Volume 5, No. 1, Art. 26 – Januar 2004

Rezension:

Stefanie Große

Günter Burkart & Jürgen Wolf (Hrsg.) (2002). Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen. Opladen: Leske + Budrich, 484 Seiten, ISBN 3-8100-3513-0, Euro 35

Zusammenfassung: In diesem Buch wird über 26 Beiträge in verschiedene Forschungsfelder, methodische Ansätze und Themen der Lebenslauf- und Generationenforschung eingeführt und den Lesenden Einblick in die Vielfalt dieser Forschungsrichtung gegeben. Der Band möchte keinen "state of art" der Disziplin wiedergeben, sondern orientiert sich als Festschrift zu Martin KOHLIs 60. Geburtstag an dessen Forschungsprogramm. Zu Wort kommen Autoren und Autorinnen, die als KollegInnen und SchülerInnen über einen längeren Zeitraum an der Ausgestaltung dieses Forschungsprogramms beteiligt waren. Insgesamt stellt das Buch – trotz kritischer Anmerkungen – in weiten Teilen auf inhaltlicher, methodischer und theoretischer Ebene eine Bereicherung dar, die auch für nicht in die Materie eingearbeitete Leserinnen und Leser interessant ist, da neben der Präsentation von Forschungsergebnissen auch grundlegende Begrifflichkeiten erläutert werden.

Keywords: Lebenslauf- und Übergangsforschung, Generationenforschung, Surveyforschung, multivariate Analyse, explorative Feld-forschung, Biographieforschung, narrative Interviews

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung in das Thema: Der Lebenslauf als soziale Institution

2. Zu den einzelnen Beiträgen

2.1 Erster Abschnitt: Lebenslauf und Biographie

2.2 Zweiter Abschnitt: Generationenbeziehungen

2.3 Dritter Abschnitt: Kulturelle Generationen

2.4 Vierter Abschnitt: Sozialpolitik und Generationenvertrag

2.5 Fünfter Abschnitt: Migration und Weltgesellschaft

2.6 Sechster Abschnitt: Soziologie-Generationen

3. Lebenszeiten und Generationenbeziehungen – ein heterogenes Forschungsprogramm?

Anmerkungen

Literatur

Zur Autorin

Zitation

 

1. Einführung in das Thema: Der Lebenslauf als soziale Institution

In der jüngeren soziologischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion wird unter dem Begriff Lebenslauf die äußere Abfolge von Übergängen, Ereignissen und Stadien des Lebens verstanden, dem die individuelle Lebensgeschichte als subjektiver Konstruktionszusammenhang gegenübergestellt ist (vgl. BOHNSACK, MAROTZKI & MEUSER 2003). Die Übergänge und Stadien einer Biographie stellen aber keine unveränderlichen Determinanten des Lebens dar, sondern sind unmittelbar an eine spezifisch gesellschaftliche Struktur des Lebenslaufs gebunden, die KOHLI (1985) als "Institutionalisierung des Lebenslaufs" bezeichnet hat. Unter Institutionalisierung des Lebenslaufs versteht KOHLI die zeitliche Gliederung von Lebensläufen mit klar definierten Mustern von Übergängen. Unter den Anforderungen und den Bedingungen der Entwicklung westlicher Industriegesellschaften und unter der Ausweitung der Lebenspanne etabliert sich eine Dreiteilung des Lebenslaufs, die KOHLI (1985) in eine Vorbereitungsphase (Ausbildung), eine Aktivitätsphase (Berufsarbeit) und eine Ruhephase (Rentenalter) gliedert. Gestützt durch rechtlich fixierte Regelungen der Institutionen Bildungssystem, Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat, kristallisiert sich eine hohe Standardisierung der Lebensläufe heraus. Lebenslauf und Lebensalter werden zu eigenständigen gesellschaftlichen Strukturdimensionen. [1]

Die Ideen KOHLIs den Lebenslauf als soziale Institution zu betrachten, fand in den letzten 20 Jahren Eingang in zahlreiche Forschungsprojekte und wissenschaftliche Diskussionen. Alter und Lebenslauf werden nicht mehr unter rein biologischen oder psychologischen Aspekten betrachtet und analysiert, sondern als gesellschaftliche Institutionen verstanden und damit selbst zum soziologischen Gegenstand. [2]

Das von Günter BURKART und Jürgen WOLF 2002 herausgegebene Buch "Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen", welches 26 Beiträge plus eine Einleitung durch die Herausgeber enthält, wurde anlässlich des 60. Geburtstags Martin KOHLIs veröffentlicht. Als Festschrift widmet es sich zwar auch einer Würdigung des Forschungswerks Martin KOHLIs, doch nicht ausschließlich. Vielmehr zielt das Buch darauf ab, "Auskunft über Forschungsfelder, Themen und methodische Ansätze" (BURKART & WOLF 2002, S.9) der Lebenslauf- und Generationenforschung zu vermitteln. Die Auswahl der Beiträge orientiert sich an den Forschungsarbeiten KOHLIs und dessen Forschungsprogramm der letzten Jahrzehnte. Die Herausgeber und die folgenden Autoren und Autorinnen versuchen in sechs Abschnitten, diese Ziele umsetzen und die verschiedenen sozialstrukturellen Dimensionen von Lebenslauf und Lebensalter auf theoretischer, methodischer und empirischer Ebene zu diskutieren, auch wenn die Zuordnung der Beiträge zu den Abschnitten nicht immer ganz zu verstehen ist. [3]

2. Zu den einzelnen Beiträgen

Um die Lesbarkeit dieser Rezension zu erhöhen habe ich mich – trotz der genannten Kritik – dafür entschieden, in der Gliederung des folgenden Kapitels den im Buch vorgegebenen Abschnittsaufteilungen zu folgen. [4]

2.1 Erster Abschnitt: Lebenslauf und Biographie

In den ersten fünf Beiträgen wird die Theorie der "Institutionalisierung des Lebenslaufs" (KOHLI 1985, 1986) anhand von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen diskutiert und die Beharrungskraft des institutionalisierten Lebenslauf gegenüber De-Institutionalisierungsprozessen thematisiert. [5]

