhand von Teilen des zu untersuchenden Materials komplettiert wird. Dann werden einzelnen Sequenzen der transkribierten Texte manuell, mit Hilfe der lexikalischen Suche oder automatisch entsprechende Codes zugeordnet. Die eigentliche Auswertung findet mittels mehr oder weniger komplexer Abfragen statt und erfolgt also anhand von kompilierten Textstellen bzw. einer Auswahl der vergebenen Codes. Dies ermöglicht beispielsweise bei Überlappungen oder sequenzieller Nähe bestimmter Codes die Zuweisung wieder neuer Kategorien zu den betreffenden Textstellen. Entsprechend der Codes und sonstiger Informationen über die Interviewten können Fallvariablen generiert werden, die nicht mehr an den Interviewtext gebunden sind. Die Suche nach Merkmalskombinationen ermöglicht die Erzeugung neuer Fallvariablen usw. Am Ende dieses Operationalisierungsverfahrens stehen nominal und ordinal skalierte Variablen und die Option statistische Berechnungen durchzuführen. (Ein ganzes Kapitel befasst sich mit der "Integration statistischer Verfahren" wie der Berechnung von Korrelationen und der Durchführung von Cluster- und Faktorenanalysen!) [7]
Die Tatsache, dass die Konzeption der Software einem bestimmten Analysemodell folgt, bedeutet natürlich nicht, dass die Möglichkeiten der Auswertung auf einen entsprechenden Analysestil beschränkt sind. So lässt sich beispielsweise auch eine Analyse im Stil der dokumentarischen Methode durchführen, die weniger auf der phänomenologischen Soziologie SCHÜTZscher Prägung basiert, sondern von der Wissenssoziologie MANNHEIMs inspiriert ist. KUCKARTZ selbst weist immer wieder auf die große Bandbreite der Anwendungsbereiche von QDA-Software und die Vielzahl einsetzbarer Analysemethoden hin. Im Großen und Ganzen beschreitet sein Buch aber den oben vorgezeichneten Weg und für den in methodischen Fragen unbewanderten Leser, an den sich der Autor ja richtet, scheint ein anderer Pfad kaum gangbar. [8]
Der Titel des Buches erweist sich weitgehend als Etikettenschwindel. Tatsächlich liegt hier keine Einführung in die Methoden und Techniken der computergestützten qualitativen Datenanalyse vor, sondern eine how-to-do-it-Anleitung für die sehr nah an der klassischen empirischen Sozialforschung orientierte Typenbildung mit Hilfe der winMAX-Software. [9]
Zudem bricht KUCKARTZ das im Vorwort geleistete Gelübde der wissenschaftstheoretischen Enthaltsamkeit, indem er einer bestimmten Perspektive innerhalb des qualitativen Paradigmas beiläufig ein forschungspraktisches Primat einräumt. Eine Ausformulierung der epistemologischen Grundlagen unterbleibt jedoch, und so wird dem Arglosen ein erkenntnistheoretisches Kuckucksei untergeschoben, das seine Ergebnisse entscheidend mitbestimmt. [10]
Dabei fällt auf, dass der Autor bei der Erläuterung zentraler Konzepte immer wieder auf das Analysemodell der Grounded Theory rekurriert, das von ihm vorgeschlagene Verfahren aber am Ablaufmodell der strukturierenden Inhaltsanalyse nach MAYRING orientiert ist. Während das erste Modell in der Entwicklung eines Kategoriensystems anhand des untersuchten Materials einen zentralen Analyseschritt sieht, schlägt das zweite eine theoriegeleitete ex-ante-Festlegung eines Codierungsschemas vor. Der inhärente Widerspruch der beiden Interpretationsrichtungen ist KUCKARTZ zwar bewusst, er löst ihn aber nicht auf, sondern trennt die verwendeten Konzepte von ihrer Bedeutung ab und überlässt das Problem wie den gesamten Bereich der Interpretation von Texten, also alle Fragen der Zuordnung von Kategorien oder Codes zu Textstellen, dem Anwender. [11]
Die hier aufgelisteten Kardinalsünden sind Folgen der konzeptionellen Schwäche des vorliegenden Studienbuches. Das Ziel, von der eigenen Forschungspraxis, ihrem erkenntnistheoretischen Hintergrund, der mit ihm verbundenen Methodologie und den präferierten Hilfsmitteln soweit zu abstrahieren, dass ein "allgemeingültiges" Studienbuch zum Thema "Computergestützte Analyse qualitativer Daten" daraus erstünde, ist – wenn es denn überhaupt erreicht werden kann und erreicht werden sollte – hier eindeutig verfehlt worden. [12]
Dirk DUCAR ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Seminar für Sozialwissenschaftliche Geographie der LMU München. Derzeit forscht er zum Thema Konsumentenkultur und Online-Kommunikation.
Kontakt:
Dipl.-Geogr. Dirk Ducar
Department für Geo- und Umweltwissenschaften
Ludwig-Maximilians-Universität München
Luisenstr 37
D-80333 München
E-Mail: dirk.ducar@lmu.de
URL: http://www.ssg.geo.uni-muenchen.de/
Ducar, Dirk (2004). Rezension zu: Udo Kuckartz (1999). Computergestützte Analyse qualitativer Daten. Eine Einführung in die Methoden und Arbeitstechniken [12 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(1), Art. 23, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0401232.