Ausgehend von der "Institutionalisierung des Lebenslaufs" wendet sich Lutz LEISERING (S.25-40) der Frage zu, ob in der Volksrepublik China als einer Übergangsgesellschaft ein moderner Lebenslauf entsteht und der Lebenslauf als ein "sich derzeit universalisierendes Strukturprinzip" (LEISERING 2002, S.25) gelten kann. LEISERING möchte einer Beantwortung dieser Fragen durch eine explorative Feldstudie näher kommen, auf deren Datenbasis sich seine Ausführungen stützen. Der Autor versucht Prozesse der Lebenslaufinstitutionalisierung exemplarisch an der Kategorie "Alter" nachzuweisen. Dabei muss LEISERUNG sowohl eine Spaltung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung feststellen als auch konstatieren, dass die Gesellschaft Chinas sich nicht durch Individualisierung kennzeichnen lässt. Dieser Beitrag vermittelt Ergebnisse empirischer Forschungsarbeit auf einem bisher nur "partiell" bearbeiteten Forschungsfeld. Doch "partiell" – wenn auch höchst informativ – bleiben auch LEISERINGs Ausführungen, da er sich einzig auf die Kategorie "Alter" als ein Teilelement des modernen Lebenslaufs bezieht. [6]

Der folgende Beitrag von Karl Ulrich MAYER (S.41-61) thematisiert einen anderen Weg der Lebenslaufforschung, den der quantitativen Lebensverlaufsforschung. Bei seinen Ausführungen thematisiert der Autor die Hoffnungen und Erwartungen, die sich vor 20 Jahren mit der Etablierung dieser Forschungsrichtung in der deutschen Soziologie verbunden haben. In seiner Bilanzierung aus der Gegenwartsperspektive führt MAYER den Lesenden vor Augen, welche Hoffnungen sich erfüllt haben und wo brachliegende Potentiale zu verorten sind. Unter anderem habe sich die Erwartung, dass es "dank neuer Längsschnittdaten mehr deskriptive oder explanatorische Untersuchungen über längere Passagen im Lebensverlauf geben würde" (MAYER, 2002, S.51) nicht bestätigt. Es ist zu unterstreichen, dass sich solche und ähnliche Resümees des Autor ausdrücklich auf die "sozioökonomische Lebensverlaufforschung" (ebd., S.42) beziehen. Dieser Hinweis ist mir wichtig, da sonst der Eindruck entsteht, es gäbe keine neueren Längsschnittdaten zu Passagen im Lebensverlauf.1) Etwas mehr Hinweise auf die Begrenztheit der Aussagen würde den Lesenden einige Verwirrung ersparen. [7]

Im Mittelpunkt der Ausführungen von Wolfram FISCHER (S.63-87) steht die "biographische Strukturierung" als ein Mittel der Problembewältigung. Ausgehend von Bereichen der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit präsentiert der Autor ein Konzept, das "biographische Strukturierung" in lebensgeschichtlichen Erzählungen für professionelle Interventionen nutzbar macht. Sowohl das narrativ- biographische Interview als auch die Analyse der gewonnen Daten werden in ihrer Bedeutung für Settings sozialer Arbeit präsentiert und weiterentwickelt. In diesem Beitrag lernen die Lesenden zwar nichts über die technische Durchführung einer Fallrekonstruktion, doch vermittelt FISCHER ein fundiertes Bild davon, wie biographische Methoden professionelle Kompetenzen stärken können und in verschiedenen Praxisfeldern anzuwenden sind. [8]

Die letzten beiden Beiträge dieses Abschnitts knüpfen an die Verbundenheit der "Institutionalisierung des Lebenslaufs" mit der Individualisierungsdiskussion (vgl. BECK 1983) an. Ausgehend vom christologischen Zyklus der Passionsgeschichte entwickelt Peter GROSS (S.89-101) den Passionszyklus als einen Aspekt des modernen Lebenslaufs. Die "Malitätsbonisierung" (GROSS, S.97) als eine aktuelle und individualisierte Form des Stigmamanagements wird herausgearbeitet und in den Kontext historischer Bezüge gestellt. Die Vergleiche zu einzelnen historischen Persönlichkeiten gehen mir an einigen Stellen zu weit bzw. schießen deutlich über das Ziel hinaus. Erfrierungen Reinhold Messners, Brandmarken von Sklaven, Judenstern, Häftlings- und KZ-Nummern auf eine analytische Vergleichsebene zu stellen und pauschal als "eine Art Verdienstorden" zu bezeichnen, der "heute als Auszeichnungen hergezeigt" (ebd. S.99) werde, entspricht keiner wissenschaftlichen Vorgehensweise und ist hier absolut Fehl am Platz. Ärgerlich ist außerdem, dass "die Binde an den Tagen" (ebd.) ohne nähere Differenzierung als Produkt präsentiert wird, das – so GROSS – den Zweck erfüllt, Schwächen, Beschädigungen und Defekte (vgl. ebd.) zu verdecken, wobei für diese Deutungsweise jeder wissenschaftliche Nachweis ausbleibt. Der Beitrag von Sighard NECKEL (S.103-117) widmet sich der Soziologie des Erfolgs. Der Autor informiert detailliert über die historische Entwicklung dieses Themengebiets und stellt dessen Bedeutung im Zuge aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen heraus. Galten eine solide Ausbildung in Schule und Beruf als Grundbasis für Erfolg und Statuserwerb, so scheinen sie den Einzelnen/die Einzelne heute weniger als jemals zuvor vor der "Undurchschaubarkeit von Erfolg und Misserfolg" (SENNETT 1998, S.109 zit. n. NECKEL, S.115) zu beschützen. [9]

2.2 Zweiter Abschnitt: Generationenbeziehungen

Hier sind sechs weitere Beiträge vereint, in denen das Thema Generationenbeziehung in seiner historischen, institutionellen und wohlfahrtsstaatlichen Relevanz thematisiert wird. [10]

Der finnische Soziologe J. P. ROOS (S.119-134) beschäftigt sich in seinem englischsprachigen Beitrag mit der Bedeutung von Wendepunkten im Lebenslauf und wie sie generationsbezogen erwähnt werden. Der Autor bezieht sich dabei auf die finnische Gesellschaft im Verlauf des 20 Jahrhunderts. Anhand einer quantitativen Datenbasis stellt er fest, dass Personen, wenn sie nach Wendepunkten im Lebenslauf befragt werden, spontan wichtige Lebensereignisse beschreiben, die nicht im Sinne eines kollektiven Generationsbewusstseins nach MANNHEIM zu verstehen sind (vgl. ROOS, S.133). Im französischsprachigen Beitrag von Claudine ATTIAS-DONFUT (S.135-146) wird von einer dreigeteilten Bedeutung des Generationenbegriffs ausgegangen, historische, familiale und in Anlehnung an KOHLI eine "welfare"-Generation, womit dessen Mehrdeutigkeit hervorgehoben wird. Die Autorin versucht in ihrem Beitrag, die familiale Beziehung und die historische Generation theoretisch zu verknüpfen und in einer empirischen Untersuchung anzuwenden. Beide fremdsprachigen Beiträge geben Einblicke in empirische Forschungsarbeiten aus europäischen Ländern und vermitteln – zumal sie nicht ins Deutsche übersetzt sind – einen informativen Einblick in die landestypische Wissenschaftskultur. [11]

Die nächsten Beiträge können parallel zueinander gelesen werden, da sie mit der Frage nach der Beziehungsebene zwischen familialen Generationen verschiedene Dimensionen des gleichen Forschungsfeldes beleuchten und sie mit dem Alters-Survey2) auf die gleiche Datenbasis zurückgreifen. Marc SZYDLIK (S.147-160) beschäftigt sich mit Generationenbeziehungen3) die von Sorge (im Sinne von Fürsorge) geprägt sind, einem bisher wenig beachteten Forschungsfeld. In diesem sehr gut strukturierten Beitrag erhalten die Lesenden detaillierte Informationen über die emotionale Seite von Generationenbeziehungen (z.B. über das Ausmaß der Solidarität) und über Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen (z.B. Arbeitslosigkeit) und privaten Generationenbeziehungen. Der englischsprachige Beitrag von Harald KÜNEMUND und Martin REIN (S.161-174) setzt ebenfalls am Wirkungszusammenhang zwischen gesellschaftlichen und familialen Generationen an. Die Autoren gehen der Frage nach, ob Einzelkinder sich intensiver um ihre Eltern kümmern, wenn diese im Alter auf (Für-) Sorge angewiesen sind und eine engere Beziehung zu ihnen entwickeln, um "the lack of care potential" (KÜNEMUND & REIN, S.163) gegenüber Mehrkinderfamilien zu kompensieren. Aus der Perspektive der jüngeren Generation können die Autoren keine starken Korrelationen zwischen Familiengröße und dem Grad der Fürsorge nachweisen. Auch der Beitrag von Kai BRAUER (S.175-194) widmet sich den intergenerationalen Beziehungen im familialen Kontext und analysiert sie im Hinblick auf mögliche Unterschiede zwischen Stadt und Land, wobei zunächst von einer intakteren Generationenbeziehung auf dem Land ausgegangen wird. Er betrachtet dabei die 40-69jährigen des Alters-Surveys. Allerdings muss diese Annahmen aufgrund der Ergebnisse zurückgewiesen werden: BRAUER kann in seiner Untersuchung keine Unterschiede im Ausmaß der materiellen und pflegerischen Unterstützung finden. Alle drei Beiträge widerlegen gängige Alltagsvorstellungen, in denen eine grundlegende Erosion der Familiensolidarität zwischen den Generationen dramatisch in Szene gesetzt wird. Diese Vorstellungen lassen sich, wie anschaulich an empirischen Forschungsergebnissen dargelegt wird, durch wissenschaftliche Untersuchungen nicht belegen. Daneben wird noch eine Vielzahl von theoretischen Begrifflichkeiten (z.B. intergenerationale Beziehungen, Generationenkonflikt) vermittelt, die informativ in den Themenbereich einführen. [12]

Während sich die vorhergehenden Beiträge der quantitativen Forschung zuordnen lassen, repräsentieren Erika M. HOERNINGs (S.195-208) Ausführungen die qualitative Richtung in der Lebenslaufforschung. In ihrem Beitrag untersucht sie ausgehend vom Zusammenbruch der DDR, die Verknüpfung zwischen den "Angehörigen der Intelligenz" und dem politischen Machtapparat. Mittels Interviewzitaten einer von 1991-1994 durchgeführten Langzeitstudie arbeitet HOERNING anschaulich heraus, dass über einen spezifischen "Generationenvertrag" die Loyalität der Intelligenz gegen den Legitimationsverfall des sozialistischen Systems gesichert wurde. Leider werden Aussagen über die Geburtskohorten der nach 1960 geborenen nicht mit Interviewpassagen belegt, so dass die beschriebenen Konsequenzen aus dem Transformationsprozess für diese Generation nicht vollends deutlich werden. [13]

2.3 Dritter Abschnitt: Kulturelle Generationen

In drei Beiträgen wird hier die kulturelle Dimension des Generationenbegriffs über Religion, Musik und Medien zum Betrachtungsgegenstand. [14]

Monika WOHLRAB-SAHR (S.209-228) untersucht den generationalen Säkularisierungsprozess in Westdeutschland, den Niederlanden und Ostdeutschland. In ihrer Darstellung dieses Prozesses bezieht die Autorin sich mehrheitlich auf die Ergebnisse der Surveyforschung und weist damit auf ein Desiderat der rekonstruktiv verfahrenden Generationenforschung hin. WOHLRAB-SAHR wirft eine Vielzahl von interessanten Forschungsfragen auf (z.B. nach der Bedeutung generationenspezifischer Weltsichten, der Rolle religiöser Deutungen), die aber im Rahmen der quantitativen Surveyforschung nur unbefriedigend beantwortet werden können. Der Beitrag führt beispielhaft vor Augen, wie quantitative Forschungsergebnisse als Initiatoren und "Ideengeber" für qualitative Forschungsvorhaben genutzt werden können. Ebenso deutlich wird aber auch, wie sich qualitative und quantitative Verfahren mit ihren spezifischen Ergebnissen ergänzen und an welchen Punkten bereichernde Verknüpfungen möglich sind. So wird beispielsweise in der Surveyforschung ein "Faktor Generation" angeführt, der Säkularisierungsprozesse im Zusammenhang mit statistischen Auswertungen besser erklärt als andere Faktoren (vgl. WOHLRAB-SAHR, S.216). Doch wieso und in welcher Weise dieser Faktor bedeutsam wird, welche Auseinandersetzungen sich auf individueller Ebene dahinter verbergen, kann nicht beantwortet werden. Dies wäre ein Punkt an dem eine rekonstruktiv arbeitende Sozialforschung ansetzen und Forschungsergebnisse der quantitativen Forschung sinnvoll für die Generierung eigener Forschungsfragen nutzen könnte. [15]

Hans-Joachim von KONDRATOWITZs (S.229-247) beschäftigt sich mit der musikalischen Sozialisation und ihrer Bedeutung für die kultureller Identität. Er hebt dabei besonders die Bedeutung musikalischer Genres als ein Integrationspotential für Jugendgenerationen hervor und thematisiert die zunehmende Ausdifferenzierung in musikalische Stile. In diesem Beitrag über die "gesellschaftliche Wahrnehmung musikalischer Erfahrungen" als "Artikulationsfeld generationenspezifischer Orientierungen" (KONDRATOWITZ, S.229) störte mich die wenig lesefreundliche Darstellung der Ausführungen, insbesondere über das Ziel des Beitrags. Vermisst wurden auch Literaturangaben zu den theoretischen, historischen und empirischen Bezügen, die vom Autor thematisiert werden. [16]

Ausgehend von einer Kritik an dichotomisierenden Generationenkonzepten, die den Generationenbegriff in eine "Mikro-Makro-Architektonik" (BOHNSACK & SCHÄFFER S.250) einbetten, beziehen sich Ralf BOHNSACK und Burkhard SCHÄFFER (S.249-273) auf MANNHEIMs Generationenkonzeption, die sich theoretisch auf der Meso-Ebene verorten lässt.4) Sie heben die Bedeutung der Kategorie des "konjunktiven Erfahrungsraums" (MANNHEIM 1980, S.211) und die des "atheoretischen Wissens" (ebd. 1964, S.97) für ein Verständnis kollektiver Phänomene hervor und betonen die notwenige Mehrdimensionalität in einer Analyse des Generationenzusammenhangs. Im empirischen Teil werden Ausschnitte aus Gruppendiskussionen präsentiert, die auf implizites Orientierungswissen von Personen unterschiedlicher Generationen im Umgang mit "Neuen Medien" (besonders Computer) abzielen. Daran anschließend stellen die Autoren im Vergleich beider Gruppen eine Typologie generationsspezifischer Medienpraxiskulturen vor, entlang derer sich konjunktive und distinktive Erfahrungen und Umgangspraktiken mit dem Medium Computerabbilden lassen. [17]

2.4 Vierter Abschnitt: Sozialpolitik und Generationenvertrag

Anliegen der in diesem Abschnitt versammelten drei Beiträgen ist es, die enge Verbindung zwischen dem Prozess der Institutionalisierung des Lebenslaufs und der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates (z.B. Transferleistungen wie Rente) herauszuarbeiten und in die sozialpolitische Diskussion der Generationenbeziehungen und Bildungsarmut einzuführen. [18]

Heiner GANSSMANN beschäftigt sich (S.275-285) in Anschluss an KOHLIs Überlegungen zur moralischen Ökonomie des Generationenvertrags (KOHLI 1989) mit den aktuellen Reformen des Rentensystems und kommt zu einer kritischen Reflexion der Konsequenzen, die sich daraus für die Solidarität zwischen den Generationen ergeben. Angenehm an diesem Beitrag ist, dass ökonomische und wirtschaftliche Bedingungen und ihre Verzahnung auch für fachfremde Leserinnen und Leser verständlich präsentiert werden. [19]

Den Beitrag von Jutta ALLMENDINGER und Stephan LEIBFRIED (S.287-315) habe ich mit großem Interesse gelesen, da er auf ein wesentliches Defizit der bundesdeutschen Sozialpolitik hinweist: die fehlende Verknüpfung mit der Bildungspolitik. Bisher werden Bildungs- und Sozialpolitik getrennten Ressorts zugerechnet. Die AutorInnen nehmen in ihrer Darstellung Bezug auf internationale bildungspolitische Forschungsergebnisse (z.B. PISA-Studie)5) und plädieren für eine Ausweitung der Armutsberichterstattung – als ein konzeptioneller Bereich der Sozialpolitik – um den Bereich der Bildungsarmut. Denn ihrer Ansicht nach kann nur eine "bildungssozialpolitische Ausrichtung dem Ziel eine präventiven und für das Humankapital 'Bildung' produktiven Ausrichtung von Sozialpolitik" (ALLMENDINGER & LEIBFRIED, S.292) entgegen kommen. Darüber hinaus wird detailliert über eine mögliche Definition und Messbarkeit von Bildungsarmut informiert. [20]

Claudia GATHER und Hanna MEISSNER (S.317-334) wenden sich den Biographien zweier Frauen zu, die im informellen Arbeitsmarkt Privathaushalt als Haushaltsarbeiterinnen (engl.: domestic workers) angestellt sind. Die Autorinnen möchten sich dem Forschungsfeld durch die Auswertung biographisch-narrativer Interviews annähern, um davon ausgehend Probleme aufzudecken und weiterführende Forschungsfragen zu entwickeln. Die Präsentation des empirischen Teils erfolgt – wie in der Biographieforschung üblich – über Interviewpassagen, die sich allerdings nicht auf Eingangssequenzen beziehen, sondern thematisch ausgewählt sind. In einer vergleichenden Einzelfallanalyse der Biographien wird sich auf den Zugang zum Arbeitsmarktsegment, der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses und der fehlenden sozialen Sicherung bezogen. Die Autorinnen decken Zusammenhänge auf, die eine eingehende Untersuchung dieses Arbeitsmarktsegments im Hinblick auf die (Nicht-) Einbindung in soziale Sicherungssysteme sehr lohnenswert erscheinen lassen, insbesondere wenn davon auszugehen ist, dass ein nicht unerheblicher Teil der weiblichen Bevölkerung in derartige Arbeitsverhältnisse eingebunden ist. Etwas gefehlt haben mir methodische Hinweise über das Auswertungsvorgehen, da Forschungsergebnisse grundsätzlich nachvollziehbar sein sollten. Schön wäre auch noch der theoretische Bezug zu Arbeiten von GOTTSCHALL (vgl. exemplarisch 2000) gewesen, die Geschlechterungleichheit im Zusammenhang mit Formen sozialer Ungleichheit als Problem wohlfahrtsstaatlicher Modernisierung thematisiert. [21]

2.5 Fünfter Abschnitt: Migration und Weltgesellschaft

Der fünfte Abschnitt umfasst Beiträge, die sich mit sozialen Umwälzungen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen befassen, um stabile Elemente von Normallebensläufen von instabilen Elementen unterscheiden zu können. [22]

Elisabeth BECK-GERNSHEIMs "Transnational, nicht traditional" (S.335-351) nimmt Vorurteile der Öffentlichkeit gegenüber Migranten und Migrantinnen zum Ausgangspunkt und widmet sich "einem anderen Blick" auf deren Situation in Deutschland. Leider wird nicht dargelegt, aus welchen Quellen die als öffentliche Meinung dargelegten Vorurteile stammen. Dies wirft einen ebenso undifferenzierten Blick auf die "deutsche" Bevölkerung wie es die Autorin für die Meinung der Öffentlichkeit gegenüber Migranten und Migrantinnen vielfach zurecht kritisiert. In einer Metaanalyse wertet BECK-GERNSHEIM vorhandene empirische Untersuchungen – deren methodische und theoretische Einordnung ebenfalls verborgen bleibt – im Hinblick auf eine Familien- und Traditionsbindung der Migranten und Migrantinnen aus und kommt zu dem Ergebnis, dass in beiden Aspekten "eine Antwort auf das Leben in der Diaspora" (BECK-GERNSHEIM 2002, S.349) zu sehen ist, die in Abhängigkeit zur Art der "Aufnahme im Ankunftsland" (ebd.) stehen. Der Beitrag spricht einen wichtigen Gesichtspunkt der Integrationsarbeit an, nämlich das gegenseitige Verständnis füreinander und die jeweilige Lebenssituation, die sich für die Migrantinnen und Migranten vielfach in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Leben z.B. in Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland gestaltet. Etwas zu weit gingen mir verallgemeinernde Ausführungen zur veränderten Bedeutung von Familie, die zwar aus dem Beitrag heraus eine logische Schlussfolgerung darstellen; doch für die hier postulierte grundlegende Neudefinition bedarf es bestätigender empirischer Untersuchungen, die, falls es sie schon gibt, an dieser Stelle hätten genannt werden müssen. [23]

Rainer MÜNZ betrachtet (S.353-358) überblicksartig die Entwicklung der Ost- West- Wanderungen in Europa von 1800 bis heute. Neben der historischen Entwicklung werden die Lesenden über die seit Ende des Kalten Krieges veränderte Aufnahmepraxis des Westens gegenüber Bürgern und Bürgerinnen Ostmitteleuropas informiert. Kritisch reflektiert MÜNZ die Zuwanderung unter dem Aspekt der schrumpfenden Bevölkerung und kommt zu dem Schluss, dass sie bald als "Hoffnungsszenario" (MÜNZ, S.358) erscheinen könnte. [24]

Der Beitrag von Wolfgang ZAPF und Jan DELHEY (S.259-371) kann als Fortsetzung zu MÜNZs Ausführungen gelesen werden. Die Autoren thematisieren mit der Osterweiterung der EU einen weiteren Aspekt des Verhältnisses zwischen westeuropäischen und ostmitteleuropäischen Ländern. Sie zeigen sowohl Probleme und sozialstrukturelle Folgen der Osterweiterung auf als auch die Chancen, die mit einer Öffnung der EU Richtung Osten verbunden sind. Dabei heben sie besonders die Bedeutung der EU als politisches Integrationsprojekt hervor, das neben ökonomischer Stabilisierung und Öffnung neuer Absatzmärkte ein wesentliches Ziel der Erweiterungspläne darstellt. [25]

Ausgehend von eigenen Feldforschungen (Bénin, Afghanistan und Usbekistan) beschäftigt sich Georg ELWERT in seinem englischsprachigen Beitrag (S.373-388) mit dem Phänomen der Zeiterfahrung im kulturellen Vergleich. Der Autor sieht in der Vielfältigkeit von Zeiterfahrungen und Zeitkonzepten ein Hilfsmittel zum Lebensmanagement, welches sich in jeder menschlichen Gesellschaft wiederfindet. ELWERT sieht in seiner kulturvergleichenden Betrachtung des Lebenslaufs den größten Unterschied in der sozialen Organisation der Lebenszeit. Schon wegen der Rezeption der kulturellen Perspektive und deren Verknüpfung mit der Lebenslaufforschung zeigt sich die Nähe zu LEISERINGs Beitrag, und es sei empfohlen beide Beiträge parallel zu lesen. [26]

Ulrich BECK diskutiert in seinem ebenfalls englischsprachigen Beitrag (S.389-406) "The Cosmopolitan Society and Its Enemies" drei Leitfragen: Was ist eine kosmopolitische Gesellschaft?, Wo sind ihre Gegner? und Was ist unter einer kosmopolitischen Soziologie zu verstehen? Insbesondere BECKs Ausführungen zu den Gefahren eines globalen Kapitalismus bieten Ansatzpunkte über Realisierungswege und -schwierigkeiten einer Weltgesellschaft nachzudenken. [27]

2.6 Sechster Abschnitt: Soziologie-Generationen

Die vier Beiträge des letzten Abschnittes fokussieren die Lebenslauf- und Generationsspezifik im Kontext von WissenschaftlerInnenbiographien und Wissenschaftsstilen. [28]

Mit großem Interesse habe ich sowohl den Beitrag von Heinz BUDE (S.407-419) als auch den von Günter BURKART und Jürgen WOLF (S.421-435) gelesen. Ausgangspunkt für BUDE ist die – verglichen mit Frankreich oder England – "ungewöhnliche Karriere der Soziologie als Leitdisziplin der gesellschaftlichen Selbstthematisierung nach 1945" (BUDE, S.408). Einer Klärung dieses Phänomens versucht sich BUDE durch die Betrachtung der Biographien Helmut SCHELSKYs, René KÖNIGs, Helmuth PLESSNERs und Theodor W. ADORNOs anzunähern. In anschaulicher Weise wird hier aufgezeigt, wie generationsbezogene Erfahrungen zu einem "generationsspezifischen Arbeitskonsens" (ebd., S.413) werden konnten, durch den die Konturen des Fachs Soziologie in der Nachkriegszeit nachhaltig geprägt wurden. Dieser "Arbeitskonsens" brach jedoch später, was vom Autor "auf den Ursprung des Lebensgefühls der Weimarer Generation" (ebd. S.413) zurückgeführt wird. Ein höchst informativer und anschaulich geschriebener Beitrag, der Einblicke in generationsspezifische Erfahrungsbedingungen gibt, die eine wesentliche Rolle für die Konturen des Fachs Soziologie nach 1945 eingenommen haben dürften. Der folgende Beitrag von BURKART und WOLF kann als Fortsetzung zu BUDEs Ausführungen verstanden werden (auch wenn in der Betrachtung quasi eine Generation nicht analysiert wird). Die beiden Autoren widmen sich ebenfalls der Generationenperspektive im Fach Soziologie. Sie fokussieren die Generationsdynamik zwischen der 70er Jahre-Generation an Soziologieprofessoren und -professorinnen und ihren Nachfolgern/Nachfolgerinnen bis heute. Diese Dynamik wird aus den verschiedensten Gründen zunehmen. Aus den aktuellen Diskussionen über eine mögliche Zukunft des akademischen Standes (Juniorprofessuren, 12-Jahres-Limit im Mittelbau etc.) hat sich die Soziologie bisher sehr herausgehalten, so dass die hier abschließend formulierte Aufforderung der Autoren an die soziologische Profession, sich stärker theorieorientiert an der Ausgestaltung dieser Zukunft zu beteiligen, nicht deutlich genug unterstrichen werden kann. Ein Schweigen könnte sich in diesem Fall durchaus negativ auf Entwicklungen auf allen Ebenen auswirken. [29]

Eine nicht weniger interessante Perspektive der Lebenslauf- und Generationenspezifik nehmen Yvonne SCHÜTZE und Bettina HOLLSTEIN über Widmungen6) in der Soziologie ein (S.437-455). Sie analysieren die Widmungspraxis im Zeitverlauf und die Dimension der Widmung über drei Generationen hinweg (Gründungsväter, Nachkriegs- und Aufbaugeneration und Ausbaugeneration). Auf Grundlage der von ihnen untersuchten Publikationen kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis, dass die ersten beiden Generationen überwiegend Widmungen an Personen aus der Profession ausgesprochen haben und sich erst in ihren späten Werken – nach wissenschaftlicher Etablierung – an Bezugspersonen der Familie richten. In beiden Generationen wird ein Alters- und/oder Lebenslaufeffekt konstatiert. In der jüngsten Generation werden erstens grundsätzlich weniger Widmungen ausgesprochen und wenn, dann werden sie zweitens zumeist in Bezug zum privaten Lebensbereich gestellt. Dies interpretieren SCHÜTZE und HOLLSTEIN (auch) als einen periodischen Effekt. [30]

Der letzte Beitrag von Günter BURKART (S.457-478) thematisiert die Unmöglichkeit einer Soziologie der Soziologie. Der Autor widmet sich damit einem "heiklen" Thema besonders in sozialwissenschaftlichen Disziplinen, denn hier treffen alle Objektivierungsstrategien auf ein spezifisches professionsstrukturelles Problem: Die Forschenden sind als wissenschaftliche Beobachtende selbst Teil des Systems, dass von ihnen analysiert wird und damit sozusagen mit dem Untersuchungsgegenstand verstrickt. Entscheidend ist, dass es zur Basiskompetenz des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin gehört, sich über diese Verstrickung bewusst zu sein. BURKART stellt abschließend die Frage, ob die Soziologie über soziale Bedingungen soziologischen Erfolgs sprechen darf und kommt zu dem Schluss, dass dies in einem radikalsoziologischen Sinne auf Grund der erwähnten Verstrickungszusammenhänge nur schwerlich möglich ist. Wenn auch nicht im Sinne einer Radikalsoziologie so gibt es doch einen erwähnenswerten Versuch, die Ebene sozialer Bedingungen mit der Ebene wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens zu verbinden. In dem von Axel BOLDER und Andreas WITZEL (2003) herausgegebenen Buch "Berufsbiographien“7) wird versucht, diese "Brücke" zu schlagen und die übliche Praxis des Thematisierungstabus wie von BURKART aufgeworfen zu durchbrechen.8) [31]

3. Lebenszeiten und Generationenbeziehungen – ein heterogenes Forschungsprogramm?

Insgesamt gelingt es dem Band, dem gesetzten Anspruch gerecht zu werden, einen Überblick über Forschungsfelder, Themen und methodische Ansätze zu vermitteln, die sich mit dem "Lebenslauf als soziale Institution" und als Differenzierungskategorie befassen. Die Beiträge zeigen, wie ausgehend von KOHLIs Forschungsprogramm, neue Anwendungsfelder erschlossen und damit bisherige Grenzen überschritten werden können. Inhaltlich wird eine Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten dieses Forschungsprogramms in der wissenschaftlichen Praxis – auch auf europäischer Ebene – aufgezeigt. Auf theoretischer Ebene werden interessante Forschungsfragen diskutiert, die zum Nachdenken über künftige Entwicklungslinien (z.B. eine vermehrte Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Methoden) anregen, aber auch historische Entwicklungen und Entstehungszusammenhänge des Forschungsprogramms werden thematisiert. Auf methodischer Ebene habe ich ein wenig Hinweise auf die Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Methoden vermisst, die in dieser Forschungsrichtung Anwendung fanden und deren Anknüpfungsfähigkeit in vielen Beiträgen des Buches deutlich wird. Auf gelungene Verknüpfungsleistungen explizit hinzuweisen, erscheint mir aus der Forschungspraxis überaus sinnvoll zu sein, um ein methodologisches Verständnis zu fördern, dass sich jenseits aller "Monopolisierungsansprüche" vollzieht und diese damit zu überwinden hilft. [32]

Auch wenn in einigen Beiträgen auf weibliche Lebensläufe und die sie strukturierenden Institutionen eingegangen wird (z.B. GATHER und MEISSNER), so fehlen mir doch grundlegende kritische Anmerkungen zu der Vorstellung eines industriegesellschaftlichen Standardlebenslaufs mit seiner charakteristischen Dreiteilung, mit der vornehmlich der männliche Lebenslauf – als Normallebenslauf – fokussiert wird. Damit wird der vielfach empirisch untersuchte Sachverhalt, dass Frauen in der Regel ihr Leben zwischen Beruf und Familie organisieren, außer Acht gelassen. Planungsunsicherheiten und Diskontinuitäten, wie sie im weiblichen Lebenslauf durch die Geburt von Kindern und die gesellschaftliche Verpflichtung auf reproduktive Arbeit strukturell enthalten sind, werden nur als Abweichung vom Normallebenslauf berücksichtigt. René LEVY wies bereits 1977 auf die "Kurz-Sichtigkeit" der Lebenslaufforschung hin, die die zur männlichen Statusbiographie (Positionssequenzen) differenten Ablaufmuster weiblicher Statusbiographien unbeachtet lassen (vgl. LEVY 1977).9) Auch Helga KRÜGER und Claudia BORN weisen in mehreren Aufsätzen darauf hin, dass individuelle Lebensläufe zwischen Geschlechtern und Generationen vernetzt sind (zuletzt: BORN & KRÜGER 2001). Institutionen produzieren nicht nur die Sozialstruktur eines individuellen Lebenslaufs, sondern "[...] unterstellen in ihren Funktionslogiken ein Geschlechterverhältnis, dass auf der Verbindung zweier geschlechterdifferenter Lebensläufe zu einem Gefüge basiert, und in dieses intergenerationale Verpflichtungsmuster einlagert" (ebd., 285). Damit wird eine Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Eigensinn verschiedener Lebensläufe thematisiert, d.h. die institutionelle Logik baut auf zwei nicht ineinander überführbare, gleichzeitig jedoch aufeinander verwiesene und miteinander verschränkte Lebensverläufe hin. Diesen Blickwinkel auf die "Institution Lebenslauf" auf theoretischer Ebene in einem Beitrag auszuführen, hätte ich als sinnvolle und nötige Ergänzung zu den übrigen Beiträgen dieses Buches empfunden. [33]

Zusammenfassend betrachtet sind die 26 Beiträge dieses Buches quantitativ und qualitativ sehr unterschiedlich zu gewichten, sowohl vom Textumfang als auch in der inhaltlichen Darstellung. Sehr positiv habe ich den Blick über den "Tellerrand" deutscher Forschungsarbeiten hinaus empfunden, der im Rahmen der englisch- und französischsprachigen Beiträge geliefert wurde. Ein Vorgehen, das zur Nachahmung anregen sollte. Geärgert habe ich mich insbesondere über den Beitrag von Peter GROSS, in welchem analytische Vergleichsebenen thematisiert werden, die meiner Ansicht nach keiner wissenschaftlichen Vorgehensweise entsprechen. Ein Vorgehen, das keine Nachahmung finden sollte. [34]

Schade finde ich, dass in den Literaturverzeichnissen die Vornamen der Autorinnen und Autoren lediglich abgekürzt werden. Meines Erachtens gibt es mittlerweile eine Verabredung in den Sozialwissenschaften, die Vornamen auszuschreiben, um geschlechtsspezifischen Diskriminierungen, beispielsweise im Text selbst, zu entgehen. Daneben wäre vielleicht eine Gesamtliteraturliste sinnvoll gewesen, die nicht nur Seiten gespart hätte, sondern auch einem einheitlichen Erscheinungsbild zu Gute gekommen wäre. [35]

Abschließend möchte ich festhalten, dass ich das Buch "Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen" – trotz der genannten Kritikpunkte – in weiten Teilen auf inhaltlicher, methodischer und theoretischer Ebene als bereichernd empfunden habe. Auch für nicht in die Materie eingearbeitete Leserinnen und Leser wird hier ein Forschungsprogramm in seinen Facetten und Ausprägungen präsentiert, dass sowohl zur weiterführenden und eingehenderen Beschäftigung mit dem Thema anregen als auch einen ersten Überblick über den Stand der Lebenslauf- und Generationsforschung bieten kann. Interessant ist auch der letzte Abschnitt des Buchs, in welchem die Möglichkeit zur Selbstreflexion der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin genutzt wird und die Rolle des Wissenschaftler/der Wissenschaftlerin als "Privatperson" im wissenschaftlichen Kontext Gegenstand der Betrachtung ist. [36]

Anmerkungen

1) Dass es neuere Längsschnittdaten zu Passagen im Lebensverlauf gibt können exemplarisch für eine Vielzahl von Studien die Forschungsergebnisse des Sfb 186 "Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf" belegen. Hier ist es nicht nur gelungen, eine Datenfülle von Längsschnittdaten zu erheben, sondern auch eine Integration von quantitativen und qualitativen Methoden zu realisieren (vgl. BOLDER & WITZEL 2003). Darüber hinaus wurde hier systematisch die Weiterentwicklung eines Ansatzes vorangebracht, der das Verhältnis von agency und structure (GIDDENS 1995) anstrebt. <zurück>

2) Die Durchführung des Alters-Surveys erfolgte durch die "Forschergruppe Altern und Lebenslauf" (FALL) an der FU Berlin und der Forschungsgruppe Psychogerontologie an der Uni Nijmegen in Kooperation mit dem Infas-Institut (vgl. ausführlich KOHLI & KÜNEMUND 2000). <zurück>

3) Die Generationenbeziehungen sind als subjektives Merkmal auf der Ebene emotionaler Verbindungen zu lokalisieren. <zurück>

4) Generation wird hier verstanden als "Differenzgeflecht" (vgl. WIMMER 1998) im mehrdimensionalen Zusammenspiel von Milieu, Geschlecht und Alter konzipiert (vgl. auch den Beitrag im besprochenen Band von BOHNSACK & SCHÄFFER). <zurück>

5) Die PISA-Studie kann im Internet unter folgenden Links eingesehen oder auch als pdf- Dokument abgerufen werden (http://www.pisa.oecd.org/pisa/Cntry.htm oder http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/). <zurück>

6) Widmungen werden verstanden als einzige Möglichkeit des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin etwas von sich selbst als Person preiszugeben, ohne die eigene Person und die wissenschaftliche Leistung in problematischer Weise miteinander zu verknüpfen. <zurück>

7) Veröffentlicht als "eine etwas andere Festschrift" (BOLDER & WITZEL 2003) für Walter R. HEINZ aus Anlass seines 60. Geburtstags. <zurück>

8) Redaktionelle Anmerkung, 21.3.2004: Der hier erwähnte Beitrag von Günter Burkart ist in einer überarbeiteten Fassung unter dem Titel Über den Sinn von Thematisierungstabus und die Unmöglichkeit einer soziologischen Analyse der Soziologie in FQS 4(2) erschienen. Siehe hierzu auch Thematisierungstabus und Einlasskontrolle im sozialwissenschaftlichen Milieu. Eine Moderation von Franz Breuer, Jo Reichertz & Wolff-Michael Roth in der gleichen Schwerpunktausgabe. <zurück>

9) Nach LEVY liegt die Differenz der beiden standardisierten Normalbiographien in nicht-identischen Teilhabechancen an den zwei zentralen Institutionen Erwerbssystem und Familiensystem. <zurück>

Literatur

Beck, Ullrich (1983). Jenseits von Stand und Klasse. In Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. (S.35-74). Göttingen: Schwartz.

Bohnsack, Ralf; Marotzki, Winfried & Meuser, Michael (Hrsg.) (2003). Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.

Bolder, Axel & Witzel, Andreas (Hrsg.) (2003). Berufsbiographien. Beiträge zu Theorie und Empirie ihrer Bedingungen, Genese und Gestaltung. Opladen: Leske + Budrich.

Born, Claudia & Krüger, Helga (2001). Individualisierung und Verflechtung. Geschlecht und Generation im deutschen Lebenslaufregime. Weinheim: Juventa.

Giddens, Anthony (1995). Die Konstitution der Gesellschaft. Opladen: Leske +Budrich.

Gottschall, Karin (2000). Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Opladen: Leske + Budrich.

Kohli, Martin & Künemund, Harald (2000). Grunddaten zur Lebenssituation der 40-85jährigen deutschen Bevölkerung. Ergebnisse des Alters-Survey. Berlin: Weißensee.

Kohli, Martin (1989). Moralökonomie und "Generationenvertrag". In Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags (S.532-555). Frankfurt/M: Campus.

Kohli, Martin (1985). Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37, 1-29.

Levy, René (1977). Der Lebenslauf als Statusbiographie. Die weibliche Normalbiographie in makrosoziologischer Perspektive. Stuttgart: Enke.

Mannheim, Karl (1964). Das Problem der Generationen. Wissenssoziologie. Soziologische Texte, 28, 509-565.

Mannheim, Karl (1980). Strukturen des Denkens. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Wimmer, Michael (1998). Fremdheit zwischen den Generationen. Generative Differenz, Generationendifferenz, Kulturdifferenz. In Jutta Ecarius (Hrsg.), Was will die jüngere mit der älteren Generation? Generationenbeziehungen in der Erziehungswissenschaft (S.81-113). Opladen: Leske + Budrich.

Zur Autorin

Stefanie GROßE, 2002 Abschluss in Pädagogik, Soziologie und Wirtschafts- und Sozialpsychologie (M.A.), anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt "Biographisches Lernen junger Frauen und Doing-Gender-Prozesse in den Statuspassagen zur Erwerbsarbeit", seit November 2003 Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, Thema: "Zum lebensgeschichtlichen Stellenwert kritischer Lebensereignisse. Eine qualitative Längsschnittstudie zu biographischen Lernprozessen im Verlauf der Statuspassagen Ausbildung/Beruf sowie Partnerschaft/Familie".

Kontakt:

Stefanie Große

Schleinitzstraße 15
D-38106 Braunschweig

E-Mail: grossesteffi@gmx.net

Zitation

Große, Stefanie (2004). Rezension zu: Günter Burkart & Jürgen Wolf (Hrsg.) (2002). Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen [36 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(1), Art. 26, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0401265.

Revised 6/2008

Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (FQS)

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